amatom25 Herausgegeben von der IPPNW Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung | Ausgabe 2013 | Spende 1 Euro
ein Magazin von kritischen Medizinstudierenden
IPPNW
Medizinische Versorgung - ein Menschenrecht
Themen: Der „andere“ Patient | Hirntod | Fukushima | Endlagergesetz| Medical Peace Work | IPPNW aktiv | und vieles mehr...
Inhalt 1 4
Editorial Schon der Titel „Endlagersuchgesetz“ ist faul
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Wie tot sind Hirntote? Lebende Blutkonserven
Denn nur wer sucht, der findet.
Massenmord an Kindern
11 Ein Tag in der Kellerpraxis 12 Gesetzlich vorgeschriebene unterlassene Hilfeleistung?
Medizinische (Akut-)Versorgung für Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus
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Moderne Sklaverei und Gewalt gegen Migrantinnen „Heimat-Geschichten und Bilder von Menschen auf der Flucht“ Medizinstudium und Weiterbildung Umdenken aus Empörung Warum Kant etwas zur Gesundheit beitragen kann Medical Peace Work Krieg und Frieden im Studienalltag
21 Studigruppe Münster 22 Studigruppe Erlangen
AG Medizin und Menschenrechte
23 Famulieren und Engagieren im Sommer 2012 Ärzte in sozialer Verantwortung
24 Brücken der Verständigung
Eine kurze Geschichte des Würzburger Projekts
25 Internationaler IPPNW-Studierendenkongress in Japan 26 IPPNW Balkan-Treffen in Mostar Bosnien und Herzegovina 2012
27 IPPNW Nigeria
The Journey of the Aiming for Prevention (AFP) Campaign so far
28 Jenin
Filmproduktion und Theaterpädagogik im nördlichen Westjordanland
29 Die Kontraste des Heiligen Landes Eindrücke aus Israel und Palästina
31 Ansprechpartner und Kontaktadressen IPPNW-Lokalgruppen an fast allen Unis
Impressum Redaktion: Ewald Feige (Berlin), Juwita Hübner (Hannover), Svea Kleiner (Hannover), Svenja Langenberg (Hannover), Katharina Thilke (Münster), Timothy Moore-Schmeil (Göttingen), Ursula Völker (Tübingen), Thu Huong Vu (Hannover), Beatrice Wichert (Hamburg). Anschrift: der amatom, c/o IPPNW, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Tel. 030/698 074-0, Fax 030/6938166, e-mail: kontakt@ippnw.de. Verleger: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V., Körtestraße 10, 10967 Berlin. Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, Kto-Nr. 2222210, BLZ 10020500 Gestaltung und Satz: Juwita Hübner, Thu Huong Vu. Druck: H&P Druck, Berlin. Auflage: 6000, erscheint jährlich, für studentische Mitglieder der IPPNW kostenlos. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. V.i.S.d.P.: Ewald Feige
Editorial
Editorial Ein kleines Gedankenspiel zum Jenseits: Bei der Suche nach einem Titelthema für die diesjährige Amatomausgabe ist es uns begegnet: Arbeitsmigrantinnen finden sich in einer Lebenswirklichkeit jenseits aller Versprechen wieder. Weiterbildung jenseits des klinischen Alltags, Wohnungslose jenseits normaler Wartezimmer, Flüchtlingskinder jenseits medizinischer Versorgung, Fukushima mit einem Krisenmanagement jenseits von Gut und Böse – und dann gab es da noch den Hirntod… Plötzlich sahen wir uns mit einer der grundlegenden Menschheitsfragen konfrontiert. Wie sieht das Jenseits aus, wie fühlt es sich an und wo zum Teufel steckt es? Wie sollten wir mit der alttestamentarischen Verantwortung für ein solch existenzielles Thema zurechtkommen? Nach unzähligen Kontroversen möchten wir euch folgendes Gleichnis mit auf den Weg geben: Die Wüste der medizinischen Unterversorgung ist von den alltäglichen Pfaden aus nicht immer sichtbar. Auf Erden wandelnd, muss man die Augen schon offen halten, um die Menschen am Wegesrand nicht zu übersehen. Es gibt sie auch im entwickelten Deutschland! Und abschließend noch folgendes: Erstmal im Jenseits angekommen, ist es verdammt schwierig den Weg zurück zu finden!
Dr. Amatom und die Redaktion
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Vorsicht, Strahlung!
Biologin: Mütter sollten Fukushima verlassen
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s ist ruhig um die Katastrophe von Fukushima geworden, Informationen bekommt nur wer danach sucht, die Folgen scheinen eher harmlos zu sein. Nun ist es ja nicht so, dass die Leute wie beim Atombombenabwurf sofort tot umfallen oder auch schwere sichtbare Verletzungen aufzeigen. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht bekannt wäre, dass Strahlung zwar in unterschiedlichen Stufen, aber doch absehbar gesundheitliche Schäden verursacht. Insbesondere sind Erbschäden, sowie als erstes Schilddrüsenkrebs bei Kindern zu befürchten. Und gerade dafür gibt es nun deutliche Anzeichen. Von Ewald Feige
In der verstrahlten Zone um das havarierte AKW Fukushima Daiichi fand ein japanisches Forscherteam schockierende Mutationen bei Schmetterlingen. Die Biologin Chiyo Nahara fordert angesichts der Ergebnisse die Mütter von Fukushima auf, das Gebiet zu verlassen. „Keiner kann die Risiken abschätzen und nichts lässt sich rückgängig machen“, sagt die Forscherin in einem Bericht der ARDTagesthemen. „Ich möchte nicht, dass die Mütter in Fukushima später bereuen, dass sie dort geblieben sind.“ Nahara gehört zu einem Wissenschaftlerteam der Universität Okinawa, das bei zahlreichen Schmetterlingen auch außerhalb der Sperrzone um das zerstörte Atomkraftwerk Fukushima Daiichi strahlungsbedingte Mutationen nachgewiesen hat: Die Bläulinge, die einen kurzen Lebenszyklus haben und sensibel auf Umweltveränderungen reagieren, weisen stark verformte Flügel, Fühler und Beine auf.
Schilddrüsenkrebs sein können, der erste Fall wurde bereits entdeckt.
August die Präfektur Fukushima besucht. Die Expertengruppe forderte Maßnahmen, die die Sicherheit und Gesundheit der Menschen in den kontaminierten Gebieten an erste Stelle setzen. „Bedauerliche Fehlinformationen sind verbreitet worden, auch von erfahrenen Experten und in Materialien für den Schulunterricht, die Risiken ionisierender Strahlung herunterspielen. Der korrumpierende Einfluss der japanischen Atomlobby ist weitreichend. Die Bereitstellung korrekter, unabhängiger, rechtzeitiger öffentlicher Informationen ist essenziell“, heißt es in der Erklärung. Die IPPNW-Ärztin Angelika Claußen, die im August nach dem IPPNW-Weltkongress die Präfektur Fukushima besuchte, berichtete von Strahlung weit über den zulässigen Grenzwerten auch außerhalb der Sperrzone – und forderte eine Ausweitung der medizinischen Forschung nach dem Reaktorunglück.
Wer sich weiter über dieses Thema informieren möchte, kann den IPPNWFukushima-Newsletter auf der Homepage www.ippnw.de abonnieren, auf dieser Seite gibt es auch weitere Informationen und mutierter Schmetterling Berichte dazu. Eine Delegation von dreißig IPPNWÄrzten, Medizinstudenten und Experten aus Deutschland, den Vereinigten Staaten, Kanada, Großbritannien, Finnland, Israel, Indien, Neuseeland und Australien hat im
Die Wissenschaftler warnen zwar davor, die Ergebnisse direkt auf den Menschen zu übertragen. Dennoch muss auch das Risiko niedriger Strahlung angesichts der extremen Ewald Feige Reaktion der Natur um den IPPNW-Geschäftsstelle Katastrophenreaktor neu eingeschätzt werden. Der unabhängige Informationsdienst zu Radioaktivität, Strahlung und Gesundheit berichtet in der Oktoberausgabe des Strahlentelex von zunehmend festgestellten Knoten und Zysten in den Schilddrüsen japanischer Kinder, ein deutlicher Hinweis, dass dies Vorzeichen vom Reaktorgebäude im 4. Stock von Block 4 am 10.06.2011 Foto: TEPCO
Vorsicht, Strahlung!
Vom Verlust unabhängiger Forschungsarbeit der WHO Die Resolution WHA 12-40
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ie Weltgesundheitsorganisation? ...Eine den Vereinten Nationen unterstellte Behörde mit der Mission, allen Völkern zum bestmöglichen Gesundheitszustand zu verhelfen. Dazu gehört, die Länder darin zu unterstützen, „ihre eigene Gesundheitspolitik, ihr eigenes Gesundheitssystem und ihre eigenen Gesundheitsprogramme zu entwickeln, gesundheitliche Gefährdungen zu verhüten und zu überwinden, künftigen Herausforderungen vorausschauend zu begegnen und engagiert für die öffentliche Gesundheit einzutreten.“, heißt es in ihren eigens definierten Zielen. Was jedes ideell geprägte Medizinerherz höher schlagen lässt, bleibt de facto seit mehr als 53 Jahren ein ungehaltenes Versprechen. Von Svenja Langenberg
Im Mai 1959, auf ihrer 12. Versammlung, gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ihre primäre Verantwortung für atomare Forschungsprojekte und deren freie Veröffentlichung an die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) in der Resolution WHA 12-40 ab. Die Kooperation zwischen beiden Behörden wird dort folgendermaßen statuiert: „it is recognized by the WHO that the IAEA has the primary responsibility for encouraging, assisting and co-ordinating research on, and development and practical application of atomic energy (...)“. Zwar wird der WHO das Recht zugestanden, sich dem internationalen gesundheitlichen Fortschritt in allen Aspekten zu widmen und ihn zu fördern. Doch relativiert sich diese Aussage durch die Regelung, dass Vorhaben, die von erheblichem Interesse für die jeweils andere Organisation sein könnten, nur in gegenseitigem Einverständnis von WHO und IAEA realisiert werden sollen. Es ist wie eine Parodie – die IAEA, die in ihrer Zielsetzung „die Beschleunigung und die Förderung der Atomindustrie“ proklamiert, und die WHO, die als aufklärende, gesundheitsfördernde Instanz agiert, sollen in gemeinsamem Einverständnis handeln? Eine Vereinbarung, die Konfliktpotenzial birgt. Wie ist es möglich, dass sich seit über fünf Jahrzehnten trotzdem kaum eine öffentliche Debatte entfacht über diesen paradoxen Zusammenschluss?
Die im Abkommen zwischen beiden Behörden beschriebene Übereinkunft, „dass es notwendig sein könnte, restriktive Maßnahmen zu treffen, um den vertraulichen Charakter gewisser ausgetauschter Informationen zu wahren“ eröffnet der IAEA die Möglichkeit, kritische Berichterstattungen durch die WHO zu blockieren und den öffentlichen Diskurs gezielt zu beeinflussen. Das systematische Einbehalten von Informationen hat sich damit als wirksames Mittel gegen widersprüchliche Veröffentlichungen bewährt. Ein eindringliches Beispiel dafür ist die Unterdrückung von Studienergebnissen aus Tschernobyl, die extrem hohe Opferzahlen und genetische Langzeitschäden wie erhöhte Krebsraten in Gebieten nahe des Unfallreaktors belegen. Um die gesundheitlichen Risiken der Katastrophe zu eruieren, wurden zwei UN-Konferenzen explizit diesem Thema gewidmet – 1995 in Genf und 2001 in Kiew. Deren Protokolle sind jedoch bis heute nicht einsehbar. Lediglich eine Zusammenfassung der Berichte sowie zwölf von mehreren hundert der in Genf eingereichten Redemanuskripte sind der Öffentlichkeit zugänglich. Im Gegensatz dazu verkündete die IAEA zum 20.Jahrestag von Tschernobyl in einer Pressemitteilung, die Mehrheit der Todesfälle von Tschernobyl sei natürlicher Ursache: „Confusion about the impact of Chernobyl on mortality has arisen owing to the fact that, in the years since 1986, thousands of emergency and recovery operation workers
as well as people who lived in ‘contaminated’ territories have died of diverse natural causes that are not attributable to radiation.“ In derselben Erklärung gibt die IAEA eine Opferzahl von 56 Toten und maximal 4000 zusätzlichen Krebsfällen an. Die eklatante Abweichung dieser Angaben von epidemiologischen Studien internationaler Wissenschaftler, die eine drastische Erhöhung von Krebserkrankungen sowie Todesopferzahlen in weit höheren Größenordnungen schätzen, ist erschreckend. Das Herunterspielen von Auswirkungen des radioaktiven Fallouts durch die IAEA verstößt gegen das Recht der Menschen auf ehrliche Aufklärung und Information und kann zu einer gefährlich reduzierten Risikoeinschätzung in der Bevölkerung führen, zumal sich Spätfolgen erst in kommenden Generationen zeigen werden. Gleichzeitig versagt die WHO in ihrer Funktion als Behörde für gesundheitliche Aufklärung. Sie unterstützt damit indirekt Pläne von Regierungen, die aus ökonomischen Beweggründen ein Interesse an der Verharmlosung des Strahlenrisikos in Katastrophengebieten haben (zum Beispiel zu hoch angesetzte Grenzwerte und zu knapp definierte Evakuierungszonen). Als es am 11. März 2011 in drei Reaktoren des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi zur katastrophalen Kernschmelze kam, hätte die WHO endlich ihre eigens definierten Ziele vertreten und der japanischen Bevölkerung unabhängige Dokumentation, fachkundliche gesundheitliche Richtlinien und Schutz im Sinne angemessener Forderung zu Evakuierungszonen garantieren müssen. Doch der ein Jahr nach dem Unglück veröffentlichte WHO-Bericht suggeriert Svenja Langenberg erneut scheinbare Sicher- 8. Semester heit: Im größten Teil der Hannover Präfektur Fukushima sowie im Rest Japans und in den benachbarten Ländern seien keine über dem Grenzwert liegenden Strahlenbelastungen gemessen worden. In Fukushima hätten die geschätzten Werte mit Ausnahme der zwei stärker betroffenen Ortschaften unter zehn Millisievert gelegen. Die WHO setzt ihren IAEA-konformen Kurs ungehemmt fort.
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Vorsicht, Strahlung!
Schon der Titel „Endlagersuchgesetz“ ist faul Denn nur wer sucht, der findet.
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uch wenn das letzte Atomkraftwerk abgeschaltet wird, müssen wir uns noch Gedanken darüber machen, wie wir den vorhandenen verstrahlten Müll noch zig Milliarden Jahre sicher lagern können. Ein Endlager gibt es weltweit noch nicht, nur Erkundungslager, wie z.B. in Gorleben. Von Ewald Feige
Obwohl eine sichere Lagerung in solch langen Zeiträumen fragwürdig erscheint, sollte aber die bestmögliche Lösung gefunden werden. Damit hatte es die Atomlobby bisher aber nicht eilig, langfristig wird es ohnehin eine aus Steuergeldern öffentliche Aufgabe sein. Nach dem letzten Atomausstiegsbeschluss der Regierung sollte nun ein überparteilicher Konsens über ein Endlagersuchgesetz gefasst werden. Diese Gespräche sind bisher vertraulich geführt worden und sind nun offensichtlich zum Stillstand gekommen. Streitpunkt ist unter anderem die Frage, ob eine ergebnisoffene Suche möglich ist, wenn der Standort Gorleben nicht ausgeschlossen wird. Die Bürgerinitiative Lüchow-Dannenberg (BI) befürchtet, dass die schon deutlich gewordene Untauglichkeit des Lagers aus Kostengründen ignoriert wird, da dieses Lager nun schon einmal besteht. Hoffnungen, dass bei einer ergebnisoffenen Suche Gorleben dann ohnehin ausscheiden würde, werden daher von der BI nicht geteilt. Daher bietet die BI nun auf ihrer Homepage eine Zusammenstellung von Fakten, Meinungen und Landkarten, die den Hintergrund der Debatte beleuchten, die bisher allein von den Spitzen der CDU, Grünen und SPD geführt wird. Gorleben wurde zum Beispiel als Endlagerstandort nicht ausgesucht, es wurde „gesetzt“. Der Salzstock war geologisch Ewald Feige gesehen „dritte Wahl“, IPPNW-Geschäftsstelle aber der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) beschloss allen Warnungen zum Trotz, diesen Standort für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ zu wählen. Über 1,6 Milliarden Euro wurden für den Ausbau des Berg-
werks bereits ausgegeben. In Sichtweite zu dem Gelände entstand mit der Castor-Halle, einer Pilot-Konditionierungsanlage und dem Fasslager eine nukleare Infrastruktur: „Deshalb glaubt niemand mehr, dass das Endlagergesetz, das bisher zwischen Regierung und den Oppositionsparteien SPD und Grünen ausgehandelt wird, eine Kehrtwende bringt, solange an Gorleben in irgendeiner Form festgehalten wird“, so der BI-Sprecher Wolfgang Ehmke. Die BI fordert den Bruch mit dem Gorleben-Gemauschel, den Rückbau der Anlage und einen Castor-Stopp. Stattdessen müsse eine umfassende Atommülldebatte geführt werden, bevor ein Gesetz wieder zu vollendeten Tatsachen führt. Die BI listet eine Vielzahl von Kritikpunkten an dem bisherigen Gesetzentwurf auf: • Eine verwaltungsrechtliche Überprüfung, ob eine Entscheidung richtig, sorgfältig und nach Stand von Wissenschaft und Technik getroffen wurde, ist dem Gesetz zufolge nicht mehr möglich. Künftig wäre nur noch eine Verfassungsklage möglich, die die inhaltlichen Mängel nicht mehr überprüft. • Das Endlagersuchgesetz soll verabschiedet werden, bevor die wesentlichen Fragen zur Endlagerung wie Rückholbarkeit, Bergbarkeit, Behälter- oder behälterlose Lagerung, geologische Mehrfachbarrieren, überhaupt öffentlich diskutiert und beantwortet sind. Das Gesetz soll also eine Suche regeln, von der man noch gar nicht weiß, wonach überhaupt gesucht wird. • In der Präambel gibt das Gesetz zwar vor, den „bestmöglichen“ Standort zu suchen, im Paragraphen zur Standortentscheidung kommt diese Formulierung jedoch einfach nicht mehr vor. • Auf das jeweilige Atomrecht wird nicht mehr Bezug genommen. • Bisherige Grundlage einer Suche sollen die „Sicherheitsanforderungen“ von 2010
sein. Diese sind jedoch überhaupt nicht in Geltung und darüber hinaus über Jahre sukzessive an die in Gorleben vorgefundenen schlechten geologischen Verhältnisse angepasst worden. • Die letzte Entscheidung wird auf den deutschen Bundestag übertragen. Diesem lägen als Entscheidungsgrundlage aber nur die Fakten eines neuen „Endlagerinstitutes“ vor. Weder diese Entscheidungsgrundlagen, noch der Bundestagsentscheid wären damit verwaltungsrechtlich überprüfbar. • Es bliebe nur die Verfassungsklage, mit wenig Aussicht auf Erfolg und ohne die Überprüfung des Verfahrens, auf die es ja letztlich ankommt. • Realistisch betrachtet käme ein Endlager somit nicht dorthin, wo es am sichersten wäre, sondern dorthin, wo sich die wenigsten Wählerstimmen finden. • Bei der Standortentscheidung sind „private und öffentliche Interessen“ zu berücksichtigen. Eigentlich eine ganz normale und gesetzlich vorgeschriebene Formulierung, in diesem Fall bedeuten diese Interessen jedoch die von den Atomkonzernen und dem Staat in Gorleben (oder später einem anderen Standort) bereits geschaffenen Fakten und investierten Milliarden. • Dem bzw. der „gewöhnlichen“ Bundestagsabgeordneten, die über dieses Gesetz demnächst zu entscheiden haben, sind wenig bis gar keine dieser Hintergrundfakten bekannt. • Bei der Schaffung eines neuen Bundesinstituts geht es weniger um strukturelle Überlegungen, als vielmehr darum, bestimmte Personen aus dem Spiel zu halten und gegen andere auszutauschen. • An der Zuständigkeit bestimmter Institutionen, die für das Desaster der Asse mit verantwortlich sind und immer auch auf Gorleben gesetzt haben, wird durch das Gesetz nichts geändert. • Die Zuständigkeit der Länder, bzw. des Landes, in dem ein Endlager errichtet werden soll, als Genehmigungsbehörde wird kurzerhand auf den Bund übertragen. Somit kann auch auf dieser Ebene eine Überprüfung der Sorgfalt und Richtigkeit des Verfahrens nicht mehr erfolgen. www.bi-luechow-dannenberg.de
Ethik in der Medizin
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Wie tot sind Hirntote?
