ippnw forum
das magazin der ippnw nr156 dez2018 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
Foto: Ralf Schlesener
- Reden statt rüsten: Den INF-Vertrag retten - Der Klimawandel ist ein medizinischer Notfall - Ein Jahr Friedensnobelpreis für ICAN
Humanität und Menschenrechte statt Ausgrenzung und Abschottung
issuu.com/ippnw
Bestellen Sie die Broschüre Im humanitären Bereich hat das Werben um Erbschaften und Nachlässe eine lange Tradition. Der Vorstand der IPPNW hat sich nach reiflicher Überlegung dazu entschlossen, diese Möglichkeit den eigenen Mitgliedern, Fördererinnen und Förderern anzutragen. Den Einsatz für Ziele, die Ihnen am Herzen liegen, können Sie durch ein Vermächtnis oder ein Erbe nachhaltig unterstützen. Diese zwölfseitige Broschüre informiert Sie, welche Fragen dabei zu bedenken sind.
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Ich bestelle ...... Exemplare der kostenlosen Broschüre „Über den Tag hinaus die Zukunft mitbestimmen: Vererben oder vermachen an einen gemeinnützigen Verein“.
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IPPNW Deutsche Sektion Körtestraße 10 10967 Berlin
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EDITORIAL Anne Jurema ist Referentin für Soziale Verantwortung bei der IPPNW Deutschland.
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.000 Menschen sind auf der Flucht nach oder in Europa seit 1993 ums Leben gekommen. So lang ist die unvollständige Liste der Toten der Organisation UNITED for Intercultural Action.
Seitdem die EU im Juni 2018 das letzte Schiff der zivilen Seenotrettung festgesetzt hat, findet quasi keine Seenotrettung mehr statt. Die EU lässt damit täglich Menschen im Mittelmeer vorsätzlich ertrinken, wie Martin Kolek (Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut), der 2016 mit Sea-Watch im Einsatz war, in dieser Ausgabe schreibt. Zugleich stehen zivile Seenotretter vor europäischen Gerichten, weil sie die Europäische Grundrechtecharta von 2000 und die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 verteidigen. Was heute in Europa geschieht, ist nicht nur ein absolutes Armutszeugnis für unsere parlamentarischen Demokratien, sondern auch ein zivilisatorisches Versagen auf ganzer Linie. „Es geht inzwischen nicht mehr nur darum, Menschen zu retten, sondern um unsere Menschlichkeit, die Fähigkeit zur Empathie“, schreibt die Journalisten Kristin Helberg in einem Blogeintrag auf der Internetseite der Publikation Todesursache: Flucht. In dieser Ausgabe widmen wir uns dem Zustand von Humanität und Menschenrechten in einem von Nationalismus und Abschottung ergriffenen Europa. IPPNW-Vorsitzender Alex Rosen beschäftigt sich mit der Frage der Ursachen und Auswirkungen des neuen weltweiten Rechtsrucks. Einen kurzen Rückblick auf die Menschenrechte zu ihrem 70. Geburtstag geben IPPNW-Ärztinnen Carlotta Conrad und Katharina Thilke. Die Medizinstudierende Friederike Monninger erzählt von ihrer Zeit in einem Flüchtlingscamp in Nordgriechenland, wo das Grundrecht auf Asyl praktisch ausgehebelt wird. Ihr Text ist ein eindrucksvolles Beispiel, wie Sprache humanisieren kann. Wie heute immer mehr Menschen nicht nur durch die Geschehnisse in ihrer Heimat, sondern auch durch Erlebnisse auf der Flucht traumatisiert werden, beschreibt Dr. Mercedes Hillen, ärztliche Leiterin des Zentrums ÜBERLEBEN. Doch es gibt auch Grund zur Zuversicht: Unter dem Motto von #unteilbar, we’ll come united und #ausgehetzt demonstrierten jüngst Hunderttausende für eine solidarische und offene Gesellschaft. Sie sind überzeugt, dass der Abbau von Sozial- und Rechtsstaat und die Ausweitung von Rassismus und Nationalismus Kehrseiten derselben Medaille sind und ihnen gemeinsam entgegengetreten werden muss. 3
INHALT Klimawandel: Die gesundheitlichen Folgen
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THEMEN Der Syrienkrieg........................................................................................................8 Nicaragua: das Ende des Sandinismus?...............................................10 Biblis: Erfolg nach 15 Jahren.................................................................... 12 Der Klimawandel ist ein medizinischer Notfall................................14 Reden statt Rüsten...........................................................................................16 Ein Jahr Friedensnobelpreis........................................................................ 18
SERIE Die Nukleare Kette: Nowaja Semlja....................................................... 19
Gegen Rechtsdruck und Abschottung: Frieden und Menschenrechte schützen
20 SCHWERPUNKT Vielfalt statt Einfalt.......................................................................................... 20 Die neue deutsche Friedlosigkeit............................................................. 22 Ohne irgendeinen Unterschied...................................................................24 Die Abstellgleise des europäischen Asylsystems............................ 25 Traumatische Flucht........................................................................................ 26 Über das vorsätzliche Ertrinken lassen................................................ 28
WELT Brücken bauen für den Frieden................................................................ 30
Europäisches IPPNW-Treffen: Gemeinsame Ziele verfolgen
30 RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen.................................................................................................................... 32 Gesehen, Geplant, Termine......................................................................... 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33
MEINUNG
Andreas Zumach ist Journalist und Publizist. Er schreibt unter anderem für die taz und als freier Korrespondent für andere deutsch- und englischsprachige Print- und Rundfunkmedien.
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Die Menschenrechtsnormen sind universell gültig. Doch der Umgang mit tatsächlichen oder vermeintlichen Verstößen gegen diese Normen ist häufig sehr selektiv und zeigt die dahinterstehende Doppelmoral.
b, wie schnell, wie präzise, wie hart auf Verstöße reagiert wird, das ist abhängig vom jeweiligen politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Interesse einer Regierung. Das zeigt einmal mehr ein Vergleich des Umgangs der westlichen Staaten in den Fällen Kashoggi und Skripal. Anfang März dieses Jahres überlebten der ehemalige russische Doppelspion Sergej Skripal und seine Tochter Julia in Salisbury nur knapp einen Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok. Bereits sechs Tage später machte Premierministerin Theresa May Russland und namentlich auch Präsident Wladimir Putin für den Anschlag verantwortlich. Obwohl May zunächst keine Beweise vorlegte, schlossen sich US-Präsident Donald Trump, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie weitere Regierungschefs der westlichen Bündnispartner der Anschuldigung in einer gemeinsamen Erklärung sofort an. Aus westlichen Hauptstädten wurden über hundert russische Diplomaten ausgewiesen. Im Fall des saudischen Journalisten Jamal Kashoggi verhalten sich Trump, Merkel und Macron bislang ganz anders. Inzwischen liegen Beweise vor, dass Kashoggi zumindest mit Wissen, wenn nicht sogar auf Anweisung des saudischen Kronprinzen Mohammed Bin Salman von einem Spezialkommando bestialisch gefoltert und ermordet und seine zerstückelte Leiche anschließend beseitigt worden ist.
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ie Bundesregierung hat sich sechs Wochen nach dem Mord endlich zu einem Stopp der Rüstungsexporte durchgerungen. Auch Dänemark ist diesem Beispiel gefolgt. Doch US-Präsident Trump vermeidet weiterhin Kritik an Riad und Sanktionen. Für die beschämende Zurückhaltung des Westens gibt es eine Reihe von Erklärungen. Insbesondere für die US-Administration haben die milliardenschweren Rüstungsaufträge aus Riad absoluten Vorrang. Zudem braucht Trump Saudi-Arabien als Bündnispartner im Konflikt mit Iran. Mit ihrem sehr unterschiedlichen Verhalten in den Fällen Skripal und Kashoggi unterminieren und schwächen die Regierungen der westlichen Wertegemeinschaft einmal mehr die universellen Menschenrechtsnormen. 5
N ACHRICHTEN
Weltkarte atomarer Verwüstung
20 Jahre Nuclear-Free Future Award
Weichenstellung für eine Bewaffnung der Drohne Heron TP
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ie IPPNW hat am 10. Oktober 2018 eine interaktive Karte zu den weltweiten Gesundheits- und Umweltfolgen der nuklearen Kette veröffentlicht. Unter www.hibakusha-weltweit.de (deutsch) und www.hibakusha-worldwide.org (englisch) können sich Interessierte über Orte auf der ganzen Welt informieren, an denen sich die katastrophalen Folgen der nuklearen Kette für Mensch und Umwelt exemplarisch zeigen. Es gibt Informationen über die atomaren Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima, über die Folgen für Anwohner*innen ehemaliger Atomwaffentestgebiete sowie über die Gesundheitsrisiken für Menschen in der Umgebung von Uranbergwerken oder durch den Einsatz von Uranmunition. Die interaktive Karte führt die Informationen der Plakate der IPPNW-Ausstellung „Hibakusha weltweit“ auf einen Blick zusammen. Interessierte können auf die Orte zoomen und erhalten weiterführende Informationen. Zudem können einzelne Kategorien wie „Atomunfälle“, „Atomwaffentests“ oder „Einsatz von Uranmunition“ ausgewählt werden. Präsentiert wird nur eine kleine Auswahl an exemplarischen Orten. Neben den vorgestellten Fallbeispielen existieren weltweit leider noch zahlreiche weitere Orte. Die Plakate sollen die katastrophalen Folgen der atomaren Kette illustrieren, Zusammenhänge aufzeigen und dazu anregen die Mär von der „sicheren und sauberen Atomenergie“ zu hinterfragen. www.hibakusha-weltweit.de
ie Preisträger des Nuclear Free Future Award kommen in diesem Jahr aus Australien, Kasachstan, England, Frankreich und Österreich. Der Preis ehrt seit 1998 Menschen, die sich für das Ende des Atomzeitalters engagieren und Wege aufzeigen, sowohl die militärische wie die zivile Nutzung der Atomenergie zu beenden. In der Kategorie Widerstand wurde Jeffrey Lee aus der Region Koongarra in Australien und Mitglied des Aborigine-Clans der Djok ausgezeichnet. Der französische Atomkonzern Areva hat sich bereits vor Jahrzehnten die Abbaurechte eines dortigen Uranvorkommens gesichert und versucht seither mit großem Druck nahezu alles, um Jeffrey Lee dazu zu bewegen, dem Uranabbau grünes Licht zu geben. Doch als oberster Verwalter des Landes hat er alle Angebote abgelehnt und Koongarra dem australischen Staat angeboten. Der wiederum hat das Angebot angenommen, Koongarra in den Kakadu-Nationalpark integriert und als Teil des Weltkulturerbes damit dauerhaft unter Schutz gestellt. In der Kategorie Aufklärung gewann Karipbek Kuyukov aus Kasachstan, der 1967 nur 100 Kilometer entfernt von dem Atomwaffentestgelände im Dorf Yegyndybulak zur Welt kam – als Folge der radioaktiven Strahlung ohne Arme. Er widmete sein Leben und seine Kunst dem Ziel „dass niemand mehr unter den schrecklichen Folgen atomarer Waffenproduktion und Waffeneinsatzes zu leiden“ hat. Weitere Infos zu den Preisträgern: www.nffa.de 6
ach Recherchen des ARD-Politikmagazins „Report Mainz“ sind Planungen für eine Bewaffnung der geleasten Heron TP Drohnen durch die Bundeswehr deutlich weiter vorangeschritten, als bisher bekannt. Das gehe aus dem Vertrag für die Beschaffung der Drohnen hervor. In dem Vertrag werden bereits konkrete Schritte für die Bewaffnung der Heron TP festgehalten. So seien dort unter anderem die Anpassung und der Einbau der Munition für die Drohne vereinbart. Zudem würden die taktische Ausbildung der Bundeswehrsoldaten an dem bewaffneten System in Israel vereinbart sowie sehr konkrete Anforderungen für bewaffnete Einsätze formuliert. Am 13. Juni 2018 stimmten der Verteidigungs- und der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages einer erstmaligen Anschaffung von bewaffnungsfähigen Drohnen des Typs Heron TP zu. Das unbemannte Luftfahrzeugsystem wird von Israel Aerospace Industries produziert. Angeschafft werden sollen fünf HeronDrohnen für knapp 900 Millionen Euro. Die Anmietung der Drohnen ist als Überbrückungslösung bis zur Entwicklung einer europäischen Kampfdrohne gedacht. Die IPPNW hat die parlamentarische Entscheidung im Sommer mit Lobbyarbeit begleitet und insbesondere die SPD-Abgeordneten gewarnt, dass das Leasing der Heron TP die Koalition in Zugzwang bringen könnte, die Waffenfähigkeit des bereits angeschafften teuren Drohnensystems auch zu nutzen.
N ACHRICHTEN
PKK zu Unrecht auf EU-Terrorliste
Friedenskonferenz im Iran
Protest vor Botschaften der USA und Russlands
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Aino Weyers (ICAN und IPPNW) referierte auf dem Kongress über die Arbeit der internationalen Kampagne ICAN und den UN-Vertrag über ein Verbot von Atomwaffen. IPPNW-Ärztin Dr. Katja Goebbels sprach über die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Do-no-Harm-Konzepts bei humanitären Einsätzen in Kriegs- und Konfliktländern.
Hintergrund der Protestaktion war die Ankündigung von US-Präsident Donald Trump den INF-Vertrag aufzukündigen. „Dadurch droht ein unkontrolliertes atomares Wettrüsten zwischen den USA und Russland. Insbesondere die Menschen in Deutschland und Europa werden damit der Gefahr eines Atomkriegs ausgesetzt. Die Bundesregierung muss jetzt zwischen den USA und Russland vermitteln, um einen neuen Rüstungswettlauf zu verhindern. Wir fordern die Regierung auf, Deutschland atomwaffenfrei zu machen und dafür zu sorgen, dass die US-Atombomben aus Büchel in Rheinland-Pfalz abgezogen werden“, erklärte Felix Werdermann von ICAN Deutschland bei der Aktion.
Webseite der Konferenz: http://healthpeace.sums.ac.ir/en
Fotos von der Aktion: www.flickr.com/photos/ ican_de/albums/72157673328536837
er Gerichtshof der Europäischen Union hat am 15. November 2018 entschieden, dass die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zwischen 2014 und 2017 zu Unrecht auf der Liste terroristischer Organisationen stand. Das Gericht erklärte die zugrunde liegenden Beschlüsse der EU-Staaten wegen Verfahrensfehlern für nichtig. Nach Ansicht des Gerichts hat der Rat nicht hinreichend begründet, warum er die PKK auf der Liste führt. So sei beispielsweise die neue Lage der PKK im Mittleren Osten nicht beachtet worden. Als Argument für das Verbot seien zudem unter anderem Gerichtsbeschlüsse aus der Türkei aufgeführt worden. Das EU-Gericht zweifelte an, ob in den türkischen Prozessen das Recht der PKK auf Verteidigung geachtet worden ist. Der EURat habe diese Urteile ausreichend prüfen müssen. Das gleiche gelte für ähnliche Urteile von US-Gerichten. In der Urteilsbegründung heißt es zudem, dass zwischen der Verbotserneuerung von 2014 und der ersten Verbotsverfügung 2002 ein Zeitraum von über zehn Jahren liege. Das Gericht verwies insbesondere auf die Waffenstillstandserklärungen der PKK seit 2009 und die Friedensgespräche mit dem türkischen Staat. Ebenfalls aufgeführt ist der Friedensaufruf des PKK-Gründers Abdullah Öcalan zum kurdischen Neujahrsfest 2013. Für das Jahr 2018 liegt ein neuer Beschluss zur EU-Terrorliste vor, der durch das aktuelle Urteil nicht infrage gestellt wird.
om 13.–16. November 2018 haben Mitglieder der deutschen IPPNWSektion an dem internationalen Kongress „Health for Peace“ in Shiraz im Iran teilgenommen. Ziel des Treffens war, Menschen aus den Gesundheitsberufen zusammen zu führen, um ihre wichtige Rolle in der Gewaltprävention und als Friedensstifter*innen auf internationaler Ebene zu stärken. Thematisiert wurde Gewalt in ihren unterschiedlichen Formen wie direkte Gewalt gegenüber Frauen oder strukturelle Gewalt z. B. durch die Sanktionen – aus der Sichtweise unterschiedlicher Disziplinen wie Epidemiologie, Psychiatrie oder Global Health. Die jüngsten Sanktionen gegen den Iran träfen vor allem die bereits benachteiligten unteren sozialen Schichten. Derzeit nimmt die Inflation im Iran stark zu. Dadurch stehen viele Geschäfte vor dem Aus, die auf Importe aus dem Ausland angewiesen sind. Zudem habe das Misstrauen der iranischen Öffentlichkeit gegenüber der internationalen Gemeinschaft durch die einseitige Aufkündigung des Abkommens durch US-Präsident Donald Trump deutlich zugenommen.
