Akzente Türkei 2017

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ippnw akzente

information der ippnw internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Die Türkei am Scheideweg – Reiseeindrücke aus einem bedrohten Land IPPNW-Delegationsreise in die Türkei vom 16. bis 31. März 2017



INHALT

Einleitung Editorial ........................................................................................................................... 4 GesprächspartnerInnen ...................................................................................................... 7 Glossar ............................................................................................................................ 7 Chronologischer Bericht, Gesprächsnotizen Istanbul................................................................................................................................................................. 7 Diyarbakir .................................................................................................................................................. 7, 10, 14 Mardin und Kiziltepe .......................................................................................................................................... 10 Cizre.................................................................................................................................................................... 14 Ankara ................................................................................................................................................................ 18

Vertiefende Themen und Berichte Verdächtigungen, Maßregelungen und Verbote ..................................................................... 24 Diyarbakir, die Hauptstadt der Kurden ................................................................................ 26 Das Newrozfest ............................................................................................................... 28 Leben im Ausnahmezustand ............................................................................................. 30 Europäische Flüchtlingspolitik und die Rolle der Türkei ......................................................... 32 Das Verfassungreferendum ............................................................................................... 37 „Es ist eine viel schlimmere Zeit als 1980“: Gespräch mit Sezgin Tanrikulu ............................ 38 Kinder im Gefängnis: Das Jugendstrafrecht in der Türkei ...................................................... 39 Der Prozess gegen Dr. med. Serdar Küni in Sirnak ............................................................... 42 Anhang Offener Brief an die Bundesregierung ................................................................................. 46 Zum Weiterlesen ............................................................................................................. 46 Spendenaufruf, Impressum & Heftbestellung....................................................................... 48

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DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Editorial

Vertreibung und Repression In Diyarbakir ist die bedrohliche Anspannung des letzten Jahres einer scheinbaren Normalität gewichen. Mit dem Leben unter Ausnahmezustand und Besatzung haben die Menschen langjährige Erfahrung. In Cizre dagegen stand die Bevölkerung noch unter Schock. Besonders die Ermordung von 189 Menschen, die in drei Kellern Schutz gesucht hatten und quasi unter den Augen und Ohren der Welt verbrannt wurden, treibt die BürgerInnen um. Es hat keine unabhängige Untersuchung dieses Kriegsverbrechens gegeben. Niemand ist dafür zur Rechenschaft gezogen worden. Inzwischen ist alles eingeebnet, alle Spuren sind beseitigt. Während der Kämpfe 2015-16 sind aus den kurdischen Städten etwa 500.000 Menschen vertrieben worden, viele waren in den 90er Jahren schon einmal vertrieben worden. Die meisten wollen bleiben, ihre Heimat nicht noch einmal aufgeben. Zumindest sagen das unsere GesprächspartnerInnen von der „Demokratischen Partei der Völker“ HDP und dem Menschenrechtsverein IHD.

Die diesjährige Delegationsreise fand trotz großer Sicherheitsbedenken statt. In den Tagen davor war der verbale Schlagabtausch zwischen Ankara und Berlin eskaliert, so dass wir befürchteten, gar nicht ins Land gelassen zu werden. Mehrere jüngere Interessierte sagten ihre Teilnahme ab. Auch unser langjähriger Dolmetscher und Organisator Mehmet musste aus Rücksicht auf seine Familie zuhause bleiben. Ahmet, ein politisch aktiver Jeside aus Hannover mit guten Sprachkenntnissen und deutschem Pass, sprang für ihn ein. Mehmet begleitete uns von Frankfurt aus mit seinem Rat und seinen über die Jahre erworbenen Kontakten. Einmal im Land, merkten wir sehr schnell, wie wichti g in dieser schweren Zeit unser Besuch für die Menschen war. Sie fühlen sich alleingelassen und von Europa aufgegeben. Wir befürchteten, dass wir gar keine GesprächspartnerInnen finden würden – denn viele unserer früheren Kontaktpersonen sind entlassen oder in Haft. Viele der zivilen Gruppen und Organisati onen wurden verboten. Es fanden sich aber muti ge Menschen, die bereit waren, mit uns zu sprechen und damit natürlich die Hoffnung verbinden, dass wir in Deutschland über unsere Erfahrungen berichten und auch Gehör finden.

Zehntausende Beschäftigte sind aus dem öffentlichen Dienst entlassen worden. Ihre Namen wurden im Amtsblatt veröffentlicht. Niemand traut sich, sie wieder einzustellen, und eine soziale Absicherung gibt es nicht. Insbesondere in den Schulen fehlen die Lehrer, deren Stellen nur ungenügend mit Kräften in Ausbildung ersetzt werden. Auch im Gesundheitswesen sind große Personallücken entstanden, die nicht geschlossen werden können. Die Regierung droht damit, Ärzte und Gesundheitspersonal aus Aserbaidschan und anderen asiatischen Turk-Republiken zu holen.

Selten wurde in europäischen Medien so viel über die Türkei berichtet. Über das, was im Südosten, in den kurdischen Gebieten passiert, erfahren wir, aber auch die Menschen im Westen der Türkei, wenig, obwohl die Informationen bei gezielter Suche durchaus zu finden sind. 4


BERICHT 2016

DER TÜRKISCHE HALBMOND ALS FRIEDENSTAUBE: MIGRATIONSBEHÖRDE DES GOUVERNEMENTS DIYARBAKIR

Zur Türkeiarbeit der IPPNW

Die meisten kurdischen Stadtverwaltungen wurden aufgelöst. An ihrer Stelle wurden von der Regierung Verwalter eingesetzt. Über die Pläne zum Wiederau�au der zerstörten Viertel ist nichts bekannt. Unzureichende Entschädigungen können nur von Vertriebenen beantragt werden, die registriert und im Grundbuch eingetragen waren – und das auch nur dann, wenn sie unterschreiben, dass die PKK ihre Häuser zerstört habe. Den türkischen Halbmond als Friedenstaube darzustellen, wie auf dem Titelfoto, erscheint als Gipfel der Verhöhnung

Die Türkeiarbeit der IPPNW hat mit Gisela Penteker (Delegationsreisen), Ernst-Ludwig Iskenius (Prozessbeobachtung), Angelika Claußen (Prozessbeobachtung, Europäische IPPNW, Anti-AKWArbeit) Tradition. Die politische und Menschenrechtslage hat sich bekannterweise stark verschlechtert, viele unserer ehemaligen Gesprächspartner sitzen im Gefängnis oder sind davon bedroht. Viele Gruppen und Initiativen, besonders in Südosteuropa existieren nicht mehr. Viele AktivistInnen sind resigniert. Auch etablierte NGOs wie die türkische Menschenrechtsstiftung TIHV sind von der Schließung bedroht.

Im vorliegenden Bericht haben Mitreisende zu einzelnen Gesichtspunkten und Begegnungen Beiträge geschrieben. Die Berichte spiegeln wider, wie einseitig sich das Leben der Menschen auf den Konflikt und die Besatzung verengt. Inzwischen sind mehr als zwei Monate vergangen. Präsident Erdogan hat das Referendum mit einer hauchdünnen und wahrscheinlich manipulierten Mehrheit gewonnen. Die Zahl der Gefangenen hat sich erhöht, der Ausnahmezustand besteht weiterhin.

Internati onale Prozessbeobachtung von verhafteten Menschenrechtlern sind nach Aussagen der Menschenrechtsorganisationen nach wie vor ein wichtiger Schutz und auch Ermutigung für deren Familien und politisches Umfeld. Zur Zeit werden die Prozesse gegen Prof. Dr. med. Sebnem Korur-Fincanci in Istanbul und Dr. Serdar Küni in Sirnak von IPPNW-Mitgliedern regelmäßig besucht. Es geht nicht allein um die Unschuld der Betroffenen. Die Unabhängigkeit ärztlicher und medizinischer Behandlung ist in Gefahr, durch politische Interessen zerstört zu werden. Die Bundesärztekammer konnten wir über die Menschenrechtsbeauft ragten zu Stellungnahmen bewegen. Eine Briefaktion zum Prozess gegen Dr. Serdar Küni ist im Gange (siehe Seite 42ff.).

Mindestens die Hälfte der Menschen in der Türkei ist mit der Politik der Regierung nicht einverstanden. Diese Hälfte ist eingeschüchtert und durch das Medienmonopol der Regierung kaum zu hören. Wir dürfen sie nicht verloren geben. Sie brauchen unsere Solidarität und unsere Fantasie, um Wege der Begegnung zu öff nen und gewachsene Kontakte aufrechtzuerhalten.

Gisela Penteker 5


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Von Ausgangssperren betroffene Provinzen in der Türkei

Muş Varto Hakkâri Yüksekova

Diyarbakır Lice, Silvan, Sur, Bismil, Hani, Yenişehir, Dicle, Kocaköy, Hazro, Bağlar

GesprächspartnerInnen

Glossar

Istanbul

AKP Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung CHP Cumhuriyet Halk Partisi, Republikanische Volkspartei Dikassum eins von vielen kommunalen Frauenzentren in Diyarbakir Egi�m Sen Erziehungsgewerkschaft GAP-Staudammprojekt, türkisch Südostanatolien-Projekt (Güneydoğu Anadolu Projesi, GAP), ist das größte regionale Entwicklungsprojekt der Türkei. Es umfasst insgesamt 22 Staudämme, 19 Wasserkraft werke und Bewässerungsanlagen entlang der beiden Flüsse Euphrat und Tigris. Giragoskirche Historische armenische Kirche im Zentrum Diyarbakirs, im Frühjahr 2016 zerstört Gülen-Bewegung Anhänger und/oder Schüler des Predigers Fetullah Gülen, der im Exil in den USA lebt Heyva Sor a Kurdistane Kurdischer Roter Halbmond mit Büros in europäischen Städten HDP Halklarin Demokratik Partisi, die Demokratische Partei der Völker, Nachfolgepartei der BDP, mehrheitlich kurdisch Incommunicado-Ha� Zeit von der Festnahme bis zur Vorführung beim Haftrichter IHD Insan Haklari Derneği, der in vielen Städten aktive Menschenrechtsverein Jesiden Wir benutzen die in Deutschland gebräuchlichste Schreibweise. Jesidische Organisationen ziehen den Begriff „Eziden“ vor. KAMER abgekürzt für Kadin Merkez: Unabhängige Frauenzentren in vielen türkischen Städten, vorwiegend im Südosten

Redakteure des Senders IMC-TV

Diyarbakir

IHD Diyarbakir Ärztekammer Diyarbakir HDP Diyarbakir Industrie- und Handelskammer DISIAD Frauenorganisation KAMER CHP Diyarbakir Anwaltskammer Der verbotene Rojava-Verein „Samstagsmütter“

Mardin und Kiziltepe HDP Mardin

Cizre

Gewerkschaft Öffentlicher Dienst KESK HDP Cizre

Ankara

KESK Erziehungsgewerkschaft Egitim Sen IHD Ankara TIHV Ankara Cumhuriyet, angeklagter Redakteur Ein „Akademiker für den Frieden“

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Batman Sason, Kozluk

Şırnak Cizre, Silopi, İdil, Merkez

Mardin: Nusaybin, Dargeçit, Derik

KESK Kamu Emekçileri Sendikalari Konfederasyonu, Gewerkschaft für den öffentlichen Dienst, vergleichbar mit Ver.di Newroz kurdisches Neujahrsfest am 21. März PKK Partiya Karkeren Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistans Rojava kurdische Bezeichnung für Westkurdistan, die kurdischen Gebiete in Nordsyrien Sarmasik-Efeu Verein gegen Armut und für nachhaltige Entwicklung SES Gesundheitsgewerkschaft Sindschar = Shengal ein ca. 50 km langer Höhenzug von Ost nach West im Nordirak, an dessen südlichem Ende die Stadt Sindschar im auch Sindschar genannten Distrikt liegt Sur Altstadt von Diyarbakir Tiefer Staat „Staat im Staate“ – konspirative Verflechtung von Militär, Geheimdiensten, Politik, Justiz, Verwaltung, Rechtsextremismus und organisiertem Verbrechen, insbesondere Killerkommandos. Dabei werden u.a. die beiden Militärputsche von 1971 und 1980 sowie eine größere Zahl von unaufgeklärten politischen Morden, Folter und das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen genannt. TIHV Türk Insan Haklari Vakfi, Türkische Menschenrechtsstiftung TOKI Staatliche Wohnungsbaugesellschaft Vali Gouverneur, manchmal als Zwangsverwalter eingesetzt, oft auch zusätzliche Zwangsverwalter statt der abgesetzten Bürgermeister

Quelle: Trkische Menschenrechtsstiftung TIHV 2016

Elazığ Arıcak


BERICHT 2017

Chronologischer Bericht Dr. Gisela Penteker

Istanbul

Diyarbakir

16. März | Istanbul: Eyüp Burc, ehemaliger Chefredakteur des Senders IMC-TV und sein Kollege Azad Baris

17. März | IHD Diyarbakir, Generalsekretär Abdusselam Ingeören, Anwalt und Vorstand Ercan Yilmaz

Unsere beiden Gesprächspartner haben neben ihren türkischen Pässen auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Das schützt sie aber kaum. Eyüp Burc und Azad Baris rechnen jeden Tag damit, verhaftet zu werden. Ihr Sender ist geschlossen – wie so viele andere. Trotzdem sind sie im Untergrund gut organisiert. Mit Unterstützung von JournalistInnen aus Deutschland bauen sie eine Internetsendung mit dem Titel „Es gibt eine Nachricht“ auf. Sie bleiben im Land, weil es sonst keine Hoffnung gebe, dass sich etwas zum Guten ändere. Zentral sei die Kurdenfrage. Wenn sie nicht friedlich gelöst werde, könne es keine positive Entwicklung geben: „Erdogan und seine Partei fühlen sich durch die demokratische gesellschaftliche Entwicklung bei den Kurden und durch die Emanzipation der kurdischen Frauen bedroht.“

Der IHD-Vorsitzende Raci Bilci ist seit zwei Tagen in Untersuchungshaft. Viele Menschen wurden während der Kämpfe um die kurdischen Städte vertrieben. Nur wenige von ihnen konnten bisher zurückkehren. Der Verein kümmert sich um die Inhaftierten. Deshalb würden die Anwälte bei ihrer Arbeit behindert und schikaniert. Die kurdische Sprache sei im Gericht verboten. Notwendige Dolmetscher müssten von den Angeklagten selbst bezahlt werden. Der IHD, der über sehr begrenzte Mittel verfügt, finanziere sich aus Mitgliedsbeiträgen. Die Kindergärten sind, wie viele kurdische Einrichtungen, geschlossen worden. Die Entlassenen ersetzt die AKP durch ihre Anhänger.

Beide meinen, Fethullah Gülen sei ebenso ein Diktator wie Recep Tayyip Erdogan. Mit seinen großen Ressourcen habe er einen „tiefen Staat“ aufgebaut. Gut ausgebildete Gülen-Anhänger besetzen wichtige Stellen im öffentlichen Dienst, an Universitäten, Gerichten und beim Militär. Den Putsch habe aber wahrscheinlich der türkische Geheimdienst organisiert. Europa schweige, weil es zu viele militärische und wirtschaftliche Verflechtungen gebe.

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DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

17. März | Ärztekammer Diyarbakir, Semra Güsel (Anästhesis�n), Ko-Präsiden�n, Jakob Aktas (Kardiologe), Copräsident, Melik Celik (Arzt) und der Generalsekretär der Ärztekammer

18. März | Die Kovorsitzende der HDP, Gülsa Özer Gülsa Özer war 28 Tage im Gefängnis. Mit fünf anderen war sie in einer Zelle von vier Quadratmetern untergebracht. Es gab weder Duschen noch Hygieneartikel. Den Anwalt habe sie erst nach fünf Tagen gesehen. „Ich habe keine körperliche Gewalt erlebt, aber der psychische Druck war enorm“, berichtet sie.

Trotz der Bedrohungen und Entlassungen ist die Ärztekammer mit den Menschenrechtsverletzungen beschäftigt. Während der Kämpfe durften sie nicht in die betroffenen Stadtteile, um Verletzte und Kranke zu versorgen. Inzwischen wurden türkeiweit fast 3.000 ÄrztInnen entlassen, die nirgends neue Arbeit finden und auch nicht ins Ausland können, weil ihre Pässe eingezogen wurden. Die Regierung droht, Ärzte aus Aserbaidschan zu holen. Schon vor den Entlassungen fehlten landesweit mindestens 30.000 ÄrztInnen. Man könne nicht gegen die Entlassung klagen, da im Ausnahmezustand alle Rechte ausgesetzt seien. Versammlungen mit mehr als vier Personen seien verboten. Demonstrationen werden mit Geldstrafen oder auch Gefängnis geahndet. Trotzdem trifft sich die Ärztekammer jede Woche in den Räumen der Gewerkschaft, um gegen die Entlassungen zu protestieren und sich solidarisch zu zeigen. Wir werden eingeladen, am nächsten Tag auch dazuzukommen.

Das Feiern des kurdische Neujahrsfes�estes Newroz ist in vielen Städten und an allen Tagen außer dem 21. März verboten. In Diyarbakir gab es eine Genehmigung von 11 bis 15 Uhr. Unsere Gesprächspartner freuten sich, dass wir kommen wollten. Özer erinnerte uns an die Friedensrede von PKK-Führer Abdullah Öcalan, die vor drei Jahren auf Türkisch und Kurdisch auf dem Festplatz verlesen worden war. Am 8. März, dem internationalen Frauentag, hatte es in Diyarbakir einen Polizei- und Militäreinsatz gegeben. Trotzdem gelang es der HDP, in Sur Blumen und Flugblätter zu verteilen. Özer berichtet, zur Zeit seien 13 Parlamentsabgeordnete und 84 Parteivorsitzende im Gefängnis. Die meisten Städte stehen unter Zwangsverwaltung, die BürgermeisterInnen und andere Bedienstete sind entlassen. Etwa 40.000 Menschen wurden aus Sur vertrieben. Die meisten sind in anderen Stadtteilen oder auf den Dörfern bei Verwandten untergekommen. Die Menschen seien sehr geschwächt, weil die Versorgungslage so schlecht war und alle Hilfsorganisationen geschlossen wordens seien. Wer von den Vertriebenen registriert und im Grundbuch eingetragen war, kann eine Entschädigung beantragen oder eine Wohnung in einem der Neubauviertel. Die Entschädigung für ein Haus beträgt 100.000 türkische Lira – etwa 30.000 Euro. Davon werde dann die Hälfte für die Schuttbeseitigung abgezogen. Özer berichtet, die Leute müssten auch unterschreiben, dass es die PKK war, die ihr Haus zerstört habe.

Unsere Gesprächspartner bitten uns, bald wiederzukommen und zu Hause von dem Unrecht zu berichten, das hier vor allem in den kurdischen Gebieten geschieht.

90 Prozent der Bevölkerung von Diyarbakir sind KurdInnen. Der Anteil der HDP-WählerInnen liege bei 78 Prozent. Inzwischen gebe es eine totale Überwachung – Kameras an allen Ecken und Eingängen.

ÄRZTE-PROTEST AM 18. MÄRZ 8


BERICHT 2017

Mardin und Kiziltepe

KIZILTEPE

MARDIN

KIZILTEPE: WIR WERDEN DURCH DIE POLIZEI BEFRAGT. 9


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Auch das HDP-Büro werde abgehört. Die Regierung habe viele Spitzel in die Stadt gebracht. Özer sagt, Drogenhändler versuchten, die Kinder abhängig zu machen, um sie dann als Spitzel einzusetzen.