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ie Diagnose Hirntod soll das heutige Konzept vom Tod des Menschen sein. Das einzig Sichere im Leben ist keine Tatsache mehr, sondern eine Frage der Definition, eine juristische Kategorie. Hirntod ist ein willkürlich eingeführter Begriff, der erst nötig wurde, als durch moderne Technik das Versagen des Gehirns von dem des Herzens entkoppelt werden konnte. Er dient dem legitimen Behandlungsabbruch in der Intensivmedizin. Und der Organtransplantation. Von Maria Mann
Heute liegen neue wissenschaftliche Erkenntnisse vor: Das Hirntod-Konzept ist nicht mehr zu halten. Es muss viel Aufklärung nachgeholt werden: die der Ärzte genauso wie die aller Menschen in der Gesellschaft, um die es geht.
Etwas Geschichte – Wo kommen wir her
Vor der Erfindung der Herzlungenmaschine im Jahr 1952 galt der irreversible Kreislaufstillstand als Kriterium des Todes. Dieser ist für jeden begreifbar. Nach einem länger dauernden Kreislaufstillstand ist kein integriertes Funktionieren der Systeme des Organismus mehr möglich, und es setzt eine unaufhaltsame Desintegration aller Teilsysteme einschließlich des Gehirns ein, bis zum Zerfall des Organismus. Mit der Einführung von künstlicher Beatmung und Intensivmedizin konnte der HerzKreislauf-Stillstand rückgängig gemacht werden und die Gesellschaft wurde mit Menschen konfrontiert, bei denen während eines vorübergehenden Kreislaufstillstands das empfindlichste Organ – das Gehirn – abgestorben war, während die inneren Organe sich erholten und der Körper in einem vegetativen Zustand weiter lebte. Als Christiaan Barnard 1967 die erste Mensch-zu-Mensch-Herztransplantation durchführte, wurde es noch als Tötung angesehen, einem Patienten ein funktionierendes Herz zu entnehmen. Da der Technologie Organtransplantation bis heute Tausende Menschen ihr Überleben verdanken, besteht ein medizinisches und gesellschaftliches Interesse daran, den Tod so früh wie möglich festzustellen. Das Individuum muss schon als tot gelten, die Organe müssen aber noch leben. Denn nur in diesem Zustand sind sie nutzbar. Doch
das Leben als höchstes Gut ist juristisch gut geschützt. Der neue Kunstgriff brauchte Rechtssicherheit und ein neues Kriterium des Todes wurde erforderlich. Das Ad Hoc Committee of the Harvard Medical School to Examine the Definition of Brain Death erarbeitete eine neue Definition des Todes, die sog. neurologische Todesdefinition. Die zentralen Punkte daraus: Wer sich im irreversiblen Koma (später Hirntod) befinde, sei tot. Die Merkmale dieses Zustandes seien (1) keine Rezeptivität und Reaktivität, (2) keine spontanen Bewegungen und Atmung, (3) keine Reflexe und (4) flaches Elektroenzephalogramm. Das Komitee hielt diese neue Todesdefinition für notwendig, weil erstens die Belastung durch nicht mehr zu rettende, künstlich beatmete Patienten sehr hoch sei (anfangs diente diese Definition nur für den Abbruch aussichtsloser Behandlungen). Zweitens führten „obsolete Kriterien für die Todesdefinition zu einer Kontroverse über die Beschaffung von Transplantationsorganen“. 1981 nahmen die meisten US-Staaten eine offizielle Todesdefinition in ihre Gesetze auf, den Uniform Determination of Death Act. In Deutschland gibt es keine solche gesetzliche Referenz. 1992 entstand eine öffentliche Diskussion um die Trennung von Leben und Tod, als in Erlangen zum ersten Mal eine junge Frau im irreversiblen Koma künstlich am Leben erhalten wurde, um ihre Schwangerschaft fortzuführen (vgl. „Erlanger Baby“). 1997 endete diese Debatte mit der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes (TPG).
Hirntod-Diagnostik und ihr rechtlicher Rahmen
Nach §3 des deutschen TPG ist die Organentnahme unzulässig, wenn nicht „der endgültige, nicht behebbare Ausfall der Ge-
samtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach Verfahrensregeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist“. Laut Abschnitt 5 hat die Bundesärztekammer Kriterien zur Hirntoddiagnostik festzulegen und in Richtlinien zur Feststellung des Todes umzusetzen. Das bedeutet, dass eine Standesvereinigung die Hoheit über die Todesdefinition hat. Ein juristisch und gesellschaftlich so relevantes Thema sollte besser dem Gesetzgeber, etwa dem Bundesministerium für Gesundheit, unterliegen. Einen Deutschen Ethikrat (ein Gremium des Gesetzgebers) gibt es auch noch. Bei uns gelten die 1998 festgelegten Richtlinien für die Feststellung des Hirntodes: Zwei Ärzte, die voneinander und von dem Team der Organentnahme unabhängig sein sollen, führen die Diagnostik durch. Im ersten Schritt ist zu prüfen, welche Art von Hirnschädigung vorliegt, und bestimmte Befunde sind auszuschließen. Zweitens müssen Koma, Areflexie und Atemstillstand festgestellt werden. Zuletzt ist die IrreversiApnoe-Test: für die Feststellung des Hirntodes obligatorisch. Ein zentraler Atemstillstand liegt vor, wenn bei bisher gesunden Menschen bei einem paCO2 > 60 mmHg keine Eigenatmung einsetzt.
bilität der Hirnschädigung festzustellen. Apparative Diagnostik ist dafür nur bei Kindern bis zwei Jahren sowie bei primärer Schädigung in der hinteren Schädelgrube vorgeschrieben. Andernfalls reicht eine Beobachtungszeit von 12 bis 72 Stunden, danach muss der zweite Schritt wiederholt werden. Die BÄK legt Maria Mann explizit fest: „Der Hirntod Dresden, 11. Semester kann in jeder Intensivstation auch ohne ergänzende apparative Diagnostik festgestellt werden.“ Der Nachweis des zerebralen Zirkulationsstillstandes kann den Beobachtungszeitraum ersetzen und somit die Beatmungszeit verkürzen, in der die Organe eines potentiellen Spenders Schaden nehmen könnten.
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Ethik in der Medizin
Tod als Prozess
Was für ein Zustand ist der Hirntod?
Funktionelle Bildgebung: Messung der Hirnaktivität bei Koma-Patienten
Juristen und jene, die Organspende als einen Eingriff nach dem Tod verstehbar Bei künstlicher Beatmung funktioniemachen wollen, sehen den Tod als punktren Herz und Kreislauf selbständig. Einige förmiges Ereignis. Biologisch ist das Ende künstlich beatmete Hirntote zeigen noch Zu den möglichen Diagnostikmethoden, des Lebens aber genauso ein Prozess wie körperliche Integration: Sie halten ihre Hodie den zerebralen Blutfluss oder die elekder sein Anfang. Am Lebensanfang wird möostase durch endokrine und kardiovastrische Hirnaktivität messen, gehören EEG, diskutiert, ob das Leben mit dem Eintritt kuläre Funktionen aufrecht, regulieren selbzerebrale Kontrast-Angiographie (beide in des Spermiums in die Eizelle beginnt, mit ständig ihre Körpertemperatur, bekämpfen Deutschland am häufigsten verwendet – deren Zellkernverletztere könnte das schmelzung, mit der Gehirn jedoch selbst Einnistung in die Geschädigen), die Mesbärmutter, mit der Entsungen somatosenwicklung des Nervensorisch evozierter Posystems oder mit der tentiale, transkranieller Geburt. Die Grenze ist Dopplerultraschall und bekanntlich umstritten Radionuklid-Methoden und politisch brisant. wie SPECT (SingleAuch das Sterben ist Photon Emission Comein gradueller Proputed Tomography), zess, der im Gegenwelche nach einer satz zur Entstehung Studie am besten für eines Lebewesens die Hirntoddiagnostik ganz unterschiedlich geeignet ist. Im Gelange dauern kann. Klarheit besteht bei der gensatz zu wirklich toten Gehirnen zeigen Infektionen (u. a. durch Fieber) und Verleterstarrten, erkalteten Leiche. Schließlich die von Patienten im vegetativen Zustand zungen, reagieren auf Schmerzreize mit Kabesteht Begriffsverwirrung, weil der Tod einoch kortikale Stoffwechselaktivität. techolamin- und Blutdruckanstieg (auch bei gentlich der unendlich andauernde Zustand Die von der Bundesärztekammer vorgeder Organentnahme ohne Narkose), proist. Der Knackpunkt ist also der Moment, in schriebene Diagnostik erfasst nur Teilbeduzieren Exkremente und scheiden diese dem das Sterben beendet ist und der Tod reiche des Gehirns: Die klinische Diagnostik aus. Hirntote Kinder wachsen und setzen beginnt und für den es trauntersucht nur Hirnstammditionell in keiner Kultur Funktionen, nicht die einen Namen gibt. Internationaler Vergleich: Nach einem aktuellen Review gibt es in 70 von von Kortex, Klein- und Aktuell gibt es ver- 80 betrachteten Staaten Praxisrichtlinien zur Hirntoddiagnostik. 55 von 80 Mittelhirn. Man geht daschiedene Theorien zum Staaten haben Gesetze zur Organtransplantation. Vor allem in Afrika und von aus, dass sie abgeTod des Menschen, wie im Mittleren Osten haben viele Länder keine Hirntod-Richtlinien, auch Chi- storben sind, wenn der den Organismus- oder na nicht. Es bestehen zahlreiche Unterschiede zwischen den Richtlinien zur Hirnstamm abgestorben Herz-Kreislauftod ver- Hirntoddiagnostik verschiedener Staaten bezüglich der Grenzwerte für die ist. Das Null-Linien-EEG sus den Hirnstammtod. diagnostischen Tests (z. B. zum Pupillenreflex, zur Apnoe und zur Kerntempe- ist anfällig für Störungen Die Kortex- oder higher ratur), die Zahl der untersuchenden Ärzte, die Durchführung des Apnoe-Tests, aus der Umgebung, brain functions-Todes- den Beobachtungszeitraum, sowie Bedingungen für apparative Diagnostik. die Befunde der Doppdefinition unterscheidet lersonografie gelten als in dualistischer Weise Untersucher-abhängig. zwischen der Person und dem Organismus, Selbst wenn ein EEG eingesetzt wird, wird ggf. ihre Geschlechtsentwicklung fort. Hirnfür die es zwei Arten von Tod gebe: Der (1) dadurch nicht das gesamte Gehirn untertote Schwangere können die SchwangerTod des Organismus sei demnach mit dem sucht, sondern zusätzlich nur die obersten schaft über Monate aufrecht erhalten; bis Tod des Hirnstamms gegeben, da dieser Kortexschichten. In Großbritannien, Polen 2003 wurden zehn erfolgreiche Schwandas integrierte Funktionieren des gesamten und Indien gilt das Hirnstammtodkriterium: gerschaften von Hirntoten dokumentiert. Organismus gewährleist. Der (2) Tod der Es wird nicht nach Kortexaktivität gesucht, Die Annahme, dass nach dem Hirntod unPerson trete mit dem Tod des Kortex ein, die im totalen locked-in-Syndrom aber vormittelbar und notwendig der Herzstillstand da dieser Bewusstsein und mentale Aktivität handen ist. und die körperliche Deintegration eintreten, hervorbringe. Nach dieser Position könnten Die klinische und die apparative Hirntodist durch ca. 175 dokumentierte Fälle (bis Menschen im dauerhaften Koma sowie diagnostik führen häufig zu unterschied1998) von „chronischem Hirntod“ widerlegt anenzephalische Neugeborene als Organlichen Ergebnissen, nach einer Studie in worden, in denen zwischen Hirntod und spender verwendet werden, denn da sie 11 % der Fälle. Die American Academy of Herzstillstand mindestens eine Woche und keine Personen mehr seien sondern eher Neurology stellte 2010 fest, die Protokolle bis zu 14 Jahre lagen. „human vegetables“, sei ihre Tötung nicht zur Feststellung des Hirntodes basierten auf verwerflicher als das Töten einer Pflanze. Expertenmeinungen, aber nicht auf Evidenz im wissenschaftlichen Sinne.
Ethik in der Medizin
gehalten werden kann. Alle beschriebenen Patienten wurden wieder gesund.
So geht’s nicht weiter
Prozentualer Anteil von moderaten bis schweren neuronalen ischämischen Veränderungen bei 41 Autopsien von hirntoten Patienten. Neuronenverlust moderat: 5 bis 75 %, schwer: > 75 %
Feststellung von Bewusstsein bei einigen Koma-Patienten
In einem sehr bekannten Experiment wurden irreversibel komatöse Patienten (sind per Definition bewusstlos, können nicht sehen, hören, ihre Umwelt wahrnehmen oder verstehen) im fMRT untersucht, während sie gebeten wurden sich vorzustellen, sie spielten Tennis. Bei einigen dieser KomaPatienten konnten Owen et al. Gehirnaktivitäten aufzeichnen, die denen gesunder Kontrollpersonen entsprachen. Das Gleiche galt für die Aufgabe, gedanklich durch die eigene Wohnung zu gehen, also räumliche Vorstellung. Diese Koma-Patienten konnten also Sprache verstehen, waren in der Lage, den Anweisungen des Arztes zu folgen und ihre Fähigkeit zur Visualisierung war intakt. In einem weiteren Experiment wurden einigen dieser Patienten Ja-Nein-Fragen gestellt. Wollten sie Ja sagen, sollten sie sich Bewegung vorstellen, wollten sie Nein antworten, einen bekannten Raum. Ein Patient konnte auf diese Weise fünf Fragen richtig beantworten. Eine andere fMRT-Studie an Patienten im minimalen Bewusstseinszustand zeigt, dass deren kortikale Antworten auf gesprochene Sprache und Berührungen sich kaum von denen gesunder Kontrollpersonen unterscheiden. Wijdicks et al. machten neuropathologische Untersuchungen an Gehirnen von Hirntoten kurz nach deren Herz-KreislaufStillstand. Sie suchten nach tatsächlich toten Neuronen.
Klinische Berichte über Beinahe-Fehldiagnosen des Hirntods
Fehldiagnosen des Todes werden nicht in Fachzeitschriften publiziert, aber einige Fälle von „Hirntod-Mimikry“. Deren Ursachen waren Pestizidvergiftung, Baclofen-Überdosen und in über 20 Fällen ein fulminantes Guillian-Barré-Syndrom. Letzteres ist vor allem bei vorangehender Kopfverletzung mit dem Hirntod zu verwechseln, weil diese für die Ursache der hirntodartigen Symptome
„Mit der Rechtfertigung des Hirntods als Tod des Menschen verhält es sich wie mit der des zweiten Golfkriegs. Die zunächst angeführten Gründe stellten sich rückblickend als falsch heraus.“ (Stephan Sahm in „Hirntod – Ist die Organspende noch zu retten?“, FAZ) Der President’s Council on Bioethics (das USA-Pendant zum Deutschen Ethikrat) hat 2008 ein Papier “Controversies in the Determination of Death” publiziert. Danach sind die Hauptthesen, mit denen die Hirntodtheorie begründet wurde, empirisch widerlegt: (1) Das Gehirn ist NICHT notwendig für die somatische Integration (das organisierte Zusammenspiel der Körperfunktionen). (2) Der Tod des Organismus als Ganzer ist NICHT zeitlich und kausal mit dem Hirntod verbunden. Er weist die Definition des Todes als bloßes soziales oder juristisches Konstrukt zurück, ebenso wie das Konzept von zwei Toden (Tod der Person und Tod des Organismus). Er stellt sogar fest: „A diagnosis of total brain failure, when leading to a pronouncement of death, is a self-fulfilling prophecy.“ Während sich der President’s Council nun aber mit einer philosophischen Neude-
lichen Entscheidung – und einer ethischen und gesellschaftlichen Debatte“. Vielleicht ist der fortschrittliche Segen der Organtransplantation unserer Gesellschaft ja diesen Kompromiss wert. Und: faktisch ist genau das der Stand der Dinge. Durch Nichteingreifen in die aktuelle Praxis der Organentnahme aus lebenden Körpern gestattet der Gesetzgeber sie. 2. Verbot der Organentnahme aus hirntoten Patienten Soll am absoluten Tötungsverbot festgehalten werden, wäre die Organexplantation nur noch zu erlauben, wenn Hirntod und Herzstillstand nachgewiesen sind (Donation after Cardiac Death method, DCD). Es würden weniger Organe und vor allem keine Herzen mehr zur Transplantation zur Verfügung stehen. Dies ist das klassische Todeskonzept. Hans Jonas, Philosoph und Nobelpreisträger, plädierte, da wir die exakte Grenze zwischen Leben und Tod nicht kennen, im Zweifel für den Koma-Patienten, und warnte davor, das Hirntod-Kriterium in den Dienst der Organbeschaffung zu stellen. Der Therapieabbruch bei hirntoten Patienten sei gerechtfertigt, wenn er dem Interesse des Patienten selbst diene, aber nicht für fremdnützige Zwecke. Woher könnten Spendeorgane zukünftig kommen?
Guillain-Barré-Syndrom: eine „idiopathische Immunoneuropathie“, ein akut auftretendes Erkrankungsbild des peripheren Nervensystems mit entzündlichen Veränderungen und Demyelinisierung vor allem der Nervenwurzeln (Polyneuropathie). Es können auch Hirnnerven und das vegetative NS betroffen sein. Klinisch zeigen sich Sensibilitätsausfälle, vegetative Dysregulation bis hin zu Arrhythmien und Lähmungen bis zum Atemstillstand, der mit Beatmung überbrückt werden kann. Der Verlauf kann sehr unterschiedlich sein, das GBS entwickelt sich über Tage und kann Monate andauern. Die Prognose ist gut, in 20% d.F. bleiben neurologische Ausfälle bestehen. Die genaue Ursache ist unbekannt, es werden vor allem vorangegangene Infektionen und Impfungen als Auslöser vermutet. Die Therapie beruht auf Immunglobulinen und Plasmapherese, ansonsten ist sie symptomatisch. finition des lebenden Organismus an einer effektiven Neuorientierung vorbei drückt, bleiben zwei reale Richtungen: 1. Abschaffung der Tote-Spender-Regel (lebensnotwendige Organe dürfen nur aus Toten entnommen werden; Dead Donor Rule, DDR): Dieter Birnbacher, Philosoph und Mitglied der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, fordert, die ToteSpender-Regel aufzugeben, doch „wenn hirntote Patienten als lebend anerkannt würden und dennoch die zum Tod führende Organentnahme aus ihnen legalisiert werden sollte, bedürfte dies einer höchstrichter-
Fast nur ein Brainstorming: Wenn es keine Möglichkeit gäbe, einer Organspendepflicht zu widersprechen, wären Organe verordnungsfähig wie ein Medikament. – Mit der Non-brain ante-mortem ECMO (Extracorporate Membrane Oxygenation) wird kaum zwei Minuten nach dem Herzstillstand mit der Entnahme des Herzens begonnen, wenn der Kreislaufstillstand prinzipiell noch reversibel wäre. – In Belgien sind bis 2009 vier Fälle von Organspende-Euthanasie vorgekommen. Euthanasie ist dort auch aufgrund psychiatrischer Krankheiten ausdrücklich erlaubt. – In Japan gilt von Staats wegen grundsätzlich die klassische To-
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Ethik in der Medizin
desdefinition, aber jeder kann sein Todeskonzept selbst wählen. – Wer auf seinem Organspendeausweis Nein angekreuzt hat, hat auch in Deutschland für sich die klassische Todesdefinition gewählt.