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it nachgebauten Atomwaffen haben Friedensaktivist*innen von ICAN, IPPNW und DFG-VK am 10. November 2018 vor der Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens zwischen den USA und Russland gewarnt. Vor den Botschaften der beiden Länder in Berlin führten sie ein Straßentheater auf und forderten ein Festhalten am INF-Vertrag zur Kontrolle nuklearer Mittelstreckensysteme. Unter anderem telefonierten als Donald Trump und Wladmir Putin verkleidete Personen über rote Telefone miteinander und zersägten später Atombomben. Aktivist*innen in gelben Strahlenschutzanzügen hielten im Hintergrund ein Transparent mit der Aufforderung: „Reden statt rüsten! INF-Vertrag retten! Atomwaffen weltweit abschaffen!“
FRIEDEN
Der Syrienkrieg IPPNW-Akzente mit faktenreicher Analyse zum anhaltenden Krieg in Syrien
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ie Menschen in Syrien leiden bis heute an dem unsäglichen Krieg, der weite Teile des Landes zerstört hat. In der deutschen Öffentlichkeit ist der Krieg längst nicht mehr so präsent, wie es angemessen wäre. Und selbst innerhalb der deutschen Friedensbewegung gibt es keine Einigkeit in der Bewertung dieses Krieges. Und Deutschland spielt in dem Konflikt eine Rolle.
wichtiger und enger Nachbar EU-Europas und Russlands ist, nach dem Irak ein weiteres bedeutendes nahöstliches Land. Es ist zudem neben der Ukraine zum brisanten Brennpunkt für den neuen Ost-West-Konflikt geworden. Die Atomwaffen-Giganten NATO und Russland stehen sich hier gegenüber und tragen ihr Ringen auf dem Rücken kleinerer Länder aus. Als weitere Atommacht verfolgt Israel sehr konfrontativ seine ganz eigenen Interessen in der Region. Das bedroht letztendlich den Weltfrieden und damit uns alle.
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ls Anfang 2011 vor dem Hintergrund des „Arabischen Frühlings“ Proteste im Land ausbrachen, die rasch immer gewaltsamer wurden, spielten originär inner-syrische Konflikte noch eine signifikante Rolle. Diese Gewalt, die binnen kurzer Frist in kriegerische Dimensionen ausuferte, trug somit zu Anfang noch den Charakter eines Aufstandes, der in einen Bürgerkrieg mündete. Schon frühzeitig wurden die Auseinandersetzungen aber erheblich von außen angeheizt: mit Waffen, bezahlten Kämpfern, Instrukteuren, Geheimdienstoffizieren, Ausbildung und Geld aus dem Ausland – getrieben von ausländischen Interessen, was ihn schnell zum Stellvertreterkrieg werden ließ.
Eine gesellschaftliche Debatte darüber wäre dringend erforderlich, wenn wir einen sinnvollen Beitrag zu seiner Lösung leisten wollen. Zu dieser Debatte will die deutsche Sektion der IPPNW nun einen Beitrag leisten, mit dem im Dezember erschienenen Heft unserer Reihe „IPPNW-Akzente“. Das Papier erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und enthält keine abschließende Bewertung. Es versucht aber, die wesentlichen Akteure zu benennen, sie in Relation zu setzen und Perspektiven für eine Lösung des Konflikts aufzuzeigen. Im Folgenden dokumentieren wir vorab die Zusammenfassung aus unserer Publikation.
Die ausländischen Akteure des Krieges sind zum einen regionale Mächte: Auf Seiten der syrischen Regierung agieren die libanesisch-schiitische Hisbollah und der Iran. Zahlreiche „Rebellen“-gruppen und der Daesh („Islamischer Staat“, „IS“) werden von der Türkei unterstützt, in der anfangs die „Freie Syrische Armee“ aufgebaut wurde und ihr Hauptquartier hatte. Die Öl- und gasreichen Golfmonarchien, besonders Saudi-Arabien und Katar, welche die Aufrüstung des Irak-basierten Daesh von Anfang an mit Petro-Milliarden unterstützten, außerdem Jordanien, aktuell Stützpunkt der Bundeswehr-Tornados sowie Israel, das in Syrien interveniert und bombardiert, sind, Völkerrecht missachtend, am Krieg in Syrien beteiligt.
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er Krieg in Syrien, der inzwischen seit 2011 andauert, betrifft uns in Deutschland in hohem Maße: Über 700.000 der inzwischen mehr als 5 Millionen Menschen, die vor diesem Krieg ins Ausland geflohen sind, kamen nach Deutschland. Aber es ist noch weit mehr, was uns mit diesem Land und dem mörderischen Geschehen dort verbindet: Etwa 500.000 von ursprünglich einmal gut 21 Millionen Einwohnern sind durch den Krieg umgekommen. Noch mehr Menschen sind zu Flüchtlingen innerhalb des Landes geworden; mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist inzwischen auf der Flucht. Der Krieg destabilisiert in der ohnehin instabilen Region, die ein
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ndererseits spielen globale Akteure eine gewichtige Rolle: Auf der Seite der syrischen Regierung steht als langjähriger Verbündeter Russland, das seine einzige Mittelmeer-Marinebasis verlieren würde, wenn Assads Baath-Regierung fiele. Als Unterstützer verschiedener „Rebellen“-Fraktionen für einen Regime-Change agieren die USA, die explizit seit 2006 die Implantation eines „New Middle East“ durch substanzielle Veränderung der Machtverhältnisse im Nahen und Mittleren Osten vorsahen. 8
YARMUK, DAMASKUS SEPTEMBER 2015
ALEPP0 DEZEMBER 2016 © Jan Oberg, Oberg PhotoGraphics
© Karin Leukefeld
General Wesley Clark zufolge planten die USA seit 2007, sieben Staaten in fünf Jahren „auszuschalten“; Zitat: „(…) starting with Iraq, and then Syria, Lebanon, Libya, Somalia, Sudan and, finishing off, Iran.“ Zu den wesentlichen Akteuren auf Seite der USA zählen außerdem die NATO mit den USA als Führungsmacht sowie die EU, die mit ihrer „Nachbarschaftspolitik“ in den Jahren zuvor die syrische Gesellschaft spaltete. Deutschland, das neben anderen mit seinen Sanktionen seit 2012 die Überlebensfähigkeit im Kriegsland beträchtlich eingeschränkt hat, spielt als wirtschaftlich stärkste EU-Macht, aber auch eigenständig eine besondere Rolle; zwar weniger militärisch, aber zentral strategisch bei der Konzipierung des Regime-Change und der Umgestaltung Syriens nach den Vorstellungen des Westens.
anhängt oder sie propagiert, nimmt eine offene Konfrontation zwischen den Atommächten billigend in Kauf und damit die Gefahr eines Atomkrieges, der die ganze Menschheit bedrohen würde. Dies ist einer der Gründe, warum wir als „Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ uns für eine friedliche Lösung des Syrienkonflikts engagieren. Aber selbst ungeachtet dieser Gefahr muss dieser Krieg mit 500.000 Toten und 12 Millionen Flüchtlingen so schnell wie möglich beendet werden. Das Denken und die Politik der selbst-erklärten „internationalen Gemeinschaft“ muss grundsätzlich die Richtung ändern: Von „Regime Change“ zu „Das Morden beenden“. Das Recht auf Leben ist das wichtigste Menschenrecht. Ohne Frieden werden auch die anderen Menschenrechte keine Chance in Syrien haben.
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n der humanitären Katastrophe in Syrien haben alle kriegsführenden Parteien ihren Anteil. Denn moderne Kriege, zu deren Charakteristika eine hohe Zahl von zivilen Opfern gehört, führen immer zu humanitären Katastrophen. Zur Grausamkeit der Kämpfe in Syrien trägt der Luftkrieg der Regierung, Russlands und der Anti-IS-Koalition bei. Dazu kommt die Zerstörung der Infrastruktur, die von beiden Seiten betrieben wird, sowie die Methoden der „Rebellen“ und des Daesh, sich in Wohngebieten zu verschanzen, die Bevölkerung an der Flucht zu hindern und Autobomben- und Selbstmordanschläge in Städten zu verüben. Des Weiteren wird immer wieder über Giftgasanschläge berichtet, für die man sich gegenseitig verantwortlich macht. Da sie militärisch sinnlos sind, besteht der Verdacht der Inszenierung, um eine westliche Intervention in großem Stil herbeizuführen.
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ie deutsche IPPNW-Sektion fordert von der Bundesregierung, ihre Beteiligung am Krieg in Syrien, der in weiten Teilen ein Stellvertreterkrieg auf Kosten der syrischen Bevölkerung ist, einzustellen. Von allen am Krieg Beteiligten verlangen wir die Einhaltung des Völkerrechts, das offensive Gewalt als Mittel zur Durchsetzung von eigenen Interessen verbietet. Als dringend umzusetzende Schritte fordern wir das Ende jeglicher Gewalt, den Stopp aller Waffenlieferungen und die Unterstützung lokaler Waffenstillstände. Nötig ist weiter humanitäre Hilfe im Rahmen von UN, IRK und Rotem Halbmond. Wir fordern die Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen, die Aufhebung der Sanktionen und den Einsatz für Verhandlungen zwischen allen am Konflikt beteiligten Parteien, am sinnvollsten im Rahmen einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO).
Schwerste Folgen haben außerdem die Sanktionen des Westens, deren Hauptmechanismus in der Geiselnahme der Bevölkerung mit dem Ziel eines Machtwechsels in Syrien besteht und die laut dem UN-Bericht von 2016 „Humanitarian Impact of Syria-Related Unilateral Restrictive Measures“ zusammen mit den Kriegshandlungen „die größte humanitäre Krise seit dem 2. Weltkrieg bewirkt haben“ – und weiter bewirken (wobei die UN-Organisation die Kriege in Korea, Vietnam und im Irak unterschlägt, auch wenn die Zahl der Flüchtlinge im Syrienkrieg höher ist).
Das IPPNW-Akzente „Der Syrienkrieg“ kann für 10,00 Euro in der IPPNW-Geschäftsstelle oder in unserem Online-Shop bestellt werden (shop.ippnw.de) oder kostenlos als PDF heruntergeladen werden unter: ippnw.de/bit/syrienakzente
Spätestens seit dem offenen Eingreifen Russlands seit September 2015 wurde klar: Es ist eine Illusion zu glauben, diese Katastrophe ließe sich durch den Sturz Assads beenden. Wer ihr weiter
Dr. Helmut Fischer, Christoph Krämer, Dr. Manfred Lotze, Dr. Helmut Lohrer und Dr. Jens Wagner. 9
Foto: Voice of America
FRIEDEN
Nicaragua: das Ende des Sandinismus? Über die aktuelle Situation in Nicaragua
Entwicklung von Aufstand und Repression Im vergangenen April wurde die Rebellion manifest. Zwei Nachrichten empörten die Menschen, vor allem die universitäre Jugend, beginnend an der UCA (die von Jesuiten betriebene Universidad Centromericana) in Managua, der Hauptstadt des Landes: die scheinbare Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber dem katastrophalen Brand in dem ökologischen Schutzgebiet Reserva Biologica IndioMaiz, einem ausgedehnten Urwald an der südlichen Grenze des Landes. Hinzu kam dann eine von der Regierung ohne wirklichen Dialog mit der Zivilgesellschaft geplante „Rentenreform“, die erhebliche Einschnitte für die Betroffenen vorsah. Dies waren die Tropfen, die das Fass zum
Überlaufen brachten: Ohne zentrale Organisation entwickelte sich, von Managua ausgehend, im ganzen Land eine Welle der Empörung der „autoconvocados“, frei übersetzt: der „selbst Aufgerufenen“. Überall wurden Hochschulen besetzt, und dann solidarisierten sich angesichts der harten Repressionsmaßnahmen der Regierung breite Bevölkerungsschichten mit der rebellierenden Jugend. Gegenüber der Gewalt von Polizei, die auch bereits Todesopfer forderte, wurde – mit Duldung der Kirche – die Kathedrale von Managua als Schutzraum besetzt, und schließlich wurden überall im Land Straßenbarrikaden errichtet. Nun begann die Regierung des Präsidenten Ortega auch mit Schusswaffen gegen die Demonstranten vorzugehen, im weiteren Verlauf auch durch 10
„Francotiradores“, Heckenschützen, die scheinbar nicht den offiziellen Polizeieinheiten angehörten. Die Regierung rekrutierte in dieser Phase „Paramilitärs“, die mit besonderer Brutalität gegen die Barrikaden und die Bevölkerung vorgingen. Menschenrechtsorganisationen, darunter die UN-Menschenrechtsorganisation, die Comision Interamericana de Derechos Humanos (CIDH) und die unabhängige nicaraguanische CENIDH (Centro Nicaraguense de Derechos Humanos) schätzen, dass bisher bis zu 500 Todesopfer auf die Konfrontation zurückzuführen sind, einige davon auch Polizeibeamte und sandinistische Militante, die der Gegengewalt aus der Bevölkerung zum Opfer fielen. Übrigens gab es auch Polizisten, die den Einsatzbefehlen den Gehorsam verweigerten,
und die deshalb inhaftiert wurden. Ohne rechtsstaatliches Verfahren wurden über 3.000 Demonstranten inhaftiert, und offenbar häufig in der Haft misshandelt.
Gründe für den Aufstand Die Regierung des Präsidenten Daniel Ortega und der Vizepräsidentin Rosario Murillo, seiner Ehefrau, hat sich weit von den Idealen der sandinistischen Revolution entfernt, die 1979 die Diktatur der Somoza-Familie durch eine Volksrevolution gestürzt hatte, um nationale Unabhängigkeit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. Beobachter sprechen davon, die regierende FSLN (=Frente Sandinista de Revolucion National) sei nun keine „sandinistische“ Partei mehr, sondern ein „ortegistisches“ Machtkartell. Inzwischen haben sich von den sieben noch lebenden Mitgliedern der „Comandantes“ der Frente Sandinista, die ab 1979 für 11 Jahre die Regierung und die Republik Nicaragua führten, vier von den Maßnahmen des Präsidenten-Paares distanziert. Darunter auch Humberto Ortega, der Bruder Daniels und frühere Chef der Sandinistischen Volksarmee, der eindringlich und öffentlich einen Wandel der Regierungspolitik fordert und verlangt, die Armee aus den Auseinandersetzungen herauszuhalten – glücklicherweise bisher erfolgreich. Auch einige frühere Armeegeneräle haben sich öffentlich gegen den aktuellen Regierungskurs ausgesprochen, und an Demonstrationen der Bürgerbewegung teilgenommen.
Ortegismus statt Sandinismus Die Regierung ist tatsächlich zu einem Familienbetrieb geworden. Entgegen der ursprünglichen Verfassung, die nur eine 5-jährige Präsidentschaftsperiode vorsah, ist Ortega nun (seit 2006) zum dritten Mal gewählt worden, und übt die Regierungsmacht in stark autokratischer Manier aus. Wichtige Institutionen wie der oberste Wahlrat und hohe Justiz-Ebenen werden offensichtlich dem Regierungswillen adaptiert, konkurrierende Parteien und Politiker wie die Partido Liberal Indepediente und das Movimiento Renovador Sandinista durch justizielle Maßnahmen aus dem parlamentarischen Weg geräumt. Die Abgeordneten der Nationalversammlung beziehen im übrigen für nicaraguanische Verhältnisse exorbitante Einkommen. Luis Carrion, einer der neun historischen Führer der damaligen Frente Sandinista in der revolutionären Epoche, beschreibt die aktuelle Situation so: „Die Frente Sandinista
wurde durch Ortega, durch ihn und seine Frau in eine Familienmacht umgewandelt, ohne irgendein Gegengewicht. Weder die Frente Sandinista noch der Staat haben Institutionen, alles ordnet sich dem Willen der Regierungsfamilie unter …“. Die Funktionen neben der Präsidentschaft: Rosario Murillo, Gattin und Vizepräsidentin. Sieben Kinder Ortegas bekleiden hohe Ämter des nicaraguanischen Staates: Der älteste Sohn, Rafael Ortega, kontrolliert gemeinsam mit seiner Ehefrau die nicaraguanische Erdölversorgung, eine entscheidende Organisation, die die Einkäufe venezolanischen Öls tätigt, zu erniedrigten Preisen entsprechend dem „Programm Petrocaribe“. Ein weiterer Sohn in hoher Position, Laureano, leitet seit 2009 ProNicaragua, die Stelle, die mit dem chinesischen Unternehmer Wang Ying über den Nicaragua-Kanal verhandelte, das Projekt eines zweiten Seewegs zwischen Atlantik und Pazifik. Das Projekt sah eine Investition von 40 Milliarden Dollar vor, aber niemand kann sicherstellen, dass der Bau bis 2025 umgesetzt wird. Laureano ist für seinen Luxuskonsum von teuren Uhren und feinen Anzügen in Nicaragua bekannt. Luis Carrion, früherer Minister für Industrie und Handel in den 80er Jahren, fügte hinzu, dass die Nominierung der Präsidentengattin Rosario Murillo nur ihre Machtstellung verdeutlichte, die schon seit geraumer Zeit eine Realität ist. Ein weiterer Sohn des Präsidentenpaares, Mauricio, kontrolliert gemeinsam mit seinen Brüdern Daniel Edmundo und Carlos Enrique drei private Fernsehkanäle, und außerdem den öffentlichen Kanal 6. Die Familie Ortega betreibt außerdem die Sender Nueva Radio Ya, Radio Nicaragua und Radio Sandino.
Die aktuelle Situation Die aktuelle Situation ist mit einem Patt zu vergleichen: Unter Einsatz massiver Gewalt hat die Regierung die Kontrolle in den Städten wieder übernommen, so etwa auch in Masaya mit dem Stadtteil Monimbo, der früheren Hochburg der Revolution gegen den Diktator Somoza. Die Barrikaden sind beseitigt, Anführer und Aktive der Rebellion zu tausenden festgesetzt, viele sind auch ins Ausland geflohen – die meisten nach Costa Rica, aber viele sogar bis hier nach Deutschland. Die Ökonomie hat einen signifikanten Rückschlag erlitten. Nach Jahren relativen Aufschwungs ist jetzt wieder das Armutsniveau von Mitte 11
der 90er Jahre zu verzeichnen. Der Staat hat seine Ausgaben drastisch kürzen müssen, darunter auch die in der Verfassung festgesetzte finanzielle Förderung der Universitäten. Über 300 Ärzt*innen, darunter viele Fachärzt*innen, wurden aus den Krankenhäusern entlassen, meist aus politischen Gründen. Verstärkt lebt das Land von den Remesas, Überweisungen von im Ausland lebenden Nicaraguanern an ihre Familienangehörigen.