Die Abgeordneten laden uns ein, mit ihnen nach Kiziltepe statt nach Nusaybin zu kommen, wo sie in den Geschäften Flugblätter zum Referendum verteilen wollen. Dort verläuft alles freundlich und friedlich. Die Menschen lesen die Flugblätter aufmerksam, nur wenige schauen skeptisch. Die Abgeordneten und ihre Begleitung empfinden unsere Anwesenheit als Schutz. Als wir uns dann von den Parteileuten trennen, werden wir von Zivilpolizisten gestellt, die unsere Ausweise einsammeln, fotografieren und an eine ominöse Zentrale schicken. Sie stellen viele Fragen und halten uns lange auf. Bevor wir weiterfahren dürfen, belehrt uns ein junger Polizist: Die Türkei sei eine Demokratie. Europa behandle die Türken schlecht. Die Polizei würde aber umgekehrt jetzt nicht dasselbe mit uns machen: „Ihr Deutschen könnt von uns Türken lernen!“ Per Telefon erfuhren wir später, dass die Aktion der Abgeordneten gut zu Ende gegangen ist.

Mardin und Kiziltepe

Diyarbakir

19. März | HDP Mardin, Erol Dora, christlicher HDP-Abgeordneter, Ali Aslan, Kreisvorsitzender, Dolmetscher Ahmet (v. r. n. l.) In Mardin treffen wir die Parlamentsabgeordneten Ali Atalan (Jeside) und Erol Dora (Christ) und den Kreisvorsitzenden der HDP Ali Aslan (kurdischer Moslem). Da das Parlament Ferien hat, tingeln die Abgeordneten durch ihre Wahlkreise und werben für ein Nein zum Referendum. (Anmerkung der Redaktion: Die Reise fand während des Wahlkampfs für das Referendum statt.) Die Verfassungsänderungen werde auch in der AKP kritisch gesehen: Zehn Prozent der Parteianhänger seien gegen das Präsidialsystem und weitere zehn Prozent skeptisch. Auch 70 Prozent der MHPler seien dagegen. Erdogan sei mehr Nationalist als Islamist – er instrumentalisiere die Religion. Nusaybin sei zur Hälfte zerstört. 15.000 Vertriebene seien in der Gegend geblieben und weigerten sich, ihre Heimat zu verlassen.

20. März | Industrie- und Handelskammer DISIAD, Burc Baysal DISIAD war die erste berufsständische Kammer, die Frauen offenstand. Andere Kammern wie die Textilkammer wurden geschlossen unter dem Vorwurf, zu Fetullah Gülen zu gehören. Unsere Gesprächspartner rechnen jeden Tag damit, ihren Namen im Amtsblatt zu lesen. Der 1992 gegründete Verein hat derzeit 127 Mitglieder. Es dauerte bis 1996, bis er sich etabliert hatte und bis 2012, bis die Existenz sicher war. Inzwischen vertritt DISIAD 170 Betriebe mit insgesamt 6.000 Beschäftigten. Diyarbakir ist ein wichtiger Handelsplatz für den Nahen und Mittleren Osten. Haupthandelspartner sind der Irak und China, Hauptprodukte Natursteine und andere Baustoffe. Die Jugendarbeitslosigkeit sei höher als im Landesdurchschnitt. Projekte zur Förderung gibt es im Krieg nicht: „Wenn keine Basis für ein freies, friedliches Leben vorhanden ist, gibt es auch keine Entwicklung“, meint Baysal. Der Mindestlohn liegt bei 1.400 türkischen Lira, etwa 350 Euro, doch eine Familie brauche zum Leben rund 4.200 Lira. Jeder Mann ab 18 müsse zum Militär, die Jugendlichen aus der Region gingen nicht gerne hin. Das GAP-Staudammprojekt komme nicht voran. Bei der Stromerzeugung – von der wesentlich

AKTION IN KIZILTEPE 10


der Westen der Türkei profitiere – würden inzwischen 90 Prozent des Ziels erreicht, bei der Bewässerung lediglich zehn Prozent. Siemens sei der wichtigste Partner beim Ausbau von Wind- und Solarenergie, der langsam in Fahrt komme. Es gebe wenig intensive Landwirtschaft – Klima und Tradition stehen dagegen, so Baysal. Baysal kritisiert das Schweigen Europas und erwartet keine Veränderung: „Im Syrienkrieg haben alle Beteiligten eine unrühmliche Rolle. Der Westen unterstützt die Kurden, die Türkei bekämpft sie.“ Die meisten kurdischen Flüchtlinge seien inzwischen nach Rojava zurückgekehrt oder nach Europa weitergewandert. Es gebe noch Araber in der Region, die vorwiegend sunnitisch seien.

21. März | Diyarbakir, Newrozfest (siehe Seite 30)

Cizre

20. März | Bei KAMER, der einzigen Frauenorganisa�on im Südosten, die noch nicht verboten ist. KAMER ist eine Stiftung für Frauenrechte, die unabhängig und ohne Ansehen von Religion oder Parteizugehörigkeit arbeitet. In den landesweit 55 Zentren sind interdisziplinäre Teams aktiv. Hier in Diyarbakir arbeiten zur Zeit ein Arzt, eine Krankenschwester, ein Koordinator, fünf Psychologinnen und Facharbeiterinnen für aufsuchende Hilfe. Einige Zentren mussten während der Kämpfe schließen. Die Frauen legen Wert darauf, dass in den Zentren Frauen arbeiten, die aus der entsprechenden Stadt kommen, und dass alle vertretenen Sprachen gesprochen werden.

22. März | KESK – Dachgewerkscha� Öffentlicher Dienst Im Besprechungszimmer der Gewerkschaft haben wir uns noch gar nicht richtig hingesetzt, als uns schon die Bilder von den getöteten Gewerkschaftsmitgliedern gezeigt werden. Ein Krankenpfleger, ein Krankenwagenfahrer und andere. Unsere GesprächspartnerInnen sind aufgebracht und reden durcheinander. Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, wie wir es oft bei traumatisierten PatientInnen erlebt haben.

Schwerpunkt der Arbeit ist Geburtshilfe und Beratung zur Familienplanung und zu Frauenrechten – außerdem Sprachkurse, Sicherheitstraining, Handwerk und Hilfe bei Behördengängen. Sie helfen beim Antrag auf Sozialhilfe. Hilfsbedüft tige erhalten hier 100 türkische Lira im Monat, das entspricht etwa 25 Euro. Die Frauen versuchen, das traditionelle Handwerk am Leben zu erhalten und betreiben in Dersim in einem vierstöckigen Haus ein Hotel. In Antep, Adiyaman, Kiziltepe, Urfa und Diyarbakir arbeitet KAMER mit Flüchtlingsfrauen, die aus den Lagern kommen und in der Stadt Fuß fassen wollen. Sie erzählen uns, sie seien international gut mit anderen Frauenzentren vernetzt.

Das Gesundheitspersonal ist Zielscheibe vieler Schikanen. Hunderte sind entlassen und verhaftet worden. Erst in der letzten Woche seien wieder viele festgenommen worden. Der Arzt, der mit uns spricht, ist entlassen und mehrmals im Gefängnis gewesen. Seit der letzten Fesselung bei der Festnahme habe er Gefühlsstörungen in den Daumen. Es gebe aber keine Möglichkeit, sich gegen die Schikanen der Regierung juristisch zu wehren. 11


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Unsere GesprächspartnerInnen bezeichnen den Kontrollpunkt am Ortseingang als Grenze: „Jeder wird dort kontrolliert. Wer schon einmal straffällig war, riskiert Prügel und Folter.“

Das Programm zur Förderung der kurdischen Identität, das die Erziehungsgewerkschaft Egitim Sen aufgelegt habe, sei der Regierung ein Dorn im Auge. Viele LehrerInnen seien vorgeladen und besonders die Frauen belästigt und beschimpft worden. Die LehrerInnen haben beschlossen, auch während der Kämpfe in der Stadt zu bleiben. Viele Schulen wurden als Polizei- und Militär-Stützpunkte benutzt. Auch jetzt noch gebe es in jeder Schule eine Polizeistation und bewaffnete Polizisten liefen durch die Unterrichtsgebäude.

Auf dem Weg zum Büro der HDP besuchen wir die Familie von Dr. Serdar Küni, die sich für unsere Solidarität bedankt. (Siehe Bericht Seite 42ff.)

Vor den Auseinandersetzungen hatte die Gewerkschaft 1.000 Mitglieder, jetzt sind es nur noch 200. Sie werden aufgefordert, in die staatlichen Gewerkschaften einzutreten. Es gibt wenige LehrerInnen und auch im Krankenhaus arbeitet schlecht qualifiziertes Personal zu Dumpingpreisen. Kleinigkeiten sind Anlass für absurde Vorwürfe: etwa die Teilnahme an einer Veranstaltung mit einem Parlamentsabgeordneten, oder die Teilnahme am internationalen Frauentag in traditioneller, regionaler Tracht und mit lokaler Musik und Tänzen. Als sie mit den jesidischen Flüchtlingen aus dem nahe gelegenen Camp ein Drachenfest veranstaltet hätten, seien sie gefragt worden, was sie mit den Jesiden zu schaffen hätten. „Alles, was wir seit 2014 für den Frieden getan haben, wird uns jetzt als Straftat ausgelegt“, sagt eine Mitarbeiterin. In Sirnak seien acht von zwölf Stadtvierteln zerstört, in Cizre drei. Die zerstörten Häuser, insbesondere die, in denen die Keller waren, wurden komplett abgetragen. Niemand darf dort bauen. Entschädigung gab es nicht.

22. März | Mesut Nart Kovorsitzender der BDP bei der HDP in Cizre

Die Schulen werden nach „Märtyrern“ des Putsches 2016 benannt. Die Fetullah-Gülen-Schule heißt jetzt „Schule des 15. Juli – Sieg der Demokratie“. Das klare Nein aus Kurdistan zum Referendum empfinden viele Menschen in der übrigen Türkei als Brüskierung. Die Haltung der Bevölkerung in den kurdischen Regionen sei so oder so nicht zu ändern. Es gebe auch Unterstützung von linken Türken aus dem Westen, die dafür unter Druck gesetzt würden.

Mesut Nart erzählt, in Cizre sei der Stadtteil Cudi zerstört worden – die Häuser, die Natur und auch die Menschen. Die Ausgangssperre dort dauerte von Dezember bis März. 300 Menschen sind gestorben. In der Stadt gab es 3.122 zerstörte Häuser, ca. 20.000 Menschen waren betroffen. Ungefähr 5.000 sind obdachlos. Anfangs haben der Rojava-Verein und Heyva Sor Europa geholfen. Nach dem Putsch wurden jedoch alle Vereine geschlossen und die Konten eingefroren. Die meisten Vertriebenen seien in der Stadt geblieben. Viele Verwundete hätten sich selbst behandeln müssen. Wie es denen geht, die festgenommen wurden, ist den Abgeordneten nicht bekannt. Auch vom Verbleib der Vertriebenen, die in die Metropolen der Westtürkei gezogen sind, wissen sie nichts. Nart berichtet von Newroz: „Bei dem Fest außerhalb der Stadt wurden die Besucher mehrfach kontrolliert. Die Dörfer wurden abgeriegelt. Trotzdem war die Beteiligung sehr gut. Die Menschen hier sind stark politisiert.“ Der UN-Bericht über die Menschenrechtslage (ippnw.de/bit/un-report) sei gleich nach Bekanntwerden über die sozialen Medien verbreitet worden. 99 Prozent der BewohnerInnen sind kurdisch. Wegen der Gleichschaltung der Presse sei in der übrigen Türkei kaum bekannt, was hier passiere. Unterstützung gebe es von Linken, die in der HDP seien. Die Grünen und die Linken in Europa seien Verbündete. Die anderen Parteien könne man nicht erreichen.

„Es ist nicht wichtig, wer wählt – es ist wichtig, wer zählt. Erdogan hat alle Möglichkeit, das Ergebnis zu manipulieren. Auch im November 2016 hat das Ergebnis schon festgestanden, bevor die Wahllokale geschlossen hatten.“ Die Wahlurnen für das Referendum werden bevorzugt in Orten aufgestellt, in denen rechte Dorfschützer das Sagen haben, berichten unsere Gesprächspartner. Das Rehabilitationszentrum der Menschenrechtsstiftung in Cizre ist im Mai 2015 gegründet worden. Das inzwischen zerstörte Büro befand sich direkt gegenüber dem Keller, in dem die Menschen verbrannt wurden. Dr. Serdar Küni wurde verhaftet, weil er während der Ausgangssperre als Arzt dort gearbeitet hat. Auch die von den Kommunen betriebenen Gesundheitszentren wurden während der Auseinandersetzungen von den Sicherheitskräften geschlossen und besetzt. Wer um Hilfe nachsuchte, erlitt Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte, auch im Krankenhaus. Auch jetzt noch besteht eine Ausgangssperre von 23 bis zwei Uhr.

Beim anschließenden Essen in einem Restaurant wurden wir wieder von der Polizei befragt. Unsere Ausweise wurden fotografiert und an die Zentrale geschickt, bevor wir mit gepanzertem Geleitschutz die Stadt verließen. 12


Cizre

EINGANGSKONTROLLEN AUF DEM WEG IN DIE STADT

DIE MAUER AN DER GRENZE ZU SYRIEN

BEI DER HDP IN CIZRE 13


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Diyarbakir

takt zum Anwalt sollte aber nach Gesetz innerhalb von 24 Stunden gewährleistet werden. Die Akten der Mandanten und der Anwälte würden bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt, anfangs durch die Staatsanwaltschaft, jetzt durch die Polizei. In der Türkei werden Angeklagte meist durch eine Gruppe von Anwälten vertreten. Inzwischen sind noch maximal drei Verteidiger zugelassen. „Die Anklagepunkte gegen die Anwälte lauten in der Regel auf Mitgliedschaft in einer oppositionellen Partei. Unabhängig vom Ausnahmezustand kann der Staatsanwalt den Richter anweisen, die Akte als geheim einzustufen. Dann kriegt der Anwalt erst zu Prozessbeginn Akteneinsicht. Das war aber schon immer so,“ erklärt uns Ahmet Özmen. In einer Situation wie dieser, mit Polarisierung und Spannungen könne kein Verfassungsreferendum durchgeführt werden. Zweck einer Verfassung sei ja schließlich, die Menschen- und Bürgerrechte zu sichern. Und für Änderungen brauche es klare Köpfe. Alle Gruppen müssten sich in der Verfassung wiederfinden. „Doch bei diesem Referendum haben zwei Parteien im Geheimen beschlossen, welche Änderungen vorgenommen werden sollen. Wichtig ist, dass die Gewaltenteilung erhalten bleibt, bei der sich Legislative, Exekutive und Judikative gegenseitig kontrollieren.“ Schon die bis 2017 geltende Verfassung sei unter schlechten Bedingungen in der Folge Putsches von 1980 entstanden. Um sie aber zum Guten zu verändern, wäre ein breiter Diskurs nötig.

23. März | Beim CHP-Abgeordneten Sezgin Tanrikulu „Die Situation war schon oft schlimm – doch so schlimm wie jetzt war sie noch nie. Der Ausnahmezustand gilt für die ganze Türkei, doppelt aber hier,“ so Sezgin Tanrikulu. Die Verteidigung der Menschenrechte gelte in der Türkei inzwischen als terroristische Tat (ausführlicher Bericht s. Seite 38).

Referenden wie dieses könnten für die Türkei keine Probleme lösen, insbesondere was die Menschenrechte betreffe. Seit Gründung der Republik 1924 sei es für die Türkei ein Problem, dass Gesetzesänderungen selten vom Volk kämen – mit Adorno gesagt „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Nach Absicht von Özmen muss ein Weg zu einer neuen Verfassung gefunden werden.

24. März | Anwaltskammer, Ahmet Özmen Der Mörder von Tahir Elci, dem letzten Kammervorsitzenden, der 2015 während einer Rede in Sur erschossen wurde, sei noch nicht identifiziert, erklärt uns Ahmet Özmen. Die Kammer organisiere jeden Freitag eine Mahnwache vor dem Gericht. Die Arbeitsbedingungen für Anwälte sind unter dem Ausnahmezustand schwierig. Zu Anfang des Ausnahmezustands habe die Zeit der Incommunicado-Haft 30 Tage betragen, jetzt noch 14 Tage. Der Kon14


BERICHT 2017

Diyarbakir/Hasankeyf

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DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

25. März | Zwei Vorstandsmitglieder des verbotenen Rojava-Vereins Aus Deutschland hatten wir Spendengelder für die Vertriebenen mitgebracht. Unsere Gesprächspartner des IHD in Diyarbakir wollten das Geld nicht annehmen, vermittelten uns aber das Treffen mit zwei Vertretern vom Vorstand des verbotenen Rojava-Vereins, denen wir nach unserem Gespräch die Spenden übergeben. Bei diesem Gespräch machen wir keine Fotos. Es ist ein geheimes Treffen. S. war Stadtverordneter in Diyarbakir. Er und sein Kollege waren im Vorstand des Hilfsvereins für Rojava. Er berichtet uns, wie es gelingt, trotz des Verbotes die Vertriebenen in der Region zu unterstützen. Zur Zeit bauen sie für diejenigen, die oder deren Großfamilien etwas Grund haben, einfache Häuser. Medico International hat gerade Geld für 30 Häuser angekündigt. Die NGO schickt das Geld direkt an die örtliche Baufirma. Aus Frankreich bekommen die Vereinsmitglieder Gelder für Lebensmittel, die direkt an den Händler überwiesen werden. Dieser gibt Güter an die Bedürftigen weiter. Auch Familienpatenschaften helfen vielen. Sie laufen direkt vom Spender zur bedürftigen Familie.

25. März | Bei den „Samstagsmü�ern“ Nach unserem Gespräch treffen wir die Samstagsmütter, die ihre wöchentliche Mahnwache auch in die Räume des IHD verlegt haben. Seit den 90er Jahren erinnern sie jeden Samstag in vielen Städten der Türkei an ihre verschwundenen oder getöteten Angehörigen. Es sind Journalisten eines Fernsehsenders da, der auf Kurdisch aus dem Nordirak sendet. Die sehr jungen Reporterinnen interviewen eine alte Frau, die sich anschließend auch an uns wendet. „Erdogan ist eine Plage“, ruft sie. „Mein Schicksal ist schwer. Ich habe sieben Kinder geboren und nicht eine gute Stunde erlebt. Einer meiner Söhne ist in den Bergen gefallen und die anderen Kinder sind im Gefängnis“.

S. ist in den 90er Jahren als Flüchtlingskind nach Diyarbakir gekommen. Gerade vor kurzem hat es in einem Dorf nahe Nusaybin eine zwanzigtägige Ausgangssperre gegeben. Es gab Bombardierungen von Hubschraubern aus. Menschen und Tiere wurden getötet, denkmalgeschützte Gebäude eingeebnet. Zwei Tage später war der Verein vor Ort und hat mit dem Nötigsten geholfen und angefangen, die noch nutzbaren Häuser zu reparieren, damit die Menschen ihr Dorf nicht verlassen müssen. Der Kampf um Kobane habe die Menschen hier zusammengeschweißt. Die meisten Spenden bekommt der Verein aus der Bevölkerung. Einmal war eine alte Frau zu ihnen gekommen, die aus ihren Kleidern das Geld für ihr Leichentuch geholt und es ihnen für die Menschen in Kobane gegeben hat. S. möchte gerne zu einer Vortragsreise nach Deutschland fahren, bekommt aber bisher kein Visum. Für Sarmasik-Efeu, den Hilfsverein, den wir in den letzten beiden Jahren besucht haben, sei die Situation viel schwieriger, weil dieser für seine Arbeit Räume und Lager brauche.

