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LITERATUR

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KUNST

KUNST

Lass die Hitze ruhig brodeln

Nicht nur Italien ruft. Auch die weißen Raben krähen. Mit diesen Leseabenteuern füllt man die Reserven wieder auf

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Lässt ein Familienfest eskalieren: ELKE SCHMITTER

Gelesen wurde unheimlich viel in den zurückliegenden Monaten. Kein Wunder, öffneten die Buchstabenfenster doch zumindest ab und an einen Ausblick in eine Welt, die man schon lange nicht mehr mit den eigenen Fingern und Füßen entdecken konnte. Nun ist die Sehnsucht verständlicherweise wieder groß, raus und weit zu schweifen – am besten gleich auf Reisen in den Süden. Marco Maurer etwa hat das Lieblingsland der Deutschen von un-

ten nach oben durchfahren – vom südlichsten Ende bis zurück über die Alpen. Und all das stilecht natürlich in einem Fiat Cinquecento. Herausgekommen ist – Goethe sei gegrüßt – „Meine Italienische Reise“ -, auf der sich Maurer von dem Fotografen Daniel Etter begleiten ließ. Das wird ein Genussabend für alle Sinne, musikalisch umrahmt von der legendären „Crucchi Gang“. (Literaturhaus, 20. Juli) Selbst als „Sommer-Mix“ lässt sich die Dreier-Lesung von Asal Dardan, Alexandra Stahl und

Timon Karl Kaleyta

ankündigen, darf man doch prickelnde Spritzigkeit erwarten. Dardan stammt aus dem Iran, wuchs in Deutschland auf Haut gerne und laut aufs und hat sich längst Blech: TIMON KARL KALEYTA zur Kosmopolitin gewandelt. Ihre Politstudie „Betrachtungen einer Barbarin“ ist aktuell für den Deutschen Sachbuchpreis nominiert. Lakonisch, komödiantisch, treffersicher frech: So kann man den Stil von Alexandra Stahl beschreiben, die in „Männer ohne Möbel“ über die Liebe in TinderZeiten schreibt. Schön respektlos. Und besonders unverfroren kommt schließlich Timon Karl Kaleyta rüber, den seine Fans schon lange als Musiker und Kolumnisten, aber auch als schambefreiten „Jerks“-Filmautor kennen. Mit seinem Romandebüt, täuschend harmlos mit „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ betitelt, hat er zuletzt ein dreistes Angeber-Debüt vorgelegt. Großer Spaß! (Literaturhaus, 14.7.)

Auf dieser Urlaubsinsel möchte man allerdings lieber nicht stranden: Yves Grevet erzählt in „Méto“ von einem abgelegenen Eiland, auf dem in einem von Soldaten bewachten Haus 64 Jungen festgehalten werden – ohne nähere Erklärungen. Angst ist ihr ständiger Begleiter. Nur der titelgebende Méto möchte sich nicht länger terrorisieren

HÖRBUCH

Möge der Rost dich verschonen

Gute Science-Fiction beamt nicht nur Ängste, Hoffnungen und Erwartungen seiner Entstehungszeit nach morgen, sie jongliert auch mit der Conditio humana. Was macht einen Menschen aus? Was unterscheidet ihn von ähnlichen Wesen (Blade Runner; Planet der Affen)? Wird die Welt edler, wenn uns die Entscheidungsfreiheit abgenommen wird, zwischen gut und böse zu wählen (Clockwork Orange)? Wie Asimov, Bradbury und Dick verpasst Ultrabrain Stanisław Lem (1921-2006) dem Genre eine philosophisch-ethische Abreibung. Vorneweg Solaris (1961), Robotermärchen (1964) und Also sprach Golem (1981). Als polnischer Autor war Lem zudem DDR-kompatibel. Zwei dieser Hörspiele stammen quasi aus Zonenbestand: Der getreue Roboter (über ein sich von den Menschen emanzipierendes „Blechgespenst“) und Königsmatrix, eine Satire über einen Bot-King, der seine beiden intriganten und konkurrierenden Großprogrammierer Minimatus und Maximatus beauftragt, einen Nachfolgekronenständer zu zeugen. Wie die Replikanten aus Blade Runner wirken die Bots menschlicher als die Menschen. Weniger optisch als durch ihre Niedertracht und ihr lächerliches Statusdenken. E-Röhren-Bot Maximatus will sich verkleinern lassen. Kleiner als Mikroprozessoren-Bot Minimatus. Der einfache, aber findige Handwerker-Bot Reparatus rät ihm, auf Kopf, Körper oder Beine zu verzichten. Maximatus entsetzt: „Weiß er wirklich nicht, dass wir Hochgeborene Orden bekommen? Woran sollte ich sie tragen, ohne Rumpf?“ Schließlich verzichtet er auf den Kopf. In Schichttorte spielt Lem mit der juristischen Definition von Identität. Rallyefahrer Richard Jones wird nach einem Unfall mit Ersatzteilen gepimpt – aus der Leiche seines Beifahrers und Bruders. Die InsuranceFuzzis behaupten, der Bruder lebe als Teil von Richard weiter („Einlage mit Geschenkcharakter“), und weigern sich, die volle Summe auszubezahlen. Die Absurdität wächst mit weiteren Unfällen und Implantaten. Bei aller Oldschoolness einiger Inszenierungen ist diese Ohrenreise durch das lemsche Universum ein kosmisches Vergnügen.

