IN MÜNCHEN 06/2022 - Stadtleben, Kultur und Programm von 1.06. bis 30.06.2022

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Redaktion_0622 25.05.2022 14:44 Seite 23

Literatur Lesungen

Löcher im Weltwissen Sinnfragen werden immer unausweichlicher. Zum Glück versuchen sich diese Seelenklempner an Antworten

V

on der sehr zeitgenössischen, unruhigen Welt, in der Sex und Macht, Liebe und Gewalt dominieren, erzählt Nicole Krauss in ihrem Short-Story-Band „Ein Mann sein“. Die New Yorkerin erforscht die unkartierten Regionen zwischen den Geschlechtern und reißt den Schorf von Wunden. So erfährt man etwa von einer Frau, die in der Wohnung ihres Vaters plötzlich einen sehr manipulativen Unbekannten vorfindet. Oder vom Mann, der seiner jüdischen Geliebten gesteht, dass er früher gerne ein Nazi gewesen wäre. Starker Stoff. (Literaturhaus, 3.6.) Wie wohltuend, dass Axel Hacke die aus den Fugen drängende Welt immer wieder mit Charme und Humor zusammendrückt. Der „SZ Magazin“Kolumnist stellt Weisheiten aus dem Band „Wozu wir da sind. Walter Wemuts Handreichungen für ein gelungenes Leben“ vor. Da kann nichts schief gehen. (Kleines Theater Haar, 3.6.) Unheimlich wird’s dagegen beim Zwischenstopp, den die Ausdeuter der Schwarzen Akte in dieser Stadt einlegen. Dahinter verbirgt sich eine TrueCrime-Podcast-Reihe, die ungelöste Verbrechensfälle der beklemmenden Sorte aufzurollen versucht. Die Nackenhaare sträuben sich. (Werk 7, 12.6.) Manchmal reicht ja auch nur ein Blick an den Nachthimmel – und schon stellt sich Frösteln ein. Wegen der Unermesslichkeit des Universums, von dem

Erkundet die Gefechtsfelder der Großstadt: NICOLE KRAUSS so viel nur zu ahnen ist. Ins „dunkle, schwere Herz der Milchstraße“ möchte Odele Straub vom Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik ihre Zuhörer mitnehmen. Das wird kein bierernster Fach-Vortrag, sondern in der Reihe Café und Kosmos eine Reise in die Schwarzen Löcher unserer Vorstellungskraft. (Muffatwerk, 14.6.) Ob beim Tasten, Riechen, Schmecken, Hören oder anderer Sinneswahrnehmung: Die Welt des Empfindens ist stets singulär. Das Nachsinnen, Denken

HÖRBUCH

Nice to meat you

— Für die Platzierung des Homo sapiens als unerreicht widerlichste Spezies, die Old Evolutionbaby jemals auf den Planeten gekotzt hat, erübrigt sich ein erweis auf all die Grausamkeitsorgien gegenüber seinen Artgenossen (à la Hexenverfolgung, Sklaverei und Holocaust). Es genügt der Blick auf den Umgang mit dem Hausschwein. Schon im Begriff „Nutztier“ steckt die kosmische Anmaßung des Menschen. Wobei Schweine heute nicht einmal mehr „Nutztiere“ sind: „Sie werden nicht genutzt, sondern unter grausamen Bedingungen verbraucht.“ Das Tierporträt, das Kulturforscher Thomas Macho vorlegt, macht die Menschheit ordentlich zur Sau. Es beginnt mit dem Ende von Orwells Animal Farm: „Die Tiere draußen 40

und Erkenntnisse haben darüber allerdings wunderbarer- und glücklicherweise hervorragend teilbar. Um genau dies zu tun kommt die Erzählerin, Essayistin und Journalistin Katja Kullmann in den Optimal-Recordstore und liest aus ihrem jüngsten Werk „Die singuläre Frau“. Eine schonungslose Selbsterkundung, Spurensuche und Vision über das Sein und Statusgerangel alleinstehender Frauen. Après Lecture ist mit der großen Musikliebhaberin ein gemeinsames, ungezwungenes DJ-Set geplant. (Optimal Recordstore, 18.6.)