26. März | Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir (Bericht von Dr. Henry Stahl) In seinem Abgeordnetenbüro trafen wir Ziya Pir, der die Stadt Diyarbakir im türkischen Parlament vertritt. Der damals 45-jährige wurde im Juni 2015 für die Demokratische Partei der Völker (HDP) in die Nationalversammlung gewählt. Nach der erfolgreichen Wahl zog Ziya Pir vor aus Duisburg nach Diyabarkir um. In Deutschland, wo er seit seiner Kindheit gelebt hatte, hatte der studierte Betriebswirt 16


eine Firma mit zuletzt 30 Angestellten gegründet und geleitet. Zur Kandidatur für die prokurdische HDP moti vierte ihn das Beispiel seines Onkels Kemal Pir, mit dem er aufwuchs. Kemal Pir war neben Abdullah Öcalan Begründer der Arbeiterpartei PKK und starb 1982 nach einem Hungerstreik im Gefängnis von Diyabarkir. Ziya Pir sagt, das zentrale Problem der Türkei sei, dass sie den kurdischen BürgerInnen zwei Rechte verweigere: Erstens die kurdische Identität auszuleben und zweitens die Selbstverwaltung. Diese beiden Defizite bedingen in seinen Augen alle weiteren Probleme beim Zusammenleben von Türken und Kurden. 2002 hat Ziya Pir im Auftrag des damaligen Regierungschefs Erdogan die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) mitgegründet, als er glaubte, Erdogan strebe eine Aussöhnung von Kurden und Türken an. Entt äuscht von Erdogan trat er 2005 aus der UETD aus. Erdogan habe sich 2008 unter dem Druck von Gegenspielern noch einmal weiter von diesem Ziel en�ernt. Das Einzige, was Erdogan jetzt noch beeindrucken könnte, sei wirtschaftlicher Druck. Beispielsweise könnte die Europäische Gemeinschaft die Gelder, die sie der Türkei zweckgebunden zur Demokratisierung zur Verfügung gestellt hatte, angesichts der angestrebten Verfassungsänderung einfrieren. Angesichts der aktuellen Problematik erzählte und Ziya Pir auch von seiner Freundschaft mit dem deutschtürkischen Journalisten Deniz Yücel, der seit Anfang des Jahres in Silivri inhaftiert ist. Er hatte für die „Welt“ und die „taz“ über den Bürgerkrieg in Diyarbakir und Cizre recherchiert und berichtet. Weil er Angela Merkel und Ahmet Davutoglu zum Thema Menschenrechte befragt hatte, hatte es in der Türkei schon Anfang 2016 eine breit angelegte Verleumdungskampagne gegen ihn gegeben.

DIYABAKIR

KAMPAGNE FÜR DIE VERFASSUNGSÄNDERUNG

Ziya Pir rechnet im aufgeheizten Klima selbst täglich damit, auf offener Straße angegriffen zu werden: „Im Gefängnis wäre ich momentan am sichersten,“ kommmentiert er seine Situation mit Galgenhumor.

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DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Ankara

28. März | KESK Ankara

28. März | Erziehungsgewerkscha� Egi�m Sen, Ankara

Die Mitglieder der KESK, der Dachgewerkschaft des öffentlichen Dienstes in Ankara erzählen über ihren Verband, der 1990 gegründet wurde. Die KESK hat elf Fachgruppen und ist eine Konföderation von Linken, Sozialisten und Sozialdemokraten. Unsere KESK-Gesprächspartner in Ankara bezeichnen sich als demokratisch, anti imperialistisch und gegen jeden Krieg. Die KESK ist Mitglied des europäischen Gewerkschaftsbundes EGB. Aufgabenfelder sind Arbeitsbedingungen und Rentensystem. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung ist die KESK automati sch mit der Repression des Staates konfrontiert, mit Entlassungen und Verhaftungen.

2013 ist die Reformidee „Vier plus vier plus vier“ über Nacht ins Bildungssystem eingebracht worden: Vier Jahre Grundschule, vier Jahre Oberschule und im Anschluss ein Wechsel auf die Universität. Damit wurde das Recht auf Bildung beschnitten: Die Schulpflicht wurde verkürzt. Die ersten vier Jahre sind Pflicht und Grundschulen flächendeckend vorhanden. Doch in der nächsten Stufe werden vor allem Kinder auf dem Land benachteiligt, da die Oberschulen meist religiös geprägte Imam-Hatip-Schulen sind, die es auf dem Land nicht gibt. Offiziell ist die Imam-Hatip-Schule eine Berufsschule, aber man wird dort als Imam ausgebildet, statt einen Beruf zu lernen. Oder die Schüler arbeiten in Fabriken (was auch als Ausbildung bezeichnet wird).

In den 90er Jahren habe es viele Morde durch unbekannte Täter gegeben. Vor dem Putsch am 15. Juli 2016 hätten sie türkeiweit 220.000 Mitglieder gehabt, danach durch den staatlichen Druck 30.000 Mitglieder verloren. Nach dem 20. Juli 2016 wurden 103.000 Menschen aus der Beschäftigung entlassen, 30.000 davon KESKMitglieder. Alle Rechte, auch die international gültigen, wurden aufgehoben. „Die Türkei erlebt eine autoritäre Ein-Mann-Wende. Es gibt tausende von offenen Stellen. Nur im Erziehungsbereich wurden Lehrer in Ausbildung eingestellt,“ erzählt ein KESK-Mitglied. Seit dem Putsch müsse man eine Prüfung über seine Regierungstreue ablegen: „Vor dem Putsch hatte ein Verwaltungsgericht festgestellt, dass es Gewissensprüfungen nicht geben soll bzw. dass diese zumindest protokolliert werden müssen. Nach dem Putsch galt das nicht mehr.“

Das Konzept „Vier plus vier plus vier“ stamme eigentlich von Gülen, erzählt man uns bei Egitim Sen. Die Gülen-Schulen waren Privatschulen, die zu 50 Prozent vom Staat gefördert wurden. „Obwohl der Europäische Gerichtshof sich dagegen ausgesprochen hat, ist sunnitischer Religionsunterricht weiterhin Pflicht. Kinderarbeit und Kinderheirat werden gefördert, obwohl die Eheschließung offiziell erst ab 18 erlaubt ist. Die gymnasiale Ausbildung ist weniger wissenschaftlich, alles wird in neuen Lehrbüchern vereinheitlicht“, betonen unsere Gesprächspartner. Die Wissenschaft unterliege nun der religiösen Ideologie. Zum Beispiel wird im Biologieunterricht die Evolutionstheorie nicht mehr gelehrt, weil das dem Islam widerspreche. Der EU-Beitritt sei für die türkische Bevölkerung sehr wichtig. Sie müssten allerdings auch Kritik äußern dürfen. Viele europäische Politiker seien kapitalistisch orientiert. Das ist aus Sicht der Gewerkschafter kritikwürdig. Die Anerkennung von Grundrechten und demokratische Werte sind aus ihrer Sicht verteidigenswert. Auch wenn es so aussehe, als ob Merkel und Erdogan sich stritten, gebe es im Geheimen Absprachen: „Beide hoffen, in ihren Wahlkämpfen vom Streit zu profi tieren.“ Die Bundeswehr habe den türkischen 18


ihnen die ersten Gesundheitsschäden auftreten. Dieser Hungerstreik richte sich gegen die inhumanen Haftbedingungen: Die Gefangenen werden in Gefängnisse verlegt, die weit von ihrem Zuhause en�ernt sind. „Die Anstalten sind überfüllt, viele Gefangene müssen auf dem Boden schlafen. Die hygienischen Zustände sind schlecht, das Essen ist verunreinigt und nicht ausreichend.“ Andere Gefangene würden in Isolationshaft gehalten, dürften weder am Sport teilnehmen noch die Bücherei benutzen. Überall in den Gefängnissen seien Kameras installiert.

Der Slogan der Gesundheitsgewerkschaft SES ist: „Gegen Schwarz (setzen wir) Weiß, gegen den Tod das Leben und Frieden gegen den Krieg“. Sie wollen nicht als Opfer betrachtet oder dargestellt werden. Sie sind im Widerstand, auch gegen die großen staatlichen Gewerkschaften.

IHD begleitet den Hungerstreik: Ärzte stellen Vitaminpräparate zur Verfügung, um die Schäden zu minimieren. Sie versuchen, die Gefangenen und das Justizministerium miteinander ins Gespräch zu bringen. Die meisten Hungerstreikenden sind Frauen. In den Gefängnissen befinden sich 900 Kranke, unter anderem aufgrund der haarsträubenden Haftbedingungen. 300 von ihnen seien in einem kritischem Zustand – Haft verschonung gebe es nicht.

Foto: http://alternatifsiyaset.net

Streitkräften in den 90er Jahren ehemalige NVA-Panzer „zur Landesverteidigung“ geliefert, die trotz gegenteiliger Behauptungen in den Kurdengebieten eingesetzt wurden. Unser Gesprächspartner sprach den deutschen Botschafter darauf an, der sich freundlich darauf zurückzog, dass er damals nicht zuständig gewesen sei. Die Bundesrepublik ist daher für die Kriegsverbrechen der letzten Zeit mitverantwortlich. Die Gewerkschafter fordern einen Austritt aus der NATO. Die Hoffnung liegt auf den vielen Menschen, die sich trotz der persönlichen Gefahr weiter engagieren.

Die CHP hat zum Referendum eine „Nein“-Kampagne betrieben. Die AKP hat versucht es so darzustellen, als ob die CHP die einzige Opposition wäre. Damit lieferte die CHP der Regierung die demokratische Legitimation. Auf 17 verschiedenen Fernsehkanälen hatte die AKP im Vergleich zur CHP die zehnfache Sendezeit. Die HDP als drittgrößte Partei im Parlament bekam gar keine Sendezeit. Alle HDP-Mitglieder, die Einfluss haben, sind im Gefängnis – so zum Beispiel Selaha�n Demirtas und die BürgermeisterInnen der kurdischen Kommunen. Auch IHD steht unter großem Druck. Viele Mitglieder wurden angeklagt oder zu Haftstrafen verurteilt, wie Hasan Anlar, dem sechs Jahre Haft drohen. Sie sind noch auf freiem Fuß, weil die Revisionsverfahren noch laufen. Inzwischen seien die Richter, die sie verurteilt haben, als Gülen-Anhänger entlassen und durch andere ersetzt worden. „In der ganzen Türkei herrscht Ausnahmezustand – in Kurdistan wiegt das doppelt. An Newroz wurde in Diyarbakir ein junger Mann erschossen, weil er angeblich eine Bombe bei sich hatte. Auf den Fernsehbildern konnte man sehen, dass er nackt und offenbar verwirrt war“, erzählen die beiden. Jetzt gebe es eine Nachrichtensperre zu dem Fall. Viele Menschen würden getötet und dann im Fernsehen als Terroristen verunglimpft. „Wir sollten genau hinsehen, wer da als Terrorist bezeichnet wird.“ Selaha�n Esmer hat schon mehrere Putsche erlebt, aber so einen wie diesen Gegenputsch des Staates habe es bisher nicht gegeben.

28. März | IHD, Generalsekretär Hasan Anlar und Rechtsanwalt Selaha�n Esmer

Der UN-Bericht zu den Ausgangssperren sei gut und ausführlich, vermeide aber das Wort Kriegsverbrechen. Auch die Sprache der europäischen Institutionen sei mild und diplomatisch.

IHD hat landesweit 31 Zentren und 12 Vertretungen und 8108 aktive Mitglieder. Die Organisation arbeitet in Fachkommissionen zu Gefangenen, Flüchtlingen, Kindern, Wirtschaft, Frauen, Umwelt und Frieden, Meinungs- und Gedankenfreiheit und kulturellen Rechten mit. Neben der Kurdenfrage gibt es viele andere Probleme: Unsere Gesprächspartner erzählen, dass sich viele der politischen Gefangen im Hungerstreik befinden – manche seit 40 Tagen. Jetzt würden bei 19


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Seit den 90ern hat sich die kurdische Gesellschaft verändert. Jetzt versuchen die Menschen, hierzubleiben und damit ihren Anspruch auf die Heimat zu wahren. Unterstützt werde das sicherlich durch äußere Faktoren: Europa habe die Grenzen geschlossen und die Existenzgründung in westtürkischen Städten sei nicht mehr so einfach. Der Hauptgrund sei aber die Änderung des Bewusstseins in der kurdischen Bevölkerung. Die Anwesenheit von sechs internationalen ProzessbeobachterInnen in Sirnak im März 2017 habe der Bevölkerung Mut gemacht und gezeigt, wie wichtig die internationale Solidarität ist. Im Moment wolle TIHV keine internationale Aktion, damit die internationalen UnterstützerInnen nicht schon erschöpft seien, wenn es ernst werde. TIHV und IHD haben zusammen Menschenrechtsverletzungen dokumentiert und gezeigt, dass die Täter straffrei blieben. TIHV veröffentlichte im April 2016 einen Bericht über die Toten in den Kellern von Cizre. Erdogan kündigte drei Tage nach der Veröffentlichung an, die Verfasser zu verfolgen. Im Mai 2016 wies das Justizministerium die Staatsanwaltschaft an, Klage zu erheben. Wegen des Putsches geriet die Anklage zunächst in Vergessenheit. Im Dezember wurde sie wieder aufgenommen. Vertreter der Stiftung wurden mit der Begründung vorgeladen, sie hätten den Staatspräsidenten beleidigt. Bakkalci hofft, dass es nicht zum Prozess kommt – aber falls doch, wünscht er sich eine große internationale Beteiligung. Dann könnte die Verhandlung ein Podium für die Stiftung sein, um Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen, die die Presse verschweigt.

28. März | TIHV, Me�n Bakkalci „Alles, was gerade im Mittleren Osten passiert, ist sehr bedrohlich.“ Metin Bakkalci bedankt sich, dass wir in dieser Situation zur Menschenrechtsstiftung TIHV kommen. Der jetzt 61jährige Menschenrechtler erklärt: „In den 60er Jahren gab es Hoffnung, in den 70ern auch. Jetzt aber läuft die Entwicklung in die falsche Richtung. Es wird Zeit, dass eine neue Generation den Stab übernimmt. Wir müssen ihr vermitteln, was sie an Geschichte nicht erlebt hat.“ Die Ausgangssperren 2015/16 wurden in einem Gebiet verhängt, in dem mehr als eine Million Menschen leben. In Cizre besitzen alle Häuser Wassertanks. Die habe man bei der Ausgangssperre als erstes leck geschossen. Seit Mitte Dezember 2015 wurde das Militär eingesetzt. In Sirnak wurden sechs Stadtviertel dem Erdboden gleichgemacht und mehr als 40.000 Menschen vertrieben. Der Militäreinsatz sei mit den Schützengräben und bewaffneten Kämpfern begründet worden. Der Gouverneur sagte, es seien etwa 50 leicht bewaffnete Kämpfer in der Stadt. Die PKK-Kräfte kamen jedoch erst 2016. Der Einsatz war also völlig unverhältnismäßig. 2016 kamen bei den Kämpfen mindestens 1.600 Menschen um, Zivilisten, Militante und Sicherheitskräfte. Wo es so viele Tote gibt, herrscht Krieg nach den Upsala-Kriterien. Bakkalci meint, mit dem Referendum befinde sich die Türkei an einer entscheidenden Wegkreuzung: „ Wenn es nicht gelingt, die Richtung zu wechseln, werden alle noch viel Schlimmeres erleben. Was passiert, ist kein Schicksal – es ist menschengemacht und kann verändert werden. Die Wirtschaftskrise, die Entlassungen, die Ungerechtigkeit lassen den Widerstand im Untergrund wachsen. Irgendwann reicht es den Menschen und sie lassen sich nichts mehr gefallen.“ In seiner Kindheit habe es das Vorurteil gegeben, ein gläubiger Mensch sei auch ein guter Mensch. Inzwischen habe die islamische Gesellschaft Betrug, Raub und Unterdrückung erlebt: „Moslem zu sein, ist keine Qualitätsgarantie“, meint Bakkalci.

Foto: Jose Fraganilllo, CC BY 2.0

28. März | NÜSED Bei der türkischen IPPNW-Sektion NÜSED ist ein Generationswechsel im Gange. Die IPPNW-Ko-Präsidentin für Europa, Angelika Claußen, hat das Projekt „Medical Peace Work“ auf einem Kongress in Antalya vorgestellt und stieß damit auf großes Interesse der türkischen Kollegen. Vielleicht ergeben sich hier neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. 20


29. März | Cumhuriyet-Redakteur Erdem Gül Wir treffen Erdem Gül in den doppelt bewachten Räumen der Cumhuriyet. Die Zeitung hat einen eigenen Wachdienst – und wird durch den Staat überwacht. Erdem Gül sagt uns, er respektiere, dass viele von der Regierung bedrohte Menschen ins Ausland flüchten. Er bleibe, weil er hoffe, dass Werte wie die Pressefreiheit noch nicht verloren seien. Elf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Cumhuriyet sind zur Zeit im Gefängnis – insgesamt seien es türkeiweit 157 JournalistInnen. Die KollegInnen versuchten, unabhängig zu berichten. Im Fall des Referendums sei er allerdings parteiisch, weil es hier um grundsätzliche Werte gehe. Er sei mit Deniz Yücel befreundet. Grund für Yücels Verhaftung sei, seien seine der Regierung nicht genehmen Recherchen. Das sei eine Schande für die Regierung. „Die Journalisten haben keine Waffen in die Hand genommen, nur ihre Arbeit gemacht“, so Gül.

29. März | Deutsche Botscha�, Gespräch mit den Diplomaten in Ankara Dr. Rüdiger Lotz und Wenke Dagyab Zum ersten Mal spüren wir bei den Diplomaten in Ankara echtes Interesse an unseren Erfahrungen im Südosten, den sie schon länger nicht mehr bereisen konnten. Die Botschaft hat keinen Zugang zu den inhaftierten Abgeordneten, und durfte Deniz Yücel im April und Mai je einmal besuchen. Die beiden erzählen uns, das Referendum sei von zwölf Teams der OSZE begleitet worden. Etwa 50.000 Freiwillige aus der Türkei hatten sich zur Wahlbeobachtung gemeldet. Dr. Rüdiger Lotz ist noch ganz neu und für den „Flüchtlingsdeal“ zuständig. Nach seiner Kenntnis besuchen 55 Prozent der syrischen Flüchtlingskinder vorwiegend die Grundschule. Es gab bisher 14.000 Arbeitsgenehmigungen für 2,8 Millionen Flüchtlinge. Lohndumping sei ein Problem. Es gebe keine Versicherung bei Arbeitsunfällen. Außerdem betrage die Wartezeit für einen Termin für ein Visum immer noch sieben Monate, allerdings mit fallender Tendenz. Ein Büro in Gaziantep vermittele Termine und überprüfe die Vollständigkeit der Papiere. Für Syrer, die noch in Syrien sind, gebe es zur Zeit keinen Zugang in die Türkei - da die Grenze geschlossen sei.

29. März | Ein „Akademiker für den Frieden“ Diesen Mann treffen wir an unserem letzten Abend. Er hat internationale Politik studiert und zur Rolle der IRA in Irland geforscht. Er ist einer der über tausend „Akademiker für den Frieden“, die infolge ihrer Unterschrift unter einen Aufruf zum Frieden ihre Arbeit verloren haben und oft auch ihren Pass. Jetzt weiß er nicht, wie er seine Familie ernähren soll. Er bewirbt sich überall an europäischen Universitäten, weil er nicht fliehen und Asyl beantragen möchte. Wir sind erschöpft und philosophieren über Gott und die Welt und erleben, wie nah wir uns sind in unseren Ideen für eine bessere, friedliche Zukunft.

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DELEGATIONSREISE TÃœRKEI-KURDISTAN

DIYARBAKIR. ULU CAMI

DIYARBAKIR. NEWROZ-KLEIDER 22


BERICHT 2017

Reiseimpressionen

KLOSTER MIDYAT

HASANKEYF, KONSERVIERUNG DER RÖMISCHEN BRÜCKE

MIDYAT, SYRIANISCHE STADT

MIDYAT 23


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

DIYARBAKIR: ÜBERWACHUNG ALLERORTEN

Verdäch�gungen, Maßregelungen und Verbote Friederike Speitling

und Beobachtungen wegen angeblichem Terrorismus: Vermutete Nähe zur PKK und der revolutionären patriotischen Jugendbewegung YDGH. Verdächtig sind JournalistInnen und alle, die ihnen zuarbeiten. Suspekt ist ebenso das Verteilen politischer Flugblätter, wenn nicht für die AKP. Das Aufrufen zu Demonstrationen und Sitzblockaden ist gänzlich verboten.