Organspende und die Rolle der DSO
Die Deutsche Stiftung Organspende ist nach dem TPG mit der Koordination von Organspenden beauftragt. Sie hat als private Organisation eine Aufgabe von gewaltigem ethischem Gewicht mitten im öffentlichen Gesundheitswesen – während sich das Gesundheitsministerium heraushält. Die DSO behauptet, die Öffentlichkeit über Organspende aufzuklären. Doch schon auf dem Organspendeausweis steht: „Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/ Geweben zur Transplantation in Frage kommt, erkläre ich…“. Das ist eine Lüge. Sie funktioniert nur noch innerhalb der DSO, die auf ihrer Website so über den Hirntod aufklärt: „Das Gehirn ist übergeordnetes Steuerorgan aller elementaren Lebensvorgänge. Mit seinem Tod ist auch der Mensch in seiner Ganzheit gestorben.“
Aufklärung und Transparenz Kampagnen, die uns im Namen der Nächstenliebe drängen, unsere Organe zu spenden, verstehen Aufklärung als geschickte Werbung. Auf der Suche nach Informationen bei diesen Missionaren wird unter dem Punkt „Wie läuft eine Organspende ab?“ die Logistik beschrieben, aber nicht der atmende, warme Mensch im IntensivBett, nicht das Blutbad auf dem OP-Tisch oder dass die Prozedur am Spender an das Ausschlachten eines Autos erinnert, nicht, dass zur Hornhauttransplantation die ganzen Augäpfel entnommen werden und dass es um weit mehr Gewebe als die („vermittlungspflichtigen“ [TPG]) soliden inneren Organe geht. Die Angst, es werde nicht alles für einen getan, bevor man zum Organspender erklärt wird, die Angst vor Schmerzen, die natürliche und gesunde Sorge um den eigenen lebenden Körper, wird nicht ernst genommen. Wer hat nicht schon gehört: „Was willst
du denn mit deinen Organen, wenn du eh tot bist“? Zwei unabhängige Ärzte wüssten doch, was sie tun.
Akquisition von Organen „Wir […] begleiten Angehörige bei ihrer Entscheidung zur Organspende.“, sagt die DSO und schickt Gesprächspartner in die Kliniken, wo sie mit ihrem Satzungsziel, möglichst viele Spenderorgane zu erwirken, auf trauernde Angehörige in einer katastrophalen Situation treffen. Wenn der Sterbende seinen Willen nicht ausdrücklich erklärt hat, muss dieser Nächste in seinem Sinne entscheiden. Angesichts der schlechten Vorbildung und der emotionalen Situation kann so ein Aufklärungsgespräch
nur manipulativ ablaufen. Überredetwerden fühlt sich für eine Zeit lang wie Großherzigkeit an. Viele dieser Angehörigen, die Organe freigegeben haben, fühlen sich später schuldig und würden nie wieder so entscheiden. Einige von ihnen engagieren sich für eine kritische Aufklärung in Vereinen und Internetportalen wie Initiative-KAO.de und transplantation-information.de. Doch auf Kritik reagiert die DSO pikiert: Als es vor einem Jahr im Hygienemuseum in Dresden eine Veranstaltungsreihe zu Organspende gab, war die DSO nicht unter den Veranstaltern – das Ganze war ihr zu kontrovers. Übrigens: wer auch ein großes Interesse an Organtransplantation hat, ist die Pharmaindustrie. Immunsuppressive Therapie mit Ciclosporin kostet fast 14 Euro am Tag.
Redet Klartext! Der moralische Druck in der Öffentlichkeit ist enorm (und) ärgerlich. In Laienmedien heißt es in etwa: „Täglich sterben Menschen, weil sie kein Spenderorgan erhal-
ten.“ Die einseitige Propaganda beginnt mit dem Verschweigen einer simplen Tatsache: Die Wartenden sterben nicht, weil ihnen keiner sein Organ gibt, sondern weil sie krank sind. Organe sind keine normale Therapieoption, die man nachproduziert wie Hüftgelenke aus Titan. Organe sind ein Geschenk, deshalb heißt es ja auch Organspende. Niemand hat ein Recht auf ein Geschenk, niemand hat moralisches Anrecht auf meine Organe. Nächstenliebe ist eine sehr viel ältere Erfindung als Organspende. Wer Organe dankbar annehmen würde, wenn er nur mit ihnen weiterleben könnte, der sollte sicherlich an das Prinzip des Gebens und Nehmens denken. Wie wäre es, den Erhalt von Spenderorganen an die Bedingung zu knüpfen, dass man sich selbst zur Organspende bereit erklärt hat? Wir (angehenden) Ärzte sollten uns solide informieren und versuchen, uns eine Meinung zu bilden, denn wir haben eine wichtige Rolle in der Aufklärung. Außerdem könnten wir selbst mit der Situation konfrontiert werden, in der wir im Namen anderer Patienten auf Wartelisten um Spende von Organen bitten sollen – ein Szenario, das ich mir nicht mehr vorstellen kann. Sabine Müller hat beim IPPNW-Studitreffen 2011 in Dresden den Vortrag „Revival der Hirntod-Debatte“ gehalten. Sie kennt viele Ärzte, die das Hirntod-Konzept ablehnen. Ärzte sind für die DSO das Hauptübel in der Gewinnung von Spenderorganen, weil sie potentielle Organspener nicht melden. Das ist passiver Widerstand. Zum Weiterlesen und Quellen: Owen et al., Detecting awareness in the vegetative state. Science. 2006 Wie tot sind Hirntote? Alte Fragen, neue Antworten – Sabine Müller in APuZ 20–21/2011, Bundeszentrale für politische Bildung. Entspricht in weiten Teilen den Folien zum Vortrag „Revival der Hirntod-Debatte“ von Sabine Müller am 5.11.2011 in Dresden Tot? – Johannes Hoff und Jürgen in der Schnitten, die Zeit 13.11.1992 Seema K. Shah und Franklin Miller: Can we handle the truth? Legal fictions in the determination of death. American Journal of Law and Medicine 2010 Ralf Stoecker, Ein Plädoyer für die Reanimation der Hirntoddebatte in Deutschland; in: D. Preuß et al. (Hg.), Körperteile - Körper teilen, Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Beiheft 8/2009, 41,52. Online abrufbar unter www.aerzte-fuer-das-leben.de Christian Schüle, Wann ist ein Mensch tot? Die Zeit, 04. April 2012
Ethik in der Medizin
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Lebende Blutkonserven Massenmord an Kindern
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as Maximilian-Kolbe-Werk lädt seit 1978 jedes Jahr KZ- und Ghetto-Überlebende aus Osteuropa zu einem Begegnungs- und Erholungsurlaub nach Deutschland ein. Durch Zuwendung, Zuhören, Anerkennen des „Opferstatus“ soll den Betroffenen geholfen werden, über die damals erlittenen, kaum beschreibbaren Schrecknisse zu sprechen und sie so vielleicht besser ertragen zu können. Von Helga Kohne und Winfrid Eisenberg
Mitarbeiter des Maximilian-Kolbe-Werks haben 2007 erstmals von dem ehemaligen Kinderheim Sokolniki bei Charkow in der Ukraine gehört. 2008 wurden dann zusammen mit sechs Holocaust-Überlebenden auch fünf ehemalige Sokolniki-Heimkinder nach Berlin eingeladen. Die Lebensgeschichten der KZ-Opfer waren entsetzlich, doch bei den Berichten aus Sokolniki stockte den Zuhörern der Atem. Die Vorgänge in Kinderheimen, die in unmittelbarer Nachbarschaft deutscher Lazarette eingerichtet wurden, sind weitgehend unbekannt geblieben. Es gab solche Kinderheim-Lazarett-Verknüpfungen in Makejewka und Sokolniki (Ukraine), Taganrog (Russland), Potolice (Polen), Salaspils (Lettland), Kretinga (Litauen) und an mehreren Orten in Weißrussland: Krashnyi Berek, Luchitsy, Skobrovka, Paritschi u.a. Insgesamt sind 17 derartige Lager bekannt.
Was geschah dort? Im Dokument 514-1-168 des Stadtarchivs Taganrog findet sich auf S. 128 folgende Eintragung: „Die Waisenkinder von Taganrog und allen anderen besetzten Orten Russlands wurden vom 4. Lebensjahr an in die großen deutschen Lazarette gebracht, wo sie regelmäßig Blut abgeben mussten,
Sokolniki: Heimkinder
damit schwer verletzte deutsche Soldaten überleben konnten.“ Nikolai Kalaschnikow, ein Überlebender des Sokolniki-Kinderheims, erzählte bei seinem Besuch in Berlin: „Unser Vater war an der Front verschollen; nach dem Tod unserer Mutter und der jüngeren Geschwister brachte man meine kleinere Schwester Wera und mich im Winter 41/42 in das Waisenkinderheim Sokolniki. Ich war damals neun Jahre alt. Der Winter war kalt, minus 40 Grad, das Heim war nicht geheizt. Es waren Hunderte von Kindern da. Wir mussten versuchen, uns gegenseitig zu wärmen. Zu essen gab es fast nichts. --- Immer wenn ein Auto des Deutschen Roten Kreuzes in Sicht war, rannten wir in den Wald, um uns zu verstecken. Diese Flucht gelang aber nur wenigen. Wer in das Auto hinein gezerrt wurde, dem wurde der Arm abgebunden, kurz desinfiziert und eine große Spritze angesetzt. Uns wurde Blut abgenommen, bis wir ohnmächtig zu Boden sanken. Wer überlebte, bekam Saccharin-Bröckchen, ein Stück Brot und Wasser. Wer nach diesen Prozeduren nicht wieder zu sich kam, um den war es geschehen. Die leblosen Körper wurden in den Keller gebracht und mit Schnee bedeckt. Danach transportierte man sie in den Wald, um sie dort zu verscharren.“ Oft wurde auch die Direktübertragung praktiziert. Eine Frau schilderte, dass man sie zu einem Soldaten ins Lazarett brachte und dass ihr Blut dann direkt von Vene zu Vene floss. Der Soldat habe sie gestreichelt, und für einen Moment sei sie glücklich gewesen, weil sie vielleicht sein Leben rettete. Nicht alle Opfer waren Waisenkinder. Die Überle-
benden berichteten, dass z.B. ganze Familien verdächtigt wurden, Partisanen zu sein. Man sperrte die Eltern in Lager und brachte die Kinder in die deutschen Lazarette, wo ihr Blut dringend benötigt wurde. Andere Kinder wurden einfach von zu Hause entführt. Das Blut der Kinder war begehrt, es galt als frisch und gesund. Vielen Kindern wurde in kurzen Abständen mehrfach Blut abgenommen, in der Regel einmal pro Woche, bei seltenen Blutgruppen auch zweimal pro Woche. Die NS-Rassenideologie war außer Kraft gesetzt (s. Anhang). In Sokolniki starben jeden Monat ungefähr 100 Kinder. Fast täglich kamen neue dazu, deren Los bald das gleiche war. Von ca. 2000 Kindern, denen dort Blut geraubt wurde, überlebten 56 – diejenigen, die sich im Heim befanden, als die Rote Armee im August 1943 Sakolniki erreichte. Eine Vorstellung von der Größenordnung des Blutraub-Verbrechens ergibt sich, wenn wir die Zahlen von Sokolniki auf die 17 „Einrichtungen“ dieser Art hochrechnen. Die Überlebenden litten darunter, nichts über den Krieg und über ihre schrecklichen Erlebnisse sagen zu dürfen. Nikolai Kalaschnikow: „Die Kinder wurden unter Stalin geächtet, weil sie den Deutschen ihr Blut gespendet und damit zum Überleben vieler Soldaten, besonders von Offizieren, beigetragen hatten.“ Man behandelte die Kinder wie Kollaborateure. „Wir fühlten uns wie Verräter und man redete uns das auch ein. Wir mussten nach all dem erlittenen Leid nun noch Diskriminierungen und viele Benachteiligungen hinnehmen.“ Erst unter Gorbatschow – Glasnost und Perestroika – wurde es möglich, über die Leidenszeit und die Qualen der erzwungenen „Blutspenden“ zu sprechen. Aber es ist sehr schwer und schmerzlich, Helga Kohne die traumatischen Erinne- Soziologin in der politischen Erwachsenen rungen wach zu rufen und bildung, Herford dem verdrängten Schrecken Worte zu geben. Aber wenn es gelingt, wirkt es wie eine Therapie. Es leben nicht mehr viele der Blutraub-Opfer; umso wichtiger ist es, ihnen aufmerksam zuzuhören, um vielleicht ein wenig mehr Licht in das Dunkel
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Ethik in der Medizin
dieser ungeheuerlichen Nazi-Verbrechen zu bringen. „Wir müssen die Erinnerung an historisch beispiellose Verbrechen gegen die Menschlichkeit für zukünftige Generationen wach halten“ (Bundespräsident Wulff bei seiner Antrittsrede 2010). Zum Schluss eine Frage: Ist angesichts der Schwere der Verbrechen eine Wiedergutmachung denkbar? Ich glaube nicht. Aber eine Entschädigung wäre wohl angebracht. Sie würde zumindest den Opferstatus anerkennen und wäre vielleicht ein Stück weit Genugtuung.
