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LITERATUR

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RAUS AUS MÜNCHEN

RAUS AUS MÜNCHEN

Rascheln in der Wundertüte

Von diesen Reisebegleitern kann man sich in Wörter-Wunschwelten entführen lassen

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lebt, ursprünglich aber in Sankt Petersburg zur Welt kam, kreisen. „Wer wir sind“ ist der neue, erneut stark autobiografisch gefärbte Roman, den sie nun vorstellt. (Jüdisches Museum, 24.6.)

Mit „Identitti“, dem Roman-Debüt von Mithu Sanyal hat die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und „taz“-Kolumnistin eines dieser Bücher vorgelegt, das zu den meistdiskutierten im Frühjahr zählt. Es geht in dem durchaus auf Krawall getrimmten Aufregerstoff um

So ganz klappt es ja noch nicht mit Ebenfalls von einem mutigen Aufdem Aufbruch zurück in ferne Län- brechen, wenn auch von einem letztlich der, an einsame Küsten und unter deutlich ernüchternden Kulturen-Zuvöllig neue Menschen. Doch das Fern- sammenprall, erzählt Leïla Slimani, die weh lodert natürlich weiter. Und die Be- mit dem renommierten Prix Goncourt reitschaft, sich bis zum nächsten gro- ausgezeichnete junge Autorin, die akßen Trip zumindest spannende Ge- tuell als eine der wichtigsten Stimmen schichten erzählen zu lassen, ist groß. der französischen Literaturszene gilt. Der bayerisch-schwäbische Schriftstel- „Das Land der Anderen“ ist ein Roman ler mit dem schönen Namen Tiny über eine junge Elsässerin, die sich nach Stricker hat die Welt gesehen. Schon dem Zweiten Weltkrieg in einen maroknach seinem Abitur Ende der Sechziger kanischen Offizier verliebt, ihn heiratet Jahre überführte er einen Mercedes in und ihm in seine nordafrikanische Heiden Iran. Der Hippie-Trail zog ihn wei- mat folgt. Doch vor Ort verkümmert sie ter, später arbeitete er lang im Hafen in einer von Rassismus und patriarchavon Chittagong in Bangladesh. Heraus lischen Strukturen geprägten Kolonialkamen dabei bewusstseinserweiternde gesellschaft zunehmend. Slimani wirft Trip-Romane, zurück in München ging die Frage auf: Hat sich wirklich Grunder mit der Psychedelic-Rock-Band legendes geändert? (Literaturhaus, 1.6., Siloah weiter über Grenzen hinaus. je nach Inzidenz vor Ort sowie im Keine schlechten Voraussetzungen Stream) also, um sich von Reiseführer Tiny an Wie ungemütlich sitzt es sich zwidie Hand nehmen zu lassen. Aktuell schen den Stühlen? Wie behauptet man stellt er seine gerade erst erschienene sich zwischen Stolz und Scham, zwiMünchen-Roadnovel „U-Bahn-Reiter“ schen Eigensinn und Anpassung, zwisowie das noch unfertige Manuskript schen dem Gefühl, noch immer fremd „Hotel Amir Kabir oder Die Wege der zu sein, und dem Wunsch, endlich anHippies“ vor. Sollte man nicht verpas- zukommen? Das sind Themen, um die sen. (Münchner Literaturbüro, Milchstr. natürlich auch die Romane von Lena 4, 18.6.) Gorelik, die schon lange in München

Hadert mit Fremdbestimmung: LEÏLA SLIMANI

eine Professorin für „Postcolonial Studies“ an der Uni Düsseldorf, die ihre Biografie an einer zentralen Stelle frisiert hat. Sie präsentiert sich der Welt als „Person of Color“. Wie enthüllt wird, heißt die vermeintliche Professorin Saraswati aber Sarah Vera Thielmann – und ist weiß, Deutsche und Kartoffel. Was soll man davon halten? Es ist eine Zeit, in der vieles „fluide“ sein darf. Aber auch die Herkunft? Sanyal freut sich auf lebhafte Debatten, moderiert werden die vor Ort von der SZ-Journalistin Marie Schmidt. (Literaturhaus,