Derzeit besteht in der Türkei Ausnahmezustand. Als Reisender muss man sich über eventuelle Ausgangssperren informieren. Um Schwierigkeiten bei Kontrollen zu vermeiden, sollte man Pass oder Personalausweis mit sich führen. Man sollte paarweise laufen und Gruppenbildungen vermeiden. Bei Menschenansammlungen ist es ratsam auszuweichen, bzw. die Straßenseite zu wechseln, da es schnell zu Verhaftungen kommt.

Festgenommen werden „Verdächtige“ ohne Nennung von Gründen. Die festgenommenen Personen, auch Jugendliche, werden bis zu 24 Tage festgehalten. Bei Entlassung aus der Untersuchungshaft muss der Haftgrund auch nicht genannt werden. Besuche durch den Anwalt sind gestattet. Besuche durch die Familie sind eingeschränkt. Kinder und Jugendliche werden in Erwachsenengefängnissen festgehalten.

In der Türkei ist es verboten, kurdische oder sonstige politisch missliebige Symbole zu tragen. Fotografieverbot besteht an Flughäfen, Bahnhöfen, Brücken und Gleisanlagen. In der Nähe von Polizeistationen und -autos, gepanzerten Geländewagen, Wasserwerfern oder Absperrungen sind Fotos verboten. Entsprechendes gilt für militärisches Gerät und Gebäude. Weite Teile von Diyarbakir sind mit NATOSchildern als militärisches Gelände ausgewiesen. Polizisten, Soldaten, sonstige zivile Observer und Überwachungskameras dürfen nicht beobachtet oder fotografiert werden. Fotografieverbot gilt bei Versammlungen und Kundgebungen. Zuwiderhandlungen werden umgehend durch Handyentzug oder Löschen der Bilder geahndet.

Um in den Gefängnissen Platz zu schaffen und die vielen politischen Gefangenen aufzunehmen, wurden viele Kriminelle entlassen. Seit 2015 werden die neuen großen Gefängnisse „Typ F“ für jeweils bis zu 13.000 politische Gefangene gebaut. Hier besteht auch die Möglichkeit von Isolationshaft und Folter. Die neuen großen Gefängnisse liegen fernab von Zentren, was Familienbesuche erschwert.

Die Abbruchviertel in der Altstadt von Diyarbakir sind polizeilich abgesperrt und sichtgeschützt. Ein Tourist, der sich in diesem Gebiet au�ält und versucht, über die Betonsperren zu sehen, wird innerhalb weniger Minuten von zivilen Einsatzkräften nach dem Grund seines Aufenthaltes gefragt. So ist die Stadtmauer vom Mardintor bis zur inneren Festung Ickale für Bewohner und Touristen gesperrt. Die erst 2014 neugeweihte armenische Gregoriuskirche liegt im Sperrgebiet – das Ausmaß ihrer Zerstörung ist nicht bekannt.Die Stadttore in die Altstadt sind polizeilich scharf bewacht: „Beruf? Reisegrund? Ziel? Ausweis!“ Die Gründe für Verhaftungen, Befragungen

Wer ist verdäch�g? Wer wird beobachtet? „Fehlverhalten“ ist verdächtig und führt zur Beobachtung. Journalisten sind grundsätzlich suspekt. AnwältInnen, die Verdächtige oder Opfer verteidigen, sind verdächtig. ÄrztInnen, die Verdächtige oder Opfer behandeln oder auch Ärzte, die Nothilfe während der Ausgangssperre leisten, werden festgenommen und angeklagt. Mitglieder, die der Gesundheitsgewerkschaft SES angehören, werden aus 24


BERICHT 2016

IPPNW-Delega�onsreisen

staatlichen Krankenhäusern entlassen, ihre Pässe werden eingezogen und die Facharztprüfung verunmöglicht. LehrerInnen, die nicht als AKP- oder erdogantreu eingestuft werden, können entlassen werden. Alle, die die Regierung öffentlich kritisieren oder ablehnen, können abgesetzt werden, z.B. mit dem Vorwurf der Nähe zu Gülen.

Friederike Speitling

Warum fährt jedes Jahr eine Gruppe IPPNWler und Freunde zum Frühlingsanfang nach Kurdistan, obwohl unsere Verwandten wegen der Gefahren warnen und abraten? Für die meisten von uns ist es ein Ausdruck der Solidarität mit den mutigen Menschen in Südostanatolien. In all der Zeit, in der wir gemeinsam Newroz gefeiert und Obstgärten am Tigrisufer gepflanzt haben als Zeichen des Protests und der Solidarität mit den von der Vertreibung bedrohten Bewohnern.

Gewählte HDP-BürgermeisterInnen wurden in 79 Gemeinden entlassen und durch Zwangsverwalter ersetzt. Wer Kontakt mit verbotenen NGOs hat, in der Gewerkschaft aktiv ist oder Newrozfeste organisiert, ist verdächtig und steht unter Beobachtung. Das heißt, ihm wird der Pass abgenommen und er kann jederzeit inhaftiert werden. AkademikerInnen, die den Friedensaufruf „Nein zu Krieg und Gewalt! Nein zum Ausnahmezustand!“ unterzeichnet haben, wurden exmatrikuliert, gekündigt, und schikaniert. Die Institute wurden geschlossen und MitarbeiterInnen die Pässe entzogen. Zeitungen stehen unter ständiger Bewachung. Zum Teil stellen die Redaktionen selber Sicherheitsfirmen zu ihrem eigenen Schutz in ihren Büroräumen ein.

Mit einigen der mutigen Frauen und Männer, die ihre eigene Sicherheit aufs Spiel setzen, um die Menschenrechte für sich und für ihre Mitbürger einzufordern, haben wir Freundschaften geschlossen und sind vernetzt. Das sind AnwältInnen, GewerkschafterInnen, MenschenrechtlerInnen, Künstler und verschiedenste Menschen, die wir auf unseren Reisen kennengelernt haben. Sie geben uns Sicherheit.

Viele zivile Einrichtungen und Organisationen wurden verboten, darunter auch viele, die wir auf früheren Reisen kennen gelernt haben, wie die Tafel von Diyarbakir Sarmasik-Efeu und der Rojava-Verein, der die intern Vertriebenen unterstützt, der TV-Sender IMC, die kurdologische Fakultät in Mardin und der Kongress für eine demokratische Gesellschaft DTK, eine demokratische Pla�orm in den kurdischen Gebieten.

Auch ein ausschließlich deutscher Pass und gestandene Lebenserfahrung bedeuten Sicherheit. Von Gisela Penteker geht Kontinuität und Grundwissen aus. Mehmet Bayval koordiniert die Reisen und ermöglicht mit großer Umsicht Termine und Kontakte. Die Gruppe der ReiseteilnehmerInnen steuert jedes Jahr Ideen für Aktionen, Kraft und Spendengelder für die Bedürftigen bei. Ereb Ahmet überblickt die Probleme der kurdischen Jugend und übersetzt für uns. Überrascht habe ich festgestellt, dass unsere GesprächspartnerInnen jünger geworden sind. Viele sprechen inzwischen Englisch oder sogar Deutsch mit uns.

Die Mitgliedschaft in einer freien Gewerkschaft kann ein Berufsverbot mit Passentzug, Geldstrafe und Klageandrohung nach sich ziehen. Mehr als 2.600 ÄrztInnen wurden aus politischen Gründen entlassen. Die AKP fordert linke Gewerkschaftsmitglieder auf, der staatlichen Gewerkschaft ETOC beizutreten. Die Frauenstiftung KAMER (S. 11), die Industrie- und Handelskammer (S.10) und andere werden beobachtet – die Mitglieder rechnen täglich mit ihrer Verhaftung.

GEWERKSCHAFTERINNEN BEIM PROTEST-TREFFEN 25


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

DIYARBAKIR, SUR: VOR DER GROSSEN MOSCHEE

Diyarbakir, die Hauptstadt der Kurden Gisela Penteker

knüpfen, in Absprache mit den Bewohnern die alte Bausubstanz erhalten und restaurieren, den Wildwuchs der Flüchtlingsunterkünfte abreißen und den Menschen den Umzug in die modernen Stadtviertel ermöglichen. So wurden in den letzten Jahren zunächst Parkanlagen entlang der Mauer geschaffen und einige Häuser abgerissen. Kirchen und Bürgerhäuser wurden restauriert. Junge Leute betrieben traditionelle Lokale und Musik-Clubs in den restaurierten Häusern. In den historischen Wohnhäusern prominenter Dichter und Bürger entstanden kleine Museen. In einem von ihnen konnte man den traditionellen kurdischen Dengbej-Sängern zuhören. Dengbej ist ein Sprechgesang, mit dem Geschichten und Balladen erzählt werden. 2015 wurden die Mauer und die Obst- und Gemüse-Gärten, die sogenannten Paradiesgärten, in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen.

Diyarbakir, die Hauptstadt der Kurden, die die Stadt Amed nennen, liegt auf einem Basaltplateau über dem Tigris-Tal. Siedlungen an dieser Stelle sind seit 10.000 Jahren nachgewiesen. Die heutige Stadtmauer, die die längste erhaltene Mauer nach der chinesischen sein soll, stammt aus römischer Zeit. Bis weit ins 20. Jahrhundert war das Stadtgebiet auf die Altstadt Sur (Surici) innerhalb der Mauern begrenzt. Erst mit der Landflucht und mit der Vertreibung der Kurden aus den Dörfern in den neunziger Jahren expandierte die Stadt nach Nordwesten und hat heute mehrere Millionen Einwohner. Die Binnenvertriebenen aus den Dörfern siedelten sich oft innerhalb der Stadtmauer oder in ihrer Nähe an. Dabei entstand ein dichtes Gewirr von engen Gassen, überdachten Basaren und Werkstätten. Wir als Touristen fanden es auf unseren Reisen immer spannend, durch die Altstadt zu bummeln, die Reste der alten Stadthäuser aus schwarzem und weißem Basalt zu entdecken, immer umringt von einer Kinderschar – oder auf der Mauer entlangzulaufen und ins Tigristal zu schauen. Für die EinwohnerInnen von Sur allerdings war das Leben alles andere als romantisch, auch wenn es einen guten sozialen Zusammenhalt gab. Es gab viel Armut, kriminelle Kinderbanden, viele Straßenkinder und Bettler. Viele der Binnenflüchtlinge waren nicht registriert. Seit die Stadt unter kurdischer Verwaltung stand – seit etwa 2002 – war die Sanierung von Sur ein Thema bei unseren Gesprächen mit den verschiedenen BürgermeisterInnen. Sie wollten an die multiethnische und multikulturelle Geschichte der Stadt an-

Ende 2015 begannen in vielen kurdischen Städten die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen radikalisierten Jugendlichen und den Sicherheitskräften. Es gab wochenlange Ausgangssperren und eine völlig unverhältnismäßige Gewalt und Zerstörung durch das Militär. Etwa 500.000 Menschen wurden vertrieben, die gewählten kurdischen Bürgermeister abgesetzt, zum Teil inhaftiert, und die Städte unter türkische Zwangsverwaltung gestellt. Im letzten Jahr haben wir die zerstörten Viertel in Cizre gesehen. In Sur war noch alles abgesperrt. LKWs fuhren über Wochen Schutt aus der Stadt. Alle Grundstücke der Altstadt wurden enteignet. Innenminister Da26


BERICHT 2017

DENGBEJ-SÄNGER IN SUR

SUR, VERWÜSTETE VIERTEL

vutoglu kündigte an, man werde Sur schöner wieder au�auen als Toledo und ließ einen Animationsfilm dazu anfertigen. Als wir jetzt wieder nach Diyarbakir kamen, schien in Teilen von Sur wieder Normalität eingekehrt zu sein. Viele Geschäfte waren geöffnet, viele Menschen unterwegs. Nur die Kinder fehlten. Im Basar beklagten die Händler, dass es keine Kundschaft gebe. Die große Moschee, der Hasanpascha Han, und auch die Karawanserei an der Nord-Süd Achse haben ihren Betrieb wieder aufgenommen. Die Altstadt hat die Form einer Flunder, deren Kopf nach Nordosten und deren Schwanz nach Südwesten zeigt. Zwei große Straßen von Nord nach Süd und von Ost nach West teilen die Stadt in vier Viertel. Der östliche Teil der Stadtmauer und die angrenzenden Straßen sind noch durch Polizeigitter und Betonwände abgesperrt. Die Bewachung war zum Teil lückenhaft. So konnten wir in den abgesperrten Bereich hineingehen. Dort ist nahezu alles planiert. Von den Häusern blieb nur Bauschutt. Eine zerstörte Moschee wird wieder aufgebaut, eine Türbe – eine muslimische Grabstätte – steht noch.

SYRISCHE MARIENKAPELLE die gerade erst aufwendig restauriert worden war, liegt im östlichen abgesperrten Teil der Stadt und es gibt keine verlässliche Erkenntnis, wie sehr sie wieder zerstört worden ist. Es gibt keinen Einblick in die Planungen für den Wiederau�au. Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir befürchtet, dass die bisher verschonten Viertel ebenfalls abgerissen und nach den Prinzipien der Pariser Haussmann-Architektur wiederaufgebaut werden sollen. (In Paris unter Naopleon III erleichterte eine zentralisierte Sichtachsen-Architektur ein militärisches Vorgehen gegen die aufständische Bevölkerung.) In Diyarbakir soll an jedem der sechs Stadttore eine große Polizeistation errichtet werden, durch breite Straßen verbunden. Wahrscheinlich wird man einige der historischen Gebäude erhalten – wie die Moscheen, einige Kirchen und Bürgerhäuser – und versuchen, das Ganze touristisch nutzbar zu machen. Noch aber ist mit dem Wiederau�au der eingeebneten Areale nicht begonnen worden. Das Diyarbakir, das wir lieben – das Diyarbakir, das für die reiche Geschichte der Region und für die Identität seiner BewohnerInnen stand – scheint für immer verloren zu sein.

In den westlichen Stadtteilen hat es kaum Zerstörungen gegeben. Wir finden einige der Lokale wieder, die monatelang geschlossen waren. Eins, an das wir gute Erinnerungen hatten, wird seit drei Monaten von einem entlassenen Lehrer und seiner Familie betrieben. Sie haben keine Erfahrung und wir müssen lange auf unser nicht sehr leckeres Essen warten. Die Dengbej-Sänger sind noch da. Ein kurdischer Musik-Club, in dem sich vor allem junge Menschen getroffen haben, um Musik zu machen und zu lernen, wurde geschlossen. Die syrisch-orthodoxe Marienkirche ist unbeschädigt, der Pfarrer ist zurück. Vier Familien leben noch in der Stadt. Die armenische Kirche, 27


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Das Newrozfest Gisela Penteker

Als Fest des Frühlings und der Freiheit hat Newroz für die Kurden eine große Bedeutung. Es wurde oft durch repressive Maßnahmen behindert oder verboten. Vor drei Jahren war die Rede von Abdullah Öcalan zum Friedensprozess auf kurdisch und türkisch zu hören und stieß auf große Begeisterung.

schossen worden sein. Wir mussten schließlich fast um den ganzen Newrozpark herumlaufen, der hermetisch umzäunt und von hunderten von schwer bewaffneten Polizisten bewacht war — bis wir dann nach einer gründlichen Durchsuchung endlich auf den Festplatz gelangten, wo die Feier bereits in vollem Gange war.

In der angespannten Atmosphäre dieses Jahr war das Fest in Diyarbakir für vier Stunden erlaubt worden, in vielen anderen Städten dagegen ganz verboten. Trotz der Warnung vor großen Menschenansammlungen machten wir uns am Morgen auf den Weg mit dem Bus zum Newrozpark. Im Bus begannen die jungen Leute, Revolutionslieder zu singen und zu trillern und die Stimmung wurde immer besser. Etwa einen Kilometer vor dem Festplatz war Endstation und wir gingen zu Fuß in einer großen Menge anderer Festbesucher weiter. Am Straßenrand wurden gelb-rot-grüne Bänder, Tücher und Mützen verkauft und Fahnen, auf denen in Türkisch und Kurdisch „Nein“ (Hayir/Na) zum Referendum stand.

Viele tausend Menschen drängten sich vor der großen Bühne hinter einer weiteren Polizeiabsperrung. Über große Lautsprecher wurden Reden und Musik über den Platz getragen. Osman Baydemir, der frühere Oberbürgermeister von Diyarbakir redete auf Kurdisch, und auch Ahmet Türk, der Oberbürgermeister von Mardin, war unter den RednerInnen. Er rief dazu auf, den Friedensdialog wieder aufzunehmen und nicht zuzulassen, dass Türken und Kurden gegeneinander ausgespielt werden. Die Sonne schien, trotzdem erschien mir die Stimmung nicht so fröhlich wie in anderen Jahren. Es waren auch deutlich weniger Menschen da. In den Reden fielen immer wieder die Namen der inhaftierten HDP-Vorsitzenden Selaha�n Demirtas und Figen Yüksedag. Die Verbitterung über die Besatzung und der trotzige Wille zum Widerstand waren grei�ar. Am Rande gab es Gruppen, die zu traditionellen Instrumenten tanzten oder sich zum Picknick gelagert hatten. Viele begrüßten uns herzlich und freuten sich über unsere solidarische Anwesenheit. Soweit wir sehen konnten, blieb die Veranstaltung friedlich, und auch wir kamen alle sicher ins Hotel zurück.

Vor einem Polizeigitter wurde der Zug gestoppt, Männer nach rechts, Frauen nach links. Unter bedrohlichem Geschiebe und Gedränge kamen wir langsam durch die Absperrung. Besonders für einige Mütter mit Kinderwagen war die Drängelei dramatisch. Dahinter folgte gleich die nächste Absperrung, bevor wir bei der dritten zurückgeschickt wurden. Ausländer müssten ein anderes Tor benutzen. Ein junger Mann, der ein Messer dabeihatte, soll bei der Kontrolle er-

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BERICHT 2017

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DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

Leben im Ausnahmezustand Johanna Adickes

Einschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Pressezensur, ständige Präsenz von Polizei und Militär sowie von Spezialkräften und Geheimdiensten, Verhaftungen, Entlassungen... Leben im permanenten Ausnahmezustand nach wochenlangen Ausgangssperren: Was bedeutet es für die Menschen, unter diesen Bedingungen nicht nur ihren Alltag zu organisieren, sondern zu leben? Was hält sie aufrecht? Woher nehmen sie die Kraft, weiterzuleben, zu arbeiten und sich für ihre Ideen und Ziele einzusetzen, Widerstand gegen Entrechtung und Unterdrückung zu leisten? Sind es die Ideen von Gerechtigkeit und Frieden, von einem von Achtung und Respekt getragenen Zusammenleben der Kulturen? Ist es die Überzeugung, dass Menschenrechte unteilbar sind und für alle gleichermaßen verwirklicht werden müssen? Ist es die Gemeinschaft der Mitstreitenden in den verschiedenen Organisationen? Die Solidarität untereinander und von Freunden im In- und Ausland? In vielen Gesprächen, die wir in Ankara, Diyarbakir, Mardin und Cizre führten, erlebten wir Menschen mit guten Analysen der Ereignisse, klaren Zielvorstellungen und einem unglaublichem Durchhaltewillen, trotz Entlassung, Anklage und möglicher Verhaftung. In privaten Gespräch wurden dagegen auch Ängste und Verzweiflung spürbar. Das individuelle Leid konnte zur Sprache kommen.