Ergänzungen von Dr. Winfrid Eisenberg
1) DRK: Helga Kohne hat versucht, etwas über die Beteiligung des Deutschen Roten Kreuzes am Blutraub zu erfahren. Eine entsprechende Anfrage wurde vom DRKArchiv bzw. vom Internationalen Suchdienst (ITS) in Bad Arolsen beantwortet: „Leider sind im Archiv des DRK-Generalsekretariats keine Unterlagen erhalten, die über die in der Ukraine erzwungenen Blutspenden von Kindern Auskunft geben könnten. Dies gilt sowohl für das Schriftgut als auch für das Fotomaterial. … Das DRK hat selbst erst im April 2008 von diesem Verbrechen erfahren. ...“ Es folgte der Hinweis auf den bei einer ITS-Veranstaltung in Bad Arolsen gehaltenen Vortrag von Vincent C. Frank-Steiner. Dessen reichhaltige Informationen finden sich unter dem Titel „Vampire Camps of the Wehrmacht“ im Internet (s. Quellenangaben). 2) SS-„Rassenamt“: Anmerkungen zur Diskrepanz zwischen der nationalsozialistischen Rassenideologie und der Transfusion „slawischen“ Blutes für deutsche Soldaten, vornehmlich Offiziere und Piloten der Luftwaffe: Himmler mit seinem „SSWinfrid Eisenberg Rassenamt“ war für alle Dr. med., Kinderarzt „Rassenfragen“ zuständig. Herford Danach war slawisches Untermenschenblut für Arier verboten. Die Militärmedizin unterstand aber nicht der SS, sondern der Wehrmacht. Den Wehrmachtsärzten war es offenbar wichtiger, ihre Patienten zu retten und schnellstmöglich wieder dienstfähig zu machen, als sich den Rassegesetzen unterzuordnen. Allerdings musste ihr Vorgehen geheim bleiben; deshalb gab es in diesem Zusam-
menhang keine schriftlichen Anweisungen, Berichte oder andere Aufzeichnungen. So verwundert es auch nicht, dass sich beim DRK kein entsprechendes „Schriftgut“ findet. Die strikte Geheimhaltung ist auch der Grund dafür, dass bis zur Perestroika nichts und bis heute immer noch nur wenig bekannt geworden ist. Zur ideologischen „Entlastung“ der Militärmediziner diente die Vorstellung, dass die schlechten Eigenschaften des Blutes „minderwertiger Rassen“ bei Kindern noch nicht ausgebildet seien. Deshalb achtete man streng darauf, dass die Kinder sich noch nicht in der Pubertät befanden. Die Überzeugung „je jünger desto besser“ führte dazu, dass schon Vierjährigen Blut geraubt wurde; die Altersgrenze nach oben lag „unter 14“. 3) Transfusionswesen im WK II: Es war schon lange bekannt, dass man die Blutgerinnung mit Natriumcitrat verhindern kann, aber es fehlte die Möglichkeit, Blutkonserven über lange Zeit haltbar zu machen. So konnten die deutschen Militärmediziner die erforderlichen Blutkonserven in Frontnähe nicht vorhalten. Man war auf die Direktspende oder die Übertragung schnellstmöglich nach der Entnahme angewiesen. In großem Umfang wurde die Direktspende von Soldat zu Soldat praktiziert. Aber das schwächte die Spender und beeinträchtigte ihre Einsatzbereitschaft. Zudem stieg der Bedarf aufgrund des bekannten Kriegsverlaufs ab 1940/41 kontinuierlich an. Erwachsene Einwohner der besetzten Länder kamen wegen der Rassegesetze nicht als Spender für deutsche Soldaten in Betracht. So missbrauchte man die Kinder als lebende Blutbanken. 4) Kinderärztliche Überlegungen und physiologische Daten: Kinder im Alter von 4 Jahren wiegen durchschnittlich 16 kg, mit 6 Jahren 20kg, mit 8 Jahren 25kg und mit 10 Jahren 30kg. Diese Maße beziehen sich auf normal entwickelte, gut ernährte Kinder. Bei mangelernährten oder hungernden Kindern müssen die Maße entsprechend reduziert werden. Gewichtsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen sind in diesem Alter gering. 4 – 6-jährige Kinder haben 80 ml Blut pro kg Körpergewicht, 7 – 10-jährige 75 ml/kg. Demnach haben 4-jährige Kinder 16 x 80 = 1280 ml Blut, 6-jährige 1600 ml, 10-jährige 2250 ml. Bei akuten Blutungen, z.B. durch Unfälle oder Nachblutungen nach Operationen, gilt ein Verlust von 30 % des Blutvolumens als akut lebensbedrohlich. Für ein 4-jähriges Kind wäre diese Grenze mit 384 ml erreicht,
IPPNW-Kongress Medizin & Gewissen 2006
für ein 6-jähriges mit 480 ml, für ein 10-jähriges mit 675 ml. Bei schlechtem Ernährungszustand liegt diese Grenze selbstverständlich niedriger. Bei 30 % Blutverlust stellen sich schwere Schocksymptome ein: Extrem blasse, kaltschweißige Haut, hochgradige Tachypnoe und Tachycardie, Pulslosigkeit, Todesangst. Als Reaktion auf einen nicht lebensgefährdenden akuten Blutverlust von 15-20 % werden aus dem Knochenmark Reticulocyten, die unreifen Vorstufen der Erythrocyten, ausgeschwemmt. Nach ca. 10 Tagen läuft die Blutbildung im Knochenmark auf Hochtouren, vollständig ausgeglichen ist der Blutverlust aber erst nach 2 – 3 Monaten. Voraussetzung ist eine optimale Ernährung mit genügend Eisen, Eiweiß und Vitaminen. Der zurzeit in Deutschland geltende Mindest-Blutspendeabstand beträgt 56 Tage. Männer dürfen höchstens 6 x, Frauen höchstens 4 x pro Jahr Blut spenden. Kinder dürfen grundsätzlich nicht zur Blutspende herangezogen werden. Eine Blutspende pro Woche bei Kindern, die noch dazu unzureichend ernährt wurden: Das können wir nur als Mord oder als protrahierte Hinrichtung bezeichnen. Quellen: Maximilian-Kolbe-Werk Freiburg: Die Kinder von Sokolniki, 2008 (Internetinfomation) Steinhart, Andrea, Pressesprecherin des MKW, persönl. Mitteilung Herdermerten, Monika, Betreuerin der eingeladenen ehemaligen Kinder von Sokolniki bei ihrem Besuch in Berlin (2008), persönl. Mitteilung Gessler P: Die lebende Blutbank der Wehrmacht – die Kinder von Sokolniki. Die Tageszeitung, Berlin, 18.8.2008 Stadtarchiv Taganrog, Dokument 514-1-168, S. 128 Schupp K, Seifert H: Blutsbrüder, ZDFneo 18.10.2010 Frank-Steiner VC: Vampire Camps of the Wehrmacht. Histomil historica forum; histomil.com/viewtopic.php?f=95&t=10159&hilit=120
Der "andere" Patient
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Ein Tag in der Kellerpraxis
„H
allo?“ - Die Pförtnerin telefoniert noch eifrig und bedeutet mir zu warten. „Heute darf ich Frau Dr. Heidenreich begleiten. Wir haben schon telefoniert.“, gebe ich Auskunft. Die Pförtnerin mustert mich misstrauisch und ruft unten an. Alles okay; ich darf eintreten. Es ist keinesfalls irgendeine Hochsicherheitspraxis, sondern das Caritasgebäude am Leibnizufer in Hannover, in dem heute Vormittag Frau Heidenreich ihre Patienten empfängt. Von Katja Theres Marquardt
Die Sprechstunde für Wohnungslose ist vor etwa 10 Jahren eingerichtet worden. Heute sind die Ärzte und Helfer an fast allen Wochentagen an verschiedenen Orten in Hannover ehrenamtlich tätig. Die meisten Patienten sind nicht immer wohnungslos, aber beispielsweise nicht krankenversichert. Sie können ihre Rezepte oder die 10 Euro Praxisgebühr nicht bezahlen; deshalb kommen auch sie in die Sprechstunde. Das Behandlungszimmer im Keller ist ca. 10m2 groß. Eine Liege steht unter dem Fenster, aus dem ich die Beine von Passanten sehen kann. Ein kleiner Schreibtisch, ein Schnurtelefon, gelbe Pappkarteikarten als Krankenakten, ein Waschbecken mit ein wenig Desinfektionsmittel, ein bisschen Verbandszeug und die große Blechkommode mit den Medikamentenschubladen – so sieht der Behandlungsraum aus. Die Sprechstundenhilfe ist eine berentete medizinisch-technische Angestellte, die nun mehrmals pro Woche die verschiedenen Ärzte in den Sprechstunden unterstützt. Das Wartezimmer sieht aus wie ein Aufenthaltsraum in der Cafeteria. Die Patienten bevorzugen den Hintereingang. Der erste Patient kommt mit einem Arztbrief. Er war im Krankenhaus, vor zwei Wochen. Obwohl er über keinen festen Wohnsitz verfügt und keine Krankenversicherung hat, ist er behandelt worden. Diagnose: Großer Hinterwandinfarkt. Behandelt wurde er mit einer Katheterintervention und Rekanalisierung. Frau Heidenreich kommentiert anschließend trocken, aber zufrieden: „Da sieht man, dass unser System, wenn es darauf ankommt, doch noch funktioniert.“ Wenn man den Patienten sieht, ist es schwer zu glauben, dass er jemals einen Herzinfarkt hatte. Auch für ihn stehen andere Probleme im Vordergrund. Bis auf das Plastik-Grundgerüst kann man bei den durchgelaufenen Lederschuhen schauen. Er beschwert sich
auch, dass man ihn nirgendwo länger als 3 Stunden schlafen lässt, bevor die Polizei ihn verscheucht. Die Tabletten will er eigentlich nicht nehmen. Wozu denn auch? Er ist doch stark wie ein Bär, unkaputtbar. Für neue Schuhe bekommt er einen Gutschein im Fairtrade-Kaufhaus und freut sich. Was er nicht sagt, aber eindeutig hat: Redebedarf. Er erzählt weiter, auch nachdem die Ärztin ihn mehrmals darauf hingewiesen hat, dass noch mehr Patienten da sind und Hilfe brauchen. Als nächstes kommt eine „alte Bekannte“ von Frau Heidenreich, eine Freundin, wie die Patientin die Ärztin nennt, herein. Es ist typisch, dass auch die Patienten der Wohnungslosen-Ambulanz immer wieder zu dem gleichen Arzt gehen möchten, eben ihrem Hausarzt. Die Ärztin weiß scheinbar alles über ihre Patienten – und hilft beim Lebensmanagement: Dazu gehört zum Beispiel die Suche nach einer Wohnung. Heute ist „die Freundin“ da, weil sie in letzter Zeit zu nichts mehr Lust hat. Sie selbst glaubt schizophren zu sein. Ein entscheidender Satz für die Diagnose: „Ich konnte mich noch nicht mal freuen, als ich einen 10 Euro Schein auf der Straße gefunden habe.“ Frau Heidenreich weist die Patientin sofort in eine psychiatrische Klinik ein. So möchte es die Frau E. Der Einweisungsbefund lautet allerdings Depression, nicht Schizophrenie. Nachdem die Patientin gegangen ist, erzählt die Ärztin in Stichworten deren Schicksal: Drogen, genauer Kokain, Prostitution, später Vergewaltigung und Schläge; inzwischen ist sie clean, aber gänzlich ohne soziales Umfeld. Es kommen nun einige Patienten, die neue Hypertonie Medikamente oder Blutverdünner benötigen. Die meisten sind der Ärztin bekannt. Jene, die sie nicht kennt, prüft sie eingehend; hauptsächlich mit Fragen und, wenn vorhanden, der Krankenkas-
senkarte. Es geht hier viel um Vertrauen. Einerseits das tiefe Vertrauen der Patienten in die Ärztin und darin, dass sie ihnen helfen wird. Egal mit welchem Problem. Andererseits das Vertrauen, dass die Ärztin in die Patienten setzt. Sie glaubt daran, dass sich etwas tut. Beides ist fragil und muss, wie man im Laufe des Vormittags merkt, immer wieder Brüche wegstecken. Zum Schluss kommt noch ein Mann mit einem offenen Bein. Es riecht bereits streng, als er hereinkommt. Das Bein muss neu verbunden werden. Normalerweise geht der Patient dafür zu einer Krankenschwester, die aber die ganze letzte Woche über krank gewesen ist. Jetzt ist er hier. Die Ärztin bietet mir an den Verband zu wechseln. Freudig, endlich etwas Hilfreiches tun zu können, fange ich an. Der Geruch nimmt mit jeder abgewickelten Verbandschicht zu. Die Wade ist bis zum Knochen offen und entzündet. Der Ekel lässt sich nur schwer verbergen, der Brechreiz ebenfalls. Nach der Desinfektion, das Desinfektionsmittel ist danach alle, suchen wir nach adäquatem Verbandsmaterial. Es gibt keines mehr. Also bekommt der Patient einfache, desinfektionsmittelgetränkte Kompressen und drei Verbände um sein Bein gewickelt. „Verbandsmaterial, Pflaster, usw. sind hier immer knapp“, erklärt die Helferin. Alle medizinischen Materialien werden aus Spenden finanziert und davon gibt es nicht so viele. Auch das Medikamentenproblem wird mit Hilfe von Spenden gelöst. Mit Rezepten, die über Geldspenden finanziert sind, können die Patienten ihre teilweise lebenswichtigen Medikamente erhalten. Häufige Medikamente, wie Diuretika oder b-Blocker, finden sich direkt in der Schublade des Blechschrankes. Die Ärztin schärft dem Mann abschließend ein das Bein JEDEN Tag unbedingt verbinden zu Katja-Theres Marquardt lassen. Damit es besser 7. Semester wird. Egal, wo er dafür hin- Hannover gehen muss. Nachdem der Patient weg ist, reißen wir das Fenster weit auf und versuchen frische Luft zu atmen. Der Geruch bleibt den ganzen Tag in meiner Nase hängen. Die Erfahrungen an diesem Vormittag – bis jetzt.
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Der "andere" Patient
Gesetzlich vorgeschriebene unterlassene Hilfeleistung? Medizinische (Akut-)Versorgung für Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus
„I
n der Anfangsphase unserer Arbeit mit MediNetz kam eine Mutter völlig verzweifelt mit einem Kind. Das Kind war drei Jahre alt und hatte regelmäßig starke Fieberschübe. Die Mutter kaufte dann jedes Mal Fieberzäpfchen, aber die Schübe kamen immer wieder. Dann stellte sich heraus, dass das Kind verschleppten Scharlach hatte! Der Junge war noch nie zu einer U-Untersuchung gewesen und hatte noch keine einzige Impfung bekommen! Sowas erlebt man dann.“ (Sigrid Becker Wirth, Vorsitzende des MediNetzes Bonn, im Interview mit der Autorin 2010). Von Wiebke Bornschlegl
„In der Anfangsphase unserer Arbeit mit MediNetz kam eine Mutter völlig verzweifelt mit einem Kind. Das Kind war drei Jahre alt und hatte regelmäßig starke Fieberschübe. Die Mutter kaufte dann jedes Mal Fieberzäpfchen, aber die Schübe kamen immer wieder. Dann stellte sich heraus, dass das Kind verschleppten Scharlach hatte! Der Junge war noch nie zu einer U-Untersuchung gewesen und hatte noch keine einzige Impfung bekommen! Sowas erlebt man dann.“ (Sigrid Becker Wirth, Vorsitzende des MediNetzes Bonn, im Interview mit der Autorin 2010). Ein Kind, das nicht jederzeit zum Arzt kann? Ein Kind, das mit schwerer Krankheit zu Hause bleiben muss, leidet und von den Eltern nur notdürftig versorgt werden kann? Ein Kind, dem sein Menschenrecht auf Gesundheit verwehrt wird? Dies kann kein Fall aus Deutschland sein, oder? Kinderrechte werden von der BRD mit der Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UNKinderrechtskonvention Wiebke Bornschlegl seit dem 3. Mai 2010 rein M.A., Geographin juristisch betrachtet ohne Erlangen Vorbehalte geschützt und geachtet. Der Vorrang des Kindeswohls sollte seither bei allen staatlichen Maßnahmen oberste Priorität haben. Eine erste Konsequenz ist die Aufhebung der Meldepflicht für Schulen, Kindergärten und Erziehungseinrichtungen
durch Beschluss des Bundestags im Juli 2011 (Zustimmung durch den Bundesrat im September 2011). Diese wichtige Maßnahme ermöglicht erstmalig allen Kindern und Jugendlichen in Deutschland unabhängig vom Aufenthaltsstatus den Besuch einer Bildungseinrichtung – ohne Angst vor Abschiebung. Sehr viel problematischer gestaltet sich nach wie vor die medizinische Versorgung von Kindern in der aufenthaltsrechtlichen Illegalität.
Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit.“ (UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 24, Absatz 1, „Gesundheitsversorgung“). Problematisch wird die Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen für Menschen ohne Papiere in Deutschland auf Grund der – im europäischen Vergleich tatsächlich einzigartigen – Übermittlungspflicht öffentlicher Stellen an die Ausländerbehörden (§ 87 AufenthG). Auch wenn Ärztinnen und Ärzte explizit keine Übermittlungspflicht haben und sich somit bei Behandlung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus nicht strafbar machen, besteht eine große Unsicherheit sowohl auf Seite der Ärzteschaft als auch auf Seiten der potentiellen PatientINNen. Die Angst vor Aufdeckung des illegalen Aufenthaltsstatus mit folgender Abschiebung sowie die Unsicherheit bezüglich Kostenabrechnung und Rechtslage sind groß.
Kinder in der Illegalität Kinder und Jugendliche sind in der Regel nicht auslösend oder in entscheidender Funktion an einem Migrationsvorgang betei-
Das Recht auf Gesundheit - ein Menschenrecht Menschenrechte bedeuten nach der Hierarchie der Rechtsnormen unveräußerliche Rechte, welche grundsätzlich statusunabhängig sind und daher uneingeschränkt für alle Frauen, Männer und Kinder gelten, die in Deutschland leben – der deutsche Staat ist zuständig für die Achtung der Menschenrechte in staatlichen Tätigkeiten, den Schutz der Menschenrechte gegen die Beeinträchtigung durch Dritte sowie die Gewährleistung der Inanspruchnahme der Menschenrechte durch die Bereitstellung eines geeigneten institutionellen Rahmens. Ein kurzer Blick auf die spezifischen rechtlichen Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche (UN-Kinderrechtskonvention) bestätigt zweifelsfrei: Kinder und Jugendliche haben ein Anrecht auf „das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit (...) sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur
ligt, sondern werden von ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten „mitgenommen“ oder aber erst in Deutschland in die Illegalität geboren. Man kann im Falle der Kinder ohne Aufenthaltsstatus keine bewusste Entscheidung für das Verlassen der Heimat annehmen, was ein Verständnis für das Vorgehen aus Sicht der Kinder tendenziell erschwert. Das Verlassen der gewohnten Umgebung, sozialer Systeme, der Muttersprache, ein Aufwachsen in sozialer Isolation – es resultiert eine große Verletzlichkeit der Betroffenen, die das Vorgehen weder initiiert haben, noch ihre Situation begreifen
Der "andere" Patient
oder begründen können. Die Verweigerung medizinischer Versorgung für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus wird oft mit
dem potenziell selbst bestimmten Begeben der Betroffenen in die Illegalität begründet. Im Falle der Kinder ist diese Argumentation vollkommen hinfällig. Der deutsche Gesetzgeber konnte bislang keine strukturellen Defizite im Bereich der Gesundheitsversorgung von Personen und insbesondere Kindern in der Illegalität feststellen – in der medizinischen Versorgung tätige ExpertINNen beurteilen die Situation entschieden anders: Die Malteser beispielsweise stellten bereits 2001 einen Notstand in der medizinischen Versorgung irregulär zugewanderter Menschen fest und gründeten als Reaktion die Einrichtung Malteser Migranten Medizin in Berlin (siehe Infobox).
Medizinische Versorgung von Kindern in der Illegalität – Brennpunkt Akutversorgung Seit Beginn der Dokumentation 2005 sind im Schnitt 12 % der Hilfesuchenden des MediNetzes Bonn Kinder und Jugendliche. Ähnliche Größenordnungen lassen sich auch für entsprechende Einrichtungen in anderen deutschen Großstädten feststellen (Erhebung durch die Autorin 2010). Der vorhandene Bedarf einer medizinischen Versorgung auch für Kinder wird durch diese Zahlen eindeutig. Lassen sich nun in der Praxis für Kinder besondere medizinische Notwendigkeiten und Schwerpunkte feststellen? Erste Antworten auf diese Fragen liefert eine bundesweite Erhebung, an der sich insgesamt 12 Einrichtungen der alternativen medizinischen Versorgung (MediNetze etc.) beteiligten. Sieben von zwölf der befragten Einrichtungen nennen fehlende U-Untersuchungen, sechs von zwölf geben ausbleibende Impfungen als Grund für die Inanspruchnahme des Dienstes der
Einrichtung an. Eine Konsequenz ist das Verschleppen von Kinderkrankheiten, wie Sigrid Becker Wirth (Medinetz Bonn) im Eingangszitat eindrucksvoll darstellt. Ein weiterer Schwerpunkt der Behandlungen und Vermittlungen sind neben zahnmedizinischen Fällen das Auftreten logopädischer Auffälligkeiten (fünf der zwölf Einrichtungen stellen eine überdurchschnittliche Anzahl von Kindern mit sprachlichen Entwicklungsrückständen fest). Mögliche Ursache ist die „starke seelische Belastung, der die Kinder permanent ausgesetzt sind“ (Ulrich Kortmann, erster Vorsitzender des MediNetzes Bonn im Interview mit der Autorin, 6.6.2010). Die seelische Belastung sei möglicherweise Folge der Tabuisierung der Illegalisierung sowie der Situation permanenter Angst, Unsicherheit und sozialer Isolation, in der die Familien leben. Nur im ersten Moment ungewöhnlich erscheint das völlige Fehlen akuter Krankheitsfälle (Fiebrige Infekte, Bauchschmerzen etc.) – in „normalen“ Kinderarztpraxen eigentlich der Hauptgrund für das Aufsuchen des Kinderarztes (siehe Grafik 1 & 2). Auf den zweiten Blick ist dieses Phänomen nachvollziehbar und meiner Meinung nach gleichzeitig größter Brennpunkt der aktuellen Situation: Im Falle einer akuten Erkrankung von Kindern mit Schmerzen und/oder Fieber ist es i.d.R. nicht möglich auf die naturgemäß stark begrenzten Öffnungszeiten von ehrenamtlich besetzten Hilfseinrichtungen zurückzugreifen. Die medizinische Versorgung wird vermutlich vielmehr im sozialen Umfeld und Bekanntenkreis organisiert oder durch rezeptfreie Medikamente aus der Apotheke unterstützt. Durch Laienmedizin wie beispielsweise ständige Fiebersenkung können Symptome und Schmerzen kaschiert und gefährliche Verläufe verfälscht werden. Es drohen Exazerbationen und Verschleppungen von Erkrankungen. Die essenziell wichtige Akutversorgung kann nicht gewährleistet werden!
Fazit Mangelhafte medizinische Versorgung stellt eine Verletzung der Menschenrechte dar und hat für die Betroffenen weit reichende Folgen. Es ist deutlich geworden, dass Kinder und Jugendliche in aufenthaltsrechtlicher Illegalität spezielle Bedürfnisse
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haben, welchen zurzeit im deutschen Gesundheitssystem nicht Rechnung getragen werden kann. Spätestens nach Aufhebung der Vorbehaltserklärung (s.o.) müsste eine Ermöglichung der Inanspruchnahme medizinischer Versorgung aus rechtlicher Sicht unkompliziert zu regeln sein. Auch der Berufsverband deutscher Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) fordert daher „(…) dass die Bundesregierung Kindern Illegaler schnellstmöglich per Gesetz den Zugang zu einer umfassenden medizinischen Versorgung ermöglicht und Kinder nicht aufgrund des Rechtsstatus ihrer Eltern diskriminiert und nicht bestmöglich gesundheitlich versorgt werden. Da die Kinder nicht krankenversichert sind, müssten sie ggf. von den Kinder- und Jugendärzten in den Gesundheitsämtern versorgt werden. Diese
müssten den Eltern und Kindern garantieren können, dass die medizinische Versorgung nicht die Abschiebung zur Folge hat.“ (Dr. Wolfram Hartmann, Präsident des BVKJ in einer Presseerklärung von 2011). Damit die medizinische Versorgung für Kinder in der Illegalität in Zukunft nicht mehr abhängig ist von Willkür und Zufall ist eine gesetzliche (Neu-) Regelung dringend notwendig! Es gibt heute bundesweit zahlreiche Einrichtungen, in denen Menschen ohne Krankenversicherung und/oder ohne gültigen Aufenthaltsstatus anonym ärztliche Betreuung in Anspruch nehmen können. Eine Übersicht findet sich unter: www.medibueros.org sowie unter www.malteser-migranten-medizin.de.