JONNY RIEDER

Stanisław Lem: Die große Hörspiel-Box (Der getreue Roboter, DRA 1980; Die Lymphatersche Formel, WDR 1973; Solaris, MDR 2006; Der Unbesiegbare, MDR 2018; Professor Tarantogas Sprechstunde, ORF 1978; Rückkehr zur Erde, SWF 1974; Schichttorte, WDR 1974; Königsmatrix, DRA 1984). 8 CDs, ca. 8 Std., www.der-audio-verlag.de

lassen. Er lehnt sich auf – und wagt den Schritt ins selbstbestimmte Abenteuer. Der französische Romancier Grevet (12./14.7.) ist einer der Stars auf dem diesjährigen White Ravens Festival, das sich von 11. bis 15. Juli mit aufregender neuer Kinder- und Jugendliteratur befasst und dafür Autoren für Lesungen, Workshops, Schreibwerkstätten und Podiumsdiskussionen in die Internationale Jugendbibliothek auf Schloss Blutenburg eingeladen hat. Die weißen Raben inspirieren und wecken Neugierde. Und wie Grevet zeigt, ist für viele Altersklassen etwas dabei. Nicht verpassen sollte man das Auftaktfest im Innenhof der Burg – mit Magie, Krach und „Worttamtam“, wie es so schön heißt. (Schloss Blutenburg, ab 11.7.)

Ebenfalls schnell heftig werden könnte es bei der Familienzusam menführung, die „Spiegel“-Journalistin und Erfolgsautorin Elke Schmitter im neuen „Inneres Wetter“-Roman veranstaltet. Erzählt wird von drei längst erwachsenen Geschwistern, die für ihren verwitweten Vater eine Geburtstagsüberraschungsfeier organisieren. Schnell kochen gegenseitige Vorwürfe hoch, und man schlägt sich Wunden. Wie es eben so läuft ... (Literaturhaus 19.7.)

Ebenfalls keine leichte Kost tischt Markus Ostermair in seinem „Der Sandler“-Roman auf. Darin lernt man einen ehemaligen Münchner Mathelehrer kennen, der wie so viele andere Großstadtgestrandete aus dem öffentlichen Bild der Boutiquen-Metropole verschwindet. Ihn begleitet der Text durch die Suppenküchen und Kleiderkammern der Stadt. Ostermair weiß, wovon er schreibt: Er hatte lange bei der Bahnhofsmission gearbeitet. (Seidlvilla, 21.7.)

Hoffentlich etwas heiterer dürften die Stadtspaziergänge, genauer gesagt „Hörgänge“, der einfallsreichen Kopfkino-Reihe ausfallen. Dafür hat die Schauspielerin Henriette Fridoline Schmidt Texte Münchner Autoren gesammelt und eingelesen. Ausgestattet mit einem Kopfhörer-Set kann man sich nach dem Silent-Disco-Prinzip durch die Straßen treiben und führen lassen. (Hoch X, über das Theater werden die Treffpunkte bekannt gegeben, 8. bis 10.7.) rupert sommer