Eine Armenierin erzählt D., eine junge Armenierin in Diyarbakir, hat ihre Arbeit noch, rechnet aber jeden Tag mit ihrer Entlassung. Es sei nicht mehr möglich, in Diyarbakir an kulturellen Projekten weiterzuarbeiten. Denn zum einen stehe die Stadt unter Zwangsverwaltung. Die gewählten Bürgermeister/innen und die MitarbeiterInnen in der Verwaltung seien ausgetauscht und die MitarbeiterInnen entlassen worden. Zum anderen sei die historische Altstadt während des Ausnahmezustandes und der Ausgangssperre bombardiert worden und solle nun nach ganz anderen Gesichtspunkten wieder aufgebaut werden. Die Erinnerung an eine multi-ethnische und multireligiöse Geschichte der Stadt solle ausgelöscht und ihre Wiederbelebung verhindert werden. Die Religion spiele eine große Rolle. Die Menschen hier seien „normal religiös“, abgesehen von einigen Radikalen. Atheisten – wie im Westen Europas – gebe es kaum, auch nicht bei den politisch Aktiven. Diese Grundhaltung nutze Erdogan aus und instrumentalisiere die Religion für seine Zwecke, also der Umgestaltung eines säkularen Staates in einen islamischen, in dem andere Religionen keinen Platz mehr hätten. So verlange man z.B. von ihr als armenischer Christin, dass sie sich kleide wie eine gläubige Muslima. Dies würde sie angeblich schützen. In der Schule müsse ihr Neffe islami30

sche Gebete auswendiglernen, wogegen er sich innerlich zur Wehr setzte – sie aber lerne, um Ärger zu vermeiden. (Religion ist in der Türkei trotz anderslautenden Urteils des Europäischen Gerichtshofs ab der vierten Klasse Pflich�ach.) Die eigene Religion, auszuüben sei seit der Zerstörung der armenischen Giragos-Kirche 2016 nur begrenzt möglich. Zu den großen christlichen Festen komme der Patriarch aus Istanbul. Den Gottesdienst feiere man dann in der syrisch-orthodoxen Marienkirche. Religiöse Handlungen wie Taufen, Trauungen oder Beerdigungen seien selten, weil es in Diyarbakir kaum noch christliche Armenier gebe. Für die jungen Leute sei es schwierig, eine Partnerin oder einen Partner zu finden, weil man erst nach sieben Generationen innerhalb der Verwandtschaft heiraten dürfe. Diese Regel werde nun durchbrochen, man heirate schneller untereinander, oft nicht aus Liebe, sondern, um die Religion zu erhalten. „Die Welt hat uns Armenier seit 100 Jahren vergessen. Wir erhalten keine wirkliche Unterstützung“, meint D. Die in der Dia-spora lebenden christlichen ArmenierInnen hätten 2011 zwar Spenden zum Wiederau�au der Kirche gegeben – quasi als Ablass. In der aktuellen Situation würden sie jedoch schweigen. Die damals zur Eröffnungsfeier angereisten Delegationen seien überrascht gewesen, dass es in Diyarbakir noch Armenier gibt. In Frankreich sei man gar davon


BERICHT 2016

SUR, VERWÜSTETE VIERTEL ausgegangen, „dass wir, die Überlebenden des Genozids, wie Neandertaler in Höhlen lebten. Das hat mich sehr verletzt,“ empörte sich D. Die Armenierresolution der Bundesrepublik Deutschland sei wichtig gewesen, aber es fehlten Taten: „Deutschland und Europa haben zugelassen, dass wir vom eigenen Staat bombardiert werden.“ „Die letzten zwei Jahre waren die schlimmsten in meinem Leben. Es wird nie wieder so sein wie vorher. Mein Leben teilt sich jetzt in ein Davor und ein Danach. Die Ereignisse in Sur und vor allem in Cizre kann man nicht vergessen.“ 170 in Kellern eingeschlossene und zum größten Teil unbewaffnete Menschen wurden bei den Bombardements lebendig begraben oder verbrannten. Laut der HDP in Diyarbakir hat Deniz Yücel zu diesem Massaker recherchiert. Das sei ihm zum Verhängnis geworden. „Es gab viele bedrohliche Situationen für mich,“ fuhr sie fort, „keine 300 Meter von der Stadtverwaltung en�ernt – nur durch die Mauer getrennt – fanden die Gefechte zwischen türkischen Soldaten und jungen Menschen statt, die ihre Freiheit und ihre Rechte verteidigten. Fast alle meine Freunde wurden erschossen oder verhaftet. Niemand von euch hat in dieser Zeit angerufen und sich nach uns erkundigt. Ich fühlte mich total verlassen. Diese Einsamkeit war das Schlimmste. Im Mittelalter sind die Menschen in so einer Situation ins Kloster gegangen. Wenn ich

nicht für meine jüngeren Nichten und Neffen und für meine Mutter hätte sorgen müssen, wäre ich wäre wohl nicht mehr bei euch. Nur das hielt mich am Leben.“ D.s Bruder, der zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt ist, wurde in den 1.400 km entfernten Gefängniskomplex Silivri (westlich von Istanbul) verlegt und beteiligt sich dort an dem Hungerstreik der Gefangenen für bessere Haftbedingungen, für die Au�ebung der Isolation von Öcalan und die Wiederaufnahme den Friedensverhandlungen. Silivri ist so weit weg, dass D.s Mutter und die Kinder den Bruder kaum besuchen können. Gefangene würden einzeln nach Silivri verlegt. 13.000 Menschen seien dort unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht. Zwar hätten Angehörige das Recht, sie zu besuchen; das sei aber aufgrund der En�ernung nur schwer zu realisieren. „Als ich mit meiner Mutter in Silivri ankam, brach sie beim Anblick des Gefängnisses zusammen. Die Erinnerungen hatten sie niedergeworfen. Der Besuch, das lang ersehnte Gespräch – wenngleich unter Beobachtung – konnte für beide nicht sta� inden. Ihr Mann – mein Vater – wurde vor vielen Jahren von ‚unbekannten Tätern’ erschossen. Sie musste sich und ihre beiden Söhne allein durchbringen. Acht Monate nach der Tat wurde ich geboren. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Ich weiß nicht, ob meine Mutter meinen Bruder noch einmal sehen wird.“ 31

Derzeit gebe es einen Hungerstreik. In Zehner-Gruppen würden sich die Gefangenen abwechseln, um möglichst lange durchzuhalten. Eine Zwangsernährung gebe es nicht. Das würde von den Ärzten abgelehnt. „Wir unterstützen die Gefangenen durch tägliche Mahnwachen vor dem Rathaus. Bei der kleinsten Bewegung setzt die Polizei Tränengas ein – und dann kann man nicht telefonieren, um Hilfe zu holen oder Angehörige zu benachrichtigen.“ Das sei ein massiver Eingriff in die Privatsphäre. Bespitzelung und Überwachung seien eine enorme Belastung. Die sozialen Medien seien zum großen Teil lahmgelegt. Das Internet sei so verlangsamt worden, dass man es in schwierigen Situationen nicht nutzen könne. Es würden nicht nur die Telefone abgehört, sondern beinahe jeder Schritt, jede Aktivität durch Polizei und Geheimdienste registriert. An zentralen Stellen seien Kameras angebracht worden. Auch private Treffen und Versammlungen in geschlossenen Räumen werden gefilmt. Wie geht es nach dem Referendum weiter? „Wir wissen es nicht.“ Gibt es Hoffnung? „Dass Deutschland und Europa nicht länger schweigen! Und dass ihr immer wieder kommt und darüber berichtet.“ Diese Sätze hörten wir von vielen unserer GesprächspartnerInnen.


DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN

FLÜCHTLINGSLAGER BEI MIDYAT

Europäische Flüchtlingspoli�k und die Rolle der Türkei Eva Klippenstein

Seit dem „Putsch“ in der Türkei im Sommer 2016 wurden zahlreiche Journalisten und Intellektuelle als angebliche Terroristen verhaftet, Hunderttausend Beamte, darunter fast 8.000 Akademiker entlassen, Fernseh- und Radiosender, Zeitungen und Periodika verboten, Bücher indiziert. Bei der Au�ebung der Selbstverwaltung in den kurdischen Gebieten sind viele kurdische Politiker willkürlich verhaftet und mit mehrjährigen Strafen bedroht worden. Im Vorfeld des umstrittenen Verfassungsrefenrendums hatte die Venedig-Kommission des Europarats diese Entwicklung als „Rückschritt der Verfassungstradition“ kritisiert. Seither wurde mehrmals, zuletzt am 25. April, die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei von der parlamentarischen Versammlung des Europarats in Frage gestellt, aber eine Absage blieb aus. Vielleicht wollte die Europäische Union niemals wirksame Sanktionen verhängen und vielleicht interessiert sich die Türkei trotz ihrer wirtschaftlichen Probleme nicht mehr wirklich für den Beitritt zur EU, denn nach und nach wird klar, dass der türkische Staatspräsident seine Ziele auch ohne Kooperation mit dem Westen erreicht, weil sich Europa in der Flüchtlingsfrage als erpressbar erwiesen hat. Trotz Krieg und steigender Flüchtlingsnot ging 2016 die Zahl der MigrantInnen, die Europa erreichen, gegenüber 2015 um zwei Drittel zurück und mehr als 6.000 Menschen kamen bei der Flucht über das Mittelmeer und auf der Balkanroute ums Leben. Je mehr aber der Kontinent die Flüchtlingsfrage auf die Türkei und Nordafrika abwälzt, desto mehr verliert er den Anspruch als „Union der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“.

Schutz“2 beharrt der türkische Staat auf seinem Vorbehalt3 gegenüber der Genfer Flüchtlingskonvention, was bedeutet: nichteuropäischen Flüchtlinge, auch wenn sie die internationalen Kriterien für die Flüchtlingseigenschaft erfüllen oder wegen der besonderen Gefährdung im Herkunftsland internationalen Schutz beanspruchen dürfen, sind trotzdem nur geduldet; sie können nur einen ‚vorbehaltlichen oder bedingten‘ Flüchtlingsstatus bzw. bedingten Schutzstatus4 erhalten und sind auf die Aufnahme in einem Drittland unter Vermittlung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen angewiesen. Es gibt keine Statistiken darüber, wie viele Menschen diesen Status innehaben. Auf einer staatlichen türkischen Internetseite werden 55.600 Resettlement-Fälle zwischen 1994 und 2013 aufgeführt. Ein regionaler Vertreter von Amnesty International sagt, auch ‚geschützte Flüchtlinge‘ könnten ihren Aufenthaltsort nicht frei wählen, müssten sich wöchentlich bei der Verwaltung melden und mit ihrer Unterschrift ihre Anwesenheit bestätigen. Er meint, dass tausende von Menschen, die so jahrelang auf eine Übernahme warten, oft in ihrer Verzweiflung ein Boot besteigen, um nach Europa zu kommen5. Zwar gilt der Aufenthalt als erlaubt und kann verlängert werden, andererseits sind aber die Voraussetzungen für einen unbefristeten Aufenthalt sehr streng: achtjähriger erlaubter Aufenthalt, ausreichendes Einkommen ohne Inanspruchnahme sozialer Hilfen, eigene Sozialversicherung usw.

2 Abancılar ve Uluslararası Koruma Kanunu v. 4.4.2013, R.Gazete s. 28615 sowie Yabancılar ve Uluslararası Koruma Kanunun Uygulamasına ilişkin Yönetmelik v. 17.3.2016, R. Gazete s. 29656 3 Die Türkei, obwohl Erstunterzeichnerin der Genfer Flüchtlingskonvention und Mitglied des Exekutivkomitees des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), hält den „geografischen Vorbehalt“ aufrecht, mit dem in der ursprünglichen Fassung der Konvention das Recht auf Asyl auf Flüchtlinge aus Europa beschränkt werden konnte. Diese Option wurde 1967 mit einem Zusatzprotokoll aufgehoben, Staaten, die schon früher unterzeichnet hatten, konnten den Vorbehalt jedoch aufrechterhalten. Die Türkei hat diese Option gewählt und ist heute praktisch der einzeige Staat, der das Asylrecht auf Flüchtlinge aus Europa begrenzt. 4 Yabancılar ve Uluslararası Koruma Kanunu Art. 62 bzw. Art. 63 5 Gündem 27.3.2014

Syrische Flüchtlinge in der Türkei Im März 2017 waren mindestens 2,9 Millionen1 syrische Flüchtlinge in der Türkei registriert, dazu einige 100.000 aus Irak, Iran, Afghanistan sowie Afrika. Auch im neuen Gesetz „Ausländer und internationaler

1 Cumhuriyet, 6.3.2017. Das UN-Flüchtlingshilfswerk nennt die Zahl von ca. 3 Millionen, davon 2,7 Millionen SyrerInnen, 130.000 aus Irak, 118.000 aus Afghanistan, 31.000 aus Iran, 3.500 aus Somalia, der Rest hauptsächlich aus acht weiteren Ländern. 32


BERICHT 2017

Die Lebensbedingungen für Flüchtlinge sind alles andere als einfach: Es gibt ca. 26 Empfangs- und Unterbringungseinrichtungen (sogenannte Camps oder Lager, früher als Gästehäuser bezeichnet)6, meist im Süden des Landes gelegen, in denen Menschen nicht nur ein Dach über den Kopf bekommen, sondern auch versorgt werden, aber nicht einmal zehn Prozent der Flüchtlinge finden darin Platz – denn nach Meinung der Regierung sollen sie selbst für ihr Unterkommen sorgen. Hilfen als Geld- oder Sachleistungen für Bedürftige sind möglich, ebenso eine gesundheitliche Basisversorgung. Das UN-Hilfswerk steuert etwas Geld für Lebensmittel und Heizung bei; damit können aber höchstens eine halbe Million Bedürftige rechnen. Die übrigen, und das ist die Mehrzahl von ihnen, befindet sich in einem ständigen Existenzkampf, denn sie bekommen nichts.

zialversicherungsbetrag zahlen – Vorgaben, die angesichts von türkeiweit mindestens 6,5 Millionen Arbeitsuchenden kaum zur Verbesserung der Beschäftigungschancen von Syrern dienen.

Schulunterricht

Für die Flüchtlinge, die teilweise schon seit Jahren in der Türkei ausharren, hat sich Europa lange nicht verantwortlich gefühlt. Erst seit der Krise im Sommer 2015, als viele tausend Flüchtende über die Balkanroute und die griechischen Inseln nach Europa drängten, erkauft sich die Union ihre Abschottung mit der Versorgung der Flüchtlinge (s.u.). Da die EU in diesem und im nächsten Jahr mehr Geld für die Nothilfe in der Türkei ausgibt als im ganzen Rest der Welt9 und sich bei den Hilfsorganisationen die Einsicht durchgesetzt hat, dass Geldleistungen effektiver sind als Säcke mit Reis oder Mehl, wären Milliardentransfers aus Europa auch für den türkischen Staat eine willkommene Devisenhilfe. Doch im weltweit größten Hilfsprogramm seiner Art, dem ‚Emergency Social Safety Net‘ der EU fließt die Hilfe weitgehend am Staat vorbei und direkt zu den Empfängern, die mithilfe einer Bankkarte, auf der das Logo des türkischen Roten Halbmonds steht, Bargeld abheben und über seine Verwendung selbst verfügen können. Der Vorteil der Cache-Zahlung (100 Türkische Lira, ca. 30 € pro Person und Monat) ist folgender: Sie erlaubt den Empfängern, sich selbt zu organisieren, z.B. sich zu bewerben oder zur Schule anzumelden. Der Nachteil ist: Nur Flüchtlinge, die eine Adresse nachweisen, erhalten die rote Bankkarte. Wohnungslose fallen also von vornherein aus und: Das neue System erzeugt und verstärkt weitere Kontrollmöglichkeiten. Wer Arbeit findet und diese anmeldet, fällt automatisch aus der Zahlung heraus10.

Die Türkei nehme eine Pionierrolle bei der Integration von Flüchtlingen ein, sagte der Vertreter der Internationalen Arbeitsorganisation auf einer Konferenz in Ankara. Die Fakten sprechen eine andere Sprache, denn nur etwa zehntausend Arbeitserlaubnisse wurden bisher erteilt – nicht einmal zwei Prozent des syrischen Arbeitskräftepotentials sind also legal beschäftigt. Zudem berichten Hilfsorganisationen, dass jeden Tag SyrerInnen in ihr Büro kommen, weil ihr Arbeitgeber sie nicht bezahlt hat und sie dann erfahren müssen, dass sie ohne Arbeitserlaubnis ihren Lohn nicht einklagen können!8

Während mindestens 600.000 Jugendliche zur schulpflichtigen Altersgruppe gehören, kann nur etwa jeder Dritte tatsächlich eine Schule besuchen – und das sind meist hilfsweise geschaffene Einrichtungen mit unzureichendem Lehrpersonal. Geschätzt jeder dritte Jugendliche bekommt keinen Schulunterricht. Mindestens 40.000 zusätzliche Lehrer würden benötigt.7 Ursache ist aber nicht nur der Lehrermangel sondern auch die Tatsache, dass viele Kinder und Jugendliche arbeiten müssen. Arbeitserlaubnisse würden erteilt, steht in den Mitteilungen der Regierung, aber es ist kaum eine zu bekommen: denn aus der Sorge, dass billige syrische die einheimischen Arbeitskräfte verdrängen könnten, hat der Gewerkschaftsdachverband TISK Druck auf die Regierung ausgeübt, um den Andrang der syrischen Arbeitskräfte zu regulieren. Seit Anfang des Jahres muss der Antrag auf Beschäftigungserlaubnis vom Arbeitgeber gestellt und mit einer Gebühr von 152 € bezahlt werden. Dieser darf höchstens zehn Prozent seiner Belegschaft mit SyrerInnen besetzen, muss die Anmeldung bei der Sozialversicherung selbst vornehmen und den Mindestlohn von 354 € plus 94 € Kranken- und So6 Ein solches Lager unter Aufsicht des Gouverneurs, zu dem Außenstehende keinen Zugang bekommen, mit ca. 4.000 jesidischen Flüchtlingen aus dem Shengal befand sich bis zum vergangenen Jahr auch in Diyarbakir. Nach Auskunft von IHD wurde es im August 2014 aufgelöst, wobei mehr als tausend BewohnerInnen zwangsweise nach Midyat verlegt worden sein sollen. Von den übrigen Bewohnern ist nicht bekannt, ob sie zurück nach Shengal oder weiter nach Europa gezogen sind. 7 Cumhuriyet v. 6.3.2017; ähnliche Zahlen auch bei ProAsyl

8 s. Jasper Mortimer, taz v. 30.12.2016 9 s. Christian Jakob, taz v. 25.2.2017 10 Seit einigen Jahren wird in riesigen Flüchtlingslagern, z.B. im jordanischen Zaatari, mit dem biometrischen Verfahren der Iriserkennung bargeld33


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Dieses Gesetz sieht Ausreise- und Rückführungszentren vor. Diese sind zwar ähnlich hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen wie die deutschen Abschiebehaftanstalten, kommen aber im Unterschied zu diesen mit wenigen Verfahrensregeln aus. Nach dem Wortlaut des Gesetzes richtet sich der administrative Gewahrsam von maximal sechs Monaten gegen ausgewiesene Personen, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen. Doch es gibt glaubwürdige Hinweise von MenschenrechtsanwältInnen, dass auch Menschen in den Abschiebezentren verschwinden, die gar keine Chance auf Überprüfung ihres Schutzantrags hatten, weil sie als irreguläre Migranten aufgegriffen wurden, denen unterstellt wurde, dass sie keinen Anspruch auf Asyl11 haben und die deshalb kurzerhand von Griechenland in die Türkei zurückgeschoben wurden.