Politische Forderungen und Perspektiven Ganz wichtig ist die Feststellung, dass keine ernst zu nehmende Stimme in Nicaragua eine militärische Intervention von außen fordert – zu schlimm sind die historischen Erfahrungen mit den Invasionen US-amerikanischer Truppen in den vergangenen Jahrhunderten, zuletzt durch die Organisierung und Finanzierung des „Contra“Krieges der 80er Jahre. Aus diesen Erfahrungen heraus ist auch ein bewaffneter Sturz der Regierung keine Option der rebellierenden Bevölkerung. Gefordert wird ein offener gesellschaftlicher Dialog, bei dem die katholische Kirche als Mediator schon jetzt eine bedeutsame Rolle spielt. Viele Priester haben sich mit großem Mut, sogar gegenüber massiver Propaganda und bewaffneten Attacken, für den Schutz der Menschen in ihren Gemeinden eingesetzt, und die katholische Kirche ist heute eine der wenigen vom „Ortegismus“ unabhängigen Groß-Organisationen. Eine weitere wesentliche Forderung für die Lösung des Konflikts ist die Abhaltung vorgezogener Neuwahlen, die sorgfältig vorzubereiten und auch international überwacht werden müssen, um Manipulationen auszuschließen. Dies wird mit dem jetzt amtierenden Obersten Wahlrat (CSE) nicht möglich sein. Um den Frieden im Land wiederherzustellen, ist eine gründliche und unabhängige Untersuchung der Ereignisse und Gewalttaten seit April 2018 unabdingbar. Unter solchen Bedingungen könnte aus der tief greifenden Krise eine neue Chance für unser Land entstehen.
Die Autorin ist gebürtige Nicaraguanerin, studierte Juristin und lebt seit langem in Deutschland. In Frankfurt arbeitet sie zusammen mit anderen Nicaraguaner*innen in einer Gruppe, um die Situation in ihrem Heimatland zu diskutieren.
ATOMENERGIE
Erfolg nach 15 Jahren Biblis-Klage der IPPNW erfolgreich beendet
Nach rund 15 Jahren ging das Verfahren zur Stilllegung des Atomkraftwerkblocks Biblis B zu Ende. Viele Jahre lang stritt die IPPNW beim Hessischen Umweltministerium, vor Gericht und auch öffentlich für den Atomausstieg. Es wurden rechtliche und sicherheitstechnische Argumente vorgetragen, die ihre Wirkung hinterließen und nach Fukushima zum Atomausstiegsbeschluss beitrugen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht Ende 2016 über den Atomausstieg entschieden und der Gesetzgeber das Atomgesetz 2018 geändert hatte, konnte auch die Biblis-Klage förmlich abgeschlossen werden.
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ktuell erleben wir, wie den Atomkonzernen der Atomausstieg mit Milliardenbeträgen vergoldet wird. Schon vor 20 Jahren musste die Öffentlichkeit mit ansehen, wie die Atomindustrie ein demokratisches Wahlergebnis konterkarierte, um weiterhin extrem viel Geld zu Lasten der Stromkund*innen zu verdienen: Eine mit dem Versprechen eines schnellen Atomausstiegs 1998 gewählte Bundesregierung willigte im Sommer 2000 in einen „Atomkonsens“ ein, der den langjährigen Weiterbetrieb selbst der ältesten deutschen Atomkraftwerke ermöglichte. In dieser Situation entstand in der Ärzteorganisation IPPNW die Überlegung, mit einer Musterklage zum Ausstieg aus der Atomenergie beizutragen. Die Vorbereitungen für die Biblis-Klage liefen an …
Restrisiko
Das Problem vorheriger Klagen gegen Atomanlagen hatte darin bestanden, dass sich diese auf „atomkritische“ Gutachter gestützt hatten, denen im Gerichtssaal gut 12 TÜV-Leute gegenüberstanden, die ohnehin alles pauschal dementierten. Im Ergebnis billigten die Gerichte den Atombehörden einen weiten „Beurteilungsspielraum“ und somit die abschließende sicherheitstechnische Bewertung zu, so dass die Atomkraftgegner mit ihren Klagen fast zwangsläufig scheitern mussten, sofern sie keine formalen Mängel geltend machen konnten.
Neu war insbesondere auch, dass die Biblis-Klage der IPPNW – gestützt auf das Atomgesetz – rechtlich „sehr breit“ abgestützt wurde. Der Genehmigungswiderruf und somit die Stilllegung des Atomkraftwerksblocks Biblis B wurde nicht nur – wie üblich – wegen einer „Gefahr“ im atomrechtlichen Sinne beantragt. Hinzu kam die zentrale Begründung, dass mit dem massiven Abweichung des Sicherheitsstandards vom „Stand von Wissenschaft und Technik“ eine wesentliche „Genehmigungsvoraussetzung weggefallen“ war.
Neue Strategie
Nicht zuletzt wurde auch ausführlich dargelegt, dass weitere Genehmigungsvoraussetzungen weggefallen waren: Hierbei ging es um Zweifel an der „Zuverlässigkeit des Betreibers“, um den unzureichenden „Schutz gegen Störmaßnahmen oder sonstige Einwirkungen Dritter“ (u. a. Flugzeugabsturz, Terrorgefahr), sowie um die unzureichende „Deckungsvorsorge“ („Haftpflichtversicherung“).
Auch auf der rechtlichen Seite berief sich die IPPNW von Anfang an nur auf die Logik des Atomgesetzes, auf höchstrichterliche Urteile und auf wissenschaftliche Beiträge führender Atomrechtler. Das maßgebliche „Kalkar-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts wurde in seinen zentralen Passagen nicht – wie so oft – nur zitiert, es wurde vielmehr unter Rückgriff auf die atomrechtliche Fachliteratur interpretiert. Unter anderem wurde dargelegt, dass das Atomrecht mit dem zu akzeptierenden „Restrisiko“ lediglich rein „hypothetische“ Unfallabläufe jenseits des menschlichen Erkenntnisvermögens meint. Reale Unfallszenarien sind demgegenüber nicht als „Restrisiko“ hinzunehmen.
Breit abgestützt
Vor diesem Hintergrund entwickelte die IPPNW eine völlig neue Strategie: Statt eines eigenen atomkritischen Gutachtens sollte ganz im Gegenteil nur das vor Gericht vorgebracht werden, was die Sachverständigen der Atomaufsichtsbehörden, die Betreiber wie auch der Atomkraftwerkshersteller Siemens selbst als Sicherheitsproblem identifiziert hatten.
Verhältnismäßigkeitsprüfung
Warum sollte man nicht die sicherheitstechnischen Bewertungen des TÜV, der mit den Kraftwerksbetreibern eng verbunden ist, heranziehen, um vor Gericht die Sicherheitsdefizite des Atomkraftwerks Biblis B darzulegen? Warum sollte man sich nicht auf die Studien und Stellungnahmen der Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit (GRS), des „Hausgutachters“ der Bundesatomaufsicht stützen? Das neue Konzept ging auf: Die Betreibergesellschaft RWE, der Kraftwerkshersteller Siemens, der TÜV, die GRS und die Atomaufsicht in Bund und Land konnten der IPPNW-Klage kaum etwas entgegensetzen.
Die rechtlichen Anforderungen wurden auch insofern ernst genommen, als ein Genehmigungs-Widerruf, d. h. die Stilllegung eines Atomkraftwerks natürlich auch „verhältnismäßig“ sein musste. Hier wurde in der Biblis-Klage darauf verwiesen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem „Kalkar-Urteil“ eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits vorgenommen hatte. Demnach kann sich ein Atomkraftwerksbetreiber weder auf das „Eigentumsrecht“ noch auf das Recht auf „freie Berufsausübung“ berufen, wenn der Stand von Wissenschaft und Technik nicht ge12
Ferner konnte auch kein „Vertrauensschutz“ geltend gemacht werden, weil die Genehmigung von Biblis B von Beginn an unter dem „Widerrufsvorbehalt“ des Atomgesetzes gestanden hatte. Verhältnismäßig wäre ein Widerruf der Betriebsgenehmigung u. a. auch wegen des ungelösten Entsorgungsproblems gewesen.
Mehr noch: Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestätigte die in der Klage dargelegte Rechtsauffassung hinsichtlich „auslegungsüberschreitender Ereignisse“, wodurch u. a. die unzulängliche „Kernschmelzfestigkeit“ der deutschen Atomkraftwerke rechtlich zu würdigen war.
Mehr noch: Das Bundesverfassungsgericht hatte wegen der Gefahren der Atomenergie geurteilt, dass es sich beim Atomrecht um „Sonderrecht“ handelt, bei dem weitaus strengere Maßstäbe anzulegen sind als im sonstigen Verwaltungsrecht.
Die intensive rechtliche und sicherheitstechnische Auseinandersetzung im Rahmen der Biblis-Klage war eine der Grundlagen für die späteren atompolitischen Entscheidungen nach Fukushima. Biblis B wurde am 30. Mai 2011 zunächst vorläufig und später endgültig stillgelegt.
Fragwürdige „Atomkonsens-Verhandlungen“ Mit dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung zeigte die Biblis-Klage auf, dass die zentralen Argumente der Atomkraftwerksbetreiber während der so genannten „Atomkonsens-Verhandlungen“ zwischen der damals neuen Bundesregierung und der Atomindustrie zwischen Herbst 1998 und Sommer 2000 rechtlich auf sehr wackeligen Füßen standen.
Nach dem Atomausstiegsbeschluss 2011 dauerte es noch Jahre, bis das Bundesverfassungsgericht diesen in seinem Urteil vom 6. Dezember 2016 grundsätzlich gebilligt hat. Schließlich musste der Gesetzgeber noch das Atomgesetz bis Mitte 2018 ändern, da die Atomkraftwerksbetreiber laut Verfassungsgericht noch zu entschädigen sind. Das aus Sicht der IPPNW sehr erfolgreiche Klageverfahren zur Stilllegung von Biblis B wird noch im Jahr 2018 beendet werden.
Denn die Betreiber hatten während dieser Verhandlungen immer wieder auf ihr „Eigentumsrecht“ und auf ihr Recht auf „freie Berufsausübung“ gepocht und zudem gebetsmühlenartig wiederholt, der „Vertrauensschutz“ stünde einem politischen Atomausstieg im Weg. Sie drohten mit milliardenschweren Entschädigungsklagen gegen die Bundesregierung bzw. zu Lasten der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Eine ausführliche Dokumentation der Biblis-Klage ist in der IPPNW-Geschäftsstelle und im IPPNW-Shop erhältlich: shop.ippnw.de
Ein etwas genauerer Blick u. a. in das Kalkar-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hätte damals genügt, um diese Argumentation zu entkräften. Mit der Biblis-Klage wurde dieses Versäumnis gewissermaßen nachgeholt.
Aufsichtsbehörden räumten Risiken ein Mit der Klage wurde sehr umfänglich dargelegt, dass Biblis B aus rechtlichen Gründen stillgelegt werden musste. Und tatsächlich bestätigten die Aufsichtsbehörden wesentliche Argumente der Klage.
Henrik Paulitz ist Referent für Atomenergie und Energiewende der IPPNW. 13
Fotocollage | AKW Biblis: Peter Stehlik / CC BY-SA 3.0; Ortsschild: Heinrich Stürzl / CC BY-SA 2.0
So hatte das hessische Umweltministerium schon frühzeitig den zentralen Vorwurf der Klage eingeräumt, wonach Biblis B „selbstverständlich“ nicht mehr dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprach. Später bestätigte ein Gutachten im Auftrag der Bundesatomaufsicht, dass es in Biblis B in der Tat rund 80 Sicherheitsdefizite von hoher „Relevanz“ gab.
währleistet ist. Maßgebend ist hierbei das Grundrecht auf Leben und Gesundheit.
ATOMENERGIE SOZIALE VERANTWORTUNG
Der Klimawandel ist ein medizinischer Notfall Und der Kohleausstieg Gesundheits- und Klimaschutz zugleich
Die Gesundheitsfolgen der Kohlenutzung sind seit langem bekannt. Die Schädigungen geschehen einerseits direkt durch die Luftschadstoffe (besonders Feinstaub), andererseits über die Erderwärmung mit ihren verheerenden Folgen. Der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gesundheit wird in Deutschland – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – noch nicht genügend berücksichtigt; insbesondere auch, weil sich der Gesundheitssektor selbst bei uns bis vor kurzem hierzu noch nicht ausreichend positioniert hat.
Der Klimawandel ist ein medizinischer Notfall und der Kohleausstieg Gesundheits- und Klimaschutz zugleich“: Unter diesem Titel wurde vor kurzem eine Pressemitteilung der Deutschen Allianz Klimawandel & Gesundheit veröffentlicht. Diese Mitteilung gehört zu einer Vielzahl von Aktivitäten der letzten Wochen in Bezug auf das Thema „Klimawandel und Kohleausstieg“. Die Diskussion um dieses existenzielle Thema nimmt derzeit kräftig an Fahrt auf. Hierfür stehen international der „Global Climate Action Summit“ im September 2018, der „IPCC-Sonderbericht 1,5 Grad Celsius globale Erwärmung“ vom Oktober 2018, die diesjährige Nobelpreisauszeichnung von zwei Klima-Ökonomen sowie die nächste UN-Klimakonferenz (COP24) in Katowice im Dezember 2018. Bei uns in Deutschland sind hierfür die zahlreichen bundesweiten Demonstrationen für eine fossilfreie Zukunft und die regelmäßigen Demonstrationen vor dem Wirtschaftsministerium anlässlich der Tagungen der sogenannten „Kohle-Kommission“ ein Zeichen. „Die Klimadebatte ist am Siedepunkt“ titelte in diesem Zusammenhang die FAZ am 10. Oktober 2018.
Die Luftverschmutzung führt laut WHO bis zu einem Viertel aller vorzeitigen Todesfälle durch Herzkrankheiten und Schlaganfälle sowie zu 43 Prozent aller chronischen Lungenerkrankungen und 29 Prozent der Lungenkrebsfälle. Nach Margaret Chan (ehemalige Generaldirektorin der WHO) ist der Klimawandel „die zentrale Gesundheitsfrage des 21. Jahrhunderts“. Die Schadstoffe führen aber nicht nur zu direkten gesundheitlichen Folgen, sondern zerstören über den Klimawandel auch die Lebensgrundlagen der Menschheit mit erheblichen Folgen für die ökonomische Entwicklung, besonders in den Ländern des globalen Südens. Ein schneller Kohleausstieg führt demnach nicht nur zu mehr Gesundheit, sondern auch zu einer verzögerten globalen Erwärmung.
Ein besonders gelungenes Beispiel für die aktive KlimaschutzBewegung war die überwältigende Demonstration von 50.000 Menschen am 6. Oktober 2018 im Hambacher Wald. Die größte Anti-Kohle-Demonstration, die es in Deutschland je gegeben hat, war ein sehr großer Erfolg und ein starkes Signal der Zivilgesellschaft für den dringend notwendigen schnellen Kohleausstieg. Viele unterschiedliche Gruppen demonstrierten friedlich für eine Zukunft ohne Kohle und zeigten dem RWE-Konzern, der Landesregierung in NRW und der Bundesregierung die rote Karte. Unter den zahlreichen Aktivisten befanden sich auch viele engagierte IPPNW-Mitglieder. Das Bewusstsein in der IPPNW (besonders unter unseren jüngeren Mitgliedern) ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen, dass der Klimawandel „die entscheidende gesundheitliche Herausforderung unseres Jahrhunderts“ (Margaret Chan, WHO) und „Kohleausstieg die beste Medizin“ (AG Klimawandel und Gesundheit der kritischen Mediziner*innen) ist.
A
us diesen Gründen haben sich die Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Weltärztebund (WMA) und erfreulicherweise auch jüngst der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. F. U. Montgomery, zu diesem Menschheitsthema geäußert und für den Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen ausgesprochen. Leider haben die meisten Politiker kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsproblem, denn nach erfreulichen Ankündigungen sind kaum Taten erkennbar. Es ist die Frage, wessen Interessen mehr zählen – die der Wirtschaft oder der Umwelt. Wenn wir von einem „Medizinischen Notfall Klimawandel“, besser noch: „Medizinischer Notfall Klimakrise“ sprechen und wenn der Ausstieg aus der Kohle (und danach aller fossilen Energieträger)
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ten IPCC-Sonderberichts lautet, dass sogar eine große Differenz zwischen dem 1,5-Grad- und dem 2-Grad-Ziel besteht, also ein dramatischer 0,5 Grad-Unterschied existiert: Jede 0,1 Grad-Stufe zählt!
die beste Medizin ist, müssen Angehörige der Gesundheitsberufe aktiver werden, weil dieses Thema direkt mit unserem Selbstverständnis der Schadensabwehr zu tun hat.