RUTGER BREGMAN

Im Grunde gut

(Rowohlt) Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! („Das Göttliche“ von Johann Wolfgang von Goethe, 1783) Und wenn man der Wissenschaft und dem Autor Bregman glauben darf, waren wir das auch bis vor ungefähr 10.000 Jahren, da – wenn sie sich trafen – die Jäger*innen und Sammler*innen untereinander Informationen und Erfahrungen zum allgemeinen Nutzen ausgetauscht haben. Dann aber rammte „der erste Bauer“ vier Pfosten in den Boden, betrieb auf dem Grund dazwischen Ackerbau und Viehzucht und sagte: Alles meins! Andere behaupten, Habgier, Egoismus und Rücksichtslosigkeit hätten erst mit der Gründung der FDP Einzug in die Gesellschaft gehalten, das aber lässt sich wissenschaftlich nicht zweifelsfrei herleiten (... kleiner Scherz!). Und trotzdem, immer wieder wurde versucht zu beweisen, dass der Mensch unter der minimal dünnen Haut der Zivilisation schlecht sei. Tests, Versuchsreihen und Studien jeglicher Couleur wurden gestartet, durchgeführt, beendet und ausgewertet. Doch oft wurde die These zum Dogma erhoben und somit war das Forschungsergebnis vorgegeben: Der Mensch ist schlecht! Autor Bregman hat sich die Mühe gemacht und sich durch die Archive der Forschungsreihen gearbeitet und kam zum unwidersprochenen Ergebnis, dass – wenn eine Studie die falsche Richtung nahm – nachgeholfen und „korrigiert“ wurde. Die Herrschenden, allen voran „Bild“ und das Krawallfernsehen, brauchen die Mär des grundsätzlich schlechten Menschen … fürs Geschäft und die Rendite! Auch William Golding („Herr der Fliegen“) lag falsch in seiner Annahme, der Mensch, also auch Kinder seien von Natur aus schlecht… nein, sie wurden von meinungsstarken Erwachsenen dahin geprügelt. Die These lautet: In Notsituationen kommt überwiegend das Beste im Menschen zum Vorschein. Diese soziologische Erkenntnis ist wohl belegt, wird aber in ihrer Gänze ignoriert. Aber – ganz klar! – gibt es auch Menschen, die einer Rentnerin die Münzsammlung stehlen, die sich einmal bezahlte Steuern mehrfach erstatten lassen, die behaupten, der Sex war einvernehmlich, die Lokalpolitiker verprügeln oder aus rassistischen Gründen töten. Das alles aber sind natürlich Ausnahmen, nicht die Regel. „Zivilisation ist zum Synonym für Frieden und Fortschritt geworden, während die Wildnis für Krieg und Untergang steht. In Wirklichkeit war es für den größten Teil unserer Geschichte genau umgekehrt.“ Pflichtlektüre! MARTIN WELZEL

WILLIAM BOYD

Trio

(Kampa) Swingin’ London, 1968. Talbot Kydd ist ein mit allen Wassern gewaschener Filmproduzent, den eigentlich wenig aus seiner in der britischen Upperclass angesiedelten Ruhe bringen kann. Standesgemäß ist er reich verheiratet, seine Homosexualität schlummert im Verborgenen eines geheimen Zweitwohnsitzes samt Fotoatelier und Galerie. Sein neuestes Filmprojekt birgt Schwierigkeiten: seine berühmte amerikanische Hauptdarstellerin Anny Viklund wird vom FBI verfolgt wegen einer unglücklichen Ex-Ehe zu einem flüchtigen Terroristen, der plötzlich auftaucht und Geld von ihr will – völlig unpassend, hat sie doch gerade eine leidenschaftliche Sex-Affäre mit ihrem jungen Rockstar-Schauspielpartner begonnen. Parallel dazu ertränkt Elfrieda Wing, die berühmte Schriftstellerin und Ehefrau des Regisseurs, ihre Schreibblockade in Gin & Tonic, während sie versucht, für ein neues Buchprojekt den letzten Tag Virginia Woolfs vor ihrem Selbstmord zu recherchieren. Genial verwebt William Boyd die Schicksale seines „Trios“ hier humorvoll zu einem intelligent konstruierten Roman, der wie immer für beste Unterhaltung sorgt. Diesmal vielleicht aber etwas leichtfüßiger daherkommt als andere Werke des britischen Schriftstellers, der in London und Südfrankreich lebt, und zu den bedeutendsten und erfolgreichsten Vertretern zeitgenössischer angelsächsischer Literatur zählt. RAINER GERMANN