Der klare Verlierer des Abkommens ist Griechenland, und mit ihm die Flüchtlinge, denen der Weg nach Europa versperrt ist. Zwar gingen die Ankunftszahlen auf den Inseln 2016 drastisch zurück – auf weniger als 200.000 im Vergleich zu knapp einer Million im Jahr davor – und davon en�ielen die meisten auf die ersten drei Monate des Vorjahrs. Aber seitdem das Elend gekenterter Flüchtlingsboote an den Stränden der griechischen Inseln keine Schlagzeilen mehr erzeugen, sind die Lebensbedingungen in den Aufnahmegemeinden der Inseln und auf dem Festland kaum mehr ein Thema. Dabei nehmen die Probleme jeden Tag zu: Weil die Balkanroute über Serbien und Ungarn geschlossen ist, bleibt den Flüchtenden der Weg nach Europa versperrt, solange die reichen EU-Länder ihnen die Aufnahme verweigern. Der verarmte Randstaat Griechenland ist aber nicht in der Lage, den mehr als 60.000 Migranten, die in der Region ausharren, eine angemessene Unterkunft und Versorgung zu ermöglichen. Die trostlosen Camps unter freiem Himmel sind genauso wie die schnell errichteten gefängnisähnlichen Haftlager als menschenrechtswidrig abzulehnen. Anstatt den Zugang zu einem regulären Asylverfahren zu ermöglichen, finden an den „Hotspots“ auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros Schnellverfahren ohne inhaltliche und rechtsstaatliche Prüfung der Fluchtgründe und ohne anwaltlichen Schutz oder gerichtliche Überprüfung statt.14 Kurzum: Die Bezeichnung „Freilichtgefangenenlager“ ist durchaus zutreffend.

Das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei Als 2015, im fünften Jahr des syrischen Bürgerkriegs, fast täglich bis zu 3.000 Menschen von der Türkei aus nach Griechenland flüchteten, war Europa alarmiert: Anstelle des offen gezeigten Mitgefühls aus dem Vorjahr verbreitete sich eher ein Klima der Abwehr und die Reaktionen der Politik waren von Angst vor sozialen Auseinandersetzungen und rassistischer Hetze bestimmt. Die EU schloss Anfang April 2016 in größter Eile ein Abkommen mit der Türkei, in dem festgelegt wurde, dass diese ihre Grenzsicherheitsmaßnahmen verstärken und mit der eigenen Küstenwache gegen Schlepper vorgehen solle, sowie alle von ihrem Territorium aus nach Griechenland eingereisten sowie „alle in türkischen Gewässern aufgegriffenen irregulären Migranten und Flüchtlinge, die keinen Anspruch auf Asyl haben12, zügig zurücknimmt und im Austausch dafür für jeden Syrer, der in die Türkei abgeschoben wird, einen ‚anderen Syrer‘ legal an die EU abgeben darf. Von diesem Deal, den man ruhig Menschenhandel nennen darf, sollten beide Seiten profitieren: Die EU wehrt Flüchtlinge ab und verspricht, zunächst 18.000 SyrerInnen aufzunehmen, bei weiterem Bedarf die Zahl der Plätze auf 72.000 zu erhöhen sowie zunächst drei Milliarden Euro für die Versorgung der Geflüchteten in der Türkei bereitzustellen und diese Summe bis Ende 2018 zu verdoppeln. Außerdem bekundet sie die Bereitschaft zur Beschleunigung des Visaprozesses13.

Fazit: Durch das Flüchtlingsabkommen ist die EU – und vor allem Deutschland als wichtigster Agent – erpressbar geworden: Ankara droht immer wieder, die Grenzübergänge zu öffnen, wenn Europa sich weiterhin weigert, die zugesagte Visafreiheit zu erteilen. Inzwischen scheint Deutschland sich das Wohlverhalten der Türkei durch Verzicht auf Einmischung in die Innenpolitik erkaufen zu wollen. Die Flüchtlingsfrage mit Visafreiheit zu verbinden, war schon deshalb der falsche Weg, weil es dazu kommen könnte, dass die türkische Staatslobby in Deutschland Fuß fasst. Die Opfer der Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit, die mit Passentzug und Ausreiseverbot belegt sind, sowie alle Andersdenkenden, die in die Mühlen der türkischen Justiz geraten sind, bekommen keine Chance mehr, in Deutschland einen sicheren Fluchtort zu finden. Die bisherige Bilanz des Tauschhandels sieht so aus: Bis Ende März 2017 wurden nach Auskunft der Behörden ca. 1.500 Flüchtlinge per Schiff oder Flugzeug in die Türkei zurückgebracht15 umgekehrt nahm die EU 4.924 Geflüchtete aus Griechenland auf, darunter Deutsch-

los an Supermarktkassen bezahlt. UNHCR treibt dieses Verfahren voran, das um 20 Prozent billiger ist als die direkte Verteilung von Lebensmitteln. Für die Expertise dieser Innovation würden Flüchtende zu Versuchskaninchen, die sich als Hilfeempfänger nicht wehren können. Noch schlimmer: Durch die fehlende Kontrolle über ihre Daten und den möglichen Missbrauch würden sie sogar noch verletzlicher gemacht, schreibt Nicolas Autheman in: Le Monde diplomatique, Mai 2017 S. 7 11 Wortlaut des EU-Flüchtlingsabkommens mit der Türkei 12 Im Originaltext: „not applying for asylum or asylum seekers whose application have been declared inadmissible“ 13 Bt.-Dr. 8654 v. 2.6.2016

14 Zur Abhilfe stellt das Bundesamt für Asyl und Flüchtlinge 100 Mitarbeiter und zwölf Dolmetscher ab, 100 Soldaten sind ebenfalls dort stationiert. 15 Darunter 530, die nach Zeugenaussagen anschließend in ihr Herkunftsland abgeschoben wurden. 34


land 1.77416 – verglichen mit diesen bescheidenen Ergebnissen des Abkommens sind die Kosten für die europäischen Instanzen enorm: Aus Furcht vor der Eröffnung neuer Fluchtrouten werden noch mehr europäisches Grenzmanagement und weitere Risikoanalysen benötigt. Die Agentur Frontex soll schnell mögliche Änderungen der Migrationsrouten identifizieren, die Operation Triton mit Satelliten das Mittelmeer und die Adria noch stärker überwachen.

Das Rückübernahmeabkommen der EU mit der Türkei Weil die Türkei bei der Europäischen Union im Verdacht steht, wegen ihres vermeintlich laxen Visa- und Grenzmanagements Einfallstor und Transitland für Flüchtlinge zu sein, wird in der EU seit 201417 an einem Rückübernahmeabkommen gearbeitet: Die Türkei soll Asylbewerber, die über ihr Gebiet in die EU eingereist sind, abgelehnte Ablehnung wieder zurücknehmen und zwar selbst dann, es sich um Staatenlose handelt – selbstverständlich auf der Basis von Gegenseitigkeit, wobei den Beteiligten klar ist, dass entsprechende Asylverfahren von Staatsangehörigen aus EU-Ländern in der Türkei zwar denkbar, aber äußerst unwahrscheinlich sind. Obwohl rechtlich gesehen die Türkei weder als sicherer Herkunftsstaat noch als sicherer Drittstaat18 gelten kann, wurde das Abkommen, das eigentlich erst Ende 2017 in Kraft treten sollte, in aller Eile 201419 verabschiedet; in die Tat umgesetzt wurde es dann mit dem Flüchtlingsdeal.

BETTELND AUF DER STRASSE: GEFLÜCHTETE FRAU MIT KIND IN DIYARBAKIR

In Sur, der historischen, von ca. 7.000 Jahre alten wuchtigen Basaltmauern umgebenen Altstadt von Diyarbakir dauerte die jüngste, als ‚Aufstandsbekämpfung‘ bezeichnete Ausgangssperre 103 Tage. Sie begann am zweiten Dezember 2015, das heißt genau einen Monat nach der Wiederholung der Parlamentswahl vom 15. Juni 2015 am 1. November des gleichen Jahres. Während der Militäraktionen waren die BewohnerInnen von Elektrizität, Wasser sowie Telefon, TVund Nachrichtenverbindungen abgeschnitten und die Versorgung mit Lebensmitteln war nicht gesichert. Den willkürlichen Angriffen der türkischen Armee, unterstützt von Luftwaffe, Spezialkräften und Milizen sowie paramilitärischen Dorfschützern mit Artillerie, Panzern und sogar Flugzeugen, war die Bevölkerung schutzlos ausgeliefert. Verletzte konnten nicht geborgen werden, HelferInnen wurden zur Zielscheibe gemacht. Das alles ist durch zahlreiche Zeugenaussagen gesichert.

Fazit: Die Türkei ist kein sicherer Drittstaat, sie gewährleistet keinen dauerhaften Schutzstatus, die gesetzlichen Regeln garantieren kein Zurückweisungs- und Abschiebungsverbot und sie gewährt keinen sicheren Abschiebungsschutz.

Die Vertreibung

Für die Auswirkungen des ‚totalen Krieges gegen Zivilisten‘ war auch maßgeblich, dass im Wege des Ausnahmezustands die von der Bevölkerung gewählten BürgermeisterInnen in allen kurdischen Kommunen kurzerhand ihrer Aufgaben entkleidet 20 und viele, ja, die meisten unter kaum nachvollziehbaren Begründungen inhaftiert wurden21 und dass die Zuständigkeit für die kommunale Infrastruktur nunmehr beim staatlichen Verwalter, dem Vali liegt, der sie an seine jeweiligen Mitarbeiter bzw. an den Muhtar als den nachgeordneten unteren Regierungsvertreter weitergereicht.

Wer in Diyarbakir etwas über Flüchtlinge erfahren möchte, wird zuerst mit dem Leid konfrontiert, das der eigenen Bevölkerung widerfahren ist. Deshalb soll hier auch über die Zerstörung weiter Stadtteile in Sur und die Vertreibung der Menschen und die absehbaren Folgen davon berichtet werden.

16 Durch kritische Nachfragen im Bundestag (Bt-Drs. 18/8542) kam heraus, dass in die Aufnahmezahlen nach dem Abkommen auch Familienangehörige von in Deutschland anerkannten Flüchtlingen und ResettlementFlüchtlinge eingerechnet wurden, zu deren Aufnahme Deutschland sowieso verpflichtet ist. 17 Amtsblatt der EU L13/4 v. 7.5.2014 18 Sichere Herkunftstaaten nach deutschen Recht sind alle EU-Länder, fünf Westbalkanstaaten sowie Ghana und Senegal; sichere Drittstaaten: alle EU-Länder plus Norwegen und die Schweiz 19 EU Commission Press Release 1.10.2014

Wer überleben wollte, floh während der Feuerpausen in die Außenbezirke der Stadt – irgendwohin – war gezwungen, alles zu hinterlassen, fiel, wenn die familiären Netzwerke den Belastungen nicht standhielten, in absolute Armut. Dies alles, weil es keine organisier20 21 35

84 Ko-Bürgermeister wurden festgenommen. 88 von 144 Stadtverwaltungen


PLANIERTE SUR, LUFTAUFNAHME AUS DEM MÄRZ 2017

ENTEIGNUNG IN SUR. ROT: ETWA 6.000 ENTEIGNETE GRUNDSTÜCKE, BLAU: GRUNDSTÜCKE, DIE SCHON VORHER IN STAATSBESITZ WAREN. „Cultural Heritage Damage Assessment Report“ der Stadtverwaltung Diyarbakir, 30.3.2016

te Hilfe gab. Niemand weiß, wieviele Menschen vergeblich auf Hilfe gewartet haben, weil die sozialen Vereine, die in den Vierteln früher aktiv waren, sämtlich verboten oder geschlossen22 wurden und die notwendigen kommunalen Dienste, beispielsweise für Beurkundungen, nicht vorgenommen werden konnten. Nach Schätzungen des Menschenrechtsvereins von Diyarbakir sind 30.000-40.000 EinwohnerInnen während des Ausnahmezustandes gestorben.

Die Frage nach einer Entschädigung oder Wiedergutmachung an die ehemaligen Bewohner wurde mehrmals gestellt und so beantwortet: Immobilienbesitzer, die über einen Grundbucheintrag verfügen, haben möglicherweise Anspruch auf eine geringe Entschädigung. Diese würde aber kaum ausreichen, um eine der zahllosen Neubauwohnungen im weit außerhalb gelegenen und schlecht erschlossenen Stadtgebiet finanzieren zu können. Sowieso seien viele der EinwohnerInnen arm, weil sie selbst als Flüchtlinge in die ärmlichen Stadtteile von Sur gezogen seien, nachdem die Armee in den 90er Jahren ihre Dörfer zerstört und sie zur Flucht gezwungen hatte. Diese ehemaligen Flüchtlinge, so wurde vermutet, hätten keinerlei Entschädigung zu erwarten. Die Grundstücke in den zerstörten Stadtteilen sollen sowieso verstaatlicht werden, sagen unsere InformantInne. Die Rede ist von einer totalen Umgestaltung des alten Stadtbildes: Breite, kerzengerade Boulevards nach dem Vorbild des Pariser Baumeisters Haussmann mit sechs zentralen Polizeistationen.

Foto: Sur Conservation Platform

Schlimmer als dieses Leiden, die Dunkelheit und Kälte der Wintermonate, war wohl für die Kinder das ohnmächtige Warten, der Verzicht auf Schulunterricht, denn die Schulen wurden zu Kasernen und die Klassenzimmer zu Stützpunkten der Soldaten umgewandelt. Seit dem 10. März 2016 scheint es, als ob sich das Leben in Sur allmählich erholt, aber das täuscht: Denn hinter den Hauptstraßen, die die Altstadt von Nord nach Süd und von Ost nach West durchqueren, ist alles tot. Hässliche Betonbarrieren und grimmige Polizeikräfte verwehren jeden Blick auf eine Ödnis, die mitten ins Herz trifft. Nur Schutthalden anstelle der ehemals engen Gassen mit ihren aus der Zeit der Armenier stammenden charakteristischen Vorbauten, den Stadthäusern mit ihren gestreiften Fassaden und historischen Plätzen, traditionellen Werkstätten und spielenden Kindern! Unmittelbar hinter den Absperrungen beim berühmten „vierfüßigen Minarett“ beginnt bereits die verbotene Zone. Es ist der Stadtteil Hasırlı, das ehemalige Wohngebiet der armenischchristlichen oder jüdischen, kaldäischen oder aramäischen, jedenfalls nichtmuslimischen, BewohnerInnen, daher früher „gavûr mahallesı“ (Viertel der Ungläubigen) genannt. Heute erstreckt sich dort eine unendliche Wüste. „Wo früher durch die engen Gassen kaum ein Auto durchkam, könnte heute sogar ein Flugzeug landen“, sagt Gafur Türkay, ein Kenner der langen kosmopolitischen Geschichte Surs.

Die EinwohnerInnen werden ausgetauscht: Die Ansiedlung aufenthaltsberechtigter und eingebürgerter syrischer Flüchtlinge ist zu befürchten. Neuerdings teilt der Vali von Dyarbakir, auf seiner offiziellen Internetseite mit, dass spätestens ab Juni 2017, die Häuser in zwei Stadtbezirken von Sur, die kaum zerstört wurden und in denen noch immer viele Menschen leben, komplett „geräumt“ und anschließend von der regierungsnahen Firma TOKI wieder aufgebaut werden sollen. Es handelt ich um die Bezirke Lalebey und Alipaşa, in denen schon 2009 ein ähnliches Urbanisierungsprojekt von der gleichen Baugesellschaft ausgeführt werden sollte, das damals im unüberschaubaren Chaos zwischen Bürokratie und Widerstand der Einwohner scheiterte. Das Szenario ist verändert: die traumatisierten BewohnerInnen von Sur werden sich den Räumpanzern kaum mehr entgegenstellen. Die Stadtmauer und die außerhalb gelegenen historischen Hevler-Gärten wurden vor wenigen Jahren von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt, doch zum Erhalt der alten Stadtteile verhilft dies nicht. Die ehemaligen Bewohner, könnten sich auf den Internationalen Pakt für soziale und kulturelle Rechte berufen und die Wiederherstellung ihrer Lebensgrundlage, und sei sie noch so einfach, verlangen! Sie müssten vor türkischen Gerichten klagen und anschließend beim Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dieses Ansinnen verlangt viel Durchhalten und Unterstützung von außen.

Offiziell wurde inzwischen das Ausgehverbot in den acht westlichen Stadtteilen von Sur aufgehoben. Das Alltagsleben ist scheinbar normal, aber viele der Häuser sind baufällig und die verbreitete Armut ist unübersehbar. Der Zugang zu den östlichen, verwüsteten Stadtteilen Cevat Paşa, Fatihpaşa, Debanoĝlu, Hasırlı, Cemal Yılmaz und Savaş ist weiterhin verboten.

22 400 Vereine seien geschlossen oder verboten worden, so Burç Baysal vom Unternehmerverband DISIAD. 36


BERICHT 2017

Das Verfassungreferendum Friedrich Vetter

neten durch die Provinz getingelt, um die Menschen mit Flugblättern und persönlichen Gesprächen zu erreichen.

Am 16. April 2017 hat das türkische Volk über die Verfassungsänderungen abgestimmt, die Präsident Erdogan zum Alleinherrscher machen sollen. Die Änderungen von 18 Paragraphen haben alle nur ein Ziel: Die Macht im Land auf den Präsidenten zu konzentrieren.

Die Vorhersagen waren trotzdem bis zum Schluss unsicher. Meinungsumfragen waren schwierig, weil die Menschen Angst hatten und die Fragen nicht beantworteten. Inzwischen hat der Präsident das Referendum sehr knapp für sich entschieden. Und bisher sieht es so aus, als ob er seine Politik fortsetzen würde. Der Ausnahmezustand wurde nicht aufgehoben, politische Gefangene wurden nicht entlassen, im Gegenteil, täglich kommt es zu weiteren Verhaftungen. Die Türkei entfernt sich weiter von demokratischen Verhältnissen.

Der Präsident der Anwaltskammer Diyarbakir, Ahmet Özmen, erklärte uns sinngemäß, es sei falsch, in einer Situation der Polarisierung ein Referendum abzuhalten. Zweck der Verfassung sei es, die Menschenund Bürgerrechte zu sichern. Für Änderungen brauche es klare Köpfe. In einer Verfassung müssten sich alle gesellschaftlichen Gruppen wiederfinden, hier hätten aber zwei Parteien im Geheimen beschlossen, welche Änderungen vorgenommen werden sollten. Um die jetzige Verfassung, die in der Folge des 1980er Putsches entstanden sei, zum Guten zu verändern, brauche es einen breiten Diskurs. Ein neuer Weg zu einer neuen Verfassung müsse gefunden werden. Es gab bei diesem Referendum sehr ungleiche Bedingungen: Die mediale Präsenz derer, die die Änderungen ablehnten, wurde sehr stark eingeschränkt. Im Fernsehen waren 90 Prozent der Sendezeit dem Präsidenten und seiner Partei vorbehalten, die CHP, die mit Nein stimmte, bekam als Alibi für das demokratische Vorgehen zehn Prozent der Sendezeit. Die HDP als drittgrößte im Parlament vertretene Partei sei öffentlich nicht zu sehen und zu hören gewesen. Ihre wichtigsten VertreterInnen waren im Gefängnis. Deshalb sind die Abgeord-

NEIN-KAMPAGNE IN KIZILTEPE 37


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„Es ist eine viel schlimmere Zeit als 1980“: Im Gespräch mit Sezgin Tanrikulu Dr. Nesmil Ghassemlou

In der CHP müsse er ständig sowohl die Belange der türkischen Bevölkerung berücksichtigen als auch die Rechte der kurdischen Bevölkerung im Auge behalten – sich also im wahrsten Sinne des Wortes so einsetzen, dass Frieden geschehen könne.