D
ie IPPNW wurde 1980 wegen der atomaren Gefahren im Kalten Krieg gegründet. Die deutsche Sektion gab sich später die Zusatzbezeichnung „Ärzte in sozialer Verantwortung“. Sie versteht sich als Friedensorganisation im Sinne einer präventiven Medizin und versucht, Risiken für Leben und Gesundheit vorzubeugen. Die atomare Bedrohung ist seit der Gründung das Kernthema, hinzu kamen später weitere wichtige Themen wie Flucht und Asyl, Medizin und Gewissen, Global Health, die Energiewende u. a. Da der menschengemachte Klimawandel eine „ähnlich große Bedrohung wie die Atomwaffen“ darstellt (Zitat angelehnt an das „Bulletin oft the Atomic Scientists“), verstärkt die IPPNW in letzter Zeit ihr Engagement auch in diesem Bereich. Beispiele hierfür sind das Schwerpunktthema der Global Health Summer School 2017, das Medical Peace Work-Projekt, die Gründung „Deutsche Allianz Klimawandel & Gesundheit“ 2017 u. a. durch Mitglieder der IPPNW, die Unterzeichnung des Positionspapiers der „AG Klimawandel und Gesundheit“ der Kritischen Mediziner*innen Deutschland,„Gesundheit braucht Klimaschutz“ 2018 sowie Anträge zum Thema „Klimawandel“ auf der letzten IPPNWMitgliederversammlung und auf dem Deutschen Ärztetag im Mai 2018.
Damit es nicht bei schönen Versprechen seitens der Politik bleibt, kommt es auf weiteren Druck der Zivilgesellschaft an, die schon seit langem eine fossilfreie Welt fordert und in letzter Zeit zunehmend auch die Belastungsgrenzen unseres gesamten Planeten (Planetary Boundaries) in den Vordergrund stellt. Hierbei müssen Angehörige aus dem Gesundheitsbereich eine führende Rolle übernehmen!
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ine alleinige Dekarbonisierung des Stromsektors wird jedoch nicht ausreichen, sondern wir brauchen viel weitergehende Veränderungen im Sinne einer umfassenden klimafreundlichen Transformation, eine – nach Rockström – „integrierte Betrachtung des Erdsystems“ (Landwirtschaft, Städtebau, Industrie, Verkehrsund Bausektor, eigenes Konsumverhalten). Wichtig ist: Sehen wir endlich nicht nur die Gefahren des Klimawandels, sondern auch die großen Chancen für die Zukunft unserer Erde, besonders auch mit den deutlichen gesundheitlichen Vorteilen für ihre Bewohner*innen, wie es im jüngsten Bericht des Club of Rome und vom IPCC-Sonderbericht im Oktober 2018 eindrucksvoll beschrieben wurde.
Da der Klimawandel bedeutende Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hat, sind die richtigen Schritte zur Bekämpfung gleichzeitig aber auch die „größte Chance für die Gesundheit im 21. Jahrhundert“ (The Lancet 2015). Die bisherigen nationalen Klimaschutzbeiträge der Staatengemeinschaft reichen hierzu bei weitem nicht aus. Die aktuellen Vorschläge führen nicht zu dem in Paris vereinbarten Unter-2-Grad-Ziel, sondern sogar zu einem 3 bis 4-Grad-Erwärmungspfad mit verheerenden Folgen. Es muss rasch viel mehr getan werden; es besteht ein erheblicher Zeitund somit Handlungsdruck. Die wichtigste Botschaft des jüngs-
Dr. Ludwig Brügmann ist langjähriges IPPNWMitglied und aktiv in der Deutschen Allianz Klimawandel & Gesundheit. 15
ATOMWAFFEN
Reden statt Rüsten Den INF-Vertrag retten
USA und Russland gefährden Europa mit Atomwaffen. Deshalb müssen die Europäer verhindern, dass Trump den INF-Vertrag kündigt.
M
it seiner Ankündigung, den INF-Vertrag zur Stationierung von Mittelstreckenraketen zu kündigen, hat Präsident Donald Trump den Startschuss für ein neues atomares Wettrüsten gegeben. Leidtragende wären vor allem die Menschen in Europa, denn neue Mittelstreckenraketen würde das Risiko eines Atomkriegs massiv erhöhen. Noch handelt es sich lediglich um eine Drohung des Weißen Hauses. Es gibt also ein Zeitfenster, in dem die europäischen Regierungen vermitteln könnten und müssten. Seit Jahren erodieren in Europa Strukturen und Institutionen, die während des Kalten Krieges eine atomare Konfrontation verhindern sollten. Die USA sind bereits 2002 aus dem Vertrag zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen ausgetreten. Der Aufbau solcher Abfangsysteme im Mittelmeer, in Rumänien und bald auch in Polen
hat maßgeblich zu einem neuen Wettrüsten auf dem europäischen Kontinent beigetragen und wie durch einen Dominoeffekt zur Infragestellung des INF-Vertrags geführt.
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er INF-Vertrag beendete 1987 ein jahrelanges gefährliches Wettrüsten mitten in Europa. Der Vertrag verpflichtete die USA und die UdSSR, alle bodengestützten Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern zu eliminieren. Die USA zerstörten daraufhin 846 Raketen und 32 Startplätze, die UdSSR 1.846 Raketen und 117 Startplätze. Die Unterzeichnung des Vertrages war eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme, die den Grundstein legte für weitere Abrüstungsverhandlungen. Heute, nach der NATO-Osterweiterung, dem Krieg in der Ukraine, der Einkreisung Russlands mit Raketenabwehrsystemen
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und dem Ausscheiden Russlands aus dem Kreis der G8 ist von diesem Vertrauen wenig übrig. Russland und Nato haben ihre Truppenkontingente entlang der EU-Ostgrenze ausgebaut, inszenieren Großmanöver und überziehen sich mit Drohungen wie im Kalten Krieg und stecken Milliarden in die „Modernisierung“ ihrer Atomwaffenarsenale.
S
owohl Russland als auch die USA haben in den letzten Jahren auch keinen Zweifel aufkommen lassen, dass ihnen der INF-Vertrags ein Dorn im Auge ist. Als Konsequenz auf das US-Raketenabwehrsystem entwickelte Russland Waffen, die dieses unterwandern können. So haben beide Staaten heute Waffensysteme, die entgegen den Statuten des INF-Vertrags eingesetzt werden könnten. Auch wenn es aktuell keine belegbaren Beweise für einen offenen Vertragsbruch gibt, ist klar, dass beide Länder gegen den Geist des INF-Vertrags verstoßen und diesen auszuhöhlen drohen. Ein Punkt, der in der Debatte zu kurz kommt ist die Tatsache, dass Atomwaffen immer noch Massenvernichtungswaffen sind, deren Ziel es ist, die gegnerische
Zivilbevölkerung auszulöschen. Sie verstoßen somit, unabhängig von der Art oder Reichweite der Trägersysteme, gegen das humanitäre Völkerrecht, allen voran die Genfer Konventionen.
D
er Atomwaffenverbotsvertrag, der 2017 in New York von 122 UN-Mitgliedsstaaten verabschiedet wurde und sich aktuell im Prozess der Ratifizierung befindet, benennt neben dem Angriff mit Atomwaffen auch die Vorbereitung und Androhung eines solchen als Völkerrechtsbruch. Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen in der derzeitigen Situation deutlich machen, dass ein erneutes atomares Wettrüsten in Europa für sie keine akzeptable Option darstellt. Der INF-Vertrag ist ein wichtiger Pfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Europäer müssen eine rote Linie ziehen, wenn es um die leichtfertige Aufgabe eines solch grundlegenden Fundaments ihrer Sicherheit geht. Mit Russland muss endlich wieder auf Augenhöhe verhandelt werden – Frieden in Europa wird ohne Dialog mit Russland nicht möglich sein.
Neben neuen Formaten des diplomatischen Austauschs braucht es vor allem vertrauensbildende Maßnahmen. Ein erster Schritt wäre der Abzug der US-Atomwaffen aus Europa. Solange nukleare Abschreckung propagiert wird, besteht die Gefahr einer atomaren Eskalation. Auch müssten die US-Raketenabwehrsysteme abgebaut werden, die für das neue Auf-
Was ist der INF-Vertrag? INF steht für „Intermediate-Range Nuclear Forces“, also Nuklearwaffen mit mittlerer Reichweite. Im INF-Vertrag von 1987 wurden (erstmals) zwei Waffenkategorien vollständig eliminiert: Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.000 Kilometern samt den dazugehörenden Startgeräten und der benötigten Infrastruktur. Die bereits stationierten Systeme wurden nicht nur zerstört, sondern die Produktion und Flugerprobung der INF-relevanten Systeme ist verboten und wird überwacht. Es gibt Vorschläge, diesen bilateralen Vertrag auch auf Länder auszudehnen, die Raketen in diesem Reichweitenspektrum besitzen. Der Vertrag war der Wendepunkt für die Rüstungskontrolle im Kalten Krieg. Es wurden nicht nur zwei Kategorien nuklearer Trägersysteme komplett eliminiert, sondern auch ihre Startgeräte, Operationsinfrastruktur und Produktionsbasis. Auch akzeptierte die Sowjetunion erstmalig „Vor-Ort-Inspektionen“. Innerhalb von drei Jahren wurden ca. 1692 Trägersysteme zerstört. Ca. 10 Jahre wurden „Vor-Ort-Inspektionen“ durchgeführt. Die Vertragsverpflichtungen wurden 2001 vollständig umgesetzt. (Quelle: armscontrol.de) Mehr unter: Atomwaffena-z.info
Grafik/Zeichnung: Findus
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rüsten verantwortlich waren. Im Gegenzug könnten die russischen Kurzstreckenraketen aus Kaliningrad abgezogen werden.
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er wichtigste Schritt jedoch wäre die Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags. Angesichts der aktuell drohenden atomaren Aufrüstung liegt dieser Vertrag im dringenden europäischen Sicherheitsinteresse. Vor 35 Jahren gingen in Deutschland Hunderttausende Menschen gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenrakete auf die Straße. Es ist Zeit für die Zivilgesellschaft, den Druck auf die Politik wieder zu erhöhen – gegen ein neues atomares Wettrüsten und für eine Entspannungspolitik in Europa.
Alex Rosen ist Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW und ICAN-Mitglied.
ATOMWAFFEN
Ein Jahr Friedensnobelpreis ICAN dankt Botschaften jener Staaten, die Atomwaffenverbot ratifiziert haben
E
inen Tag vor Bekanntgabe des nächsten Friedensnobelpreises bedankten sich Vertreter*innen des noch aktuellen Preisträgers der Kampagne ICAN Anfang Oktober mit einer symbolischen Aktion bei den Botschaften von Nicaragua, Venezuela, Mexiko, Österreich und Neuseeland in Berlin. Sie gehören zu den insgesamt 20 Staaten weltweit, die den UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen bereits unterzeichnet und ratifiziert haben. Mit ICAN-Symbolen an den Speichen und auf den Jacken ausgestattet, starteten 15 Radfahrer*innen am Berliner Hauptbahnhof nach einer kurzen Auftaktkundgebung zunächst zur Botschaft von Nicaragua. „Wir sind ein Land voller Hoffnung und Träume und einer davon ist, dass wir in einer Welt in Frieden leben wollen und deswegen haben wir dieses Atomwaffenverbot ratifiziert“, sagte Botschafterin Karla Luzette Beteta beim Empfang der Friedensaktivist*innen von ICAN und IPPNW. Als Zeichen der Ankennung erhielt sie einen Blumenstrauß sowie eine gerahmte Kopie des UN-Vertrages für ein Verbot von Atomwaffen.
N
ächste Station war die Botschaft von Venezuela. Deren Botschafter Orlanda Maniglia Ferreira begrüßte die Radfahrer*innen herzlich und bedankte sich mit einer kleinen Rede: „Für eine bessere Welt müssen wir besser verstehen und das schafft man nicht mit Waffen, sondern
mit Verständnis und Dialog“, erklärte er. Auch der Botschafter von Mexiko Rogelio Granguillhome Morfin freute sich sichtlich über den Besuch von ICAN und IPPNW und nutze ihn ausgiebig zum Fotoshooting. „Bei dieser Gelegenheit möchte ich das Engagement der Mexikanischen Regierung für eine Welt ohne Atomwaffen bekräftigen“, erklärte er vor dem Eingang der Botschaft unter der mexikanischen Flagge.
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er Botschafter von Österreich Peter Huber zeigte den Friedensaktivist*innen zunächst ein an der Wand befestigtes Europa-Fahrrad, das immer dasjenige europäische Land erhält, dass gerade den EU-Ratsvorsitz inne hat. Österreich habe für das Rad eine Kuhglocke gestiftet, Zeichen für die Alpen, aber auch für den Frieden. Mit Blick auf den UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen sagte der Botschafter Österreichs: „Wir freuen uns auch deswegen, weil wir an vorderster Front mitgekämpft haben für diesen Vertrag und ich kann Ihnen auch versichern, dass wir uns weiterhin einsetzen werden für dieses Anliegen“. Zuletzt radelten die Vertreter*innen von ICAN und IPPNW zur Botschaft von Neuseeland. Inzwischen war auch die europäische Replik der Friedensnobelpreismedaille eingetroffen, die eigentlich von Anfang an dabei sein sollte, aber im deutschen Zoll stecken geblieben war. Der Botschafter und seine Mitarbeiter*innen waren 18
sichtlich bewegt, sich mit der Medaille fotografieren zu lassen. Zum Abschluss erklärte der Botschafter Neuseelands Rupert Thomas Holoborow: „Das Anliegen einer atomwaffenfreien Welt ist für uns so etwas wie Teil unserer DNA. Wir fühlen uns geehrt, Unterzeichner dieses wichtigen Abkommens zu sein“.
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ie Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN), die die IPPNW mitbegründet hat, erhielt den Friedensnobelpreis im Vorjahr vor allem für die Anstrengungen um dieses Verbotsabkommen. Ein Jahr später haben mehr als 330 deutsche Abgeordnete aus Europaparlament, Bundestag und Landtagen eine Erklärung für das Atomwaffenverbot unterschrieben. Dadurch steigt der Druck auf die Bundesregierung, das UN-Atomwaffenverbot nicht länger zu boykottieren und die US-Atomwaffen aus Büchel abziehen zu lassen. Der UN-Verbotsvertrag wurde mittlerweile von 69 Staaten unterschrieben und von 20 ratifiziert. Sobald 50 Staaten ratifiziert haben, tritt er in Kraft.
Angelika Wilmen ist Pressesprecherin und Koordinatorin der Öffentlichkeitsarbeit der IPPNW.
SERIE: DIE NUKLEARE KETTE
Atomwaffentests in Nowaja Semlja Das einstige Atomtestgelände im Nordpolarmeer wird heute als Atommüllkippe missbraucht
Hintergrund
Folgen für Umwelt und Gesundheit
Im Juli 1954 wurden die zwei Hälften von Nowaja Semlja („Neues Land“) an der russischen Arktisküste zum Versuchsgelände für Atomwaffen deklariert. Die indigene Bevölkerung der Nenzen wurde umgesiedelt und die Inseln in Testzonen unterteilt. Zwischen 1955 und 1990 war Nowaja Semlja Schauplatz für 130 Atomtests, einschließlich der „Zar Bomba“, mit 50 Megatonnen TNT-Äquivalent Sprengkraft die zerstörerischste Atombombe aller Zeiten, fast 4.000-mal so stark wie die Hiroshima-Bombe. Die Detonation dieser Bombe allein führte zur Zerstörung der Inseloberfläche in einem Radius von 100 km und zu radioaktivem Niederschlag über der gesamten nördlichen Hemisphäre.
Wissenschaftliche Expeditionen ergaben erhöhte Werte der radioaktiven Partikel Cäsium-137, Strontium-90, Cobalt-60 und Plutonium-239 und -241 in Sedimenten nahe der Fjorde, die für die Abladung radioaktiven Mülls genutzt wurden. Eine russische Studie aus dem Jahr 1992 stellte fest, dass in 67 bis 72 % aller unterirdischer Atomdetonationen radioaktive Gase durch Risse in der Gesteinsformation der Insel ausgetreten waren. Gemeinsam mit dem radioaktiven Niederschlag durch die atmosphärischen Testreihen führte dies zur radioaktiven Kontamination großer Teile Europas, vor allem in Finnland, wo Jod-131 in Konzentrationen von bis zu fünf Millibecquerel pro Kubikmeter gemessen wurde, und Norwegen mit Konzentrationen von Jod-131 von bis zu 1,37 mBq/m3 und Fällen von radioaktiv verseuchten Milchproben. Jod-131 ist eine bekannte Ursache von Schilddrüsenkrebs, insbesondere bei Kindern. Die indigene Bevölkerung der Region rund um Nowaja Semlja nahm sogar noch höhere Dosen Radioaktivität auf. Neben den zwangsumgesiedelten Nenzen war vor allem das halb-nomadische Volk der Samen besonders stark durch die Strahlenbelastung betroffen, aber auch die Wepsen, Karelier und Komi, die entlang der russischen Nordmeerküste leben. Die radioaktive Kontamination von Flechten, dem Hauptbestandteil der Ernährung von Rentieren, mit strahlenden Partikeln wie Strontium-90 kann schwerwiegende Folgen für die Menschen der Region haben, die auf die Rentiere als Nahrungsquelle angewiesen sind.
Auch die Verkippung von Atommüll rund um die Insel trug zu der Umweltkatastrophe bei, die Nowaja Semlja heutzutage darstellt. Gemeinsam mit dem radioaktiven Niederschlag der weltweiten Atomwaffentests und dem kontinuierlichen Austritt strahlender Abfälle aus den Aufbereitungsanlagen in La Hague und Sellafield trägt vor allem der Atommüll rund um Nowaja Semlja zur radioaktiven Verschmutzung der Nordsee und des Nordpolarmeers bei.
Nowaja Semlja, Russland Atomwaffentests Ab 1954 wurde die Insel Nowaja Semlja von der Sowjetunion zur Durchführung atmosphärischer und unterirdischer Atombombentests benutzt. Zusätzlich wurde die Umgebung der radioaktiv verseuchten Insel zum Friedhof für ausrangierte Nuklearwaffen und Atom-U-Boote, die das ökologische Desaster vervollständigten.
