4 minute read

NIKOLAUS STINGL DIRK VAN GUNSTEREN (CORMAC MC CARTHY)

Next Article
VINCE EBERT

VINCE EBERT

Furien

Cormac McCarthy Stella Maris (ab 22.11.) Übersetzt von Dirk van Gunsteren Rowohlt | 256 S. | 24,– € O P 240 Lesepunkte Auch als eBook

1972, Black River Falls, Wisconsin: Alicia Western lässt sich in die psychiatrische Klinik „Stella Maris“ einweisen – mit 40.000 Dollar in einer Plastiktüte und einem ausgeprägtem Todeswunsch. Sie ist 20, virtuose Violinistin und als Mathematikerin ein Genie. Die Diagnose: paranoide Schizophrenie. Von einer Therapie verspricht sie sich wenig, über ihren Bruder Bobby will sie gar nicht erst reden. Stattdessen ringt sie mit den grotesken Chimären, die sie heimsuchen, und mit den Grenzen der Erkenntnis, die sie zu überwinden träumt …

Cormac McCarthy Der Passagier (ab 25.10.) Übersetzt von Nikolaus Stingl Rowohlt | 608 S. | 28,– € O P 280 Lesepunkte Auch als eBook

1980, Pass Christian, Mississippi: Bobby Western, Bergungstaucher mit Tiefseeangst, wirft sich ins nächtliche Meer – hinunter zu einer abgestürzten Jet Star. Im Wrack findet er neun Leichen. Es fehlen: der zehnte Passagier und der Flugschreiber. Bald mehren sich die Anzeichen, dass Bobby in etwas Größeres geraten ist – und ihm obskure Verfolger auf den Fersen sind. Verfolgt wird er aber auch von Erinnerungen an seinen Vater, einen Miterfinder der Atombombe, und von der Trauer um seine Schwester, die Liebe seines Lebens …

EXKLUSIV | INTERVIEW

ALS GROSSER EINZELGÄNGER der amerikanischen Literatur brachte es Cormac McCarthy (Jahrgang 1933) zu Weltruhm. Nach seinem Millionenerfolg „Die Straße“ (2006) übertrifft sich der vielfach ausgezeichnete Autor nun selbst – mit zwei überraschenden, raffiniert verbundenen Romanen auf einen Schlag: „Der Passagier“, ins Deutsche übertragen von Nikolaus Stingl (NS), und „Stella Maris“, übertragen von Dirk van Gunsteren (DvG). Die preisgekrönten Übersetzer baten wir um Einblicke.

T Wie ordnen Sie „Der Passa-

gier“ und „Stella Maris“ im Gesamtwerk von McCarthy ein?

NS: Ich empfinde die beiden Romane als eine Art Lebensfazit. McCarthy zieht so etwas wie die Summe aus seinen Erkenntnissen über die Menschen, die Welt, die Fragen, die ihn als Autor sein Leben lang beschäftigt haben. Anders als in den früheren, eher plotorientierten Romanen gewinnen die beiden neuen Bücher durch die Einbeziehung von Naturwissenschaften und Erkenntnistheorie aber zusätzliche Tiefe. DvG: Zusammengenommen sind die beiden Romane der wuchtige Schlussstein des beeindruckenden Gesamtwerks eines der größten amerikanischen Autoren.

T Wie sehen Sie die Haupt-

figur Bobby Western in „Der Passagier“?

NS: Wie alle Hauptfiguren von McCarthy ist Bobby Western eine gebrochene Figur, ein Suchender, mitunter auch Getriebener.

T Welcher Satz im Roman ist

besonders typisch für Bobby Western?

NS: „Es ist nicht bloß so, dass ich nicht weiß, was ich tun soll. Ich weiß nicht mal, was ich nicht tun soll.“

T Was macht Alicia Western,

die Hauptfigur in „Stella Maris“, zum Ausnahmephänomen?

DvG: Alicia ist meines Wissens die einzige weibliche Hauptperson in McCarthys Gesamtwerk. Zum Ausnahmephänomen wird sie durch die Kompromisslosigkeit ihres Strebens nach Erkenntnis, nach dem Absoluten, der Wirklichkeit hinter den Dingen. Sie ist überaus intelligent, ein mathematisches Wunderkind, und wählt den Weg der Ratio, der Logik, der mathematischen Abstraktion. Es ist faszinierend und furchtbar, sie scheitern zu sehen.

T Welche Äußerung im Roman

charakterisiert Alicia Western besonders gut?

DvG: „Die Grenzen eines Systems zu finden, heißt nicht bloß, die Grenzen zu finden, sondern auch das, was jenseits davon liegt. Nur muss man die Grenzen erst einmal finden.“

T Cormac McCarthy setzt in

seinen beiden neuen Romanen auf Dialog. Was ist für Sie das Spannende daran und was sind hier McCarthys Stärken?

NS: Für mich ist faszinierend, wie es McCarthy gelingt, Figuren mittels ihrer Redeweise zu charakterisieren und Figurenkonstellationen durch den Dialog auszuleuchten. Diese Dialoge sind äußerst präzise und sparsam komponiert, vieles steht zwischen den Zeilen, Nichtgesagtes und Weggelassenes ist ebenso bedeutsam wie explizit Geäußertes. „Es ist faszinierend und furchtbar,

sie scheitern zu sehen.“

T Woran zeigt sich für Sie die Meister-

schaft von McCarthy in „Der Passagier?

NS: In dem kunstvollen Verwirr- und Vexierspiel, das McCarthy mit der Vielzahl von Motivsträngen, Seiten- und Querverzweigungen inszeniert. Einer der grandiosesten Einfälle ist der „ConterganZwerg“ mitsamt seiner Menagerie abgehalfterter Varieté- und Minstrel-Figuren, die Bobbys Schwester heimsuchen, Manifestationen ihrer gestörten Psyche, so glaubt man zumindest, bis er dann auch Bobby begegnet. Einer der vielen Momente in dem Buch, in dem Gewissheiten, die man als LeserIn gewonnen zu haben meint, immer wieder umgestoßen werden.

T Was macht für Sie die Intensität

von „Stella Maris“ aus?

DvG:Das Beeindruckende an „Stella Maris“ ist Alicias bereits erwähnte Kompromisslosigkeit, ihr Wille, mit Hilfe von Logik und Ratio an die Grenzen des Verstandes und womöglich darüber hinaus zu gehen. Die Passage, in der sie die Vorzüge und Nachteile verschiedener Suizidmethoden schildert, gehört zu den Beklemmendsten, die ich je gelesen, geschweige denn übersetzt habe. Dass Alicia in ihrem Streben nach Erkenntnis letztlich scheitert, mag tragisch erscheinen, ist aber konsequent.

T Es gibt mehrere Lesarten von „Stella

Maris“. Was steht für Sie im Zentrum?

DvG: Wissen und Erkenntnisse bringen keine Erlösung – die gibt es nur im Transzendenten.

T Warum empfiehlt sich für LeserInnen

die Lektüre beider Romane?

NS: Das sind Romane für sinnsuchende LeserInnen, die von Literatur – oder Kunst überhaupt – erwarten, dass sie aufs Ganze geht: Sie werden sich keine Sekunde langweilen!

This article is from: