Redaktion_0721 24.06.2021 14:48 Seite 26
Literatur Lesungen
Lass die Hitze ruhig brodeln
Lässt ein Familienfest eskalieren: ELKE SCHMITTER
Nicht nur Italien ruft. Auch die weißen Raben krähen. Mit diesen Leseabenteuern füllt man die Reserven wieder auf
G
elesen wurde unheimlich viel in den zurückliegenden Monaten. Kein Wunder, öffneten die Buchstabenfenster doch zumindest ab und an einen Ausblick in eine Welt, die man schon lange nicht mehr mit den eigenen Fingern und Füßen entdecken konnte. Nun ist die Sehnsucht verständlicherweise wieder groß, raus und weit zu schweifen – am besten gleich auf Reisen in den Süden. Marco Maurer etwa hat das Lieblingsland der Deutschen von un-
ten nach oben durchfahren – vom südlichsten Ende bis zurück über die Alpen. Und all das stilecht natürlich in einem Fiat Cinquecento. Herausgekommen ist – Goethe sei gegrüßt – „Meine Italienische Reise“ -, auf der sich Maurer von dem Fotografen Daniel Etter begleiten ließ. Das wird ein Genussabend für alle Sinne, musikalisch umrahmt von der legendären „Crucchi Gang“. (Literaturhaus, 20. Juli) Selbst als „Sommer-Mix“ lässt sich die Dreier-Lesung von Asal Dardan, Alexandra Stahl und
Timon Karl Kaleyta
Haut gerne und laut aufs Blech: TIMON KARL KALEYTA
ankündigen, darf man doch prickelnde Spritzigkeit erwarten. Dardan stammt aus dem Iran, wuchs in Deutschland auf und hat sich längst zur Kosmopolitin gewandelt. Ihre Politstudie „Betrachtungen einer Barbarin“ ist aktuell für den
HÖRBUCH
Möge der Rost dich verschonen Gute Science-Fiction beamt nicht nur Ängste, Hoffnungen und Erwartungen seiner Entstehungszeit nach morgen, sie jongliert auch mit der Conditio humana. Was macht einen Menschen aus? Was unterscheidet ihn von ähnlichen Wesen (Blade Runner; Planet der Affen)? Wird die Welt edler, wenn uns die Entscheidungsfreiheit abgenommen wird, zwischen gut und böse zu wählen (Clockwork Orange)? Wie Asimov, Bradbury und Dick verpasst Ultrabrain Stanisław Lem (1921-2006) dem Genre eine philosophisch-ethische Abreibung. Vorneweg Solaris (1961), Robotermärchen (1964) und Also sprach Golem (1981). Als polnischer Autor war Lem zudem DDR-kompatibel. Zwei dieser Hörspiele stammen quasi aus Zonenbestand: Der getreue Roboter (über ein sich von den Menschen emanzipierendes „Blechgespenst“) und Königsmatrix, eine Satire über einen Bot-King, der seine beiden intriganten und konkurrierenden Großprogrammierer Minimatus und Maximatus beauftragt, einen Nachfolgekronenständer zu zeugen. Wie die Replikanten aus Blade Runner wirken die Bots menschlicher als die Menschen. Weniger optisch als durch ihre Niedertracht und ihr lächerliches 46
Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Lakonisch, komödiantisch, treffersicher frech: So kann man den Stil von Alexandra Stahl beschreiben, die in „Männer ohne Möbel“ über die Liebe in TinderZeiten schreibt. Schön respektlos. Und besonders unverfroren kommt schließlich Timon Karl Kaleyta rüber, den seine Fans schon lange als Musiker und Kolumnisten, aber auch als schambefreiten „Jerks“-Filmautor kennen. Mit seinem Romandebüt, täuschend harmlos mit „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ betitelt, hat er zuletzt ein dreistes Angeber-Debüt vorgelegt. Großer Spaß! (Literaturhaus, 14.7.) Auf dieser Urlaubsinsel möchte man allerdings lieber nicht stranden: Yves Grevet erzählt in „Méto“ von einem abgelegenen Eiland, auf dem in einem von Soldaten bewachten Haus 64 Jungen festgehalten werden – ohne nähere Erklärungen. Angst ist ihr ständiger Begleiter. Nur der titelgebende Méto möchte sich nicht länger terrorisieren
Statusdenken. E-Röhren-Bot Maximatus will sich verkleinern lassen. Kleiner als Mikroprozessoren-Bot Minimatus. Der einfache, aber findige Handwerker-Bot Reparatus rät ihm, auf Kopf, Körper oder Beine zu verzichten. Maximatus entsetzt: „Weiß er wirklich nicht, dass wir Hochgeborene Orden bekommen? Woran sollte ich sie tragen, ohne Rumpf?“ Schließlich verzichtet er auf den Kopf. In Schichttorte spielt Lem mit der juristischen Definition von Identität. Rallyefahrer Richard Jones wird nach einem Unfall mit Ersatzteilen gepimpt – aus der Leiche seines Beifahrers und Bruders. Die InsuranceFuzzis behaupten, der Bruder lebe als Teil von Richard weiter („Einlage mit Geschenkcharakter“), und weigern sich, die volle Summe auszubezahlen. Die Absurdität wächst mit weiteren Unfällen und Implantaten. Bei aller Oldschoolness einiger Inszenierungen ist diese Ohrenreise durch das lemsche Universum ein kosmisches Vergnügen. JO N N Y RIE D E R
Stanisław Lem: Die große Hörspiel-Box (Der getreue Roboter, DRA 1980; Die Lymphatersche Formel, WDR 1973; Solaris, MDR 2006; Der Unbesiegbare, MDR 2018; Professor Tarantogas Sprechstunde, ORF 1978; Rückkehr zur Erde, SWF 1974; Schichttorte, WDR 1974; Königsmatrix, DRA 1984). 8 CDs, ca. 8 Std., www.der-audio-verlag.de
lassen. Er lehnt sich auf – und wagt den Schritt ins selbstbestimmte Abenteuer. Der französische Romancier Grevet (12./14.7.) ist einer der Stars auf dem diesjährigen White Ravens Festival, das sich von 11. bis 15. Juli mit aufregender neuer Kinder- und Jugendliteratur befasst und dafür Autoren für Lesungen, Workshops, Schreibwerkstätten und Podiumsdiskussionen in die Internationale Jugendbibliothek auf Schloss Blutenburg eingeladen hat. Die weißen Raben inspirieren und wecken Neugierde. Und wie Grevet zeigt, ist für viele Altersklassen etwas dabei. Nicht verpassen sollte man das Auftaktfest im Innenhof der Burg – mit Magie, Krach und „Worttamtam“, wie es so schön heißt. (Schloss Blutenburg, ab 11.7.) Ebenfalls schnell heftig werden könnte es bei der Familienzusam menführung, die „Spiegel“-Journalistin und Erfolgsautorin Elke Schmitter im neuen „Inneres Wetter“-Roman veranstaltet. Erzählt wird von drei längst erwachsenen Geschwistern, die für ihren verwitweten Vater eine Geburtstagsüberraschungsfeier organisieren. Schnell kochen gegenseitige Vorwürfe hoch, und man schlägt sich Wunden. Wie es eben so läuft ... (Literaturhaus 19.7.) Ebenfalls keine leichte Kost tischt Markus Ostermair in seinem „Der Sandler“-Roman auf. Darin lernt man einen ehemaligen Münchner Mathelehrer kennen, der wie so viele andere Großstadtgestrandete aus dem öffentlichen Bild der Boutiquen-Metropole verschwindet. Ihn begleitet der Text durch die Suppenküchen und Kleiderkammern der Stadt. Ostermair weiß, wovon er schreibt: Er hatte lange bei der Bahnhofsmission gearbeitet. (Seidlvilla, 21.7.) Hoffentlich etwas heiterer dürften die Stadtspaziergänge, genauer gesagt „Hörgänge“, der einfallsreichen Kopfkino-Reihe ausfallen. Dafür hat die Schauspielerin Henriette Fridoline Schmidt Texte Münchner Autoren gesammelt und eingelesen. Ausgestattet mit einem Kopfhörer-Set kann man sich nach dem Silent-Disco-Prinzip durch die Straßen treiben und führen lassen. (Hoch X, über das Theater werden die Treffpunkte bekannt gegeben, 8. rupert sommer bis 10.7.)