Den prominenten kurdischen Menschenrechtler und Parlamentsabgeordneten Sezgin Tanrikulu besuchen wir am 23. März 2017 in seiner Kanzlei in Diyarbakir. Seit 2011 ist er als Abgeordneter für die CHP, die größte Oppositionspartei in der Türkei. Danach wurde er Vorsitzender der parlamentarischen Menschenrechtskommission. In den 90er Jahren war er lange Zeit Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer in Diyarbakir und es gab viele Verfahren gegen ihn. Er zeigt uns als erstes eine Anzeige „Freiheit für Deniz Yücel“ von deutschen Journalisten in der Zeitung Cumhuriyet und erzählt: „Es ist eine viel schlimmere Zeit als 1980, als der Militärputsch geschah“. Damals seien die Gerichte noch unabhängiger gewesen. „Es gab auch viele Menschenrechtsverletzungen – aber eben auch die Medien, die darüber berichtet haben. Jetzt sind die freien Medien verboten. Damals schämten sich die Verantwortlichen, wenn sie als Folterer bezeichnet wurden. Jetzt kümmern sie sich weder um Menschenrechte noch um europäische Werte. Früher wurden die Dörfer zerstört, nun werden Städte zerstört.“ Sezgin Tanrikulu steht bei öffentlichem Auftreten unter hohem Druck, weil er immer wieder bedroht wird. Nicht sein Name steht auf dem Rechtsanwaltsschild, sondern der eines Verwandten. Er steht unter Polizeischutz. Seine Immunität als Abgeordneter wurde in Bezug auf drei Anklagepunkte aufgehoben. Er ist wegen „Terrorismus“ sowie wegen Präsidenten- und Ministerbeleidigung angeklagt. Ihm wird Beleidigung des Innenministers vorgeworfen, weil er diesem eine Frage wegen Folter gestellt hatte.

MUSTAFA KEMAL PASCHA (ATATÜRK) 1923 Auf die Frage, ob sich die CHP, die nach dem Putsch 1980 an der Regierung war und damals sehr viele Menschenrechtsverletzungen gegen die KurdInnen begangen hat, sich denn entschuldigt habe, meinte er, sie hätten zugegeben, dass vieles damals falsch war. Allerdings seien die Politiker von damals schon lange weg. Es gebe jetzt eine neue Generation von Abgeordneten in der CHP, die diese Dinge anders sähen.

Erdogan sei kein Demokrat, das sei ihm schon 2008 klar geworden, als er als Vertreter der Rechtsanwaltskammer beim Präsidenten eingeladen war und dieser wegen der Menschenrechte keine Meinungsverschiedenheit duldete. Auf die Frage, warum er in dier CHP und nicht in die HDP eingetreten sei, sagt er, er wollte vor allem einer großen Oppositionspartei angehören und habe auch die CHP beeinflusst, sich bei der Wahl zurückzuhalten, um der neuen Oppositionspartei HDP die Möglichkeit zu geben, die Zehn-Prozent-Hürde zu schaffen. Das heißt, die CHP hat indirekt empfohlen, in den kurdischen Gebieten die HDP zu wählen.

Ich fragte ihn, wie er es finde, dass die Porträts von Kemal Atatürk sowohl aus den Restaurants als auch aus öffentlichen Gebäuden verschwunden sind. Statt zu antworten, hat er gelacht. Man muss wissen, dass die CHP eine Partei ist, die sich in der Nachfolge Atatürks sieht. Es war ein sehr anregendes Gespräch. 38


BERICHT 2017

Kinder im Gefängnis: Das Jugendstrafrecht in der Türkei Eva Klippenstein

Dürfen Kinder mit Gefängnis bestraft werden – beispielsweise weil sie Steine werfen? Die Frage löst Grusel aus, genauso wie der Ausdruck Kinderstrafgericht (Çocuk Ceza Mahkemesi) oder Kindergefängnis (Çocuk Tutuk Evi), wenn man nicht berücksichtigt, dass im türkischen Strafrecht und Strafgesetzbuch1 Jugendliche und Heranwachsende grundsätzlich als „Kinder“ bezeichnet werden, die Strafmündigkeit von 12- bis 18-jährigen Jugendlichen jedoch vom jeweiligen Entwicklungsstand abhängig gemacht wird.2

ermessen, welche soziale Dynamik von einer so stark wachsenden jungen Bevölkerung ausgeht, die nur über sehr bescheidene Erwartungen in die Sicherung ihrer eigenen wirtschaftlichen Existenz verfügt. In seinem Buch „Kind sein im türkischen Knast“ (Türkieye‘de Çocuk Mahpus Olmak) begreift Alper Yalcın die institutionalisierte Gewalt als herrschendes Prinzip der Innen- und Gesellschaftspolitik und beschreibt den im Vergleich zum bestehenden Bevölkerungswachstum überproportionalen Anstieg der Häftlingszahlen in den vergangenen Jahren – und zwar noch vor den Ereignissen vom 15. Juli 2016.

Dennoch ist bedenklich, dass Begriffe wie Resozialisierung, sozialtherapeutische und sozialpädagogische Beratung und Betreuung zumindest im rechtlichen Diskurs als weniger relevant hervortreten. Sanktionen bestimmen vielmehr die beherrschenden Reaktionen auf abweichendes Verhalten und treten allzu oft als manifeste, staatlich legitimierte Repression in Erscheinung. Dabei muss das Phänomen der Kinder- und Jugendkriminalität in der Türkei heute vor der Folie der langen sozialen und politischen Auseinandersetzungen gesehen werden, die die türkische Gesellschaft gespalten und besonders in der kurdischen Region eine Kultur der Repression herbeigeführt hat. Diese Kultur scheint seit Generationen manifest und es scheint, dass kommende Generationen von ihr geprägt werden. Wenn also Kinder ‚zum Schutz vor Angriffen‘ in ihren Straßen Schützengräben ausheben, um mit Steinschleudern gegen militärisch übermächtige Armee- und Polizeikräfte vorzugehen, kann man darüber streiten, ob sie dies aus eigener Erfahrung rechtlicher und sozialer Ausgrenzung tun, ob es kollektive soziale Handlungen sind oder – fremdbestimmte – Rekrutierung: In jedem Fall handeln sie unter sozialem Zwang. Bei der aktuellen Auseinandersetzung in den kurdischen Regionen darf nicht außer Acht bleiben, welche Dynamik von der demografischen Entwicklung ausgeht. Ein Drittel der EinwohnerInnen von Sur ist weniger als 20 Jahre alt.3 Wenn man aber bedenkt, dass der Anteil der Analphabeten an der über 15-jährigen Bevölkerung in Diyarbakir mit 27% fast dreimal so hoch ist wie im türkischen Durchschnitt, kann man 1 2

DIYARBAKIR, GEFÄNGNIS TYP F Er beschreibt die Erweiterung der Haftplätze um 40.000 zwischen 2010 und 2015 und erwähnt den im April 2016 veröffentlichten Plan des Justizministeriums zum Bau weiterer Häuser sowie zur kontinuierlichen Erweiterung der Haftplätze um fast 100 Prozent gegenüber 20144.

Türk Ceza Kanunu (TCK) Nr. 5237 v. 26.9.2004 s. Art. 31 TCK

4 39

Die Planungen des Justizministers müssen bereits vor dem Juli 2016,


Fotos: www.bianet.org

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Bis Ende 2017 sollten demnach mehr als 250.000 Haftplätze bereitgestellt werden.5 Gleichzeitig mit dem Neubau großer zentraler Anlagen wurden etliche bestehende kreisnahe, kleinere und ältere Anstalten geschlossen. Dies alles hat zur Folge, dass die räumliche Distanz der Häftlinge von ihren Familien größer wird. Die Auswirkungen sind nicht nur für Heranwachsende besonders nachteilig, weil Familienbesuche teurer und seltener werden – es gibt auch immer seltener fremde Einblicke in die Haftbedingungen. Im Jugendstrafvollzug findet in erster Linie das „Gesetz über Vollzug von Straf- und Sicherheitsmaßnahmen“ (2014) Anwendung. Es enthält in Art. 11 Abs. 4 die ausdrückliche Verpflichtung zur Ausbildung und Unterrichtung in geeigneten Einrichtungen, in Abs. 2 die Vorschrift, dass Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren gemäß Geschlecht und Entwicklung getrennt in entsprechenden Abteilungen untergebracht werden; dennoch werden Mädchen, wenn es nur wenige gibt, häufig zu den erwachsenen Frauen verfrachtet, wo sie dann keine Chancen auf Unterricht und Ausbildung haben! Nach Abs. 1 wiederum sollen Jugendliche aus „erzieherischen und disziplinarischen Gründen“ in geschlossene Vollzuganstalten verbracht werden und erforderlichenfalls sollen dort auch Disziplinarstrafen zur Anwendung kommen. Unabhängig davon gilt aber auch für jugendliche Straftäter das Kinderschutzgesetz. Es verbietet u.a. die Fesselung und Knebelung (§ 18) sowie die Verurteilung unter 15-jähriger Kinder zu Gefängnisstrafen über fünf Jahren (§ 21). Diese wenigen Beispiele können zeigen, wie hochgestochene Vorgaben an der Praxis scheitern müssen.

BERÜCHTIGT: KINDERGEFÄNGNIS POZANTI, ADANA Es gibt eine Reihe bekannter und ziemlich berüchtigter Gefängnisse und Strafanstalten in der Türkei: Buca (Izmir), Maltepe (Istanbul), Sincan (Ankara), Pozanti (Adana), Elaziğ, Kayseri, Antalya u.a. Eine schon im Jahr 2009 gegründete Arbeitsgruppe von Abgeordneten der Großen Türkischen Nationalversammlung, die sogenannte Gürsey-Kommission, die in den Folgejahren verschiedene Gefängnisse und Erziehungsheime (Eğitimevleri) besuchte, erbrachte Belege für Folter, unmenschliche Behandlung und unerlaubten Freiheitsentzug, die von der Presse aufgegriffen wurden. Immer öfter erschienen Berichte über Selbstschädigung und Selbstmordversuche von Jugendlichen, z.B. durch Verschlucken von Waschpulver oder von zerstückelten Teelöffeln, Brandstiftung, Vergewaltigung durch Mitgefangene usw. Seit 2009 sind insgesamt 15 Selbstmorde von unter 18-jährigen Jugendlichen bekannt geworden, zwei weitere Todesfälle durch Brandstiftung in Şırnak sind, wegen unklarer Ursache, noch nicht dabei. In Wirklichkeit könnte es sogar viel mehr tragische Todesfälle gegeben haben, denn bei den 18- bis 21-jährigen Häftlingen liegt schon die gemeldete Zahl bei erschreckenden 77 Selbstmord- und Todesfällen, ebenfalls bezogen auf die letzten acht Jahre.

dem Herausgabezeitpunkt des Buchs von Yalcın stattgefunden haben – also auch vor dem Putschversuch. 5 Die Internet-Pla�orm Bianet meldete am 28.5.2017 155.000 Verhaftungen hauptsächlich von Militärs, sowie 7.100 Ausschreibungen zur Fahndung! 40


BERICHT 2017

Die zum Tag des Kindes am 27. April 2017 wiederholte Anfrage der Abgeordneten Gamze Akkuş (ebenfalls von der CHP) ergab eine neue Zahl von 2.578. Diese Zunahme wurde von der liberalen Presse aufgegriffen und heftig kritisiert – es ist zu hoffen, dass neue Reformvorschläge eingebracht werden.

Alper Yalcın berichtet in seinem Buch auch über den Besuch der Kinderrechts-Kommission der Anwaltskammer von Izmir im Kinder-und Jugendgefängnis von Aliağa im Frühjahr 2015: Nach Besichtigung u.a. der Freizeiträume betraten wir das „blauen Zimmers“: ein kleines Zimmer, blau gestrichen, ohne Möbel, in der Ecke eine Toilette alla turca. Nach Auskunft der Anstalt werden hier Jugendliche zur Beruhigung höchstens drei Stunden untergebracht. Auf die Frage nach den getrockneten Blutspuren an den Wänden wird erklärt, die Jugendlichen hätten die Einfassung der Toilette zerstört, mit den abgebrochen Zementstücken sich selbst verletzt und mit dem ausgetretenen Blut die Wände beschmiert. Die anschließende Untersuchung der Toilette ergab, dass nur am Rand des Beckens kleine Putzstücke abgebrochen waren, aber keinerlei schar�antige Teile oder Spuren von Zerstörung an der Einrichtung zu finden waren...

In einer Studie zur „Rechtsstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei“ 6 geht Helmut Oberdiek auf die Ereignisse im Zusammenhang mit der sogenannten „Flaggenkrise“ ein, die im Anschluss an die Newrozfeierlichkeiten im Frühjahr 2005 die ganze Türkei betroffen hatte. Mit der Behauptung, Jugendliche hätten die türkische Flagge geschändet, wurde aus den nationalistischen und rechten Kreisen landesweit hetzt. In allen Ecken und Enden der Republik wurden Verdächtigungen publik, die Zeitungen waren voll davon, aber aus den polizeilichen Vernehmungen, Untersuchungen und Gerichtsverfahren, die anschließend im im Nichts endeten, wurde nur eines deutlich: wie gut sich Jugendliche als Projektionsfläche von Missbrauch, politischer Lüge und und radikaler Hetze eignen.

Von diesen und ähnlichen Nachrichten wurde die Öffentlichkeit alarmiert. Die Zeitungen BirGün und Evrensel berichteten, im Parlament gab es verschiedene Anfragen von Parteien. Bereits am 22. Januar 2014 hatte es nach einer Untersuchung der Rechtsverletzungen an Kindern in den Haftanstalten, die sich auf die Kampagne zur Vorbeugung von Folter (CPT, Campain to Prevent Torture) stützte, einen gemeinsamen Aufruf von Zivilorganisationen zur Schließung von Kindergefängnissen gegeben. In dieser Erklärung wird unter Hinweis auf das Internationale Abkommen gegen Folter die Abschaff ung der Kriminalisierung von Kindern gefordert. Die Verbringung von Kindern in Einrichtungen der Strafvollstreckung bedeute Folter, unmenschliche und ehrverletzende Behandlung, heißt es, und wörtlich: „Im Namen der Menschlichkeit rufen wir die Verantwortlichen dazu auf, die Behandlung und ehrverletzende Schande und die großen Schmerzen, die den Kindern zugefügt werden, zu beenden (...)“ Mahmut Toğrul, HDP-Mitglied aus Gaziantep, regte im Februar diesen Jahres eine parlamentarische Unersuchung der Todesfälle von Kindern im Gefängnis an. Filiz Kerestecioğlu, ebenfalls HDP-Mitglied aus İstanbul, beklagte, dass 68 Prozent der unter 18-jährigen Täter innerhalb eines Jahres wieder rückfällig werden. Auch Toğrul erinnerte daran, dass die Gewalterlebnisse in den geschlossenen Einrichtungen zu neuer Delinquenz führen. Im März schloss sich auch Yilmaz Tunç von der AKP an und verlangte eine ständige Parlamentskommission für Kinderrechte. Mehmet Gezer, Mitglied der Gewerkschaft für Gesundheit und soziale Dienste der Werktätigen von Yüksekova, der Zeuge vieler Schandtaten im Namen der Menschlichkeit geworden war, beantragte schon im Mai 2014, die Kindergefängnisse zu schließen. An dieser radikalen Forderung hält er weiterhin fest, während andere Reformer neue Hafthäuser vorschlagen.

JUGENDLICHE IN DIYARBAKIR

Am 16. August 2016 verlangte der Abgeordnete Sezgin Tanrikulu vom Justizminister eine klare Ansage über die Zahl der inhaftierten Jugendlichen und erhielt als Antwort von Minister Bozdağ eine Zahl von 1.752.

6 Helmut Oberdiek, Rechtstaatlichkeit politischer Verfahren in der Türkei, S.130-138 41


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Der Prozess gegen Dr. med. Serdar Küni in Sirnak Ernst-Ludwig Iskenius

Fotos: sendica.org

naler Beobachter an diesem Prozess teil. Daneben fanden sich noch VertreterInnen des Red Cross Center for Tortured Refugees (Schweden), des Norwegischen Helsinki-Komitees, der Physicians for Human Rights (USA), von REDRESS (UK) der War Resisters‘ International Spanien und dem Demokratischen Türkei-Forum aus Deutschland und der europäischen IPPNW ein. Wieder waren zahlreiche UnterstützerInnen aus der Region und der ganzen Türkei, unter anderem auch eine Vertreterin der türkischen Ärztekammer aus Ankara, in Solidarität mit Dr. med. Serdar Küni zu diesem Prozess gekommen. Wie bei all den Prozessen vorher in Sirnak und Istanbul wurden wir von der Menschenrechtsstiftung der Türkei hervorragend begleitet und betreut. Sicherheitsprobleme gab es keine, sieht man von der Überprüfung unserer Papiere an verschiedenen Checkpoints einmal ab. Am Tag vor dem Prozess wurden wir noch zur gegenwärtigen Situation informiert, besuchten das Zentrum der Menschenrechtsstiftung (TIHV) in Cizre, von Dr. Küni gegründet und geleitet. Auch seiner Familie, die große Hoffnung auf unsere Anwesenheit als internationale Vertreter setzte und sich für unser Kommen herzlich bedankte, statteten wir einen kurzen Besuch ab. Für sie war es ermutigend, dass wir aus vielen Ländern abermals angereist waren. Viele Mitglieder der weitverzweigten Familie, u.a. auch seine 16-und 18-jährigen Töchter, nahmen am nächsten Tag an dem Prozess teil.

Bericht vom zweiten Prozesstag am 24. April 2017 Dr. Serdar Küni wirkte als Arzt in Cizre (im Südosten der Türkei) während der 80-tägigen Ausgangssperre zu Beginn des Jahres 2016 im dortigen Gesundheitszentrum und versorgte medizinisch Verwundete, ohne deren Namen an die militärischen Stellen weiterzuleiten. Das wird ihm nun als „Unterstützung von Terroristen“ vorgeworfen. Am 19. Oktober 2016 wurde er verhaftet und des Terrorismus angeklagt. Dr. Serdar Küni war als Präsident der dortigen Ärztekammer und Repräsentant der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) sehr bekannt und beliebt. Der erste Prozesstag endete mit der Fortsetzung seiner Haft.

Sirnak, die verwundete Stadt Bevor wir am 24. April den Prozess beobachteten, fuhren wir gemeinsam in einem Bus durch die Stadt Sirnak. Riesige Flächen der zerstörten Stadtteile sind nun eingeebnet, der Schutt zum größten Teil schon weggefahren, die Flächen vom staatlich eingesetzten Verwalter konfisziert. Die ehemaligen BewohnerInnen der plattgemachten Häuser sind zum größten Teil vertrieben und mussten bei Verwandten in der ganzen Türkei unterkommen. Viele haben ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Kompensationen wurden nach den Worten unserer Begleiter bisher nur in den seltensten Fällen bezahlt. Das äußere Bild dieser

Internationale Solidarität Zum zweiten Prozesstag am 24. April 2017 hatte der Weltärztebund (WMA) die nationalen und internationalen Ärzteorganisationen zur Unterstützung von Dr. Serdar Küni aufgerufen, um seine bedingungslose Freilassung und Freisprechung von diesem absurden Vorwurf zu erreichen. So nahm ich als Vertreter der deutschen IPPNW und in Absprache mit der Bundesärztekammer zum zweiten Mal als internatio42


BERICHT 2017

SERDAR KÜNI, FOTO: TIHV Stadt hat sich völlig verändert, das alte soziale Gefüge der Stadt ist zerstört. Ein riesiges Schild auf einer der freigewordenen Flächen verkündete, dass hier die „neue und glückliche Türkei“ entstehe, unterzeichnet von TOKI, der staatlichen Baugesellschaft, die Aufträge an Erdogan nahestehende Baufirmen vergibt. Somit werden alle Hinweise auf die willkürliche Zerstörung der Stadtteile und die Verbrechen an den Menschen eingeebnet und aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt.

erhalten könne. Trotzdem verurteilte das aus drei Richtern bestehende Gremium Herrn Serdar Küni zu vier Jahren und zwei Monaten Gefängnisstrafe, die allerdings zunächst nicht angetreten werden brauchte. Das Urteil sei noch nicht rechtskräftig, da das Gericht davon ausging, dass die Verteidigung in Revision gehen würde. Ein „Trostpflaster“ war also, dass Dr. Serdar Küni noch am gleichen Abend freikam und zu seiner Familie nach Cizre zurückkehren konnte.

Der Prozessverlauf

Nach dem Prozess fuhren alle Unterstützer zunächst nach Cizre, wo wir in von einer größeren Menge wartender Männern, Frauen und Kindern in seiner Wohnung ausgelassen empfangen wurden. Der Jubel war groß. Viele bedankten sich bei uns für unser Kommen und drückten ihre Freude aus, dass wir uns für diesen „Fall“ interessierten. Zumindest in der kurdischen Stadtgesellschaft von Cizre wurde unsere Anwesenheit als ermutigendes Zeichen empfunden.