Grafik 1, Quelle: Eigene Darstellung nach bundesweiter Befragung von 12 Hilfseinrichtungen (MediNetze, MMM etc.) durch die Autorin 2010. Grafik 2, Quelle: Eigene Darstellung nach Befragung durch die Autorin 2011. Weiterlesen: Mylius, M./Bornschlegl, W./Frewer, A. et al. (Hrsg.) (2011): Medizin für „Menschen ohne Papiere“. Menschenrechte und Ethik in der Praxis des deutschen Gesundheitssystems. Medizin und Menschenrechte, Band 5. V & R unipress, Göttingen
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Der "andere" Patient
Moderne Sklaverei und Gewalt gegen Migrantinnen
I
n der Vergangenheit wurden Fälle publik, in denen die Arbeitskraft von Migrantinnen in Deutschland schamlos ausgebeutet und ausgenutzt wurde. Man bezeichnet dies als moderne Sklaverei. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen Betroffener von Menschenhandel sind als unmenschlich beschrieben. Migrantinnen stellen eine besonders vulnerable Gruppe dar. Von Katharina Thilke
Zu beachten gilt hier, dass sie häufig betroffen sind, trotz eines legalen Aufenthaltsstatus. Dieser bietet keinen Schutz vor Zwangsarbeit, unmenschlichen Arbeitsbedingungen oder einer geringen Entlohnung. Es besteht keine Option für eine Handlungsalternative. Die Migrantinnen besitzen keinerlei Entscheidungsfreiheit. Drohende Gewalt durch den Arbeitgeber oder gar die Entwendung des Passes setzen die Arbeiterinnen unter Druck. Motive nach Deutschland einzureisen sind unter anderem die Möglichkeit eines Einkommens, mit welchem die Frauen beabsichtigen ihre Familienmitglieder zu versorgen. Die Frauen werden häufig mit fälschlichen Arbeitsangeboten nach Deutschland gelockt. Im Jahr 2000 haben die UN ein Menschenhandels-Protokoll verabschiedet. In diesem wird Menschenhandel als Ausbeutung der Arbeitskraft und die sexuelle Ausbeutung wie folgt definiert: „Menschenhandel meint die Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beherbergung oder den Empfang von Personen durch die Androhung oder Anwendung von Gewalt oder anderer Form der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilfslosigkeit oder durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlangung des Einverständnisses der Person, die Gewalt über eine andere Person hat, zum Katharina Thilke Zweck der Ausbeutung. PJ Ausbeutung umfasst minMünster/Köln destens die Ausnutzung der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavenähnliche Praktiken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Körperorganen.“ In
Deutschland steht der Menschenhandel seit 2005 unter Strafe. Im Falle von häuslicher Anstellung kann es zur Ausbeutung der Arbeitskraft kommen. Ein Sonderfall stellt dabei die Beschäftigung durch einen Diplomaten dar. Immer wieder wurden in den letzten Jahren Fälle der Presse bekannt. So wurde beispielsweise auch die indonesische Dewi Hasnati (Name geändert) im Haushalt eines jemenitischen Diplomaten festgehalten. Sie wurde eingesperrt und ihre Mahlzeiten wurden rationiert. Ihre Arbeit wurde, entgegengesetzt vorheriger Vereinbarung, nicht gerecht entlohnt. Im weiteren Verlauf erkrankte Dewi Hasnati
an Tuberkulose. Erst sechs Monate nach Krankheitsausbruch erfolgte eine stationäre Behandlung im Krankenhaus. Der Diplomat drängte auf eine zeitnahe Entlassung. Die behandelnden Ärzte erkannten, dass die Krankheit bereits vor längere Zeit ausgebrochen war und wurden hellhörig. Sie kontaktierten „Ban Ying“ und der Fall wurde publik. Eine strafrechtliche Verfolgung von
Diplomaten gestaltet sich auf Grund ihrer Immunität als schwierig. Ein Fall aus der Gastronomie sorgte ebenfalls für Aufsehen. Die Äthiopierin Lakech Demise (Name geändert) reiste nach Deutschland ein, um als Köchin in einem renommierten äthiopischen Spezialitätenrestaurant zu arbeiten. Zu Beginn verkündete der Chef ihr, dass sie ein Jahr lang ohne Lohn arbeiten müsse. Sie müsse ihre Reisekosten abarbeiten. Lakech Demise arbeitete sieben Tage die Woche über 19 Stunden am Tag. Nach einem stationären Krankenhausaufenthalt teilt der Chef ihr mit, sie müsse nun ihre Behandlungskosten abarbeiten. Die behandelnden Ärzte in der Klinik haben keinen Anhalt für einen Fall der modernen Sklaverei gesehen oder sind diesem nicht nachgegangen. Frau Demise wusste nicht, dass sie als Arbeitnehmerin gesetzlich krankenversichert ist. Sie schuftete weiter unter unmenschlichen Bedingungen. Ein Stammgast verhalf ihr schließlich zur Flucht. Nach anderthalb Jahren knochenharter Arbeit hat Demise lediglich eine Entlohnung von 500 Euro erhalten.
Im Bereich der Sexindustrie bzw. Prostitution sind Migrantinnen ebenfalls von moderner Sklaverei betroffen. Insbesondere in Fällen eines unsicheren Aufenthaltsstatus besteht die Gefahr einer Abhängigkeit. Die Frauen haben häufig keinerlei Selbstbestimmungsrecht. Folglich dürfen sie keine Kunden ablehnen. Außerdem ist ihnen der Gebrauch von Kondomen teilweise untersagt, sodass sie Infektionskrankheiten schutzlos
Der "andere" Patient
ausgeliefert sind. Des Weiteren haben sie stark beschränkte Verdienstmöglichkeiten. Der monetäre Erlös stellt hierbei ein wichtiges Indiz für Menschenhandel dar. Die Berliner Polizei definiert eine zwanghafte Abgabe von mehr als 50 % der Einnahmen als Ausbeutung im Sinne von Menschenhandel. Einige Frauen haben berichtet, dass sie keinerlei Verdienst in Form von Bargeld erhalten würden. Begründet werde dies durch die Notwendigkeit, Schulden abzuarbeiten. Zu Beginn reisen die Migrantinnen häufig mit einem Touristenvisum ein. Nach dessen Ablauf stellt die Heirat eines deutschen Mannes für sie die einzige Möglichkeit zum Erwerb eines legalen Aufenthaltsstatus dar. Der § 31 Aufenthaltsgesetz besagt, dass nicht-deutsche Ehepartnerinnen mindestens zwei Jahre nach der Verheiratung mit dem deutschen Ehepartner zusammenleben müssen. Eine Beendigung der Ehe innerhalb der ersten zwei Jahre bedeutet eine Ausreise für die nicht-deutsche Ehepartnerin und ihre nicht-deutschen Kinder. Kommt es in der Ehe zu gewalttätigen Handlungen durch den Ehemann, entspricht dies in der Theorie einem Härtefall. Körperliche und/ oder sexuelle Gewalt durch den Ehegatten müssen eindeutig nachgewiesen werden. In der praktischen Umsetzung gestaltet sich dies häufig als äußerst schwierig. Folglich verbleiben Migrantinnen, die in ihrer Ehe Gewalt erfahren, häufig in der Situation aufgrund von Angst ihren Aufenthaltsstatus zu verlieren. Als praktische Medizinerin ist es von besonderer Bedeutung bei der Behandlung von Migrantinnen genau hinzusehen. Es gibt beispielsweise einen Fall, in welchem eine Migrantin in Berlin Gewalt in der Ehe mit ihrem deutschen Ehemann erfahren hat. Bei einem Termin in einer gynäkologischen Praxis bemerkte die Ärztin Prellmarken an den Armen und Läsionen im Genitalbereich. Die Frauenärztin erkundigte sich, ob ihre Patientin zum Sex gezwungen worden sei bzw. Gewalt erfahren würde. Die Migrantin verneinte dies. Die Gynäkologin dokumentierte den körperlichen Untersuchungsbefund und vermerkte, dass dieser hochverdächtig für eine Misshandlung sei. Außerdem befragte die Gynäkologin die Patientin zu ihren aktuellen Geschlechtspartnern. Diese antwortet, dass sie ausschließlich mit ihrem Ehemann schlafe. Diese Aussage wurde ebenfalls dokumentiert. Zu einem späteren Zeitpunkt entschloss sich die Migrantin die Beratungsstelle „Ban Ying“ aufzusuchen. Die Dokumentation des körperlichen Untersuchungs-
befundes und der Aussagen der Patientin waren ein maßgeblicher Nachweis der ehelichen Gewalt. Des Weiteren gibt es zahlreiche „Heiratsmigrantinnen“. Seit August 2007 hat sich die strukturelle Vulnerabilität verstärkt. Nach Deutschland ziehende Ehepartnerinnen müssen vor der Einreise zertifizierte Deutschkenntnisse erwerben. Migran- Europa als Umschlagplatz des Menschenhandels tInnen können Ying Frauen aus 42 Ländern bzw. vier Kontizum Teil die entstehenden Mehrkosten nenten in ihren Muttersprachen beraten. selbst nicht tragen. Deshalb findet häufig eine Finanzierung durch den zukünftigen Wünschenswert ist die Verbesserung deutschen Ehemann statt. Es entsteht eine des Arbeitsschutzes der Migrantinnen, um materielle Abhängigkeit. Unter Umständen Ausbeute und unmenschliche Arbeitsbedinsteht die Frau in der Schuld ihres Mannes gungen verhindern zu können. Außerdem und muss für die Unkosten aufkommen: Da ist es notwendig, dass Migrantinnen bei sie über keine finanziellen Mittel verfügt, Einreise unter anderem über das deutsche müssen sie diese in unterschiedlicher Form Gesundheitssystem und ihren Krankenver„abarbeiten“ zu Bedingungen, die der Ehesicherungsstatus informiert werden. Eine mann stellt und welche häufig nicht verhanKonzentration auf die Arbeitsbedingungen delbar sind. Auch dies stellt eine Form der ist besonders in Fällen von polizeilichen modernen Sklaverei dar. Razzien unabdingbar. Diese beschränken Die Beratungsstelle „Ban Ying“ in Berlin sich häufig auf die Kontrolle von Personaliwurde 1988 gegründet. Ban Ying bedeuen bzw. des Aufenthaltsstatus, jedoch findet tet im Thailändischen „Haus der Frauen“. keine Befragung zu Arbeits- und LebensbeDie Nichtregierungsorganisation ist Träger dingungen statt. zweier Projekte. Sie bietet eine Zufluchtswohnung für Frauen sowie eine Beratungsund Koordinationsstelle gegen MenschenQuellen und weitere Informationen am 12. Septemhandel. Kern der Arbeit stellt zum einen ber 2012: die praktische Ebene der Beratung bei http://www.ban-ying.de/pageger/start.htm http://www.bier-statt-blumen.de/?s=nivedita Gewalterfahrung dar. Die Frauen erhalten http://m.fluter.de/de/arbeit/thema/8813/ psychosoziale Unterstützung. Zum anderen http://www.solwodi.de/432.0.html ist die theoretisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ursachen und Hintergründen zu Menschenhandel sowie die politische Arbeit von zentraler Bedeutung. Ein Schwerpunkt stellt hierbei die Bekämpfung des Menschenhandels dar. Bisher hat Ban
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Lyrik
„Heimat-Geschichten und Bilder von Menschen auf der Flucht“
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nruhen und kriegerische Auseinandersetzungen nehmen weltweit zu. Gleichzeitig ist die „Schutzmauer“ um Europa noch höher geworden. Nur ein kleiner Teil der Menschen aus den verschiedensten Ländern finden Zuflucht in Deutschland. Die Menschen kommen aus den unterschiedlichsten Kriegs- und Krisengebieten und haben ihre Heimat auf der Suche nach Schutz und Sicherheit verlassen. Sie tragen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle, Hoffnungen, Wünsche und Sehnsüchte mit sich und diese können oft schwer in Worte gefasst werden. Einer der Wege, die zu einer gemeinsamen Sprache führen und Kommunikation ermöglichen können, ist kreatives Gestalten. Von Ursula Völker
In diesem Buch finden sich Geschichten und Bilder, gestaltet und erzählt von Flüchtlingen aus Tübingen und Umgebung. Diese entstanden im Rahmen des vom Asylzentrum Tübingen durchgeführten Projektes „Kreativwerkstatt“ mit finanzieller Unterstützung der Aktion Mensch/ dieGesellschafter.de. Das Besondere an diesen Geschichten ist, dass sie Geschenke sind. Mit großer Offenheit und viel Vertrauen haben uns hier Menschen Geschichten aus ihrer alten oder der neuen Heimat erzählt und Bilder zu ihren Gedanken und Träumen gemalt. Einige der „Künstler“ sind seit vielen Jahren in Deutschland, zum Teil noch immer mit unsicherem Aufenthalt und den damit verbundenen unklaren Lebensperspektiven. Andere wiederum sind neu in Tübingen angekommen und leben in Sammelunterkünften. Viele können sich auf Deutsch noch nicht verständigen und sind im wahrsten Sinne des Wortes „sprachlos“. Die Geschichten, die nicht vom Autor selbst aufgeschrieben werden konnten, wurden auf der Basis gegenseitiger Sympathie und Wertschätzung mündlich erzählt – Geschichten, die sie von ihren Müttern, Vätern oder Großeltern gehört hatten oder selbst erlebt haben. „Jetzt erzähl ich dir, wie meine Oma ...“ – Die Übertragung des Erzählten war oft eine große Herausforderung für uns oder unsere Dolmetscher – ein Jonglieren zwischen dem Originalton im Ohr und dem Versuch, ohne zu sehr zu glätten in einem verständlichen
Deutsch zu schreiben. Sprachlich sind die einzelnen Erzählungen deshalb eine Mischung aus der individuellen Fähigkeit Deutsch sprechen zu können und dem intuitiven Verstehen des Zuhörers. Auch bei den Übersetzungen wurde uns immer wieder klar, dass wir den einzelnen Muttersprachen sehr oft nicht gerecht werden konnten. Vieles war nur erlebbar, aber nicht darstellbar. Es wurde geweint und es wurde gelacht. Es gab unheimlich lustige pantomimische Verdeutlichung. Einmal sang eine somalische Frau – sie war erst ein paar Tage in Tübingen und sprach kein Deutsch – spontan ergreifend schöne Wiegenlieder. Ein paar Silben wurden in einer bestimmten Abfolge immer wiederholt, nach und nach fielen mehr Frauen in den Gesang ein und variierten ihn. Leider passen diese Zwischentöne, die Magie des Moments und der Klang der ausdrucksstarken Lieder nicht zwischen Buchseiten. Die Bilder dagegen geben unmittelbar wieder, was der Malende hineingelegt hat. Sie brauchen keinen Mittler, keinen Dolmetscher, kein Hilfs-Medium, keine Krücken. Sie sind authentisch: „Mein Bild ist wie Afghanistan: die Berge Afghanistans und die Bomben, die auf das Land fallen ... es wird nicht fertig und es hört nie auf.“ Eine in ein farbenfroh leuchtendes traditionelles Gewand gekleidete Frau stand vor ihrem Bild in warmen Farben, deutete darauf und sagte mit einem breiten Lachen: „das sind die Farben Afrikas“. Sie hatte an diesem Tag zum ersten Mal gemalt. So wie ihr ging es
vielen: Für sehr viele Teilnehmer war ein Bild zu zeichnen oder zu malen etwas völlig Neues – sie hatten noch nie die Gelegenheit mit Pinsel und Farbe zu malen. Umso erstaunlicher war es zu beobachten, mit welcher Kreativität und Begeisterung sie sich dieser Herausforderung stellten. Und vielen ist dabei etwas gelungen, um das mancher Künstler oder Schriftsteller sein Leben lang ringt: mit ganz wenigen Mitteln, oft nur einigen Strichen oder Worten unheimlich viel auszudrücken und auszusagen. Egal ob wir in der Unterkunft, im Asylzentrum oder im Freien gearbeitet haben: Es war immer eine „zauberhafte“ Stimmung – wir hoffen, davon etwas eingefangen zu haben, um es weiter zu geben! „Heimat- Geschichten und Bilder von Menschen auf der Flucht“, 112 Seiten Euro 19.80 zuzügl. 3 Euro Versand. Der Gewinn geht zu 100% an das Asylzentrum Tübingen. http://www.artur-verlag.de/heimat.html
Lyrik
Ich heiße Khaled und komme aus Algerien. Nach 33 Jahren habe ich festgestellt, dass ich keine Heimat habe. Obwohl ich in Algerien geboren und aufgewachsen bin, war mein Leben dort nie so, wie ich es mir für mich vorgestellt habe. Heute bin ich sicher, dass Deutschland das Land meiner Kinder sein wird. Ich werde ihnen geben, was ich verpasst habe. Für mich bedeutet Deutschland Respekt, Liebe und Freiheit. Ich empfinde Respekt gegenüber den Menschen, die hier leben. Ich achte ihre Religion und Kultur. Ich habe hier die Liebe mit meiner Frau gefunden. Sie ist mein Leben und meine Familie. Die Freiheit hier bedeutet für mich: frei meine Meinung äußern zu dürfen, frei für mich kämpfen zu können und mich nicht begrenzt zu fühlen. Die fliegende Zitrone und ich Die fliegende Zitrone ist ein Vogel. Eigentlich heißt er Hansi – aber seiner Farbe wegen nenne ich ihn lieber fliegende Zitrone. Er ist hier geboren und hat schon an vier verschiedenen Orten gewohnt. Sein Leben war auch schwer, denn er brauchte immer jemanden, der sich um ihn kümmert, weil er Zeit seines Lebens im Käfig lebte und deshalb die Welt nicht kennt. Ich habe auch an vielen verschiedenen Orten gewohnt. Leben war Luxus – es ging immer mehr ums Überleben. Eines Tages trafen sich unserer beider Leben – ab diesem Tag hat er bei mir gewohnt. Sein größtes Problem war immer essen und trinken und sich wohl zu fühlen ohne Angst. Aber meine größte Sorge war immer, nicht in Sicherheit leben zu können, weil meine Vergangenheit in Algerien so dunkel war. Jetzt sind seine Lebensbedingungen besser geworden – bei mir auch. Jedes Mal wenn wir umgezogen sind haben wir ein Stückchen Freiheit dazubekommen. Der einzige Unterschied zwischen uns ist, dass der Vogel noch nie eine Idee von der Freiheit hatte. Er weiß nicht, was es bedeutet, frei zu leben. Er nimmt was kommt. Er ist glücklich und singt, wenn er Raum zum Fliegen bekommt oder Musik hört. Aber er verlangt nicht danach. Ich habe mich mein ganzes Leben in meiner Freiheit begrenzt gefühlt. Und es tut mir leid und weh, dass Hansi nicht selbstständig leben kann. Ich kann das leider nicht ändern, denn er ist schon im Käfig geboren. Aber ich nicht – ich habe Sehnsucht nach Freiheit!