Ausblick
Hintergrund Im Juli 1954 wurden die zwei Hälften von Nowaja Semlja („Neues Land“) an der russischen Arktisküste zum Versuchsgelände für Atomwaffen deklariert. Die indigene Bevölkerung der Nenzen wurde umgesiedelt und die Inseln in Testzonen unterteilt. Zwischen 1955 und 1990 war Nowaja Semlja Schauplatz für 130 Atomtests1, einschließlich der „Zar Bomba“, mit 50 Megatonnen TNT-Äquivalent Sprengkraft die zerstörerischste Atombombe aller Zeiten, fast 4.000-mal so stark wie die Hiroshima-Bombe. Die Detonation dieser Bombe allein führte zur Zerstörung der Inseloberfläche in einem Radius von 100 km und zu radioaktivem Niederschlag über der gesamten nördlichen Hemisphäre.
Zwischen 1955 und 1990 war Nowaja Semlja Schauplatz 130 atomarer Explosionen, einschließlich der „Zar Bomba“, mit 50 Megatonnen TNT-Äquivalent Sprengkraft die zerstörerischste Atombombe aller Zeiten, fast 4.000-mal so stark wie die Hiroshima-Bombe.
Aber auch die Verkippung von Atommüll rund um die Insel trug zu der Umweltkatastrophe bei, die Nowaja Semlja heutzutage darstellt. Gemeinsam mit dem radioaktiven Niederschlag der weltweiten Atomwaffentests und dem kontinuierlichen Austritt strahlender Abfälle aus den Aufbereitungsanlagen in La Hague und Sellafield trägt vor allem der Atommüll rund um Nowaja Semlja zur radioaktiven Verschmutzung der Nordsee und des Nordpolarmeers bei. Die Atomreaktoren 13 sowjetischer U-Boote mit einer Gesamtradioaktivität von bis zu 37 PBq (Peta = Billiarde) wurden entlang der Küste von Nowaja Semlja in die Kara- und Barentssee abgeladen. Die beiden Fjorde Abrosimow und Stepowogo im Süden Nowaja Semljas sind die am schlimmsten kontaminierten Orte.2,3
Folgen für Umwelt und Gesundheit
Murmansk. Die dekontaminierte „Lenin“ im Hintergrund. Die Lenin war der weltweit erste atombetriebene Eisbrecher. 1967 kam es zu einem schweren Reaktorunfall. Der beschädigte Reaktor und die Brennstäbe wurden 1973 vor der Küste von Nowaja Semlja versenkt. Foto: © Greenpeace / John Sprange
Wissenschaftliche Expeditionen ergaben erhöhte Werte der radioaktiven Partikel Cäsium-137, Strontium-90, Cobalt-60 und Plutonium-239 und -241 in Sedimenten nahe der Fjorde, die für die Abladung radioaktiven Mülls genutzt wurden.2 Eine russische Studie aus dem Jahr 1992 stellte zudem fest, dass in 67 bis 72 % aller unterirdischer Atomdetonationen radioaktive Gase durch Risse in der Gesteinsformation der Insel ausgetreten waren.4 Gemeinsam mit dem radioaktiven Niederschlag durch die atmosphärischen Testreihen führte dies zur radioaktiven Kontamination großer Teile Europas, vor allem in Finnland, wo Jod-131 in Konzentrationen von bis zu fünf Millibecquerel pro Kubikmeter gemessen wurde, und Norwegen mit Konzentrationen von Jod-131 von bis zu 1,37 mBq/m3 und Fällen von radioaktiv verseuchten Milchproben.2 Jod-131 ist eine bekannte Ursache von Schilddrüsenkrebs, insbeson-
Aufgrund der Tatsache, dass Norwegen nur etwa 900 Kilometer von Nowaja Semlja entfernt liegt, ist die norwegische Regierung sehr beunruhigt über die Atommüllkatastrophe, die auf und um die Insel stattfindet. Die für den norwegischen Fischfang so wichtige Barentssee wurde durch radioaktiven Niederschlag schwer verseucht und ist in ständiger Gefahr, durch überlaufende radioaktive Mülldeponien, versenkte Atomreaktoren, atomare U-Bootwracks und strahlenden Abfall noch weiter kontaminiert zu werden. Überwachung und Verwaltung dieser großen, von radioaktiver Verseuchung betroffenen Region ist mittlerweile eine internationale Aufgabe, doch bislang wurde wenig unternommen, um die Gefahren einzudämmen, geschweige denn die Gesundheitseffekte auf die Menschen vor Ort zu untersuchen.
dere bei Kindern. Die indigene Bevölkerung der Region rund um Nowaja Semlja nahm sogar noch höhere Dosen Radioaktivität auf. Neben den zwangsumgesiedelten Nenzen war vor allem das halb-nomadische Volk der Samen besonders stark durch die Strahlenbelastung betroffen, aber auch die Wepsen, Karelier und Komi, die entlang der russischen Nordmeerküste leben. Die radioaktive Kontamination von Flechten, dem Hauptbestandteil der Ernährung von Rentieren, mit strahlenden Partikeln wie Strontium-90 kann schwerwiegende Folgen für die Menschen der Region haben, die auf die Rentiere als Nahrungsquelle angewiesen sind.2,5 Wie in anderen Fällen, in denen eine indigene Bevölkerung von radioaktivem Niederschlag und Kontamination betroffen war, führte die Sowjetunion auch an der Bevölkerung rund um Nowaja Semlja keine epidemiologischen Studien durch, welche das Ausmaß der gesundheitlichen Effekte untersuchen könnten.
Ausblick Aufgrund der Tatsache, dass Norwegen nur etwa 900 km von Nowaja Semlja entfernt liegt, ist die norwegische Regierung sehr beunruhigt über die Atommüllkatastrophe, die auf und um die Insel stattfindet. Die für den norwegischen Fischfang so wichtige Barentssee wurde durch radioaktiven Niederschlag schwer verseucht und ist in ständiger Gefahr, durch überlaufende radioaktive Mülldeponien, versenkte Atomreaktoren, atomare U-Bootwracks und strahlenden Abfall von Marinestützpunkten und -werften noch weiter kontaminiert zu werden. Überwachung und Verwaltung dieser großen, von radioaktiver Verseuchung betroffenen Region ist mittlerweile eine internationale Aufgabe, doch bislang wurde wenig unternommen, um die Gefahren einzudämmen, geschweige denn die Gesundheitseffekte auf die Menschen vor Ort zu untersuchen.2 Auch sie leiden unter den Folgen von Atomwaffen. Auch sie sind Hibakusha.
Quellen 1 „The Soviet Union’s Nuclear Testing Program.“ Webseite der Comprehensive Test Ban Treaty Organization CTBTO, http://ctbto.org/nuclear-testing/the-effects-of-nuclear-testing/the-soviet-unionsnuclear-testing-programme 2 Bøhmer et al. „The Arctic Nuclear Challenge“. Bellona Report Volume 3, 2001. http://bellona.org/assets/sites/6/The_Arctic_Nuclear_Challenge.pdf 3 Koivisto K. „Nuclear Waste Storage Facility on Novaya Zemlya“. Helsinki Hufvudstadsbladet, 01.04.97. www.fas.org/news/russia/1997/drsov04021997000220.htm 4 Matzko JR. „Physical Environment of the Underground Nuclear Test Site on Novaya Zemlya, Russia“. US-Department of the Interior, Geological Survey, 1993. http://pubs.usgs.gov/of/1993/0501/report.pdf 5 „Indigenous People and the Nuclear Age – USSR“. Webseite von Reaching Critical Will. www.reachingcriticalwill.org/resources/factsheets/indigenousUSSR.html
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de
Die radioaktive Kontamination von Flechten, dem Hauptbestandteil der Ernährung von Rentieren, kann schwerwiegende Folgen für die Menschen der Region haben, die auf die Rentiere als Nahrungsquelle angewiesen sind, wie die indigene Bevölkerung der Nenzen und Samen. Foto: © TOYOSAKI Hiromitsu
Hibakusha weltweit
Eine Ausstellung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Körtestr. 10 | 10967 Berlin ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de V.i.S.d.P.: Dr. Alex Rosen
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HUMANITÄT UND MENSCHENRECHTE
„Wir möchten uns für eine bessere Gesellschaft einsetzen. Eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung. Eine Gesellschaft in der jeder Mensch richtig und wichtig ist. Egal wie viel Geld der Mensch hat. Egal wo der Mensch geboren ist. Egal welches Geschlecht der Mensch lebt. Oder wie der Mensch lebt.“
Foto: unteilbar.org/Stephan Guerra, CC-BY 4.0
ViSdP: Lukas Theune , Karl-Marx-Str. 172 , 12043 Berlin
Weitere Fotos der Demonstration und Infos zu #unteilbar unter: www.unteilbar.org
#UNTEILB
AR
NZUNG STATT AUSGRE SOLIDARITÄT HAFT UND FREIE GESELLSC FÜR EINE OFFENE erplatz 13. Okt. 2018 | Demo 13 Uhr | Alexand Auftakt ab 12 Uhr | www.unteilbar. org Spendenkonto: Digitalcourage e.V. DE41 3702 0500 5459 5459 39 BIC: BFSWDE33XXX
Vielfalt statt Einfalt Gegenwind für Menschenfeindlichkeit und rechte Ideologien
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Fotos: Andi Weiland | www.andiweiland.de (CC by nc)
nter dem Motto „Solidarität statt Ausgrenzung“ demonstrierten am 13. Oktober 2018 fast 250.000 Menschen – darunter auch viele Ärzt*innen und Medizinstudierende der IPPNW – in Berlin gegen Rassismus, für eine offene, freie Gesellschaft und für soziale Gerechtigkeit. Aufgerufen hatte das Bündnis #unteilbar, in dem sich unzählige bundesweite Organisationen, prominente Einzelpersonen und lokale Organisationen und Gruppen zusammengeschlossen hatten, um lautstark und sichtbar für eine vielfältige, freie und solidarische Gesellschaft einzutreten. In dem Aufruf, den auch die IPPNW mitzeichnete, heißt es: „Rassismus und Menschenverachtung werden gesellschaftsfähig. Was gestern noch undenkbar war und als unsagbar galt, ist kurz darauf Realität. Humanität und Menschenrechte, Religionsfreiheit und Rechtsstaat werden offen angegriffen. (...) Nicht mit uns – Wir halten dagegen! Wir treten für eine offene und solidarische Gesellschaft ein, in der Menschenrechte unteilbar, in der vielfältige und selbstbestimmte Lebensentwürfe selbstverständlich sind. (...) Wir lassen nicht zu, dass Sozialstaat, Flucht und Migration gegeneinander ausgespielt werden.“
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HUMANITÄT UND MENSCHENRECHTE
Die neue deutsche Friedlosigkeit Ursachen und Auswirkungen des neuen Rechtsrucks
Umvolkung“, „Migration als Waffe“, „Kopftuchmädchen“, „Messermänner“, „Umsiedelungsprogramme“, „Vogelschiss in 1.000 Jahren deutscher Geschichte“, „Lügenpresse“, „Denkmal der Schande“ – die Tabubrüche im gesellschaftlichen Diskurs hierzulande scheinen an Heftigkeit und Frequenz von Jahr zu Jahr zuzunehmen. Dabei ist bemerkenswert, wie weit dieses Phänomen mittlerweile über den Wirkungskreis einzelner rechtsradikaler Parteien hinaus um sich greift. Quer durch das politische Spektrum der Republik und durch alle gesellschaftlichen Schichten unseres Landes macht sich ein neues Brandstiftertum breit – eine Bereitschaft, mühsam erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften und Umgangsformen leichtfertig aufzugeben um zurückzukehren zu längst vergessen geglaubten Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Niedere Instinkte werden von populistischen Politiker*innen bedient, völkische Begriffe unkritisch
in gesellschaftliche Debatten eingeführt, Fakten nach Belieben verbogen, Vorurteile geschürt, ja sogar zu Gewalt und „Säuberungen“ aufgerufen. Noch erscheinen die gelegentlichen Weimar-Analogien der Feuilletonisten überzogen und weit hergeholt – aber wir lange noch? Schon jetzt kann eine offen rassistische, demokratiefeindliche und reaktionäre Partei in einigen Bundesländern, Landkreisen und Städten satte Mehrheiten bei Wahlen erzielen. Schon jetzt reicht der Einfluss der Neuen Rechten in zahlreiche Rathäuser, Polizeipräsidien, Landtage, den Bundesverfassungsschutz und das Bundesinnenministerium. Schon jetzt sind rechte Gruppen in der Lage, innerhalb weniger Stunden gewaltbereite Menschenmengen auf die Straße zu bringen. Xenophobie, also die Angst vor dem Fremden, scheint in Teilen unseres Landes wieder zur Grundlage von politischem Erfolg geworden zu sein – sei es die Sorge um 22
die vermeintliche „Überfremdung“ oder eine „Islamisierung des Abendlandes“ oder um das etwas pathetische und nie wirklich definierte Konstrukt einer „deutschen Leitkultur“. Die Tatsache, dass der in der deutschen Geschichte überwiegend völkisch geprägte Begriff „Heimat“ gerade neu besetzt wird und Menschen mit türkischen Wurzeln ihren multikulturellen Kiez in der Frankfurter Innenstadt ebenso als „Heimat“ bezeichnen können, wie ein Bayer sein Bergdorf, liefert an Stammtischen und in Bierzelten Grundlage für einen neuen deutschen Groll und ein Gefühl, dass die eigene, „deutsche Heimat“ durch diese Relativierung abhanden kommen könnte.
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igration sei „die Mutter aller Probleme“ hieß es kürzlich im Innenministerium. Ist der Rechtsruck, den wir in Deutschland in den letzten Jahren erleben, aber wirklich die Folge von Einwanderung? Oder stecken hinter der Verunsicherung, der Angst vor und dem Hass gegen Frem-
Foto: Matteo Paganelli, unsplash
de nicht ganz andere Ursachen? Wie kann es sein, dass zeitgleich zum deutschen Rechtsruck in fast ganz Europa nationalistisches Gedankengut, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Antiziganismus und Chauvinismus gedeihen – in Skandinavien, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Ungarn, Polen, der Schweiz, Österreich, Italien, der Slowakei, der Ukraine, Russland und der Türkei; aber auch in Israel, den USA, Australien, Japan, Brasilien und vielen anderen Ländern der Welt? In Ungarn sind es die Juden und Moslems, die als Feind ausgemacht werden, in Israel die Araber und Iraner, in Großbritannien die Osteuropäer, in Australien die Asiaten, in den USA die Lateinamerikaner und Moslems, in Brasilien die Schwarzen, in Japan die Chinesen, und so weiter, und so weiter … Hinter diesen sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Umwälzungen stehen andere Ursachen als eine temporäre Fluchtbewegung aus dem Nahen Osten nach Europa. Ökonomen ziehen Parallelen zu ähnlichen weltweiten Rechtsruckbewegungen in der Vergangenheit, die mit ziemlich hoher Treffsicherheit meist nach Finanzkrisen entstanden. Die Finanzkrise von 2008 als Motor eines weltweiten Rechtsrucks, als treibende Kraft hinter PEGIDA, Identitären, AfD, Front Nationale, UKIP, Trump, FPÖ, Strache, Orban und all den anderen rechtspopulistischen Kräften in unseren Gesellschaften? Sicherlich ein Erklärungsmechanismus. Die globale Ungerechtigkeit, die der entfesselten neoliberalen Globalisierung zu Grunde liegt, und die sich immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich machen den Menschen Angst – auch denen, denen es wirtschaftlich eigentlich gut geht – denn sie haben Abstiegsängste.
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enn wir bereit sind, hinzuschauen, sehen wir zudem eine weitere katastrophale Folge unseres globalen Wirtschaftssystems. Den menschengemachten Klimawandel mit seinen nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Auswirkungen: von den Aufständen landflüchtiger und arbeitsloser junger Menschen in der arabischen Welt, die die Grundlage für die Krieg im Jemen oder in Syrien legten, über die Folgen von Naturkatastrophen, Dürre und Ernteausfällen in Mittelamerika. Klimawandel ist längst zu einem ernst zu nehmenden Auslöser von Konflikten, Kriegen und Fluchtbewegungen geworden
– eine weitere Bedrohung für den Lebensstandard von Millionen von Menschen, nicht nur im globalen Süden, sondern auch hierzulande. Einen erheblichen Beitrag zur volatilen Weltlage und hat zudem die Erosion des Völkerrechts gespielt, die unverantwortlichen Interventionskriege der NATO-Staaten und der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ vom Nahen Osten bis nach Zentralasien. Unser Wirtschaftssystem produziert also auf der einen Seite der Welt Armut, Klimaveränderungen, Naturkatastrophen, Kriege und Fluchtbewegungen und auf der anderen Seite immer mehr benachteiligte Menschen, die anfällig sind für Populisten und ihre jeweiligen Sündenböcke.