Mit zweistündiger Verspätung begann der Prozess in dem schon vertrauten Gerichtsaal, der mit BeobachterInnen völlig überfüllt war. Eine Vertreterin der Menschenrechtsstiftung übersetzte wichtige Passagen im Gerichtsverlauf für uns ins Englische. Die sechs Rechtsanwälte, die Serdar Küni verteidigten, erinnerten daran, dass die Belastungszeugen die Vorwürfe des Staatsanwaltes entkräftet hätten. Am ersten Prozesstag hatten sie ihre, unter Gewalt und Folter erzwungenen Zeugenaussagen widerrufen. Der Einwand des Gerichtes, aus den medizinischen Unterlagen über die Zeugen seien keine Hinweise auf physische Gewalt und Folter an den Zeugen zu entnehmen, wurde durch einen erfahrenen Gerichtsmediziner aus Istanbul fachlich widerlegt. Dieser befand die von der Anklage angeführten medizinischen Unterlagen für unzureichend.

Haftbedingungen Um ein Uhr nachts kam Dr. Serdar Küni dann bei uns vorbei, um sich persönlich zu bedanken. Aus der Nähe sah er viel älter und müder aus als wir ihn im Video im Gerichtssaal, wozu er aus dem Gefängnis von Urfa zugeschaltet wurde, gesehen hatten. Die Strapazen der zermürbenden Bedingungen während seines sechsmonatigen Gefängnisaufenthaltes waren ihm deutlich anzusehen. Trotzdem konnte er noch lachen und genoss offensichtlich, seine Kinder in die Arme schließen zu können. Beeindruckend ist seine innere Haltung, die keinerkei Gram, Zorn oder Wut über das erlittene Unrecht zeigte.

Die Verteidigung forderte darau�in, die „Zeugen“ sollten von unabhängigen Ärzten noch einmal untersucht werden. Auf jeden Fall scheine der Widerruf der Wahrheit zu entsprechen. Weitere Beweise für die Vorwürfe, die Dr. Küni gemacht würden, lägen nicht vor. Darau�in verlas der Staatsanwalt eine Erklärung eines anonymen, nicht anwesenden Zeugen. Da seine Identität nicht freigegeben wurde, konnte er allerdings weder vom Gericht noch von den Rechtsanwälten befragt werden. Diese Aussagen bezogen sich auf Vorgänge, die angeblich 2012, also weit vor dem zeitlichen Rahmen des Prozesses, beobachtet worden seien. Selbst das Gericht äußerte Zweifel, ob diese einzig verbliebene Zeugenaussage die Vorwürfe gegen Serdar Küni aufrecht-

Am nächsten Tag konnten wir ihn noch einmal treffen und er berichtete uns ausführlicher über seine Haftbedingungen. Mit 25 anderen Personen war er in einer Zelle eingesperrt, die eigentlich auf 18 Personen ausgelegt war. Die Überzähligen mussten auf Bänken und improvisierten Schlafplätzen schlafen. Die hygienischen Verhältnisse seien in dem überfüllten Gefängnis unzureichend. Zweimal in der Woche gab es für eine Stunde für alle Zelleninsassen warmes Wasser zum 43


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HERZLICHER EMPFANG DURCH FAMILIE KÜNI

Schlussfolgerungen

Duschen – auf die Minute genau musste die Zeit dafür eingeteilt werden. Intimität gab es überhaupt nicht. Der Lärmpegel war ziemlich hoch. Abends ab 23:00 Uhr wurde das Licht ausgemacht. Er selbst hatte noch eine Taschenlampe zum Lesen – doch viele andere konnten sich gezwungenermaßen nur hinlegen, auch wenn sie nicht richtig schlafen konnten. Dreimal am Tag gab es ausreichendes, aber in der Zusammensetzung sehr einseitiges Essen.

Bevor wir als ProzessbeobachterInnen auseinandergingen, einigten wir uns noch auf eine gemeinsame Erklärung, die in jeden Fall weiter benutzt werden kann. Vertreter der Menschenrechtsstiftung und der Verteidigung von Serdar Küni betonten immer wieder, wie wichtig für sie diese internationale Prozessbeobachtung ist, die ihnen einen gewissen Schutz bietet. Sie drängten uns, in unseren Bemühungen um internationale Aufmerksamkeit nicht nachzulassen, sondern alles darauf anzulegen, den Druck auf die kommende Gerichtsinstanz noch einmal zu erhöhen und das Solidaritätsnetzwerk zu erweitern.

Serdar Küni erzählte, das Schlimmste sei gewesen, dass er nur einmal im Monat seine Familie sehen konnte. Ansonsten sei der Kontakt nur über das Handy gelaufen. Besonders die erste Zeit, als er von seinem schwerkranken Vater nichts erfahren konnte, sei für ihn sehr schmerzlich und sorgenvoll gewesen. Die medizinische Versorgung im Gefängnis sei völlig unzureichend. Ein Arzt und eine Krankenschwester für 850 Insassen seien schon personell zu wenig. In der Regel habe man etwas kompliziertere Erkrankungen nicht behandeln können. Diese kranken Gefängnisinsassen habe man in eine gesonderte Station ins Krankenhaus gebracht, meist in Handschellen. Die Bedingungen dort seien in keiner Weise besser als im Gefängnis. Vor allem der Warteraum sei sehr schmutzig. Viele der kranken Mitgefangenen hätten darauf bestanden, ins Gefängnis zurückverlegt zu werden, weil die Bedingungen im Krankenhaus eher bedrückender und schlechter waren als auf ihren Zellen.

Es geht nicht allein um die Person des unschuldig verfolgten Serdar Küni: Die heilberufliche und besonders die ärztliche Unabhängigkeit in der Behandlung hilfsbedürftiger Patienten steht auf dem Spiel. Das Beispiel Künis macht brennglasartig die furchtbaren Konsequenzen sichtbar, wenn Ärzte gezwungen werden, ihre Schweigepflicht zu brechen. Sie müssen die unterschiedslose Behandlung hilfsbedürftiger Personen aufgeben – weil sie Angst haben, verfolgt zu werden und nicht mehr praktizieren zu dürfen. Hilfsbedürftige Personen können nicht mehr schadlos um medizinische Behandlung nachfragen. Letztlich steht in solchen Konflikt- und Kriegssituation das Recht auf Gesundheit zur Disposition, wenn die grundlegende Pflicht zum medizinischen Handeln zugunsten fremder Interessen geopfert wird. Davon sind nicht nur türkische Heilberufler, sondern auch viele andere in politisch instabilen Konflikt- und Kriegsverhältnissen betroffen oder können sehr schnell in eine ähnliche Situation gebracht werden. Widerstand zur Bewahrung unserer ärztlichen Ethik und bedingungslose Solidarität mit schon betroffenen ärztlichen Kollegen und Kolleginnen ist das Gebot der Stunde. Die verfolgenden Behörden dürfen mit diesem Ansinnen nicht einfach durchkommen.

Wir wurden immer wieder im Gespräch unterbrochen, weil ständig Menschen anriefen, um ihre Freude über seine vorläufige Freilassung auszudrücken. Für mich war das bezeichnend dafür, wie sein Umfeld mit der Familie Küni gelitten und jetzt erneuten Mut gefasst hat. Auch für die Stadtgesellschaft von Cizre war die Inhaftierung ein zusätzlicher Schock – desto mehr Freude löste die vielleicht nur vorübergehende Freilassung aus der Haft aus. Das war allenthalben zu spüren.

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BERICHT 2017

Was ist zu tun?

Postskriptum

• Jeder, der sich angesprochen fühlt, kann und sollte ein Fax oder einen Brief an das Gericht in Gaziantep schreiben und sich für einen Freispruch einsetzen. Die Adresse des Gerichtes ist Gaziantep regional high court (Gaziantep Bölge Adliye Mahkemesi): Adress: Zeytinli Mah., 79002 Cad. No:5, 27090 Şehitkamil/Gaziantep

• Wer Kontakte hat zu oder Mitglied in internationalen medizinischen Gesellschaften oder Fachorganisationen ist, sollte sich um eine Erklärung zu diesem Fall bemühen. Als Grundlage kann die Erklärung des Weltärztebundes (s.u.) dienen .

In der Zwischenzeit ist einiges passiert. Dr. Küni ist noch frei und erholt sich im Kreis seiner Familie von den Strapazen des sechsmonatigen Gefängnisaufenthaltes. Das Revisionsgericht hat bisher weder einen Beschluss, noch einen Termin für ein neues Anhörungsverfahren festgelegt. Dieser Schwebezustand zehrt natürlich an den Nerven. In der Zwischenzeit ist allerdings eine Solidaritätsbewegung im In- und Ausland entstanden. Die internationale Beobachtergruppe hat eine Bewertung der beiden Prozesstage verfasst, die zur Zeit noch ins Türkische übersetzt wird und dem Gericht in Gaziantep vorgelegt werden soll. Viele hundert Briefe ereichten das Gericht und die politisch Verantwortlichen. Zahlreiche internationale NGOs wandten sich an die türkischen Behörden. Basierend auf der Resolution des Weltärztebundes forderte der deutsche Ärztetag die Bundesregierung auf, sich für Serdar Küni einzusetzen. Die international bekannte Gerichtsmedizinerin Prof. Dr. Sebnem Korur-Fincanci konnte auf dem Deutschen Ärztetag ausführlich über die Situation menschenrechtlich engagierter ÄrztInnen in der Türkei berichten.

• Zur Ermutigung der Kolleginnen und Kollegen kann man natürlich auch Solidaritätsschreiben an die Menschenrechtsstiftung der Türkei schicken. Menschenrechtlich orientierte Heilberufler freuen sich über Unterstützung und Mut machende Aufmerksamkeit. Adressen unter: h�p://en.�hv.org.tr/contact

TIHV hat beim Gericht für schwere Strafen in Sirnak Beschwerde gegen das Urteil eingelegt, die an das Regionalgericht in Gaziantep weitergeleitet wird. Wir müssen nun abwarten, wie der Revisionsprozess in Gaziantep sich gestaltet. Auch dort werden wir gegebenenfalls als BeobachterInnen vor Ort sein.

• Wer weitere internationale Kontakte hat, insbesondere im medizinischen Bereich, sollte auf die grundsätzliche Problematik im Fall von Dr. Serdar Küni aufmerksam machen und zur Verbreiterung des internationalen Solidaritätsnetzwerkes beitragen. Gerade Briefe aus arabischen und muslimisch geprägten Ländern könnten große Wirkung zeigen.

• Falls eine erneute Prozessbeobachtung bei dem Revisonsgericht in Gaziantep möglich ist, ist die Anwesenheit von internationalen Prozessbeobachtern weiterhin dringend erforderlich. Aber auch andere Prozesse von weniger bekannten Personen sollten international begleitet werden. Der Kreis von BeobachterInnen muss sich erweitern, damit sich diese Arbeit auf breitere Schultern verteilt.

Zum Weiterlesen Erklärung des Weltärztebundes „Unterstützung für Serdar Küni“ (auf Englisch): https://www.wma.net/policies-post/cr-kuni Prozessbericht von Ernst-Ludwig Iskenius vom 17. März 2017 https://www.ippnw.de/bit/bericht_iskenius

KONTAKT UND AUFNAHME IN DIE MAILINGLISTE: ERNST-LUDWIG ISKENIUS, iskenius@ippnw.de

Presseerklärung von IPPNW und Connec�on e.V. vom 14. März 2017 https://ippnw.de/bit/prozess-PM Erklärung: Convic�on of good medical prac�ce by the Şırnak Local Court on behalf of Serdar Küni MD is unacceptable, 25. April 2017 http://www.connection-ev.org/article-2472

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Folter, Repression und Vertreibung in der Türkei Offener Brief an die Bundesregieung

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Merkel, sehr geehrter Herr Bundesaußenminister Gabriel, eine Reisegruppe der IPPNW fand im März 2017 in der Türkei, besonders im Südosten, bedrohliche Entwicklungen vor, die sich seitdem weiter verschärft haben: • Folter bei Festnahmen und in Polizeigewahrsam ist an der Tagesordnung und die Täter bleiben straffrei • Zahlreiche, vor allem kurdische BürgermeisterInnen wurden verhaftet ohne Nachweis von Amtsverfehlungen Abgeordnete und weitere PolitikerInnen der HDP, u.a. die Ko-Vorsitzenden, sind seit Monaten im Gefängnis ohne Aussicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren oder Entlassung • ÄrztInnen stehen vor Gericht, weil sie ihrer ethischen Verpflichtung gehorchen, Patienten ohne Ansehen der Person behandelt und die Schweigepflicht eingehalten haben • Zehntausende LehrerInnen, AkademikerInnen, Richter, Staatsanwälte und Angestellte des öffentlichen Dienstes wurden aus politischen Gründen entlassen • Journalisten, die ihre Arbeit gemacht und regierungskritische Artikel geschrieben haben, wurden entlassen und sind zum Teil in Haft. Nahezu alle regierungskritischen Zeitungen und Fernsehsender wurden geschlossen • Zahlreiche Vereine und zivile Gruppen, die sich für die Belange der Bevölkerung und soziale Unterstützung einsetzen, wurden verboten • Alle, die es noch wagen, der Politik der Regierung nicht zuzustimmen, werden massiv eingeschüchtert und verfolgt • Es gibt eine massive Stimmungsmache gegen RegierungskritikerInnen, die so weit geht, dass über politische Themen nicht mehr kontrovers rational diskutiert wird, sondern PolitikerInnen und andere Personen, die nicht die Regierungsmeinung vertreten, verhaftet werden • Der Staat führt Krieg gegen die kurdische Bevölkerung mit dem Ziel, die kurdischen Menschen in ihrer Identität zu vernichten.

Wir fordern Sie auf: • Die türkische Regierung an ihre Verpflichtung zu erinnern, Folter zu unterbinden und die Folterer zu bestrafen • Bei der türkischen Regierung darauf zu dringen, der türkisch-kurdischen Bevölkerung das Recht auf Selbstverwaltung zuzuerkennen und den Friedensdialog weiterzuführen • Waffenlieferungen an den NATO-Partner Türkei zu verbieten, auch Auslagerung von Waffenproduktion in die Türkei, wie es zur Zeit von Rheinmetall mit Panzern geplant wird • Sich für eine internationale Untersuchung der Kriegshandlungen in Cizre und anderswo einzusetzen und eine Anklage wegen der dokumentierten Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof zu fordern (Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf die Anzeige des Vereins für Demokratie und internationales Recht MAF-DAD beim Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof) • Alle aus politischen Gründen Verfolgten, Vertriebenen und Inhaftierten öffentlich zu unterstützen: HDP-Abgeordnete, BürgermeisterInnen und Mitglieder, GewerkschafterInnen, JournalistInnen, ÄrztInnen, FrauenrechtlerInnen, VertreterInnen ziviler Vereine, Personen, die verhaftet wurden unter dem Verdacht, die PKK zu unterstützen ohne gerichtsverwertbare Beweise • Die Kriminalisierung der in Deutschland lebenden Kurden zu beenden und das PKKVerbot aufzuheben. • Ziel aller Bemühungen muss es sein, Schritte zum friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben aller Menschen in der Türkei zu stärken, den einmal begonnenen Friedensprozess wieder zu beleben und Vertrauen, Toleranz und Respekt in der Gesellschaft der Türkei wieder aufzubauen. In großer Sorge und im Auftrag vieler unterdrückter freiheitsliebender Menschen in der Türkei Susanne Grabenhorst, IPPNW-Vorstand Dr. Gisela Penteker, AK Flucht und Asyl 46

Informationen zum Geschehen in der Türkei: UN-Bericht zu den Menschenrechtsverletzungen in Cizre: ippnw.de/bit/un-report „Destruction of the Old City (Suriçi) of Diyarbakır“, S. 109f. in World Heritage Watch Report 2017: villa.org.pl/villa/ wp-content/uploads/2017/06/ WHW-Report-2017.pdf Menschenrechtsstiftung der Türkei TIHV (Englisch) http://en.tihv.org.tr/ IHD, Türkischer Menschenrechtsverein informiert auf Türkisch und Englisch: http://en.ihd.org.tr Civaka Azad e.V. Das kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit gibt verschiedene Infoblätter und Newsletter heraus: www.civaka-azad.org „Infobrief Türkei“ unregelmäßig erscheinendes Informationsmedium zu den politischen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Türkei: infobrief-tuerkei.blogspot.de twitter.com/InfobriefTurkei „Nützliche Nachrichten“, Rundbrief des Dialog-Kreises Türkei: dialogkreis@t-online.de Newsletter des Demokratischen Türkeiforums (DTF) Meldungen aus der türkischen Presse – ins Deutsche und Englische übersetzt: dtf.info@gmail.com Cultural Heritage Damage Assessment Report on Sur, Diyarbakir herausgegeben von der Stadtverwaltung Diyarbakir am 30. März 2016: kurzlink.de/sur-diyarbakir „Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier“, Jürgen Gottschlich, Christoph Links Verlag 2015


BERICHT 2017

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Spenden Spenden für die Vertriebenen in Diyarbakir Die Konten des Hilfsvereins werden durch die Türkei blockiert, deshalb bitten wir, die Spende an die IPPNW zu überweisen. Wir bringen das Geld bei unserem nächsten Besuch persönlich zu den Betroffenen.

Direkts pende: ippnw. de/bit/ direkt- spende IPPNW e.V. S�chwort „Türkei“ IBAN: DE39 1002 0500 0002 2222 10, BIC: BFSWDE33BER – Bank für Sozialwirtscha� Berlin Diese Spende ist nicht steuerlich absetzbar.

Sarmaşik-Efeu Europa e.V. Gegen Armut und für nachhaltige Entwicklung: Der Verein hilft Betroffenen in der Region und organisiert Stipendien für Kinder und Jugendliche. Sarmaşik-Efeu Europa e.V. IBAN: DE89 3055 0000 0093 349884 BIC: WELADEDNXXX Sparkasse Neuss

www.sarmasik-efeu.de Kinder in Kiziltepe

„Spenden für die Ausgebombten“ medico interna�onal S�chwort: „Kurdistan“ IBAN: DE21 5005 0201 0000 0018 00 BIC: HELADEF1822 Frankfurter Sparkasse

Delegationsreise Türkei – März 2017 © IPPNW e.V. / Juni 2017

Diesen Reisebericht können Sie im IPPNWShop bestellen: shop.ippnw.de Online-Version unter: www.issuu.com/ippnw

Zur Delega�onsleitung: Dr. Gisela Penteker ist Allgemeinärztin i.R. in Otterndorf an der Nordsee und seit 1983 Mitglied der IPPNW. Seit 18 Jahren führt sie gemeinsam mit dem Dipl.-Sozialpädagogen Mehmet Bayval aus Frankfurt (Main) Delegationsreisen in die Türkei/Kurdistan durch.

Layout: IPPNW e.V. / Regine Ratke Titelfoto: Gisela Penteker

TeilnehmerInnen der Reise und AutorInnen des Berichts: Barbara Bodechtel, Brigitte Gärtner-Coulibaly, Ernst-Ludwig Iskenius, Eva Klippenstein, Friederike Speitling, Friedrich Vetter, Gisela Penteker, Johanna Adickes, Nesmil Ghassemlou, Henry Stahl. Ahmet Ereb Elik unterstützte die Gruppe als Dolmetscher.

Bestellmöglichkeit unter shop.ippnw.de oder in der IPPNW-Geschäftsstelle:

Endredak�on: Dr. Gisela Penteker, Regine Ratke, Angelika Wilmen

Körtestraße 10 | 10967 Berlin Tel.: +49 (0) 30 – 69 80 74 – 0 Fax:  +49 (0) 30 – 683 81 66 ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de

© IPPNW e.V., Juni 2017 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung möglich.

IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.


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