HÖRBUCH

Superman has left the planet

— 1975. Monty Pythons Ritter der Kokosnuss. Der MetalSword-Battle König Artus vs. Schwarzer Ritter. Eine der coolsten Filmszenen ever und zugleich ein visionärer Seitenhieb auf die Klimawandel-Diskussion. Der Schwarze Ritter verliert nacheinander alle vier Gliedmaßen, ignoriert aber bis zuletzt seine Niederlage. Siegesgewiss kommentiert er die einzelnen Abgänge: „nur ein Kratzer“ (linker Arm), „nur eine Fleischwunde“ (rechter Arm), „bin unbesiegbar“ (rechtes Bein). Als Artus schließlich sein zweites Bein amputiert, tönt es aus dem nun etwas tiefer gelegten Helm: „Einigen wir uns auf Unentschieden.“ Frage: Welche Erkenntnisse muss man den Politikern eigentlich noch unters Kopfbrett schieben, damit sie endlich vom Erderwärmungsgaspedal gehen? Für alle, die den Klimawandel aus ihrer Synapsenkantine gemobbt haben, weil dort plötzlich nur noch Platz war für das C-Word oder weil sie dank der aus Politikerärschen entwichenen Berserker-Maßnahmen mit Überleben beschäftigt waren, auf Planet B, Doctor Who oder Superman warten, landet Game-over-Gourmet Frank Schätzing quasi ein Makingof dieses Thrillers, dessen Leinwand unser Planet ist. Frankieboys Faible für großzügig angelegte Materialsammelstellen, die seinen KI-Roman Die Tyrannei des Schmetterlings etwas nilpferdig daherstampfen ließen, packen diesem Hörbuch quasi den Tiger in den Wasserstofftank. Und da Schätzchen selbst kein Erdwissenschaftler ist, setzt er wenig voraus, buddelt dafür umso tiefer. Klar, der Mann schreibt Thriller, also sind da auch die Body-Count-Szenarien, die Homo fucking lemming erwarten, wenn die globale Durchschnittstemperatur um 2, 3 oder 5 Celsen steigt, da sind die perfiden Voldemoritaten der Bad Guys (it’s the fucking oil, stupid), die Gefahren durch Bumerang- und Backfire-Effekte. Aber noch wichtiger: Wie schön es für alle sein könnte, wenn wir uns entscheiden, anders zu leben, anstelle nur das persönliche Gewissen zu balsamieren. Mister Autor liest sein Buch selbst, bringt kölsche Note rein, authentisiert quasi sein mit Flapsigkeiten getuntes Kumpel-Ambiente. Das ist hier nicht das letzte Wort zum Klimawandel. Aber ein nahrhafter Beitrag zum selbstständigen Denken und Handeln. Und das ist schon mal deutlich wertvoller als ein kleines Sojasteak. JONNY RIEDER

10.6., je nach Inzidenz auch im Saal sowie im Stream)

Durch die Stadt, die hinter vielen Türen noch recht verschlossen wirkt und in der sich Kulturfreunde durchaus mit mehr Mut wieder aus der Sofa-Komfortzone bewegen sollten, tobt dieser Tage vor allem mit sehenswerten Ausstellungen das Comicfestival. Ein Höhepunkt im Begleitprogramm ist das Gespräch von Michael Kompa, der die Comic-Schau im Amerikahaus kuratiert, mit dem US-Allrounder Denis Kitchen über Stan Lee, der die legendären Superhelden-Storys maßgeblich mitgeprägt hat. „60 Jahre Marvel Comics“ ist ein Online-Talk, den sich kein (noch) glühender Fan entgehen lassen darf. (Details zum Stream über www.juedisches-museum-muenchen.de, 6.6.)

Nicht zum Anfassen, aber endlich wieder „sehr real“ zeigt sich Axel Hacke seiner treuen Fangemeinde. Der beliebte „SZ Magazin“-Kolumnist und Schnurren-Sammler liest aus seinem neuen Buch „Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus dem Sprachland“. Die Wundertüte öffnet sich! (Deutsches Museum Innenhof, 24.6.)

Ebenfalls wieder zum Vor-Ort-Bestaunen: Jaromir Konecny, Münchens eisernster Winterschwimmer und frisch gebackener Künstliche-Intelligenz-Forscher, eröffnet die Poetry & Parade-Bühne wieder. Frank Klötgen sowie viele Überraschungsgäste dürfen da nicht fehlen. (Seidlvilla, 7.6.)