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as sich die Unsicherheit und Angst der Menschen hierzulande gerade in Form einer antimuslimischen Stimmung Bahn bricht, mag mit der deutschen Geschichte erklärbar sein – wo Antisemitismus und offener Rassismus gesellschaftlich noch so stigmatisiert sind, bieten Muslime eine einfache Zielscheibe für Populisten jedweder politischer Couleur. Antimuslimisches Sentiment ist in Deutschland quer durch alle politischen Strömungen offenbar mehrheitsfähig und das entlädt sich jetzt in der sogenannten „Flüchtlingsdebatte“, die von vielen Neu-Rechten (weit über das „bürgerliche Lager“ hinaus) zu einer Art Identitäts- und Existenzfrage unserer Gesellschaft hochgeredet wird, als würden die Geflüchteten den Kölner Karneval, das bayerische Reinheitsgebot oder die Kleingartenvereine bedrohen. Die Angst und Abneigung gegenüber Muslimen vermischt sich derzeit mit weit verbreiteten rassistischen, reaktionären und letztlich antidemokratischen Ressentiments zu einem gefährlichen Brandsatz, dem wir, wie Max Frischs Biedermann offenbar gedankenlos in den Dachstuhl unserer Gesellschaft Zutritt gewähren. Wir in der Friedensbewegung müssen wachsam sein, diese gesellschaftlichen Prozesse genau beobachten und zu verstehen versuchen, ihre Ursache analysieren und ihnen entgegenwirken, denn sie bedrohen unseren gesellschaftlichen Frieden. Carl Friedrich von Weizsäcker sagte 1967: „Friedfertig ist, wer Frieden um sich entstehen lassen kann. Das ist eine Kraft, eine der größten Kräfte des Menschen. Ihr krankhaftes Aussetzen oder Verkümmern, fast stets bedingt durch mangeln23
den Frieden mit sich selbst, ist die Friedlosigkeit. Friedlosigkeit ist eine seelische Krankheit.“ Horst-Eberhard Richter, der bedeutende Psychoanalytiker und Mitbegründer unserer deutschen IPPNW, führte weiter aus: „Der gestiftete Unfrieden wird als Projektion von Selbsthass interpretiert. Es ist innere Unversöhntheit, die sich zur Entlastung den äußeren Feind sucht, der bekämpft werden muss.“ Eine treffende Beschreibung des Antagonismus während des Kalten Kriegs, letztlich aber auch der antimuslimischen Reflexe in der heutigen Gesellschaft.
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ir dürfen nicht zulassen, dass auf dem Rücken gesellschaftlicher Minderheiten populistische Politik betrieben wird und sozial benachteiligte und Geflüchtete gegen einander ausgespielt werden. Wir streben eine friedfertige und Frieden schaffende Gesellschaft an und dazu gehört, angesichts von Unfrieden und Friedlosigkeit nicht wegzuschauen oder zu verstummen, sondern Stellung zu beziehen und die Probleme anzugehen.
Alex Rosen ist Vorsitzender der deutschen Sektion der IPPNW.
HUMANITÄT UND MENSCHENRECHTE
Ohne irgendeinen Unterschied 70 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
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m 10. Dezember 1948 verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. „Ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ und unabhängig davon, in welchem rechtlichen Verhältnis der Mensch zu dem Land steht, in dem er sich aufhält, sollen diese für alle Menschen gelten. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges war die Vision, dass die Würde jedes einzelnen Menschen anerkannt und geschützt wird. Die sogenannten Freiheitsrechte sollen dem Individuum z. B. im Falle einer Inhaftierung Integrität und ein faires Verfahren gewährleisten. Die IPPNW hat sich im Rahmen dessen für die Entwicklung und die Verbreitung des „Istanbul Protocol“ zur Anzeige und Dokumentation von Folter eingesetzt. Im Rahmen der zunehmenden Industrialisierung wurden die Menschenrechte weiterentwickelt. Im Internationalen Pakt von 1966 sind die Sozialrechte Schwerpunkt, das heißt, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte wurden festgeschrieben; unter anderem das Recht auf Gesundheit, auf faire Arbeitsbedingungen und das Recht auf soziale Sicherheit. Die IPPNW engagiert sich seit vielen Jahren im Bereich der medizinischen Versorgung von Menschen ohne Krankenversicherung, denn jeder Mensch hat das Recht auf das „jeweils höchste erreichbare Maß an körperlicher und geistiger Gesundheit“. Gesundheit ist Grundlage dafür, dass einzelne Personen Menschenrechte
wahrnehmen und am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politische Leben teilhaben können. Zudem ist ein angemessener Lebensstandard, Nahrung, Zugang zu Wasser und Bildung unabdinglich. Im Rahmen der Verletzungen des Menschenrechtes auf Asyl und des Schutzes der Familie setzen wir uns für die Rechte Geflüchteter und faire Asylverfahren ein.
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ls Resolution der Vollversammlung der UN (im Gegensatz zu Resolutionen des Sicherheitsrates) ergibt sich für die Menschenrechte keine rechtliche Bindung, sie sind kein völkerrechtlicher Vertrag. Einige der Menschenrechte, sowie weitere Grundrechte, wurden mit dem UNSozialpakt (wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, auch als WSK Rechte bekannt) und dem UN-Zivilpakt (bspw. Meinungs- oder Religionsfreiheit) in ein völkerrechtlich verbindliches Menschenrechtsabkommen auf globaler Ebene überführt. Die beiden Pakte wurden 1966 geschlossen und traten 1976 in Kraft, insgesamt sind sie von 164 Staaten ratifiziert. Die dritte Dimension der Menschenrechte entwickelte sich in den 1970er Jahren im Zuge der Dekolonisierung. Aus diesen Ländern fordert die Intellektuelle eine Erweiterung der individuellen Menschenrechte um kollektive Menschenrechte mit den zentralen Forderungen von „Recht auf Entwicklung“ , „Recht auf Frieden“ sowie „Recht auf eine saubere Umwelt“. Bisher sind diese nur in regionale Deklarationen aufgenommen. Die entsprechenden Bestimmungen haben bedauerlicherweise rechtlich gesehen einen zweifelhaften Wert, denn sie sind vor Gericht nicht durchsetzbar. Dies macht sie aber nicht 24
weniger dringlich! Mit unserer ärztlichen Friedensarbeit, zuletzt auch durch die Entwicklung des Bildungsprogrammes „Medical Peace Work“ hat die IPPNW einen Anteil an der Förderung von Frieden und von Verständigung. Die junge Bewegung „Gesundheit und Klima“ bzw. der Schwerpunkt „planetary health“ ist insbesondere für Studierende ein zentrales Thema im Bereich der sozialen Verantwortung. Die IPPNW ist eine internationale Organisation, die weltweit vernetzt ist und uns die Chance bietet, uns national und international zu vernetzen und zu solidarisieren.
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enschenrechtsverletzungen finden überall statt, auch in Deutschland. Die IPPNW hat als ärztliche Friedensorganisation die Aufgabe diese Missstände auf- und anzuzeigen: die Verschärfung des Asylrechts, die menschenunwürdige Unterbringung von Geflüchteten, die milliardenschweren Rüstungsexporte, die Bundeswehreinsätze in Krisengebieten, der Lobbyismus und das fehlende Engagement der Politik für den Klimawandel.
Übersicht zur Geschichte der Menschenrechte: humanrights.ch
Katharina Thilke ist Ärztin in der Weiterbildung Kinderkardiologie und IPPNW-Mitglied.
Carlotta Conrad ist Anästhesistin in Weiterbildung und Vorstandsmitglied der IPPNW.
Die Abstellgleise des europäischen Asylsystems Ein Blick in das Flüchtlingscamp Nea Kavala in Nordgriechenland
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In unserem aktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskurs nehme ich durch die gesamte politische Bandbreite hinweg den Versuch wahr, sich primär erst einmal abzugrenzen. Schnell entsteht das Bild von Menschen, die eine Bedrohung „unserer Sicherheit, unserer Werte“ darstellen. Die Menschen in Nea Kavala sind nicht anders als wir. Sie versuchen ihr Leben selbstständig zu meistern, ihre Zugehörigen zu schützen. In der Begegnung mit ihnen finde ich vor allem Verbindendes. Gewalt und Kriminalität gehören auch hier zum Alltag – wie es in Deutschland nicht anders ist. Im Camp erlebe ich sie verstärkt durch düstere Zukunftsaussichten, erdrückende Lebensbedingungen, das Gefühl, vergessen zu sein. Doch vor allem sehe ich in Nea Kavala freundliche Gesichter. Kinder hüpfen zwischen den Containerreihen umher. „Hello! – How are you?“, höre ich überall. Der Camp-Friseursalon läuft auf Hochtouren, ebenso das zum Brotofen umfunktionierte Metallfass. Während die untergehende Sonne das Camp in goldenes Licht taucht, sitzen auch hier ganz normal Menschen beim Abendessen – draußen, auf Decken, miteinander teilend. Selbst dort, wo unmenschliche Lebensbedingungen in die Verzweiflung treiben, suchen die meisten Menschen vor allem das friedliche Zusammenleben.
in Mädchen läuft auf mich zu, nimmt meine Hand, lässt sie für die nächste Stunde nicht mehr los. Sie spricht kein Wort – manchmal ein Blick – Hauptsache, die Hand ist da. Schon bald wartet sie täglich am Campeingang auf meine Kolleg*innen und mich. Die Hand wird schnell wieder ergriffen und als erste, wichtigste Frage ist eine Absicherung notwendig: „Finished?“– „No, we aren‚t finished. We open the door now!“ Die Hand ausstrecken, Türen öffnen – für drei Monate habe ich das im sog. Flüchtlingscamp Nea Kavala in Nordgriechenland versucht. Hier arbeitete ich im Team „We Are Here“ mit, das dort ein Bildungs- und Gemeinschaftszentrum aufgebaut hat. Auf dem ehemaligen Militärflughafen von Nea Kavala leben 500– 1.000 Menschen, teils in ca. 9 qm großen Containern, teils in großen Gemeinschaftszelten. Die dürftige Infrastruktur wird großteils von NGOs gewährleistet. Medizinische Versorgung ist kaum vorhanden; viele Menschen haben große gesundheitliche Probleme. Als ich das Camp im Oktober verließ, war es nachts schon so kalt, dass die Menschen (viele Familien mit kleinen Kindern) in den Zelten kaum schlafen konnten. Dabei ist Nea Kavala ein vergleichsweise „komfortables“ Camp. Aus anderen Lagern in ganz Griechenland ist von zunehmender Obdachlosigkeit, massiver Überbelegung und damit einhergehenden Konflikten zu hören. Mit dem Wintereinbruch werden sich diese Zustände dramatisch verschlimmern.
„Menschlichkeit statt Ausgrenzung“ verstehe ich nicht mehr nur als wichtige politische Aussage. Sie ist persönlich geworden: In Nea Kavala haben mir gerade die von uns Ausgegrenzten gezeigt, was Mitmenschlichkeit bedeutet, mir ermöglicht, meine eigene Tür zu öffnen und zumindest ein Stück weit mit meinem eigenen Ausgrenzen aufzuhören.
Der Asylprozess steht nahezu still: Für viele der Menschen wird die Registrierung erst ab Ende 2019 möglich sein. Auch die deutsche Politik ist maßgeblich daran beteiligt, dass das Grundrecht auf Asyl in der praktischen Umsetzung quasi ausgehebelt wird.
Das Team des „We Are Here Centres“ schafft in Nea Kavala eine Lebensund Gemeinschaftsraum und sorgt für ein grundlegendes Bildungsangebot. Dabei ist es dringend auf Spenden angewiesen. Mehr dazu unter: weareherecentre.org
Die erlebten Traumata tauchen immer wieder auf. Eine 11-jährige erzählt mir von der Entführung des Bruders im Heimatland Irak und davon, wie auf ihren Vater geschossen wurde. Ein mir Gleichaltriger schildert, wie er als Angehöriger der syrischen Opposition seinen Vater und seine Freunde verlor und Hals über Kopf fliehen musste. In den Verhaltensweisen der Kinder sehe ich täglich, wie sehr sie mit der Verarbeitung erlebter Gewalterfahrungen und ständiger Unsicherheit beschäftigt sind.
Friederike Monninger ist Medizinstudierende im 9. Semester und ehemalige Praktikantin in der IPPNWGeschäftsstelle. 25
HUMANITÄT UND MENSCHENRECHTE
Traumatische Flucht Wie Geflüchtete in Libyen gefoltert und misshandelt werden
Das Zentrum ÜBERLEBEN behandelt seit 1992 Überlebende von Folter und anderen Menschenrechtsverbrechen. In jüngster Zeit gibt es immer mehr Patient*innen, die über Libyen fliehen und dort schwer traumatisiert werden. So wie Yasin*.
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ie Tür, auf die er starrt, bedeutet Hoffnung für Yasin. Der Weg hierher war noch vor wenigen Wochen eine große Herausforderung, mittlerweile hat er ihn verinnerlicht. Von der Flüchtlingsunterkunft nimmt er den Bus. Dann umsteigen, fünf Stationen mit der U-Bahn, in Fahrtrichtung aussteigen, 10 Minuten Fußweg. An den Backsteinbauten links abbiegen, das dritte Haus auf der linken Seite, Fahrstuhl in die 3. Etage, Versichertenkarte in der Anmeldung abgeben, warten. Geschafft. Yasin wird heiß – erst der Kopf, dann die Hände. Hastig dreht er sich um. Niemand da. Er konzentriert sich. Langsam gegen den Kopf klopfen, einatmen, ausatmen. Yasin ist traumatisiert. Er ist vor dem Krieg in seiner Heimat Syrien geflohen, weil ihm die Zwangsrekrutierung durch das syrische Militär drohte. Über Libyen ist er schließlich nach Europa gekommen. Was er auf der Flucht in dem nordafrikanischen Land erlebte, hat ihn für immer verändert. Niemals hätte er gedacht, dass die Zustände in Libyen noch schlimmer als das Sterben vor der eigenen Haustür sein könnten.
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asin fällt es schwer, über die drei Jahre seiner Flucht zu reden. Im Zentrum ÜBERLEBEN findet er therapeutische, medizinische und soziale Unterstützung, um im Exil Fuß zu fassen. Seit einigen Monaten kommt er regelmäßig her, heute zum fünfzehnten Mal. Die Tür, vor der er wartet, gehört zum Sprechzimmer von Dr. Waiblinger. Sie ist Yasins Therapeutin. Er vertraut ihr und dem Sprachmittler, der bei jeder Sitzung dabei ist. Sie sind die ersten Menschen,
denen er seine Geschichte erzählt. Von der Gefangenschaft, den Schlägen, der Folter, der Hilflosigkeit, der ständigen Angst, den vielen Toten. Jede Sitzung kostet Yasin unendlich viel Kraft.
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anchmal kehrt er gedanklich zur ersten missglückten Überfahrt übers Mittelmeer zurück. Endlich würde alles gut, dachte Yasin damals. Zuvor war er über viele Wochen in einem leerstehenden Haus gefangen gehalten worden, zusammengepfercht in einem Raum mit vielen anderen. Es gab kaum zu essen oder zu trinken. Die Wärter der Schlepperbanden wurden sofort gewalttätig, wenn sich jemand beklagte. Sie forderten immer mehr Geld von den Familien der Gefangenen. Yasin hatte kein Handy mehr und damit keinen Kontakt zu seiner Familie. Er konnte die Forderungen nicht bezahlen und blieb so in der Hand der Schlepper. Schließlich wurde er als Haussklave verkauft und erarbeitete sich bei einem libyschen Geschäftsmann das Geld für die Überfahrt. Yasin war sicher, nun wird er es nach Europa schaffen. Doch die Überfahrt scheiterte. Niemals kann Yasin die meterhohen Wellen vergessen. Er sieht alles wieder auf sich zukommen – das eiskalte Wasser, die vielen Toten, die das Meer unter sich begraben hat. Die Gesichter der Männer, Frauen und Kinder haben sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. Eben hatten sie noch neben ihm im Boot gesessen, hofften auf eine friedliche Zukunft. Dann ist das Boot gekentert. Für die meisten gab es keine Rettung. Yasin selbst wurde von der libyschen Küstenwache aufgegriffen. Ob es staatli26
che, paramilitärische oder mafiöse Hände waren in die er dann fiel, lässt sich nicht zurückverfolgen. Sein Martyrium begann erneut. Wieder kam er in eine Art Gefängnis. Die Zustände dort waren noch erbärmlicher als zuvor. Yasin wurde ständig geschlagen und misshandelt. Er war der Willkür der Wärter hilflos ausgeliefert. Langsam gelang es ihm ein gutes Verhältnis zu einem der Wärter aufzubauen, der ihn schließlich frei ließ. Es ist reines Glück, das Yasin noch lebt.
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ie zweite Überfahrt gelang. Den Mut zu finden, das Risiko des Ertrinkens ein zweites Mal einzugehen, war leichter als gedacht. Alles was ihn auf dem Mittelmeer erwarten würde, konnte nicht schlimmer sein als die libysche Gefangenschaft. Über Italien kam Yasin schlussendlich nach Deutschland. Doch die Jahre auf der Flucht, die zahllosen Misshandlungen und Erniedrigungen haben Spuren hinterlassen. Häufig geriet Yasin mit den Mitbewohnern seiner Unterkunft in Streit, fühlte sich ungerecht behandelt. Durch seine Ängste und Albträume kam er nie zur Ruhe, fand keinen Schlaf. Die aufkommenden Aggressionen richtete er gegen sich selbst. Yasin hatte Selbstmordgedanken und fühlte sich durch jeden bedroht. Nie wieder wollte er zulassen, in seiner Existenz so abhängig von anderen zu sein. Durch die Betreuer seiner Wohneinrichtung kam er schließlich in das Zentrum ÜBERLEBEN. Zu Beginn war er misstrauisch. Schnell kam es auch hier zu Konflikten. In der gemeinsamen Aufarbeitung stellte sich heraus, dass Yasin die Konfliktsituationen ganz anders wahrnahm, als seine Mitmenschen. Durch Psychoedukation und die biografische Traumaana-
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„Den Mut zu finden, das Risiko des Ertrinkens ein zweites Mal einzugehen, war leichter als gedacht. Alles was ihn auf dem Mittelmeer erwarten würde, konnte nicht schlimmer sein als die libysche Gefangenschaft.“ Foto: Tim Marshall, unsplash
mnese weiß er nun, dass sein Verhalten und seine Wahrnehmung mit den traumatischen Fluchterlebnissen zusammenhängen. In der Therapie lernt er mit seinen Symptomen umzugehen. Sie sind normale Reaktionen von Körper und Psyche auf die seelischen Verletzungen, die er davongetragen hat. Die Depressionen genauso wie die ständigen Albträume, das autoaggressive und präsuizidale Verhalten und das Gefühl, ständig verfolgt zu werden.