Ich bin Haydar. Ich bin vor vielen Jahren sehr jung vom Irak nach Deutschland gekommen. Aber ich erinnere mich noch gut an meine alte Heimat Kurdistan. Die Menschen in Kurdistan lieben Vögel. Egal ob der Vogel groß ist oder klein, bunt oder nur grau, sobald der Vogel fliegt, ist er etwas Wunderbares. Mein Lieblingsvogel ist die Taube. Wir Kurden lachen auch sehr gerne. Wir lachen über die Vögel und wir lachen über die Araber. Am liebsten lachen wir aber über uns selbst, über die Kurden. Der Papagei und der Kurde Es war einmal ein Papagei und sein Besitzer war ein Kurde. Die beiden hatten sechs Jahre lang eine schöne Zeit. Der Kurde brachte dem Papagei die Worte bei: „Ich liebe Kurdistan.“ Eines Tages brauchte der Besitzer dringend Geld. Er wusste nicht, was er machen sollte und beschloss schließlich, den Papagei zu verkaufen. Er brachte den Papagei zum Bazar. Ein Araber hat den Papagei gekauft und zu sich mit nach Hause genommen. Dort wollte er mit dem Papagei reden. Doch auf alles, was er dem Vogel beibringen wollte, antwortete dieser: „Ich liebe Kurdistan!“ Sechs Monate versuchte der Araber dem Papagei andere Worte beizubringen, doch die einzigen Worte, die der Vogel sprach, waren: „Ich liebe Kurdistan!“ Da bestrafte der Araber den Papagei, indem er ihm all seine schönen Federn heraus rupfte. Der Papagei war sehr traurig. Der Araber nahm den Papagei mit auf den Bazar, um ihn zu verkaufen. Auf dem Bazar kamen ein paar Kurden vorbei, die einen Papagei kaufen wollten. Als diese den armen Vogel sahen, haben sie sehr gelacht und direkt gesagt: „Dieser Papagei sieht wirklich scheiße aus, den wollen wir bestimmt nicht kaufen.“ Da schrie der Papagei empört: „Ihr Scheißkurden, wegen euch bin ich ohne Federn! Euch Kurden kann man wirklich nicht trauen!“
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Arzt & Alltag
Medizinstudium und Weiterbildung Kirsten Schubert, Ärztin und Referentin für Gesundheit bei medico international „Nach dem Studium habe ich meine Weiterbildung in der Inneren Medizin begonnen. Nach zweijähriger klinischer Tätigkeit entschied ich mich im November 2011 bei der NRO medico international in Frankfurt a.M. anzufangen. Dort bin ich Referentin für Gesundheit in der Öffentlichkeitsabteilung. Medico ist eine deutsche Hilfs- und Menschenrechtsorganisation. Sie unterstützt knapp 100 Projekte weltweit u.a. zu Migration, Rohstoffraub und Gesundheit. Die Unterstützung von Netzwerken wie beispielsweise dem People's Health Movement so wie die Kooperation mit lokalen Projektpartnen stellen den Kern der Arbeit dar. Meine Aufgaben sind u.a. Artikel schreiben, Veranstaltungen organisieren und die internationale Arbeit von medico nach Deutschland zu spiegeln. Außerdem unterstütze ich auch den Aufbau von Netzwerke von Gesundheitsaktivisten in Deutschland. Ziel ist ein umfassendes und sozialmedizinisches Verständnis von Gesundheit zu fördern und sich gegen die Individualisierung und Kommerzialisierung zu wehren. Die politische Arbeit macht mir Spaß und ist ein ziemliches Kontrastprogramm zu meiner Arbeit als Ärztin.“ Weitere Informationen unter www.medico.de
Theresa Bauer, Assistenzärztin Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Praktikum bei der WHO in Genf „Nach dem Hammerexamen absolvierte ich ein drei monatiges Praktikum bei der WHO in Genf. Ich war im Bereich „Gender and Health“ tätig. In der Abteilung für psychische Gesundheit zur psychosozialen Unterstützungen für Opfer von sexualisierter Gewalt in Konfliktgebieten arbeitete ich an der Entwicklung eines Leitfadens zur Unterstützung und Behandlung Traumatisierter mit. Hierzu bedurfte es einer Erstellung einer weltweiten Übersicht über die gegenwärtig verfügbaren Hilfsangebote für Opfer sexualisierter Gewalt. Meine Zeit bei der WHO war eine wertvolle Erfahrung, die mich persönlich sehr bereichert hat. Ich habe einen differenzierten und tiefen Einblick in die Strukturen und Arbeitsformen der Vereinten Nationen und besonders natürlich in die der Weltgesundheitsorganisation erhalten. Das Praktikum war unbezahlt. Eine Finanzierung ist möglich durch das Leonardo-StipendienProgramm oder den DAAD (Deutscher Akademischer Austausch Dienst). Psychische Gesundheit finde ich besonders im globalen Kontext spannend und ich kann mir gut vorstellen zu diesem Thema weiterhin zu arbeiten.“
Judith Kasper, Hammerexamen Herbst 2012, Master of Global Health in Maastricht „Nach dem 10. Semester entschied ich mich für ein einjähriges Masterprogramm in Maastricht. Der Studiengang Global Health beginnt mit einem Grundkurs, einer anschließenden Vertiefung und endet mit einem Praktikum und der Masterarbeit. Wir arbeiteten unter anderem über Online-Kommunikation in Gruppen mit Studienkollegen der Partneruniversitäten in Indien und Kanada. Als Schwerpunkt belegte ich das Fach „Global Health Leadership and Organisation“. Dies beinhaltet die Module Health Policy Analysis, Global Health Economics und Global Health Management. Im Rahmen der Anfertigung meiner Masterarbeit konnte ich die Tätigkeiten verschiedener WHO Departments kennen lernen. Ich konnte an der World Health Assembly (jährliche Versammlung aller Mitgliedsstaaten und Abteilungen der WHO) teilnehmen und so einen Eindruck der Realität internationaler Gesundheitspolitik gewinnen. Ich wünsche mir für meine berufliche Zukunft, auf beiden Gebieten, Klinik und Globaler Gesundheit, tätig sein zu können.“ Weitere Informationen unter http://www.maastrichtuniversity.nl/web/Faculties/FHML/TargetGroup/ProspectiveStudents/MastersProgrammes/Programmes/ GlobalHealth.htm
Arzt & Alltag
Umdenken aus Empörung
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as Gefühl, etwas hinnehmen zu müssen, kann sehr lähmend sein. Wenn aber einmal der Sprung geschafft ist und etwas Konkretes getan werden kann, eben weil es getan werden muss, eröffnen sich neue Perspektiven. Das Lähmende kann abfallen und man sieht klarer, was stört, ungerecht und gefährlich ist. Man beginnt dabei auch, Wege zur Veränderung zu suchen. Von Andreas Hoffmann
Dieser Moment kam für uns, eine Handvoll Medizinstudierender aus Berlin, im Mai letzten Jahres. Während eines Blockpraktikums auf Station sahen wir zum wiederholten Mal, wie wenig Raum der Arbeitsalltag
für die uns eigentlich zugedachte Lehre ließ. Dies zwang unsere Aufmerksamkeit auf die Frage: Wollen wir später einmal selbst unter diesen Umständen arbeiten? Aus dieser Erfahrung entstand unsere Arbeitsgruppe, in der wir uns regelmäßig zu Diskussionen trafen. Es ging darin um die herrschenden Zustände in der Arbeitswelt der ÄrztInnen, was zu diesen geführt hat, und – am wichtigsten – wie sie verbessert werden können. Wir wollten wissen, was andere Studierende von den Zuständen halten. Eine Antwort kam von der Charité – unserer Uni: 60 % der insgesamt 239 befragten Studierenden im praktischen Jahr sind laut der hier durchgeführten KuLM-Studie [1] der Ansicht, dass die Entwicklungen im Gesundheitssystem eine spätere Auslandstätigkeit für sie wahrscheinlicher machen würden. Des Weiteren beschäftigen sich 40 % mit der Option, nicht in der Gesundheitsversorgung tätig zu werden. Eine starke Aussage und gleichzeitig ein Momentum, dieselben Verantwortlichen zum Handeln zu bewegen, die auch eine größere Anzahl berufstätiger ÄrztInnen zum Ziel haben.
Um selbst ein Stimmungsbild darüber zu erheben, wie groß der Verdruss einerseits, und andererseits auch die Bereitschaft zum Mitwirken an Veränderung ist, haben wir eine Online-Umfrage mit acht Fragen erstellt, die wir an alle medizinischen Fakultäten Deutschlands schickten. Klar zeigte sich beim Zwischenstand von etwa 4100 Fragebögen, die Mitte Februar vollständig ausgefüllt waren, dass man nicht viel erwartet vom zukünftigen Arbeitsplatz an einer deutschen Klinik: so kreuzten immerhin 87 % bei den Arbeitsbedingungen das Urteil „eher unattraktiv“ oder „unattraktiv“ an, wobei für 97 % die Arbeitsbedingungen mindestens teilweise relevant für die Arbeitsplatzsuche sind. Ermutigend erscheint, dass über 90 % der TeilnehmerInnen sich einsetzen würden, um eine Veränderung der Zustände herbeizuführen [2]. Es ist etwas da, das nach Wandel aussieht. Eine andere Einstellung jedoch erschien uns durch zunehmende Beschäftigung mit dem Thema immer zynischer: über die Arbeitslast im doch sehr prestigeträchtigen ärztlichen Beruf lieber nicht zu jammern, da er doch sowohl mit klingender Münze wie auch der Befriedigung, Kranken zu helfen, ausreichend entlohne. Es reifte in uns die Überzeugung, dass wir mit solch einer Einstellung weder unseren PatientInnen, KollegInnen noch uns selbst einen Gefallen tun. Was wären also Wege, die zur Veränderung führen? Auf einem mehrtägigen und offenen Workshop machten wir uns Gedanken, wie eine „gute Klinik“ für uns aussehen müsste [3]. Eklatante Unterschiede zwischen dem von uns gewünschten Arbeitsumfeld und den tatsächlich gesehenen Zuständen wurden deutlich. Warum könnten diese Zustände nicht anders aussehen? Im Detail fragten wir uns: Wieso werden von beiden Seiten vereinbarte Arbeitszeiten nicht eingehalten?
Wie kann es sein, dass geleistete Überstunden nicht aufgeschrieben werden und somit unter den Tisch fallen? Wie kommt es, dass in der Gesundheitsversorgung Ausfälle, – etwa durch Krankheit, Schwangerschaft – mit denen in jeder Branche gerechnet werden muss, nur durch eine erhebliche Mehrbelastung der KollegInnen kompensiert werden können? Wie kann es sich unsere Gesellschaft leisten, angesichts des vielzitierten „FachärztInnenmangels“, die Ausbildung neuer KollegInnen so zu vernachlässigen, dass diese letzten Endes von der Willkür der Vorgesetzten abhängig ist und Qualität somit ein relativer Begriff bleibt? Warum werden in Einrichtungen, die Gesundheit herstellen und erhalten sollten, Zustände zugelassen, die Erschöpfung und Stress, letztes Endes ein regelrechtes Abnutzen und Verheizen der ArbeitnehmerInnen provozieren und dadurch für PatientInnen eine große Gefahr darstellen können? Fragen, die Missstände aufzeigen, aber unserem Engagement auch gleichzeitig eine Richtung geben. Und somit sind wir der guten Klinik, wie wir sie uns vorstellen, weiter auf der Spur. Ausgehend von unserer Initiative mit Mitgliedern in Berlin und auch in Jena wollen wir unsere Fühler ausstrecken und mit möglichst vielen Menschen zusammenarbeiten, denen ebenfalls eine Veränderung am Herzen liegt. Wir wollen mit einem solchen Netzwerk von Engagierten zu mehr öffentlicher Wahrnehmung der Probleme beitragen und finden, es ist an der Zeit, uns durch gemeinsame Aktionen Gehör zu verschaffen. Für uns hat sich der AusAndreas Hoffmann stieg aus dem Hamsterrad 9. Semester des Einfach-Weiterma- Charite Berlin chens und Abnickens der Zustände schon gelohnt. Wir wollen nicht verheizt werden, sondern selbst eine bessere Zukunft mitgestalten. Unsere Homepage: www.mediga.de
[1] Dettmer S, Kuhlmey A, Schulz S. Deutsches Ärzteblatt 2010; 107(1-2): A-30 / B-26 / C-26 [2] eine Übersicht vom Zwischenstand der Umfrage gibt es als Blog-Eintrag auf www.mediga.de unter „Home“. [3] unter „Ziele & Pläne“ auf www.mediga.de
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Arzt & Alltag
Warum Kant etwas zur Gesundheit beitragen kann
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un sage ich: der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ - Immanuel Kant Von Lydia Patzak
Darf man Patienten zu ihrem eigenen Wohl zu Sport verpflichten? Welche Folgen hätte es, wenn in Zukunft Sport wie ein Medikament auf dem Rezeptblock verschrieben werden würde? Das diskutierten wir in Hannover anlässlich eines Workshops. Sport präventiv zu verschreiben wäre ein massiver Eingriff in die persönliche Freiheit und Freizeit eines Menschen – und das gar zum Wohle der leeren Gesundheitskassen? Wenn einmal das Gemeinwohl per Dekret über den Willen des Patienten gestellt worden ist, folgen dem leicht weitere negative Konsequenzen. Grund hierfür ist, dass die moralisch verwerfliche Handlung, hier die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte, bei einer einmaligen Übertretung künftig als nicht mehr so verwerflich empfunden wird [1]. In der negativen Utopie „Corpus delicti“ von Juli Zeh wird solch ein Horrorszenario beschrieben. Ein fiktiver, skrupelloser Staat schafft eine Welt der totalen Überwachung. In dieser Welt ist Sport zur alltäglichen Pflicht geworden, die alltäglichen Freuden des Nikotinabusus‘ oder des Alkoholkonsums werden mit drakonischen Strafen geahndet [2]. Die Gesundheitsdogmen des Staatsapparates beschreibt Zeh so: „Es liegt in ihrem Interesse, jede Form von Krankheit zu vermeiden. (…) Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem persönlichen und dem allgemeinen Wohl, die in solLydia Patzak chen Fällen keinen Raum 7. Semester, Hannover für Privatangelegenheiten Hiwi im Institut Geschichte, lässt.“ [3] Theorie und Ethik der Ist es pragmatischMedizin der MHH realistisch gesehen nicht sogar Auftrag des Gesundheitssystems „jede Form von Krankheit zu vermeiden“? Darf man demnach eine Art „Zwangsverordnung zur Pflicht zur körperlichen Betätigung“ erlassen? Was bewegen diese provokativen Fragen beim deutschen Gemüt? Schnell
wäre der Vergleich mit der Ideologie des Nationalsozialismus bei der Hand. Denn, es heißt im Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ [4] Bisher sieht es (noch) nicht so aus, als ob die Gesundheitsdiktatur in Deutschland direkt vor der Haustür stünde. So entfielen laut der Ärztezeitung 2010 „nur ein bis zwei Prozent der Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenkassen auf Prävention.“ Als vernünftig bezeichnete Professor Stefan Willich von der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention der Charité Berlin 10 bis 15 % [6]. Warum das so wichtig ist, wird klar, wenn man sich die explodierenden Kosten und die ineffektive Verteilung der Mittel im Gesundheitswesen ansieht. Die Ökonomie hat in der Medizinethik ihre Berechtigung, da man wertvolle Ressourcen, hier sind es finanzielle Mittel, nicht verschwenden darf. [7] Wie ist es also zu bewerten, wenn Ärzte ihre Patienten zu körperlicher Ertüchtigung zwingen wollen? Denn eigentlich sollte sich das Fürsorgeprinzip der Patientenautonomie unterordnen. Das wird in der heutigen Medizin allzu oft vergessen. „Sich selbst Gesetz gebend“ und damit autonom ist der Patient aber erst dann, wenn er das Krankheitsgeschehen wirklich begreift. Hier wird die Abhängigkeit des Patienten von seinem Arzt deutlich. Eine Abhängigkeit, die historisch gesehen für eine Reihe schädlicher Übergriffe auf Kranke verantwortlich ist. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist heute leider immer noch durch ein sehr starkes Machtgefälle geprägt. So unterscheidet Prof. Giovanni Maio, derzeit im Medizinethik Institut der Uni Freiburg tätig, zwischen einem „milden“, „schwachen“ und „harten ärztlichen Paternalismus“. Der milde Paternalismus ist das argumentative Überzeugen des Patienten zu mehr Sport. Das Kriterium für mild ist hier die indirekte Auswirkung des ärztlichen
Handelns. Schwachen Paternalismus übt ein Arzt aus, der sich über den Willen eines nicht urteilsfähigen Patienten hinwegsetzt. Dies wäre zum Beispiel bei einem Alzheimer-Patienten der Fall, der zum Walken geschickt wird. Man kann nur hoffen, der Patient findet den Weg zurück. Eine grundsätzlich schwer zu rechtfertigende Überschreitung der Patientenautonomie stellt der starke Paternalismus dar, bei dem sich der Arzt über den Willen eines einsichtsfähigen Patienten hinweg setzt. [8] Also dem Patienten vorschreibt, er müsse Sport treiben, sonst würde er ihm die entsprechenden blutdrucksenkenden Medikamente verweigern. Woher also jetzt die Legitimation für eine „Pflicht zum Sport“ schöpfen? Die Antwort darauf ist eigentlich schon vorhanden, nämlich in Form des ursprünglichen Gedankens des Solidarprinzips, der bisher die gesetzliche Krankenversicherung prägt(e). Das Wort „Pflicht“ wäre in dieser Debatte durch den Gedanken zu ersetzen, dass wir in unserem Wohlstand die „Freiheit zum Sport“ haben. Diese sollte jedoch nicht nur als Zwang, sondern auch als Chance zu eigenverantwortlichem Handeln gesehen werden. „Wem das Gewissen gebietet, auf eine bestimmte Weise zu handeln, der hat auch die Pflicht, so zu handeln. (…) Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ [9] Wäre Kant etwas bekannter und mehr Zeit für die bekannten Argumente für den Sport in den Arztpraxen, das wären schon einmal Schritte in die richtige Richtung. [1] http://de.wikipedia.org/wiki/Dammbruchargument [2] Rezensionen zu Corpus delicti auf: http://dystopischeliteratur.org/2010/11/14/juli-zeh-corpus-delictieinprozess/ und Zeit-online: http://www.zeit.de/2009/13/M-Gesundheitsdiktatur, aufgerufen am 07.08.2012 [3] Zeh, Juli: „Corpus delicti – ein Prozess“, Schöffling und Co. Verlag, Frankfurt a.M. 2009 [4] Gesetze im Internet, BM für Justiz, http://www. gesetze-im-internet.de/gg/art_2.html, aufgerufen am 10.08.12 [6] Artikel in der Ärzte Zeitung "15 Prozent der GKV-Ausgaben für Prävention - das wäre vernünftig", vom 30.09.2012, http://www.aerztezeitung.de/ politik_gesellschaft/krankenkassen/article/621917/15prozent-gkvausgaben-praevention-waere-vernuenftig. html?sh=2704&h=-182491072, aufgerufen am 07.08.2012 [7] Maio, Giovanni: „ Mittelpunkt Mensch. Ethik in der Medizin – Eine Einführung.“ , Schattauer 2012, S. 318 [8] Maio, G, S. 165 [9] Kant zitiert nach Wikipedia: http://de.wikipedia. org/wiki/Kategorischer_Imperativ#Kants_Pflichtbegriff, http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorischer_Imperativ, aufgerufen am 07.08.2012
IPPNW international
Medical Peace Work Krieg und Frieden im Studienalltag
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edical Peace Work - das ist ein Experiment, ein Blick in eine sehr weite Themenwelt, eine Auffälligkeit im Studium, ein „weiches Fach“, nicht im Studienkatalog fest verankert, ohne „direkten klinischen Bezug“. Und doch: für die Teilnehmer könnte der klinische Bezug – und der Wirklichkeitsbezug - nicht größer sein. Von Inga Grundke Medical Peace Work ist ein Wahlfach in Leipzig, das man sowohl in der Klinik als auch in der Vorklinik machen kann, mit Unterstützung der Institute der Medizinischen Psychologie und Sozialmedizin, aber hauptsächlich organisiert von Studenten (die Hauptverantwortlichen hierbei als Hilfskräfte der Institute angestellt), die Ausführung gestaltet von den Teilnehmern selbst. Die etablierten Online-Kurse von „Medical Peace Work“, die seit April diesen Jahres auch mit Fortbildungspunkten von der Norwegischen und damit allen Europäischen Ärztekammern anerkannt werden, sind Grundlage, aber kein Pflichtteil. Da geht es um eine Rundumsicht auf die gewalttätigen Konflikte, mit denen medizinisches Personal in der heutigen Welt in Berührung kommt. Es geht darum, diese Konflikte zu erkennen, zu verstehen, Ideen für Lösungen zu bekommen, und seinen Blick darauf zu ändern – und das eben nicht nur weit weg irgendwo in Krisengebieten, sondern auch hier, im alltäglichen Umgang miteinander, im gängigen Unrecht, das umso gefährlicher ist, weil man es leicht übersieht. Gewalt ist hierbei ein weit gefasster Begriff – nicht nur direkte, körperliche Gewalt
oder kriegerische Auseinandersetzung ist damit angesprochen, sondern auch verbale Gewalt, Suizid als Gewalt gegen einen selbst, oder die gesichtslose Unmenschlichkeit von Systemen weltweit, die Menschen den Zugang zu Frieden und Gesundheit schwer machen. Gesundheit und Frieden sind hier eng gekoppelte Begriffe – die beiden bedingen einander, setzen einander voraus, und der Konsens könnte nicht klarer und einfacher sein: Gewalt egal in welcher Form ist der schlimmste Schaden für das Wohlbefinden von Menschen. Wenn man daran etwas ändern möchte, leistet man schon Friedensarbeit. Angefangen hat es 2009 als Idee der IPPNW-Studierendengruppe in Leipzig, die Online-Kurse als Gruppe gemeinsam zu machen. Das Gelesene und Gehörte sollte diskutiert, weitergedacht und veranschaulicht werden können. So fing der Versuch an, schon mit der Idee im Hinterkopf, das Ganze auch breiter bekannt zu machen. An Hand der sieben Kurse konnten wir uns an einer Struktur entlang bewegen, und jede Stunde wurde durch zwei Studenten mit Arbeitsmaterial, Vorträgen und Gruppenar-
Studigruppe Münster Wir sind etwa zehn Studierende unterschiedlicher Semester. Einmal in der Woche treffen wir uns um gemeinsam zu diskutieren, zu planen und zu philosophieren. Bei diesen Treffen planen wir u.a. Aktionen wie das allsemesterliche Vernichten der „Atomwaffeln“. Im Lehrsaalgebäude unsere Fakultät verkaufen wir Waffeln und informieren über die IPPNW Arbeit. Die Einnahmen spenden wir an unterschiedliche Organisationen oder nutzen sie zur Durchführung
eigener Projekte. Zum Semesteranfang planen wir außerdem immer die so genannten „Mittagsreferate“. Jeden Mittwoch gibt es in der Mittagspause einen kleinen Vortrag zu Themen rund um Gesundheitsversorgung, Migration, Umwelt und Auslandpraktika. Aktuell haben wir Referate zu häuslicher Gewalt, Sterbebegleitung und Palliativmedizin, Famu-
beit gestaltet. Dieser Aufbau blieb erhalten, auch wenn die Themenschwerpunkte jedes Jahr neu bestimmt werden. Im Wintersemester 2010 wurde der Kurs als Wahlfach für die Vorklinik und als fakultatives Angebot für die Klinik das erste Mal angeboten. Der große Zulauf des Kurses zeigte das starke Interesse der Studenten, und unter den Studenten fanden sich auch einige, die den Kurs weiterführten, weiter entwickelten und die Anerkennung als Wahlfach in der Klinik vorantrieben, die im vergangenen Jahr dann auch erreicht wurde. Es ist immer noch nicht klar, ob der Kurs sich als Wahlfach fest ins Studienangebot der Universität Leipzig integriert. Dieses Jahr steht die Anerkennung als Wahlfach in der Klinik wieder auf der Kippe. Viele Studenten engagieren sich aber sehr stark dafür, dass der Kurs in dieser Form bleiben kann. Die angesprochenen Themen sind wichtige für Medizinstudenten, und die positiven Rückmeldungen der Teilnehmer lassen hoffen, dass der Kurs, egal in welcher Form, als Inga Grundke kleine Besonderheit in der PJ Leipzig Studienlandschaft erhalten wird. Für die Durchsetzung dieser Sache kann man ausgezeichnet die im Kurs gelernten Konfliktlösestrategien gebrauchen, um eine friedliche Lösung zu finden. Einfach ist das nie.