OLIVER BENJAMIN UND DWAYNE EUTSEY

Der Dude und Du

(Abide University Press) Nichts ist bekanntlich so schwer wie das Einfache. Vor allem das einfache Leben. Umso wichtiger, dass man die richtigen Vorbilder sucht – und sich helfen lässt. Ein randvolles Glas White Russian in der schwitzigen Hand und ausreichend gut gekühlter Vorrat im Kühlschrank des Vertrauens schaden natürlich nicht. Und dann muss man vielleicht einfach nur mal die Lauscher aufsperren, auf den Dude hören (und beim Lärm des sogenannten Rests der Welt auf Durchzug stellen). „Das Leben ist zu kurz, Mann“, sagt er. „Mach dir keine Sorgen wegen dem Scheiß.“ So viel muss reichen als sommerlich passende Wahrheit, die man einfach mal stehen lassen, besser sogar noch: beherzigen könnte. Oliver Benjamin und Dwayne Eutsey, die sich als Gründer der komplett stressbefreiten Church of the LatterDay Dude verstehen, können den Kulthit der Cohen-Brüder natürlich Wort für Wort mitsprechen. Und der von Jeff Bridges im Morgenmantel, Puschen und Fussel-Look für die Nachwelt verewigte Slackerosoph ist natürlich der Hausheilige. Im schmissig zu lesenden und lange, faule Abende lässig verkürzenden Brevier wälzen sie die Weisheiten aus, die der Dude hinterlassen hat. Komplexen Schachtelsatzgedanken muss man dabei nicht folgen. Eigentlich sollte man sich ja in allen Lebenslagen auch nur eine Kernfrage stellen: „Was würde der Dude tun an meiner Stelle?“ Schnell verstanden, schnell konsumiert. Was den Meta-Spaß für Popkulturhobbyforscher ausmacht, ist das Großabenteuer der deutschen Übersetzung. Es muss ein Biest von einem Buch zum Nachempfinden gewesen sein – schon allein deswegen, weil so viele Film-Zitate ikonisch sind, sich im Original und im Deutschen aber oft ganz verschieden lesen. Wer Lust und Durst und Laune hat, kann in dieses Buch ganz tief hineinhören.

RUPERT SOMMER

WOLFGANG KOHLHAASE

Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen

(Wagenbach) Auch wem der Name kein Begriff ist: Alle kennen diesen Autor. Die Titelgeschichte erzählt vom KZ-Häftling Straat, der behauptet, persisch zu können. Ein Kapo ist ganz scharf drauf, diese Sprache zu lernen – Straat rettet nur, sie zu erfinden … Auf dieser Erzählung beruht der Film Persischstunden. Andere Filme, für die Wolfgang Kohlhaase Vorlagen und Drehbücher schrieb: Sommer vorm Balkon, In Zeiten des abnehmenden Lichts, Als wir träumten, Die Stille nach dem Schuss, Solo Sunny, Der Aufenthalt, Ich war neunzehn, Berlin – Ecke Schönhauser. Das ist ein ganz besonderer Sound, lakonisch, ironisch, in genauer Kenntnis der Verhältnisse, aus dem Leben gegriffen, verortet zwischen Usedom und Budapest, mit dem Dreh- und Angelpunkt Berlin. Hier: KriegszeitGeschichten, Ost/West-Geschichten. Ich-Erzählungen. Es schreibt: Ein Mann in seinen besten Jahren. Erstdruck 1977! Zur selben Zeit: Kindheitsmuster. Franziska Linkerhand. Guten Morgen, Du Schöne. Texte von Frauen, die anderes wollten: Veränderung. Bei ihm: Genaue Beschreibung. Grandioses Handwerk. Gerade geht Wolfgang Kohlhaase ins Neunzigste. Wer wissen will, wie Krieg und Nachkriegszeit waren, wie gedacht und empfunden wurde, worum es wohl ging, beim „Erretten der äußeren Wirklichkeit“, damals: Super-Einstieg. HERMANN BARTH

GUILLERMO MARTÍNEZ

Der langsame Tod der Luciana B.

(Eichborn) Das Leben ist ein Würfelspiel. Biologisch und gesellschaftlich diktiert von Zufällen und Wahrscheinlichkeiten. Typisch Mensch: Trifft uns ein unwahrscheinliches, tragisches Ereignis, wittern wir schnell Absicht – sei es der ungerechte Wille einer fahrlässig herbei fantasierten Gottheit oder die Dunkelpläne eines Schurken – selbst wenn deren Wahrscheinlichkeit noch weit geringer ist als die des Ereigniseintritts an sich. Autor und Mathematiker Guillermo Martínez (Die Pythagoras-Morde; Der Fall Alice im Wunderland) platziert seine drei Hauptfiguren an den Ecken eines Dreiecks, dessen Seitenlängen – und damit die empfundene Nähe der Figuren zueinander – sich stetig verändern. Luciana beschuldigt Schriftsteller Kloster, sich mit mehreren Morden an ihr zu rächen, weil er sie u. a. verantwortlich mache für den Tod seiner Tochter. Martínez verkompliziert die zentrale Frage, wem der IchErzähler (und damit das Publikum) trauen soll. Umso kniffliger, da seine einzige Quelle die Gespräche mit Luciana und Kloster sind. Exzellent zusammengeschraubt, vor allem durch die Perspektivwechsel und die fortwährend provozierte (Neu-)Einschätzung der Kontrahenten. Den metaphysischen Schatten hätte Martínez aber besser draußen gelassen.

JONNY RIEDER

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