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asin ist nur einer von vielen Patient*innen im Zentrum ÜBERLEBEN. Jährlich werden hier über 600 Patient*innen diagnostisch, therapeutisch und sozialarbeiterisch versorgt. Immer mehr Männer, Frauen und Kinder werden nicht nur durch die Geschehnisse in ihrer Heimat, sondern auch durch Erlebnisse auf der Flucht traumatisiert. Besonders schlimm sind die Schilderungen aus Libyen. In einem Land, in dem es keine Sicherheit, keine Rechtsstaatlichkeit oder überhaupt funktionierende Strukturen gibt, sind die Geflüchteten schutzlos der Gewalt und Habgier von kriminellen, parastaatlichen und anderen Kräften ausgeliefert.
Eine besonders zwiespältige Rolle spielt die libysche Küstenwache. Sie wird eigens von der EU ausgebildet, fischt havarierte Flüchtlinge aus dem Meer und bringt sie zurück nach Libyen. Dort fallen die Menschen zurück in die Hände von Schlepperbanden. Ihre Spuren verlieren sich im Dickicht von Korruption und Profitgier. Seit die europäische Staatengemeinschaft die Asyl- und Aufnahmepolitik externalisiert und auf fragile Drittstaaten wie Libyen überträgt, nehmen Misshandlungen, Schläge und andere Gewaltformen weiter zu. Eine Kontrolle der undurchsichtigen Machtstrukturen zwischen Schlepperbanden, Sicherheitsdiensten und Staatsbeamten ist unmöglich. Es gibt unzählige offizielle und inoffizielle Gefangenenlager, nur zu den allerwenigsten gewährt man unabhängigen Beobachtern Zutritt. Hilfsorganisationen vor Ort bestätigen die Schilderungen der Patient*innen im Zentrum ÜBERLEBEN. Sie berichten von Folter, Vergewaltigungen, Versklavung und Menschenhandel. Für die Überlebenden sind der totale Kontrollverlust und die stetige Entwürdigung nur schwer zu verkraf27
ten. Im Fall von Yasin ist ein Anfang gemacht. Vor ihm liegt noch ein langer Weg. Die Aufarbeitung des Traumas wird viel Kraft kosten. Im Zentrum ÜBERLEBEN findet Yasin wieder die Hoffnung auf eine Zukunft. Auch, wenn er das Erlebte nie vergessen und das Trauma nie ganz überwinden wird. *Name geändert. Zum Schutz unserer Patient*innen anonymisieren wir unsere Fallgeschichten. Mehr über das Zentrum ÜBERLEBEN: www.ueberleben.org
Dr. Mercedes Hillen ist Geschäftsführerin und ärztliche Leiterin des Zentrum ÜBERLEBEN.
HUMANITÄT UND MENSCHENRECHTE DER 6 MONATE ALTE MOHAMED LIBAN ERTRANK IM MAI 2016 IM MITTELMEER. SEINE LEICHE WURDE VON MARTIN KOLEK UND DEM TEAM DER „SEA-WATCH 2“ GEBORGEN.
Über das vorsätzliche Ertrinken lassen Die aktuelle EU-Politik verwehrt Hilfeleistung und Rettung für ertrinkende Menschen in Seenot
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Das Erkennen von Not und insbesondere Seenot ist Voraussetzung für die Einleitung weiterer Maßnahmen. „Erkenntnis“ und „Sehen“ unterliegen den Rahmenbedingungen in denen einzelne Menschen, soziale Gruppen und Gesellschaften leben. Ein Schiff zur Seenotrettung ist in unserem Falle eine maritime Stahlkonstruktion, die motorisiert grundsätzlich im Wasser und insbesondere in seegängigen Gewässern manövriert werden kann, wozu eine nautische Crew, Schiffs-Maschinisten und Seeleute benötigt werden, zusätzlich eine Crew für einen sicheren und reibungslosen Ablauf einer Rettung, Sicherung und Fürsorge für die aufgenommenen Gäste. Dazu gehört auch die Verschiffung in einen „sicheren Hafen“. Die Eigenschaften dieses Rechtsbegriffs sind klar definiert und orientieren sich an der Sicherheit und Unversehrtheit für Leib und Leben. Ein „sicherer Hafen“ für Menschen in Seenot im Mittelmeerraum ist mittlerweile nur schwer zu finden. Mit Einigung der Europäischen Regierungen wurde den Rettungsschiffen der NGO’s „open arms“, „lifeline“, „sea-eye“, „Jugend rettet“, „Sea-Watch“ und „Ärzte ohne Grenzen“ (deren
ach dem „Schiffsunglück“ im Oktober 2013 vor Lampedusa entwickelte sich ein ziviles maritimes Engagement für die Rettung von flüchtenden Menschen in Seenot im Mittelmeer. Dies ist eine humanitäre Aufgabe, die sich auch aus der UN-Menschenrechtskonvention ableitet. Der politische Apparat der EU stellte bis heute keine finanziellen noch materiellen Ressourcen zur Verfügung, welche dieses Engagement unterstützt. Seenotrettung bedarf mehrere Komponenten: Erkennen einer Not, ein zur Rettung geeignetes Schiff, eine Crew, die das Schiff sicher handhaben kann, eine Crew, welche in der Lage ist, Rettungsmaßnahmen auf See sicher für alle Beteiligten durchzuführen, eine gesellschaftliche Akzeptanz für eine Rettung von Menschen und deren adäquater Aufnahme an Land und eine politische Bereitschaft, internationale Gesetze einzuhalten und für politische Rahmenbedingungen zu sorgen, in denen Menschen anderen Menschen zu helfen befähigt werden. 28
„Die Bereitschaft, Menschenleben zu retten und zu schützen wird in Europa aktuell politisch diskutiert. Damit haben die Regierungen beschlossen, Rahmenbedingungen zu entwerfen, in denen aktuell Hilfeleistung verwehrt wird und Seenotrettung nicht stattfindet.“
Schiff „Aquarius“ stillgelegt werden soll, so der Antrag aus Italien vom 20.11.2018) zunehmend und ab Juni 2018 umfassend das Auslaufen und damit die Rettung von Menschen aus Seenot verweigert. Einige Schiffe durften ab Oktober 2018 den Hafen von Malta verlassen und befinden sich im Einsatzgebiet mit dem Ziel, die unterlassene Hilfeleistung wenigstens zu dokumentieren.
Der physikalische Schiffskörper mit dem zum Einsatz bereiten menschlichen Ressourcen, die sich größtenteils vorab nie gesehen haben, stellt auf See einen transkulturellen Mikrokosmos auf Zeit dar, der in seiner Analyse einen Prototyp zum Umgang von Menschen an Land darstellen kann. Die drei Hauptaspekte des Umgangs sind „kooperative Sicherheit, Klarheit, Zuversicht“.
Die Bereitschaft, Menschenleben zu retten und zu schützen wird in Europa aktuell politisch diskutiert. Damit haben die Regierungen beschlossen, Rahmenbedingungen zu entwerfen, in denen aktuell Hilfeleistung verwehrt wird und Seenotrettung nicht stattfindet. Die massive Zerstörung jahrhundertelanger Kulturentwicklung im humanitären Bereich schreitet fort. Auch die EUMilitärschiffe sowie Küstenwachenschiffe sind in die Küstennähe Italiens abgerückt worden. Selbst lediglich beobachtende Kleinstflugzeuge erhielten keine Starterlaubnis. Crewmitglieder von NGO Schiffen stehen in laufenden Verfahren vor Gericht. Im Juni 2018 wurden Null Menschen aus Seenot gerettet. Das Seegebiet wurde zur vorsätzlich von zivilen Kräften unbeobachteten Zone unterlassener Hilfeleistung, des Ertrinkens und freier Handhabung der libyschen Milzen auf See arrangiert. Der Bericht mit der eindeutigen Statistik liegt der Bundesregierung vor. Er ist ausdrücklich nicht für die Öffentlichkeit freigegeben.
Im Seenotfall wird bereits auf See vor Betreten des Schiffes eine intentionale Koordination mit den Gästen angeregt. Das Anbordkommen ist vor allem von Unterstützung, aber auch von maßvoller und konsequenter Beruhigung und Disziplin geprägt. Eine Versorgung von besonders schwer geschädigten oder entkräfteten Menschen findet unmittelbar statt. Neben einem Screening, Zählung und Platzzuweisung wird Wasser und ggfs. Decken verteilt und Abläufe und Sicherheitsregeln vermittelt, die sich sowohl auf das Verhalten an Bord eines Schiffes, wie auch auf die auf ihm befindlichen Menschen beziehen. Die Crew steht in ständigem Kontakt mit den Gästen und reflektiert den Bedarf an Veränderungen. Konflikte gilt es früh zu erkennen und konstruktiv zu lösen. Eine Eskalation muss ausgeschlossen werden, denn sie gefährdet die gesamte Mission. Bereits im Mai 2016 wurde die „Sea-Watch 2“ von libyschen Milizen geentert, ein Schiff von „open arms“ beschossen, verletzt wurde niemand. Im selben Monat begann mit Zustimmung der Bundesregierung die „Ausbildung“ von libyschen Milzen auf EU-Militärschiffen. Diese werden mit Informationen durch die EU-Schiffe und das ab 2018 gestartete Satellitenüberwachungsprogramm der NATO versorgt. Die Crew bereitet sich mit effektiven Deeskalationstechniken vor, auch besteht ein Training im Falle einer Piraterie, eines Angriffs durch von der EU finanzierten libyschen Milizen, der sogenannten „libyschen Küstenwache“ (LYCG). Wer Frieden will, macht ihn: An Bord gibt es keine Waffen.
Das hiervon unbeeindruckte Engagement von freiwilligen Aktivist*innen basiert auf einer Jahrtausende Jahre bewährten „praktischen Ethik“ auf See, in der allen Seefahrenden das Überleben als höchstes Gut zugesichert wird. In der Vorbereitung für die Aufnahme von Menschen wurde die 55 Meter lange „Sea-Watch 3“ von einem „Versorger“ für andere Seeschiffe zu einem Schiff für die Versorgung von Menschen und zur Seenotrettung zusätzlich zur normalen Sicherheitsausrüstung umgerüstet. Dazu gehören: Zwei Schnellboote, die im Einsatzfall von der gesamten Besatzung in den Grundfunktionen bedient werden können, über 1.000 Rettungswesten, 70 Rettungsringe, zwei Centerfloats – etwa 25 m lange, massive Luftschläuche mit etwa 65 cm Durchmesser und fest angebrachten Leinen mit Halteschlaufen –15 Rettungsinseln und Material zur umfangreichen Instandsetzung und Wartung von Einsatzmitteln auf See. Die Crew besteht aus 22 Menschen, im Juni 2018 aus unterschiedlichen europäischen Ländern und Kanada. Die spezifischen Fertigkeiten und beruflichen Hintergründe der 6 Frauen und 16 Männer im Alter zwischen 16–52 Jahren sind unterschiedlich (IT Technik, Tiefseeforschung, Mechaniker, Techniker, Medizin, Journalismus, Psychotherapie, Kulturwissenschaften).
Aktuelle Informationen zu Sea-Watch e. V., Zivile Seenotrettung von Flüchtenden: sea-watch.org Martin Kolek ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. 2016 war er als 1. Offizier auf der „Sea-Watch 2“ im Einsatz. 2018 war er auf der „Sea-Watch 3“ als „Guest coordinator“ eingeplant, das Schiff durfte Malta nicht verlassen. Er ist Herausgeber des Buches „Neuland: mission possible“: www.neuland-mission-possible.de 29
WELT
Brücken bauen für den Frieden Europäisches Studierenden- und IPPNW-Treffen in Wrocław, Polen
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ünfzig Mitglieder von 14 aktiven IPPNW-Sektionen trafen sich vom 21. bis 23. September 2018 im polnischen Wrocław und diskutierten unter anderem über die gemeinsame Strategie zum Atomwaffenverbot. Weitere Themen waren „Flucht und Krieg“, „Frieden und Versöhnung in Mittel- und Osteuropa“ und „Rüstungsexporte“. Es war das erste Mal, dass die europäische IPPNW gemeinsam mit den Studierenden tagte. Eine Idee, die sich als sehr inspirierend und erfolgreich erwies.
Laybourn-Langton von der Alliance on Climate Change, Großbritannien zu „Klimawandel und Energiewende“ und Dr. Klaus Renolder, IPPNW Österreich, zeigte seinen Kurzfilm „Das Prinzip der dreifachen Entlastung – Wie können wir nachhaltig leben?“. Der Film untersucht die Ursachen des menschengemachten Klimawandels und beleuchtet die CO2-Emissionen in einem globalen Kontext. Er behandelt zudem die CO2-Emissionen pro Person und zeigt verschiedene Lösungsstrategien, um diese zu reduzieren.
Zu den Europäischen IPPNW-Treffen kamen Ärzt*innen und Studierende aus Österreich, Bosnien und Herzegowina, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Griechenland, Kosovo, Norwegen, Serbien, Schweden, Schweiz, Russland, Deutschland und Polen. Dr. Angelika Claußen, europäische IPPNW-Präsidentin, eröffnete das Treffen im Vorlesesaal der Bibliothek der Medizinischen Universität Wrocław. „Wir leben“, so Claußen, „in düsteren, aber auch in hoffnungsvollen Zeiten und bedürfen daher einer Logik des Friedens, die aus der Vermeidung von Gewalt, einem zusammenwirkenden Problem-Lösen und dem Dialog besteht.“ Nach einer anerkennenswert genau recherchierten und gleichfalls überzeugend gutmütigen Darstellung der Geschichte Wrocławs im Kontext Europas in Geschichte und Gegenwart deutete sie mit einem Zitat des Nobelpreisträgers und ehemaligen Kanzlers Willi Brandt auf unsere kollektive Verantwortung hin: „Im moralischen Sinn macht es keinen Unterschied, ob ein Mensch im Krieg getötet oder durch Gleichgültigkeit Anderer zum Hungertod verurteilt wird.“ Es folgte die erste Plenumsdiskussion „Fluchtgrund Krieg“, bei der Carlotta Conrad und Olha Yursenyuk aus verschiedenen Blickwinkeln die Situation von Kriegsflüchtlingen in Deutschland und der Ukraine darstellten. Der Psychotherapeut Martin Kolek berichtete von seinen Erfahrungen als Helfer auf dem internationalen Rettungsschiff Seawatch. Am Abend ging es auf Einladung des Rektors der Medizinischen Universität Wrocław Prof. Dr. Marek Zietek in das Lokal Deli, wo der Abend seinen Ausklang nahm.
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ach einem gemeinsamen Mittagessen begann das Plenum „Frieden und Versöhnung in Mittel- und Osteuropa“ unter der Leitung von Prof. Bohdan Wasilewski, in dem die politische Situation in Polen (Dominik Stosik), Deutschland (Susanne Grabenhorst), der Ukraine (Olha Yurtsenyuk) und Russland (Anuar Bidyhiev) vorgestellt und diskutiert wurden. Es folgte die Wahl der Studierendensprecher. Eva Lauckner stellte ihr Amt nach zwei Jahren turnusmäßig zur Verfügung. Als neue Europäische Studierendensprecherin wurde Ella Faiz aus Frankreich gewählt. Anschließend tagten parallele Arbeitsgruppen zu „Frieden und Versöhnung“, „Klimawandel/Energiewende“ und „Atomwaffenverbotsvertrag“. Im letzteren Workshop wurde unter anderem verabredet, Unterschriften unter die ICAN-Abgeordnetenerklärung zu sammeln und an der Kampagne „Don’t Bank on the Bomb“ mitzuarbeiten. Am letzten Tag stellte Dr. Helmut Lohrer, IPPNW-Deutschland, beeindruckend die Folgen des Waffenexports dar. Das letzte Wort hatten die Studierenden. Eva Lauckner, Dominik Stosik und Franca Brüggen berichteten über die Studierendenarbeit.
Am kommenden Tag referierte Selma van Oostward, PAX Niederlande, über die Gefahr eines Atomkrieges und den UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen. Es folgte ein Vortrag von Laurie
Dominik Stosik ist Medizinstudent in Wrocław, Polen. 30
AKTION
Macht Frieden Mit riesigem Banner für zivile Lösungen
Fotos: Regine Ratke
Am 8. Oktober 2018, vor der Abstimmung im Bundestag über die Verlängerung des Bundeswehrmandats für Syrien und Irak, demonstrierte die Kampagne „Macht Frieden“ vor dem Brandenburger Tor in Berlin gegen den Bundeswehreinsatz. Das riesige Kampagnen-Banner zog die Blicke auf sich. Viele Passant*innen konnten über Arbeit und Forderungen der Kampagne, an der auch die IPPNW beteiligt ist, informiert werden. „Militärische Interventionen im Eigeninteresse und mit dem Ziel der Herstellung genehmer Staatsformen und Repräsentationen (...) können weder den Terrorismus ausrotten noch den Menschen Frieden und Entwicklung bringen“, so Jens-Peter Steffen, friedenspolitischer Sprecher der IPPNW. Auch einige Bundestagsabgeordnete nahmen an der Aktion teil und zogen nach der Kundgebung mit allen Teilnehmer*innen zusammen vor den Bundestag.