Überhaupt: Wie wichtig werden wieder die Begegnungen werden! Unter das schöne Zitat „... es gibt Hoffnung für uns alle“, entnommen aus der neuen Graphic Novel von Nicolas Mahler und Jaroslav Rudiš, stellt das Literaturhaus von 16. bis 24. Juni erstmalig eine ziemlich hoffnungsfrohe „Sommer Edition“ – mit bestenfalls vielen Open-Air-Veranstaltungen auf der Terrasse vor dem OskarMaria – auf die Beine. Alle Veranstaltungen werden zudem live gestreamt. Den Eröffnungsabend bestreitet Nora Gomringer, Künstlerin, Lyrikerin und Kuratorin des Literaturfests 2020, das bekanntlich leider entfallen musste (16. Juni). Krönender Abschluss wird ein Literatur-Special mit Literatur aus Québec, als Vorblick auf den Gastlandauftritt Kanada im Herbst – und zum 50. Jahrestag der Vertretung Québecs in Deutschland (Literaturhaus, 24. Juni).

Zum Abschluss ein schön rundes Thema, das den Pulsschlag hochpeitscht: „Wir im Finale“ heißt die szenische Lesung von und mit Martin Pfisterer, die das leider allgegenwärtige Kommentatorengesülze, die Schlachten-Metaphorik und die unerträgliche Biertischbesserwisserei aufs Korn nimmt. Marc Becker hat eine grandiose Satire über geheime Männerwünsche, Trainerstandpauken und FankurvenGegröle verfasst. Und angesichts von Länderspielen in meist fast leeren Stadien vermisst man den Lärm ja doch schon wieder. (Pasinger Fabrik, 8./17.6.) rupert sommer

LING MA

New York Ghost

(culturbooks) Dieses Debüt ist der Roman der Stunde, eine beißende Kapitalismuskritik vor dem Hintergrund einer Pandemie - geschrieben 2018. Und noch mehr: eine bewegende Migrations-Familiengeschichte, ein dystopisches Roadmovie, eine schwarzhumorige Satire über das Konsumverhalten junger westlicher Hipster und und und ... Candace Chen, behütete Tochter chinesischer Einwanderer, arbeitet in einem Verlag in Manhattan, lebt mit ihrem Freund in Brooklyn, sitzt in hippen Cafés und liebt alte Filme. So klischeehaft, so gut – plötzlich befällt ein Virus das Land, das Shen-Fieber. Durch chinesische Konsumgüter eingeschleppte Pilzsporen, die man einatmet und einen danach wortwörtlich in eine tödliche Routine fallen lassen. Geschäfte schließen, U-Bahnen stehen still, Menschen sterben oder fliehen aus New York. Candace ist wohl immun und hält vorerst die Stellung im Verlag, fotografiert die unheimliche, entvölkerte Stadt und stellt die Bilder auf ihren anonymen Blog „NY Ghost“. Schließlich verlässt auch sie Manhattan und schließt sich einer Gruppe Überlebender an – was schon bald zum Kampf ums Überleben wird. Auch als Chronistin ihrer Generation schuf Ling Ma hier sehr gelungene zeitgenössische Literatur – ohne zu wissen, dass aus ihrer Fiktion, zumindest zum Teil, schon bald Realität werden würde. RAINER GERMANN

SARAH HALL

Die Töchter des Nordens

(Penguin) Es braucht nicht unbedingt eine Pandemie, um die Welt in die Grütze zu reiten und den gewohnten Alltag in Horror zu verwandeln. Im düsteren, aber leider gar nicht so entfernten Dystopie-Szenario von Sarah Hill haben durchgeknallte Anführer - etwaige blonde Struwwelpeter-Frisuren werden im Buch explizit nicht erwähnt – England ins Chaos gestürzt, die Wirtschaft in die Knie gezwungen und die Umwelt verseucht. Die zum Schuften verdammte Bevölkerung wird überwacht und in trostlose Wohnkasernen eingesperrt. Wie so oft bleiben nur noch wenige Sehnsuchtsorte: Die Carhullan Farm, hoch oben auf den eisigen, von Winden umtosten alten Bergplateaus der Fells im Lake District ist so ein Widerstandsnest. Dort haben sich – so will es zumindest die Legende – mutige, starke Frauen zusammengezogen, die sich auf ein selbstbewusstes, kämpferisches Eigenanbau-Leben in der Wildnis eingelassen haben. Männer lässt man nur für das ab und an Nötige gewähren. Die Töchter des Nordens sind sich selbst genug – und verteidigen sich tapfer. Angeführt werden sie von einer undurchsichtigen Krawallamazone, die alle militärischen Kniffe kennt. Und die über Leichen geht, um ihr Camp zu schützen. Klar: Das erinnert stark an die Aussteiger-Träume von The Beach, wo ebenfalls Frauen den Ton angeben. Aber auch an Margaret Atwoods Welten („Der Report der Magd“). Erzählt wird von weiblicher Solidarität, von Zusammenhalt und grausamer Rücksichtslosigkeit. Denn Bergnester kann man nur halten, wenn man wehrhaft bleibt. Ein Abenteuer, bei dem man auch ohne Gummistiefel und Gekratze vom Wohnzimmersofa aus mitfiebern kann. RUPERT SOMMER