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latur in Indien und Klimaschutz in Tansania geplant. Im letzten Semester haben wir in Kooperation mit dem Ökoreferat des Astas einen Nachhaltigkeitsguide für Münster kreiert. In einem Heft haben wir Informationen zu fairem, regionalem und ökologischem Handel aufgeführt. Der Verbraucher findet Adressen von Geschäften, Cafés, Bars und
Restaurants in Münster, welche sich an diesen Konzepten orientieren. Die kostenlosen Infohefte legen wird an verschiedenen Orten in der Stadt aus. Ein weiteres Ziel ist es eine Homepage zu schaffen, um die Informationen regelmäßig zu aktualisieren und sie auch Nicht-Münsteranern zugänglich zu machen. Außerdem hat ein Teil der Gruppe mit dem Medical Peace Work Kurs begon-
nen. Innerhalb einer Woche wird ein Kapitel vorbereitet, um dieses dann gemeinsam in der Runde zu diskutieren. Für dieses Semester planen wir eine Abendveranstaltung zum Thema „Medizin im Münsterland in der NS-Zeit“ zu organisieren. Katharina Thilke
Studigruppe Erlangen AG Medizin und Menschenrechte Wir sind eine Gruppe von ungefähr 15 bis 20 Studierenden. Die Zahl schwankt immer ein bisschen, weil keiner von uns gleichmäßig viel Zeit hat, und in manchem Semester zu sehr mit dem Studium ausgefüllt ist … Momentan sind die meisten aktiven MedizinstudentenInnen, wir konnten auch eine Lehramtsstudentin für unsere Arbeit gewinnen und versuchen weiterhin Menschen aus allen Fachrichtungen anzusprechen und mit ins Boot zu holen. Denn wir finden, dass unser Projekt „Medizinische Flüchtlingshilfe“ keineswegs auf den medizinischen Bereich beschränkt ist! Vielmehr ist es so, dass wir in den knapp drei Jahren, seitdem unsere AG besteht, leider keine wirkliche Struktur schaffen konnten, in der es möglich ist Illegalisierte zu versorgen. Das scheitert allerdings nicht an der Zusammenarbeitsfreudigkeit der örtlichen Ärzte – die sind spitze – sondern daran, dass es scheinbar keine illegalisierten Menschen in Erlangen gibt bzw. diese sich nicht direkt an die Nürnberger Institutionen wenden … Deshalb haben wir uns vor einem knappen halben Jahr gesagt: Mut zur Veränderung! Es gibt in Erlangen drei Gemeinschaftsunterkünfte (GU) für Flüchtlinge. Schon vorher waren diese sogenannten GUs fester Bestandteil unserer Arbeit. Doch nun haben wir versucht unsere Arbeit dort zu intensivieren. Diese reicht von der Begleitung der Menschen zum Arzt, Amt, anderer Stelle, über „einfache“ Besuche, bis hin zum Geben von Nachhilfe und Deutschunterricht! Wir wollen den Menschen in den GUs eine Stütze sein, ihnen Unterstützung bieten, ihnen helfen ein eigenständiges Leben in Deutschland zu leben. Ganz nach dem Motto: Hilfe zur Selbsthilfe! Einige von uns betreuen regelmäßig die gleiche Familie in Form eines Patenschaftsmodells, um die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren. Außerdem konzentrieren wir uns nun
verstärkt auf politische Arbeit! Wir wollen die Bürger von Erlangen auf die Situation der Flüchtlinge aufmerksam machen. Wir kämpfen für die Rechte der Flüchtlinge! Leider ist Bayern das letzte Bundesland, das noch am „Essenspaket-Modell“ festhält … Gemeinsam mit anderen Flüchtlingsinitiativen kämpfen wir auf stadtpolitischer Ebene für eine Änderung dieser Situation, gegen unangemessene Abschiebepraktiken und die Unterbringung der Menschen unter schlechten Bedingungen! Neben diesen grundsätzlichen Ideen versuchen wir immer wieder spontane Aktionen auf die Beine zu stellen. So haben wir in diesem Semester zweimal einen Kleiderbasar mit Kleiderspenden von
Kommilitonen für die Flüchtlinge veranstalten können! Wir haben außerdem eine Aktion zum „richtigen Zähneputzen“ gemacht. Ihr seht, unsere Arbeit richtet sich in zwei Richtungen: An die Menschen direkt, die unsere Hilfe benötigen und nach außen an all diejenigen, die einmal über diesen poli-
tischen Missstand aufgeklärt werden möchten/sollen. Wir freuen uns darauf beide Aspekte im November beim Studitreffen vereinen zu können und dort mit euch viele neue Ideen und Anregungen für die praktische Arbeit zu schmieden! Eure Erlangener-Studigruppe
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Famulieren und Engagieren im Sommer 2012 Ärzte in sozialer Verantwortung „Soziale Verantwortung – überall ist sie doch sehr von unserer Kultur und Herkunft abhängig, wie ich in Nepal erleben durfte. Anders als in Deutschland kommt es in Nepal häufiger vor, dass ein Maldescensus testis aufgrund von mangelnder ärztlicher Versorgung erst im Alter von zwölf Jahren operiert wird. Daher steigt das Risiko einer Zeugungsunfähig signifikant an. Bei der Aufklärung über die OP werden sämtliche Komplikationen aufgezählt, außer der drohenden Zeugungsunfähigkeit. Freimütig berichtet der Arzt, dass er das bewusst so mache, denn sonst würde er das ganze Leben des Jungen zerstören. Sei erstmal eine Impotenz diagnostiziert, wären sämtliche Chancen auf eine Heirat genommen. Aufgrund mangelnder staatlicher Sozialfürsorge und der Abhängigkeit in Alter und Krankheit von der eigenen Familie ist man in Nepal ehe-, bzw. kinderlos in einer sozialen Notlage. Daher sieht er seine moralische Pflicht darin, diese Möglichkeit nicht aufzuzeigen und erst bei etwaiger Kinderlosigkeit in einer Ehe eine Störung der Fruchtbarkeit zu diagnostizieren.“ Clara Dunkel aus Göttingen, Nepal „Einer der Gründer der CBH in Bethlehem war der Schweizer Salettinerpater, Ernst Schnydring, eine vielseitige Persönlichkeit, die in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Eigens zu diesem Anlass wurde ein Buch über sein Schaffen veröffentlicht. Es heißt: „Ein Herz muss Hände haben“. Heute, 50 Jahre nach der Gründung des CBH, scheint genau diese Philosophie die Gänge und Räume des Hauses zu erhellen. Eine kuriose Patchworkfamilie aus Ordensschwestern, lebhaften Dauerpatienten, Assistenzärzten, temperamentvollen Schwestern, lächelnden Sozialarbeiterinnen und einem exzellenten Küchenchef. Dann ist dort Dr. Jamal, der voller Integrität die Rolle des Weisen und erfahrenen Lehrers übernimmt und mit aller Ruhe versucht, die nächste Generation auf ihre medizinische und politische Verantwortung vorzubereiten. Er ist als Arzt hoch geschätzt. Viele amerikanische Häuser haben ihm großzügige Angebote gemacht. Aber er bleibt. Er bleibt, obwohl er in Jerusalem geboren ist und sich jetzt mit einer Aufenthaltsgenehmigung bei respektlosen Soldaten vorstellen muss um
seine Heimat zu betreten. Er bleibt, auch wenn seine Kinder gegangen sind. Er bleibt, auch wenn er hier weniger verdient. Das Krankenhauspersonal arbeitet unter Umständen, in denen ihm oft die Hände gebunden sind, aber genau deshalb scheinen ihre Herzen auch stärker zu schlagen.“ Claudia Alex Perez aus Leipzig, Palästina „Es sind die Belange von Frauen und Kindern, die im Mittelpunkt des Interesses von Dr. Türkan Günay, einer Ärztin mittleren Alters, stehen. Sie ist Fachärztin für Public Health an der Dokuz-Eylül-Universität in Izmir und ist in eine Vielzahl an Projekten involviert. Sie ist u.a. tätig bei einer türkischen Stiftung („TEGV“), die landesweit verschiedene Bildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche aus v.a. soziökonomisch schwachen Strukturen anbietet. Jährlich mobilisiert Dr. Günay 15 MedizinstudentInnen, die als Freiwillige während des Semesters SchülerInnen der 3.-8. Klassen über medizinische Themen aufklären wie Anatomie, Hygiene, Mund-und Zahnpflege und Ernährung. Weitere StudentInnen engagiert sie in einem gesundheitlichen Aufklärungsprojekt für Frauen in einem Dorf mit einem hohen Anteil an jungen Müttern und Konsanguinität. Mit ihrem Optimismus, ihrem lieblichen Blick und ihrer schier unerschöpflichen Energie, scheint es Dr. Günay nicht schwerzufallen ihre Projekte zu realisieren und dafür weitere Freiwillige zu gewinnen.“ Gözde Sen aus Freiburg, Türkei „Sie ist zwar keine Ärztin, doch hat mich Krankenschwester Rema im Gesundheitszentrum in Mitrovicamit ihrer Tatkraft und ihrer Herzlichkeit sehr beeindruckt. Nicht wenige ÄrztInnen habe ich getroffen, die resigniert haben auf Grund der vielen großen und kleinen Mängel des Gesundheitssystems. Nach dem Krieg kehrte sie mit ihrer Familie aus der Schweiz zurück und musste fast von Null beginnen. In Mitrovica war und ist die Situation auf Grund der Teilung besonders schwierig. Das Krankenhaus befindet sich auf der serbischen Seite im Norden. Im südlichen Gesundheitszentrum bekam ich den Eindruck, dass versucht wird, mit den wenigen Mitteln das Beste für die PatientInnen zu erreichen. Rema kennt
ihre Patienten, ihre familiäre wie sozioökonomische Situation. Im Falle von eingeschränkten finanziellen Ressourcen setzt sie alles daran, die Medikamente trotzdem zu beschaffen. Sie ist maßgeblich daran beteiligt, systematische Neuerungen einzuführen und umzusetzen, wie die elektronische Verwaltung der Krankenakten. Dieses Bewusstsein, die Probleme im Gesundheitssystem nicht nur auf „die Politik“ schieben zu können, sondern sie im Rahmen der eigenen Möglichkeiten selbst anzugehen und dabei einen wertschätzenden Umgang mit PatientInnen und KollegInnen zu wahren, hat mich bei ihr so beeindruckt.“ Anna Hasenmaile aus Freiburg, Kosovo „Anandwan: Eine Gemeinschaft im Herzen Indiens, übersäht mit farbenfrohem Mosaik und voller Pflanzen und eifrig werkelnder Menschen. Baba Amte hat diesen Ort vor 60 Jahren gegründet, als niemand Leprakranke auch nur berühren wollte. Baba war kein gelernter Arzt, aber mehr mit dem Herzen bei der Sache als viele andere. Die meisten Leprapatienten bleiben nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Sie sind zwar geheilt, aber nicht heil. Dafür braucht es Selbstachtung und ein Leben in Würde. Es gibt in Anandwan Gemeinschaftsküchen und zahlreiche Werkstätten – die Kommune ist fast autark. Inzwischen sind viele andere hierhergekommen: Menschen mit Behinderungen, von Baba inspirierte Menschen. Füreinander sorgen, voneinander lernen und auf Augenhöhe kommunizieren: Hier wird Inklusion gelebt. Baba hat sein Leben den Menschen gewidmet. Seine Nachkommen sind Ärzte in der dritten Generation. Ich habe gelernt: Arzt in sozialer Verantwortung bedeutet vor allem, die Fähigkeit zur Empathie niemals zu verlieren. Alles Weitere kann und sollte daraus wachsen.“ Judith Achenbach aus Leipzig, Indien „Die Ambivalenz des Vergessens habe ich im Shalvata Mental Health Center HodHaSharon, Israel kennen gelernt. Dr. Abramovic ist Gerontopsychiaterin; eine schwunghafte Frau kurz vor der Berentung, mit durchdringenden grünen Augen und vielen Lachfalten, die ihren PatientInnen
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eine beeindruckende Ernsthaftigkeit entgegen bringt. Die einen kommen zu ihr, weil sie vergessen; sich, ihre Geschichte und ihre Familie, weil sie im Alltag nicht mehr zurechtkommen. Die anderen kommen, weil sie nicht vergessen können: Ihre Vertreibung, das ewige Verstecken, das Lager, die Zwangsarbeit, die Auslöschung ganzer Familienzweige. Dr. Abramovic unterstützt diese stark beeinträchtigten Menschen und auch ihre Angehörigen mit großer Hingabe. Besonders in Erinnerung bleiben mir jene Momente, in denen ich mit Dr. Abramovic über manche Geschichten intensiv sprach, auch mal befreit darüber schmunzeln konnte und somit lernte, mit diesen oftmals schweren Schicksalen umzugehen.“ Roxana Müller aus Dresden, Israel „Ela ist Slowenierin und arbeitet derzeit als Freiwillige im Regional Center for Minorities. Ela ist keine Medizinerin. Sie gehört jedoch zu den engagiertesten Menschen, die ich getroffen habe. Zumeist hat sie mindestens drei Sachen im Kopf, die sie möglichst bald erledigen möchte. Währenddessen hilft sie den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Dazu gehören einige Flüchtlinge aus Ländern wie Afghanistan und Pakistan, die an der Grenze zu Ungarn versuchen in die EU zu gelangen oder die sich in sich in Belgrad ohne legale Papiere mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Außerdem setzt sie sich für Menschen ein, die nach Serbien abgeschoben wurden, jedoch das Land vor langer Zeit verlassen haben und keinerlei Ansprechpartner und Unterstützung haben. In meinen Augen ist neben der organisatorischen und finanziellen Unterstützung durch Ela besonders die Zeit, die sie mit den Menschen verbringt, für diese eine große Hilfe. Sie begegnet Menschen völlig vorbehaltlos und führt Gespräche mit Menschen, die es gewohnt sind, hier in Serbien nur verachtende Blicke zugeworfen zu bekommen. Besonders die Art wie Ela auf Menschen zugeht und ihr grenzenloser Optimismus haben mich sehr beeindruckt.“ Franziska Wolters aus Frankfurt/M, Serbien
Brücken der Verständigung Eine kurze Geschichte des Würzburger Projekts
Unsere Würzburger IPPNW-Regionalgruppe entstand sehr spontan im unmittelbaren Anschluss an einen sehr eindrucksvollen Vortrag unseres heutigen Ehrenvorsitzenden der Deutschen IPPNWSektion Professor Dr. Ulrich Gottstein gegen Ende des Jahres 1993. Gottstein berichtete uns von seiner Reise durch verschiedene Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien, die sich noch in heftigem Kriegszustand befanden, besonders in Bosnien und da vor allem zu dieser Zeit in Mostar. Er war dort, um sich über die medizinische Notsituation in den Kliniken zu informieren, den dortigen unermüdlich arbeitenden Kollegen und Kolleginnen moralischen und vor allem auch materiellen Beistand mit medizinischem Gerät und Medikamenten zu leisten. Drei Kolleginnen und drei Kollegen, alle schon seit Jahren Mitglieder der IPPNW, beschlossen noch am selben Abend, wieder in einer Gruppe aktiv zu werden. Unser besonderes Interesse galt den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien und wir fragten uns, was für einen Beitrag wir leisten könnten, um solchen Kriege wie dort in Zukunft zu verhindern. Wir waren uns rasch darüber einig, dass besonders der überspitzte Nationalismus, wie ich ihn persönlich in Mostar erlebt hatte, eine wesentliche Ursache für Kriege ist. Da unsere Gruppe über einen sehr guten und direkten Draht zum Missionsärztlichen Institut, dessen Klinik Lehrkrankenhaus der Universität Würzburg ist, verfügte (ein Kollegenehepaar arbeitete dort seit vielen Jahren), war rasch ein Plan verwirklicht. Wir wollten je einen Studenten bzw. Studentin aus einem der Nachfolgestaaten einladen. Sie sollten Englisch sprechen können und sich, auf engem Raum zusammenlebend, gut vertragen. Wolfram Braun Im Sinne der Facharzt für IPPNW (Ärzte Allgemeinmedizin zur Verhütung
des Atomkriegs und aller Kriege/Ärzte in sozialer Verantwortung) wollen wir im Gespräch mit unseren Gästen auf den Unsinn des überspitzten Nationalismus und die daraus erwachsende Kriegsgefahr hinweisen in der Hoffnung, dass sie als spätere Ärztinnen und Ärzte in ihren Ländern wenigstens in ihrem persönlichen und beruflichen Umfeld solchen Tendenzen energisch entgegen wirken würden. Das Missionsärztliche Institut bot und bietet uns bis heute dankenswerter Weise sechs Zimmer seines Gästehauses kostenlos für vier Wochen im September an, wo wir sechs Studentinnen und/oder Studenten unterbringen können. Diese famulieren bei freiem Mittagstisch in den verschiedenen Abteilungen des Krankenhauses. Eine IPPNW-Kollegin, Oberärztin der Inneren Abteilung, bereitet alljährlich ein wissenschaftliches Programm mit wissenschaftlichen Vorträgen der verschiedenen Abteilungen vor, in englischer Sprache drei bis vier Mal pro Woche gehalten von leitenden und angestellten Ärzten des Hauses. Diese Veranstaltung ist für alle Famuli, auch für die deutschen, verbindlich. Diese Art der Fortbildung ist in keinem der Nachfolgestaaten Jugoslawiens üblich und insofern für unsere jungen Kolleginnen und Kollegen enorm wertvoll. Für die Freizeit stehen auch deutsche Studierende zur Verfügung. Zur Vertiefung unserer freundschaftlichen Beziehungen besuchen wir nach Möglichkeit einmal im Jahr eine der Haupt- oder Universitätsstädte der verschiedenen Länder zu einem verlängerten Wochenende und laden dazu „ehemalige Würzburger“ aus den Nachbarländern ein. Anfang Juni dieses Jahres waren wir zum Beispiel in Mostar/Bosnien. Es ist uns eine besondere Freude und Hilfe, dass uns das Ehepaar Gottstein seit Jahren begleitet. Wir freuen uns natürlich auch sehr, dass inzwischen junge IPPNW-Gruppen in Serbien, Mazedonien und im Kosovo gegründet worden sind. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, dass sich auch in Bosnien eine Gruppe bildet. Von Wolfram Braun
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Internationaler IPPNW-Studierendenkongress in Japan
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lle zwei Jahre findet vor dem Weltkongress der IPPNW der internationale IPPNW-Studierendenkongress statt. In diesem Jahr hatte ich die Möglichkeit, nach Japan zu reisen, um die vielen anderen engagierten Medizinstudierenden aus allen Kontinenten der Welt kennenzulernen oder wiederzusehen. Von Timothy Moore-Schmeil
Auf meiner Reise nahm ich mir mehrere Tage, um allein mit dem Zug von Tokyo zu unserem Kongressort Hiroshima zu fahren.