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GELESEN
GESEHEN
Besucher im eigenen Haus
Industriell abgefertigt
Arzt, Palästinenser, Flüchtling – wie diese drei Identitäten den Lebensweg und das Wirken von Ibrahim Lada’a prägten, beschreibt er in seinem autobigrafischen Buch „Arzt aus Jaffa“.
Ein Dokumentarfilm über die Risiken und (Neben-) Wirkungen des Fallpauschalensystems auf die Versorgungsstrukturen in den deutschen Krankenhäusern und die Menschen darin.
iele werden unseren einstigen Vorstands-Kollegen Ibrahim Lada’a noch aus seiner Zeit in Deutschland kennen und sich gerne daran erinnern, wie er aus seinem bewegten Leben erzählte. „Was ist Identität? Was bedeutet Herkunft, was Heimat? Auf diese Frage habe ich mein Leben lang nur eine Antwort gehabt“, schreibt Lada’a: „Ich bin Ibrahim, ein Arzt aus Jaffa und zugleich auch ein palästinensischer Flüchtling, der in Deutschland studierte, nach Palästina zurückging, um das Leben der Menschen in seiner Heimat zu verbessern, vertrieben wurde, zurückkehrte, wieder vertrieben wurde und doch stets zurückkehrte.“ Lada’a’s Leben ist eng verknüpft mit der jüngeren und jüngsten Geschichte Palästinas. 1942 in Jaffa geboren, 1948 durch die Gründung des Staates Israel vom Meeresstrand in die Berge um Jerusalem vertrieben. Ab 1965 studierte er Medizin in Würzburg, machte anschließend die HNO-Facharztausbildung in Erlangen. Den „Sechs-Tage-Krieg“ erlebte er in Deutschland. Die Rückkehr 1978 ins israelisch besetzte Westjordanland war schwierig, Jerusalem genauso wie seine Heimatstadt Jaffa blieben für ihn verboten.
eit der Einführung des DRG-Systems 2003 hat sich das Gesundheitswesen zu einer Gesundheitswirtschaft entwickelt. Der Film von Leslie Franke und Herdolor Lorenz zeigt die Folgen für die Patient*innen auf der einen und für das Krankenhauspersonal auf der anderen Seite. Es steht nicht mehr das Wohl bzw. die Genesung im Fokus, d. h. es wird nicht mehr gefragt, was brauchen die Patient*innen, sondern was bringen uns die Patient*innen (monetär)? Die Ökonomisierung der Medizin ist folgenreich, auch für das Krankenhauspersonal. Denn Personalkosten machen mehr als 60 Prozent der laufenden Kosten aus, sodass an dieser Schraube immer weiter gedreht wird. In den Interviews des Films kommen Pflegende zu Wort und es wird deutlich, dass im Rahmen der Arbeitsverdichtung nicht nur die Menschlichkeit auf der Strecke geblieben ist, sondern dass daraus reale Gefahren für das Leben der Patient*innen resultieren. Seit 2003 wurden 50.000 Pflegestellen abgebaut bzw. eingespart. Personalkürzungen erfolgten nicht nur um den Profit zu erhöhen, sondern auch, weil die Kommunen weniger Gelder in die Krankenhausinstandhaltung investieren. Der Film gibt den Patient*innen eine Stimme und lässt die Pflegenden zu Wort kommen. Auch Ärzt*innen wurden interviewt. Bedauerlicherweise hat sich nur eine junge Ärztin in Weitebildung bereit erklärt vor der Kamera zu sprechen. Sie hat den Arbeitgeber, d. h. das Krankenhaus, gewechselt. Dies ist Gang und Gebe unter den jungen Ärzt*innen in Weiterbildung in Deutschland. Doch es wird schnell klar, dass alle Kliniken betroffen sind bzw. dass das Fallpauschalensystem seine Spuren hinterlässt. Überall findet eine Steigerung der Fallzahlen bei gleichzeitigem Abbau von Personal statt.
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Dennoch erhielt sich Ibrahim seinen Optimismus, und lässt uns nicht nur an seiner persönlichen Geschichte teilhaben, sondern auch an Überlegungen und seiner Vision für einen möglichen Frieden im Nahen Osten: „Ich will nicht resignieren, wie so viele um mich herum, doch ich will mich auch nicht dem Zorn ergeben. Es ist die Liebe, die mich antreibt, die Liebe zu meinem Vater, dem Händler aus dem Hafenviertel Jaffas, zu meiner Mutter, die um ihr Sofa trauerte, zu Ramallah, das mir und meinen Kindern ein neues Zuhause wurde. (...) Ich wünsche mir Aufbruch, Veränderung, ein Abstreifen der Fesseln und dann, endlich, wünsche ich mir Versöhnung, Rückkehr zum Frieden, zum wahren Frieden.“
Der Film regt zum Nach- bzw. Umdenken an. Was wir brauchen ist eine breite Bewegung im Gesundheitswesen, in dem sich alle Gesundheitsarbeiter*innen zusammenschließen und sich einsetzen für eine menschliche und menschenwürdige Medizin. Medizin bzw. Patient*innen sind keine Ware!
Das Buch sollte jede*r lesen, der den Nahost-Konflikt mit dem Herzen verstehen will. Lada’a, Ibrahim K.: Arzt aus Jaffa, Geschichte eines palästinensischen Vertriebenen, Verlag auf dem Ruffel 2018, 301 Seiten, 18,80 €, ISBN 978-3-933847-52-2
Der marktgerechte Patient von Leslie Franke, Herdolor Lorenz, Dokumentarfilm, 2018, 1 Std. 23 Minuten. Seit 8. November 2018 in ausgewählten Kinos. Mehr unter: der-marktgerechte-patient.org
Sabine Farrouh Katharina Thilke 32
G EDRUCKT
TERMINE
Der Syrienkrieg
JANUAR
Dimensionen – Hintergründe – Perspektiven
31.1. Redaktionsschluss IPPNW-Forum 157/Ausgabe März 2019
FEBRUAR
I
m März 2019 jährt sich der Beginn des Syrienkrieges zum 8. Mal. Etwa 500.000 von ursprünglich 21 Millionen Einwohner*innen sind durch den Krieg ums Leben gekommen. Noch mehr Menschen sind zu Geflüchteten innerhalb des Landes geworden oder ins Ausland geflohen. Ein Großteil der zivilen Infrastruktur ist zerstört. In der deutschen Öffentlichkeit ist der Krieg in den Hintergrund gerückt und über die Bewertung der Akteure des Krieges und der Wege zum Frieden wird auch innerhalb der deutschen Friedensbewegung gestritten. Mit dem Akzente „Der Syrienkrieg“ wollen die Autoren einen Beitrag leisten zu einer gesellschaftlichen Debatte, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder eine abschließende Bewertung zu erheben. Eine gedruckte Version kann für 10,00 Euro in der IPPNW-Geschäftsstelle oder im Online-Shop bestellt werden: shop.ippnw.de
16.2. 14. Atommüllkonferenz, Göttingen
MÄRZ 11.3. Jahrestag des Super-GAU in Fukushima/Fukushima-Gedenktag 14.–15.3. Armut und Gesundheit Kongress, Berlin 20.3. Eröffnung „Hibakusha weltweit“ Ausstellung, Wetzlar 20.3.–18.4. „Hibakusha weltweit“ Ausstellung, Wetzlar 31.3.–12.4. IPPNW-Begegnungsfahrt Israel-Palästina
APRIL Das Syrien-Akzente kann kostenlos heruntergeladen werden unter: ippnw.de/bit/syrienakzente
27.–29.4. Nukipedia Workshop, Berlin
G EPLANT Das nächste Heft erscheint im März 2019. Das Schwerpunktthema ist:
Europa als Friedensprojekt gestalten: Gegen eine Militarisierung der EU Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 157/März 2019 ist der 31. Januar 2019. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de
IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Samantha Staudte Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80 74 0, Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de, Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN: DE39100205000002222210, BIC: BFSWDE33BER Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung.
10.4. Berufungsprozess gegen 4 Atomwaffengegner wegen Go-In in den Atomwaffenstützpunkt Büchel, Koblenz
Redaktionsschluss für das nächste Heft: 31. Januar 2019 Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout: Samantha Staudte; Druck: DDL Druckereidienstleistungen Berlin; Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC Bildnachweise: S.4 oben: Deutsche Allianz Klimawandel & Gesundheit; S.6 Mitte: Nuclear Free Future Award; S. 7 links: Levi Clancy, Wikimedia.org, creativecommons. org/licenses/by-sa/4.0/deed.de; rechts: Michael Schulze von Glaßer; S. 18: Ralf Schlesener; S. 31: Regine Ratke; Rückseite: Foto: Concordia: Bearbeitete Version des Originals v. Andreas Praefcke, creativecommons.org/licenses/by/3.0; Stuttgart Panorama: Bearbeitete Version des Originals v. Roger Kreja, creativecommons.org/licenses/ by-sa/3.0; nicht gekennzeichnete: privat oder IPPNW.
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Grundlagen-
Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
vormerk e
MAI
3.–5. Mai IPPNW-Jahrestreffen und Mitgliederversammlung, Stuttgart
JULI 1.–6. Juli IPPNW-Woche in Büchel mit Möglichkeit zur Beteiligung von Regionalgruppen und Workcamp 7.–8. Juli „2 Jahre Atomwaffenverbot: Zeit für den Beitritt Deutschlands und den Abzug der Atomwaffen aus Büchel“: Gemeinsame Aktionen und Mahnwachen von IPPNW und andere Organisationen am Atomwaffenstützpunkt Büchel
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GEFRAGT
6 Fragen an … Thomas Gebauer
Geschäftsführer von medico international und zusammen mit Ilija Trojanow Autor des im Herbst erschienenen Buches „Hilfe? Hilfe! Wege aus der globalen Krise“
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Sie widmen Ihr neues Buch dem Thema „Hilfe“. Wie kam es dazu? Gegenseitige Hilfe ist grundlegend für den sozialen Zusammenhalt; Hilfsbereitschaft Ausdruck von Menschlichkeit. Aber Hilfe hat auch Grenzen. Wer um Gerechtigkeit bemüht ist, kann es nicht beim Helfen belassen. Was uns in der Recherche für das Buch interessiert hat, sind die Voraussetzungen für eine nachhaltige Überwindung von Not und Unmündigkeit. So bedeutend Hilfe für das existenzielle Überleben von Menschen sein kann, ist mit ihr allein der krisenhaften Entwicklung in der Welt nicht beizukommen.
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Häufig wird argumentiert, dass Hilfe nicht hilft, läge an Korruption und Instabilität der Empfängerländer. Ist das so? Ja, es gibt Korruption und fragile Staatlichkeit. Beides hat aber auch mit uns zu tun, z. B. mit Handelsverträgen, die Europa den Ländern in Afrika aufnötigt. Noch immer hält sich die Mär, dass Afrika am Tropf reicher Geberländer hänge. Doch im Gegenteil: Alljährlich verliert Westafrika 50 Mrd. Dollar durch Preismanipulation bei Handelsgeschäften, Steuerhinterziehung und anderen illegalen Geldabflüssen. Mehr als das, was die Region in Form von Entwicklungsgeldern und Direktinvestitionen bekommt.
Hat sich die Entwicklungshilfe in den letzten Jahrzehnten verändert? Und wohin geht derzeitige der Trend? Auf unseren Reisen durch vier Kontinente und acht Länder sind wir auf viele gelungene Formen von Hilfe gestoßen. Menschenrechtsaktivisten oder lokale Gesundheitsinitiativen in ihren Kämpfen für ein besseres Leben solidarisch zu unterstützen, ist wunderbar. Verstärkt aber mischen sich heute auch eigennützige Interesse in die Hilfe. Gerade in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit ist das zu beobachten. Hilfe wird für Sicherheitspolitik, etwa in der Flüchtlingsfrage missbraucht oder dient der Wirtschaftsförderung. Unternehmen sehen inzwischen in Not- und Entwicklungshilfe einen profitablen Wachstumsmarkt.
Sie schreiben, dass Hilfe auch bestehende Ungleichheit und Ausbeutung zementieren kann. Wie das? Im mexikanischen Bundesstaat Chiapas berichteten uns lokalen Gesundheitspromotoren, wie mit viel Engagement aufgebaute solidarische Strukturen durch von außen übergestülpte Hilfen wieder zerstört worden sind. Die geleisteten staatlichen Unterstützungsprogramme dienten weniger der sozialen Entwicklung, als der Bekämpfung lokalen Widerstandes. Auch Hilfen von US-Stiftungen, wie der Kelloggs Foundation, torpedieren Selbstorganisationen. Sie fesseln die Notleidenden in einer Opferrolle.
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Sollen wir überhaupt noch helfen? Spenden? Wie müsste Hilfe gestaltet sein, die langfristig etwas verändert? Ja, selbstverständlich, aber mit dem Wissen, dass per Spende alleine die Probleme der Welt nicht gelöst werden. Das Elend in der Welt ist auch Folge unserer Lebensweise. Wenn die Menschenwürde für alle gelten soll, muss sich vieles ändern: die herrschende Produktionsweise, unser Konsumstil, die Beziehungen zwischen den Geschlechtern, das Verhältnis zur Natur. Sonst wird Hilfe immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Ein Aktivist in Chiapas brachte es auf den Punkt: „Helfen? Nein. Gemeinsam kämpfen? Ja!“ Veränderung gelingt nur dort, wo sich Menschen für Veränderung einsetzen. Hilfe, die nachhaltig wirksam sein will, muss solchen Veränderungsprozessen solidarisch zur Seite stehen.
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Schaut man sich die aktuelle Weltlage an, scheint es, dass Hilfe immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Wie kommt das? Tatsächlich, und das bestätigen auch die UN, übersteigt der Bedarf an Hilfe längst die zur Verfügung stehenden Mittel. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt die im Zuge der neoliberalen Umgestaltung der Welt dramatisch angewachsene soziale Verunsicherung. Menschen werden hilfsbedürftig, weil ihre Entwicklungschancen durch mächtige politische und ökonomische Interessen blockiert werden. Wo Perspektivlosigkeit, Ausgrenzung und Vertreibung zunehmen, wächst auch die Gewalt. Viele der heutigen Kriege sind aus solchen sozialen Konflikten entstanden. 34
SAVE THE DATE
Büchel 2019 10. April 2019 Berufungsprozess gegen vier Aktivisten wegen Go-In 2016 u. a. Ernst-Ludwig Iskenius (IPPNW), Koblenz 1.–6. Juli 2019 IPPNW-Woche in Büchel mit Möglichkeit zur Beteiligung von Regionalgruppen und Workcamp 7.–8. Juli 2019 „2 Jahre Atomwaffenverbot: Zeit für den Beitritt Deutschlands und den Abzug der Atomwaffen aus Büchel“ Gemeinsame Proteste, Aktionen & Mahnwachen von IPPNW und andere Organisationen am Atomwaffenstützpunkt Büchel Aktuelle Informationen unter: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine Unterstützung willkommen. Kontakt: ingablum@gmx.de und iskenius@ippnw.de
3.–5. Mai 2019 in Stuttgart
IPPNW-Jahrestreffen fffen & Mitgliederversammlung Freitag, 3. Mai
18:30 Uhr Markt der Möglichkeiten
Ev. Bildungszentrum Hospitalhof Büchsenstraße 33 70174 Stuttgart
20:00 Uhr Öffentliche Veranstaltung
Europa: Atomwaffen ächten, das Recht auf Frieden entwickeln Der Schweizer Völkerrechtler Dr. Daniel Rietiker wirft einen kritischen Blick auf die europäischen Institutionen, um Anregungen für eine europäische Friedenspolitik zu geben. Die vordergründige Bezugnahme auf Menschenrechte nach dem Jugoslawienkrieg wird auch in Europa zunehmend zu einem Türöffner für Kriegsvorbereitungen. Lässt sich aus den Menschenrechten nicht vielmehr das Recht auf Frieden ableiten? Rein rechtlich gesehen ist der Einsatz von Atomwaffen laut IGH-Urteil von 1996 völkerrechtswidrig. Welche gesetzlichen Schritte, die auch die Herstellung und die Bereitstellung von Massenvernichtungswaffen verbieten, braucht Europa? Wie können wir einen Atomwaffenverbotsvertrag durch ein „atomwaffenfreies Europa“ unterstützen? Welche Forderungen an die europäische Politik sind dazu nötig? In einem anschließenden Podiumsgespräch mit Friedensaktivistinnen von IPPNW und ICAN werden Forderungen an die Politik konkretisiert.
Samstag, 4. Mai Bürgerzentrum West
9:30 Uhr Vortrag
Europäische Atompolitik: Wege zum Ausstieg
Bebelstraße 22 70193 Stuttgart
IPPNW-Jahrestreffen und Mitgliederversammlung 11:30 Uhr Workshops 14:00 Uhr Mitgliederversammlung und Vorstandswahlen 20:00 Uhr Abendessen 21:30 Uhr Kritische Begehung der Bahnhofs-Baustelle S21
Sonntag, 5. Mai Bürgerzentrum West Bebelstraße 22 70193 Stuttgart
9:00 Uhr Vortrag
Von Stuttgart geht Krieg aus: Die Bedeutung der US-Militäreinrichtungen Eucom und Africom 10:30 Uhr Aktion
Öffentlichkeitswirksame Aktion vor dem EUCOM (U.S. European Command) Weitere Informationen unter: www.ippnw.de/bit/mv
Fragen und Kontakt: kontakt@ippnw.de