CHRISTIAN KRACHT

Eurotrash

(Kiepenheuer & Witsch) Finsterworld. „Wenn Du Deutschland liebst, dann besuche es lieber nicht“ – Christian Kracht startet mit einem (fiktiven?!) Zitat von Jorge Luis Borges. Sein angeschlagener Ich-Erzähler muss die Frau Mama besuchen, verstolpert sich in Notizen über sein körperliches Unwohlsein und den Kauf eines Wollpullovers in einer Bretterbude (!) auf der Züricher Bahnhofstraße. Hat sich gerade Guy Debords letzten Film angesehen („Wir gehen im Kreis, und werden vom Feuer verzehrt“) – und überhaupt geht es dem Zerfall entgegen. Auf einer letzten Reise mit der schwerkranken Mama, quer durch die Schweiz. Sich erinnernd an den Nazi-Großvater mit seinen im Keller ausgelebten SMFantasien, den Vater, der im Wirtschaftswunderland bei Axel Springer Karriere machte, die Vergewaltigung seiner Mutter als junges Mädchen … „alles war eng und untrennbar miteinander verbunden“. Die Dinge, die Häuser, die Orte, die wahren und die erfundenen Geschichten. „Frosch, Schere, Stift“, im HotelPool in Cap Ferrat, „Nur wer vor 1789 gelebt hat, weiß, wie angenehm das Leben sein kann“ … Mal köstlich, mal sarkastisch, mal schrecklich, geht’s, im typischen Kracht-Sound, kreuz und quer durch (Familien-)Geschichte, Traumata, literarische Anspielungen. Was bereust Du? Die Katharsis hat keinen Plural. Kurz vor dem Flug ins fiktive Afrika ein Abstecher zu Borges Grab in Genf: „… und keineswegs furchtsam“. (Und es folgen viele, noch unbeschriebene Seiten). HERMANN BARTH JOHANNES GROSCHUPF

Berlin Heat

(Suhrkamp) Die Glotze reihert, ein AfD-Max sei entführt worden. Einer dieser 24/7-Wichser, die gerne alles abknallen würden, was nicht in ihr teutsches Grillfleischuniversum passt, aber sich als „neue Juden“ inszenieren. Tom wundert sich: Das war doch der Sack, den er eben in einer seiner Touri-Buden abgeladen hat. Tom sumpft bis zum Zwangs-B-Job im Dispo mit Aussicht auf albanische Wellness. „Wenn ich nicht weiterweiß, gehe ich in die Spielhalle. Wie andere sich Kopfhörer aufsetzen, (…), mache ich die Tür einer Daddelbude auf.“ Für eine Handvoll TroubleshooterMäuse stürzt er sich im Geronimo-Modus ins nächste Hunde minen-Hopping. Schupfi bleibt am Baseballschläger. Nach dem kick-assing Berlin Prepper (2019) gurkt sein neuer Minusheld Tom durch einen semi-utopischen Post-Corona-Kiez. Krötenschlachthofjunkies, Strippklitschparker, Renazifizierungsfetischisten, „Feel-good-Faktor“-pimp-Hipster, „Mommy-Makeover“-Tussmuttis. Rundum wertiges GruselPersonal – braincreditsmäßig nur wenige Alkoholleichen statements über einem CSU-Parteitag. Und damit quasi die McKinsey-zertifizierte Man- und Womanpower für eine fiesspaßige Tour-de-Vollhorst durch goody ol’ Spreebylon. Berlin Heat headnuttet wie ein albanischer Schuldeneintreiberando.

JONNY RIEDER

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