Der Vater ein Phantast, die Großmutter eine Spinnerin, die damit droht, das Erbe einer rechten Partei zu überschreiben. Keine angenehme Ausgangssituation für Jakob, den Held im „Wilderer“-Roman von Reinhard KaiserMühlecker, der kurz davorsteht, den Hof zu übernehmen. Irgendwo in Oberösterreich. Und sicher weitab von den Touristen-Idyllen. (Literaturhaus, 20.6.) Wie ein modernes „Dekameron“: Die Pandemie zieht auf. Ein russischstämmiger Schriftsteller Sasha, der

blickten von Schwein zu Mensch und von Mensch zu Schwein und dann wieder von Schwein zu Mensch; doch es war bereits unmöglich zu sagen, wer was war.“ Macho betont immer wieder die großen (biologischen) Ähnlichkeiten: „Dass der Mensch sich zum Schwein hingezogen fühlte und von ihm abgestoßen fühlte, hatte einen anthropomorphen Ursprung. Das Aussehen des Schweines, der Geschmack des Schweines, die Todesschreie des Schweines und die offensichtliche Intelligenz des Schweines erinnerten allzu unangenehm an den Menschen. Die Porcophobie und die Porcophilie hat demnach wahrscheinlich ihren Ursprung in der düsteren Zeit der Menschenopfer und sogar des Kannibalismus (...).“ Der entscheidende Unterschied: Schweine verfügen nicht über Menschen; sie quälen und töten keine Menschen, nur weil sie es können. An die Schlachtfront schickt die tönniesische

mit dem realen Bestseller-Autor Gary Shteyngart verblüffend viel gemeinsam zu haben scheint, versammelt seine Freunde in einem Landhaus vor New York. Man hält sich fern vom Trubel, gerät aber in neue Kränkungen sowie komplizierte Liebschaften. Und dann blicken alle in Abgründe. (Literaturhaus, 21.6.) Domenico „Mimmo“ Lucano, Bürgermeister eines kalabrischen Dorfs, wollte nur tun, was sein Herz von ihm verlangte: Er setzte sich als Politiker und Menschenrechtsaktivist für die vielen Flüchtlinge von der Insel Lampedusa ein. Wegen Beihilfe zur illegalen Migration und anderer Verbrechen wurde er 2021 zu 13 Jahren Haft verurteilt. Die Germanistin Elvira Bittner liest aus dem von ihr übersetzten Erfahrungsbericht „Das Dorf des Willkommens“. (Eine-Welt-Haus, 23.6.) Die zuvor so schweinsbratengemütliche Welt von Franz Eberhofer steht Kopf: Die Oma will nicht mehr am Herd kochen, sondern nur noch chillen. Susi verweigert dem Franz den Sex. Und dann ist auch noch der Steckenbiller Lenz verschwunden. Nur eine Leiche ist – zunächst – im neuen „Rehragout-Rendezvous“-Krimi von Erfolgsschreiberin Rita Falk nicht in Sicht. (Circus Krone, 22.6.) Munich’s Biggest Poetry Slam tankt frische Luft: Beim Open Air: Münchner Slam-Sommernächte darf man ordentlich Lärm machen. (Kino am Olympiasee, 23.6.) Und dann trägt auch noch Jean, von Beruf tragischerweise Zukunfts forscher in der EU-Metropole Brüssel, seine Hoffnungen zu Grabe. Ausgerechnet am Tag des Brexit-Referendums scheitert im psychologisch dichten Roman „Die Gefühle“ des Belgiers Jean-Philippe Toussaint auch noch seine Ehe. Merde! (Literaturhaus, 30.6.)

rupert sommer

Ausbeutungsindustrie – analog zum Kriegsgewerbe – konsequenterweise die ärmsten Schweine der menschlichen Sozialhierarchie: „Sie hatten nur die Wahl, entweder selbst zu reißenden Bestien zu werden und sich den Gesetzen des ‚Dschungels’ anzupassen oder zum Fraß der Unternehmer zu werden“, schreibt Upton Sinclair 1905 in Der Dschungel. Die fucking Yankees testeten Atombomben und Maschinengewehre an lebenden Schweinen, um zu beobachten, „wie sie leiden und sterben“. Was Macho auftischt, versaut einem gnadenlos den Appetit, aber es hilft, den desolaten Zustand der Menschheit zu begreifen. Vorgetragen von der meisterhaft unaufgeregten Sachbuchonkelstimme Frank Arnolds fährt einem die Erkenntnis um so tiefer in die Borsten. JO N N Y RIE DE R

Thomas Macho: Schweine. Ein Porträt. Gelesen von Frank Arnold. Der Audio Verlag 2022, 3 CDs, ca. 3,5 Std., www.der-audio-verlag.deHNYWOOD 2022, 1 mp3-CD, ca. 4 Std., pidax-film.de


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