Ich bin sehr froh, mir die Zeit genommen zu haben, beim „Couchsurfen“ ein wenig die Kultur Japans kennenzulernen! Die faszinierend internationale Atmosphäre beim Kongress ist zwar ein einzigartiges Erlebnis, aber damit auch wenig „japanisch“. Unsere Konferenz beinhaltete Plenarveranstaltungen und Workshops zu Themen, mit denen wir uns als Studierende intensiv weltweit auseinander setzen. Neben der humanitären und politischen Lage nach
der Atom-Katastrophe in Fukushima ging es auch um die anhaltende Bedrohung der internationalen Sicherheit durch Atomwaffen. Eine sehr prägende Erfahrung waren für mich die Gespräche mit „Hibakushas“den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und den Opfern der Katastrophe aus Fukushima. Aufgrund der katastrophalen Auswirkung der Radioaktivität auf die Opfer dieser Ereignisse riefen wir als internationale Studierendenbewegung in einer einstimmig beschlossenen Resolution die gesamte IPPNW dazu auf, ihre wichtige Arbeit für ICAN fortzuführen und ihr Engagement gegen die Atomenergie zu einem priorisierten Ziel zu machen. In weiteren Vorträgen und Workshops beschäftigten wir uns den medizinischen Folgen von Kleinwaffengewalt in Nigeria, dem
Konzept von „Medical Peace Work“ und dem Zusammenhang zwischen Klimawandel und Gesundheit. Ein wichtiger Teil des Studierendenkongresses ist es, Erfahrungen auszutauschen und die Organisation unserer Studierendenbewegung zu verbessern. Durch die neu gegründete „International Core Group“ werden in Zukunft die internationalen StudierendensprecherInnen von erfahrenen oder aktiven Studierenden in ihrer Arbeit unterstützt. Zudem werden wir unsere internationale Studierenden-Website neu aufstellen, um allen aktiven Studis die Partizipation auf internationaler und regionaler Ebene zu erleichtern. Als neue Internationale Studierendensprecherinnen wurden Karin Harada (Japan) und Niloufar Rahim (Niederlande) gewählt, denen ich sehr gratulieren möchte! Der Hauptkongress war für mich geprägt von den Debatten um die Risiken der Atomenergie, insbesondere der aktuellen Lage in Fukushima. Aufgrund der einseitigen (und tendenziell pro-atom gerichteten) japanischen Auswahl der Sprecher zu diesem Thema, gab es starke Entrüstung unter den Teilnehmern der Konferenz. Da keine moderierte Debatte eingeplant wurde, mussten die Kontroversen informell ausgetragen werden, teils nach und teils während der Plenarsitzungen. Natürlich folgten auf die langen Kongresstage auch lange Nächte, welche zu vielen neuen Freundschaften, Massen von japanischem Essen und insgesamt einer unglaublich guten Zeit in Hiroshima Timothy Moore-Schmeil beitrugen. 11. Semester Göttingen
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IPPNW Balkan-Treffen in Mostar Bosnien und Herzegovina 2012
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om 8. bis zum 10. Juni 2012 fand in Bosnien-Herzegovina das diesjährige Treffen der IPPNW-Sektionen des westlichen Balkans statt. Es war der 10. Kongress seit 1998. Zuvor hatte es unter anderem Zusammenkommen in Belgrad, Sarajevo, Skopje und Pristina gegeben. Es trafen sich vor allem einige der ehemalige Teilnehmer des Austauschprogrammes „Building bridges“. Von Katharina Thilke und Ursula Völker
Seit 1996 kommt eine Gruppe von sechs Studierenden aus verschiedenen Ländern des Balkans für einen Zeitraum von einem Monat nach Würzburg. Gemeinsam besuchen sie verschiedene Seminare und machen eine Famulatur . Das regionale Treffen auf dem Balkan bietet eine Möglichkeit des Wiedersehens und der Entwicklung lokaler Projekte. In diesem Jahr waren um die zwanzig Medizinstudierende so wie ÄrztInnen aus Serbien, Kosovo, Kroatien, Slowenien und Deutschland zu Gast in Mostar. Sie tauschten sich mit alten und neuen Freunden über Fortschritte und Hindernisse ihrer IPPNW-Arbeit aus und schmiedeten Zukunftspläne. „70 % der Häuser sind noch immer nicht restauriert“, sagt der Taxifahrer und zeigt auf eine von Einschusslöchern übersäte Fassade im Zentrum Sarajevos. Ich bin auf dem Weg vom Flughafen in das Zentrum der Stadt. „Der Krieg ist noch immer sichtbar“, meine ich, als wir an einer Ampel halt machen. „Besteht er fort in den Köpfen?“ Ich erschrecke über die heftige Reaktion des Taxifahrers. Er packt Katharina Thilke mich am Arm, heftet seinen PJ, Münster/Köln Blick weg vom Straßenverkehr direkt auf mich. „Natürlich ist er das“, ruft er aus. „Ich habe gekämpft, zwei Brüder und drei Freunde verloren.“ Dann schweigt er. Der überfüllte Bus schnauft durch Berg und Tal, immer nah an der türkisfarben schimmernden Neretva und der Zugstrecke mit ihren Viadukten Ursula Völker, und Tunnels entlang RichAssistenzärztin Kinder und tung Mostar. Hinaus aus der Jugendpsychiatrie Tübingen
Großstadt aufs Land, wo saftige Wiesen und gelb blühende Sträucher um die Wette leuchten und die Luft über den Bauerngärten in der Hitze flirrt. Kein Mensch weit und breit. Greifvögel am Himmel, hier und da weidendes Vieh. Eine Postkartenidylle. Aber selbst im entlegensten Dorf starren einen diese Fratzen von Häusern an. Das Fensterglas erneuert, doch die Front voller klaffender Wunden. Auf der anderen Seite der Straße, genau dort, wo ein struppiger Hund im Schatten seinen Mittagsschlaf hält, muss jemand gestanden und gezielt haben. Von den Treffern sieht man nichts. Zum Programm der Konferenz gehört eine Begehung des Universitätsklinikums in Mostar. Es befindet sich auf der westlichen, kroatischen Seite der Stadt. Auf unsere Nachfrage, wie sich die medizinische Versorgung im Osten Mostars, jenseits der „Frontlinie“, gestaltet, bekommen wir zurückhaltende Antworten von den einheimischen Teilnehmern. Man sei noch nicht vor Ort gewesen, aber es gebe dort eine weitere Klinik, welche jedoch weniger gut ausgestattet sei. In der Tat: Das Gebäude, das wir stolz präsentiert bekommen, entspricht westeuropäischen Standards, mit großräumigen OP-Trakten und breiten Gängen. Im Eingangsbereich der Station für Gynäkologie und Geburtshilfe hängt ein christliches Kreuz an der Wand. Dies wirft Fragen auf, handelt es sich doch um ein staatliches, öffentliches Krankenhaus. Eine Teilnehmerin erkundigt sich. Die Erklärungen, die sie bekommt, sind spärlich, vielleicht ein wenig ausweichend. Der Chef der Abteilung habe es wahrscheinlich veranlasst, deshalb hänge es dort. Es habe aber nichts weiter zu bedeuten. Wirklich nicht? Ich denke an die riesigen Kreuze, die wir auf dem Weg auf fast jedem der Hügel um Mostar gesehen haben: Sie wirken, als sollten sie zur Markierung des kroatischen Reviers dienen.
Eines der Ausflugsziele am Samstagnachmittag ist außerdem der Marienwallfahrtsort Medjugorje. Im Jahre 1981 soll hier die heilige Maria erschienen sein. Die Muttergottes habe eine Botschaft über Glaube, Umkehr, Gebet und Fasten als die Mittel, die uns zu Gott und zum Frieden führen, verkündet. Bis zu eine Million Pilger besuchen jährlich den 4.300-Einwohner-Ort. Im Glaubenszentrum, der Franziskaner St.-Jakobs-Kirche, werden eucharistische Gottesdienste gehalten. Als wir die Stätte besuchen, befinden sich sowohl innerhalb der Kirche als auch dahinter, unter freiem Himmel, mehrere hundert Menschen, die der Andacht lauschen und auf den Leinwänden den Worten des Priesters folgen. Ein Stück den Park herunter gelangen wir zu einer fast sechs Meter hohen Bronze-Skulptur. Es handelt sich um eine Statue des auferstandenen Jesus. Die Sonnenstrahlen brechen zwischen den Wolken hindurch und es entsteht ein gleißendes Licht. Eine Ansammlung von Gläubigen berührt mit Händen, Tüchern und Rosenkränzen das Schienbein der Skulptur. Ein italienischer Pilger habe einst bemerkt, dass aus dieser Stelle am rechten Bein, knapp unterhalb des Knies, kleine Tropfen einer klaren Flüssigkeit sickerten. Bis heute kommen Pilger nach Medjugorje, um eine Träne Christi aufzufangen. Bosnien-Herzegovina ist bemüht um eine befriedende, zukunftsorientierte Narrative. Es scheint, als helfe man sich mit Auslassungen um die schmerzlichsten Stellen herum. Der brandneue McDonalds in Mostar ist gepflegter als ein Kirchenschiff. Die onkologische Spezialklinik, durch die uns unsere Gastgeber führen und die mittels eines Kredits aus Saudi-Arabien errichtet worden ist, wartet auf die ersten Patienten. Dann ein Hinweisschild, das Schusswaffen in der Notaufnahme untersagt: Die Risse, die den Zusammenhalt der Gesellschaft nach wie vor gefährden, werden spätestens auf den zweiten Blick hin sichtbar. Vier Tage in Bosnien-Herzegovina hinterlassen viele neue, teils verwirrende Eindrücke. Hoffnungsvoll stimmt uns die Vorfreude auf das nächste Treffen, das 2013 in Belgrad stattfinden soll. Und die Erfahrung, dass im geschützten Rahmen unter Freunden und Kollegen ehrliche Fragen und selbstkritische Diskussionen möglich sind.
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IPPNW Nigeria The Journey of the Aiming for Prevention (AFP) Campaign so far
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he Nigerian affiliate of IPPNW was founded in February 1988 to address the welfare and health challenges of the Nigerian Populace; hence the name, the Society of Nigerian Doctors for the Welfare of Mankind (SNDWM). Her members consist of medical doctors, medical students, social medical workers, nurses and non-healthcare professionals, who serve as the members of staff. The 1990s global campaign to ban landmines marked IPPNW’s first major entry into the non-nuclear arena. By Ogebe Onazi
The federation became engaged in addressing small arms violence in 2001 when they launched “Aiming for Prevention” which has broadened to include all types of armed violence. The Nigerian affiliate was one of its founders. The campaign has been driven by affiliates from the global South – primarily Sub-Saharan Africa, Latin America, and South Asia – who live and work in areas where armed violence is a constant threat and consumes significant portions of health care budgets.
IPPNW instituted in Kenya, Zambia, DR Congo, Nigeria, and Uganda in 2007. It is a Multinational Injury Surveillance System-
Aiming for prevention Motivated by the need to contribute to peace building in Nigeria and the wider Global South Community, SNDWM radio show joined IPPNW to acquire the expertise Pilot Project (MISSPP). Africa and IPPNW’s needed in preventing war and conflicts from first multi-country research involved teams the public health perspective. The memof IPPNW physicians and medical students bers devoted time, energy and resources to who collected data for six months on victims research, advocacy, education and to out of gunshots and other violence at hospital reach to victims of armed conflicts. emergency rooms in five African countries. One of the first researches SNDWM engaged is the Violent Injury Research which
The purpose of MISSPP was to collect systematically, review and evaluate the context in which specific external injuries occur in a great diversity of socio-cultural populations in Africa. A second objective was to provide evidence-based recommendations to local government health authorities to address the incidence of injury in their communities from a public health perspective. Furthermore, it encouraged other public policy makers and communities to develop armed violence prevention strategies. Results of the research projects have been shared widely – with media, NGOs and community leaders, IPPNW affiliates worldwide, published in international journals, and presented at major international health conferences raising awareness of the scope of the violent injury crisis and urging policy-making to implement intervention strategies. One of the prominent hospital-based educational researches SNDWM has taken is the “Aiming for Prevention” project known as the One Bullet Story (OBS). The OBS was designed by IPPNW Kenya and the IPPNW Central Office. The project is about the people, their stories, and the injuries caused by the guns and bullets. It aimed to infuse the human face into our campaign against Ogebe Onazi armed violence by high- Nigeria lighting the plight of the Co-International Student victims through their expe- Representative riences and powerful testimony. For example, one Nigerian OBS, of a female student from Nigeria who was shot in the head in the event of crossfire between two rival University gangs was shown to IPPNW delegates at the World Congress at New Delhi. Furthermore, as part of “Aiming for Prevention” IPPNW is an active participant in the World Health Organization’s Violence Prevention Alliance and coordinates the Public Health Network “International Action Network on Small Arms” (IANSA).
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Jenin Filmproduktion und Theaterpädagogik im nördlichen Westjordanland
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m Frühjahr 2012 fand in Berlin die erste Redaktionssitzung des amatom-Teams statt. An jenem Freitagabend sollte die Premiere des Film „Cinema Jenin“ stattfinden. Ursula Völker hatte während ihres PJs in Israel dieses Projekt vor Ort besucht. Gemeinsam besuchten wir nun in Berlin die Vorstellung, welche Aufschluss über Geschichte des Kinos, seinen Wiederaufbau, sowie Hintergründe und Problematiken der Stadt Jenin gab. Von Katharina Thilke
Jenin ist eine palästinensische Stadt im Norden des israelisch besetzten Westjordanlands. Die Einwohnerzahl Jenins beläuft sich auf ungefähr 35.000 Palästinenser. Davon leben 16.000 im gleichnamigen Flüchtlingslager . Es wurde im Jahre 1953 im Rahmen der Vertreibung von Palästinensern aus ihren Wohngebieten gegründet. Heute sind ca. 42 % der Bewohner unter fünfzehn Jahre alt. Im Rahmen der Oslo-Friedensprozesse wurde Jenin 1996 als autonomischpalästinensische Stadt deklariert. Lange Zeit galt die Stadt als Hochburg der Al-Aqsa-Brigaden, eine palästinensisch-terroristische Vereinigung, die als bewaffneter Arm der Fatah operiert. Diese verübte insbesondere während der Intifada 2002 zahlreiche Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten. Als Reaktion darauf führte Israel 2002 eine Militäroperation durch. Großteile des Flüchtlingslagers wurden hierbei zerstört. Eine Dekade später hat sich die politische Situation entspannt. Dennoch bestehen in dem Flüchtlingslager zahlreiche Probleme fort wie beispielsweise eine hohe Arbeitslosigkeit so wie unzureichende schulische Ausbildung auf Grund von Mangel an Lehrkräften und Räumlichkeiten Katharina Thilke In Mitten dieser AuseiPJ Münster/Köln nandersetzungen, Konflikte und täglichen Herausforderungen, mit welchen die Bewohner tagtäglich konfrontiert werden, findet sich trotzdem oder eben deswegen ein Raum für friedenspolitische Film- und Theaterkunst.
„Das Herz von Jenin“ Das Herz von Jenin ist ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2008. Der deutsche Regisseur Marcus Vetter und der israelische Regisseur Leon Geller verfilmten die Geschichte des Palästinensers Ismail Khatib aus Jenin. Sein Sohn wurde 2005 auf Grund einer täuschend echt aussehenden Spielzeugwaffe von israelischen Soldaten getötet. Im Krankenhaus Haifas (Israel) könnten die Ärzte nur noch den Hirntod des Jungen diagnostizieren. Seine Eltern entscheiden sich damals dazu, die Organe Ahmeds an israelische Kinder zu spenden. Der Film begleitet Ismael Khatibs bei seinen Besuchen dreier Familien, deren Kinder dank der Spende transplantiert werden konnten. Die unterschiedlichen Begegnungen – mit einer jüdisch-orthodoxen, einer Drusen- und einer Beduinenfamilie sowie mit Soldaten am Checkpoint spiegeln die konfliktreiche und belastete Situation der Region wider .
„After the silence” „Nach der Stille“ ist die Antwort einer israelischen Frau auf den Film „Das Herz von Jenin“. Im Jahr 2002 wurde ihr Ehemann in einem Restaurant in Haifa Opfer eines Selbstmordattentäters aus Jenin. Acht Jahre später reist Yaël Armanet, in Begleitung zwei junger deutscher Regisseurinnen, in das nur knapp 40 km entfernte Jenin. Dort trifft sie die Familie des Attentäters. Ihr Ehemann hatte sich stets um ein friedliches Zusammenleben von Palästinensern und Israelis bemüht. Als Architekt hatte er in arabischen Städten im Norden Israels gearbeitet. Die palästinensische Familie des Attentäters empfing Yaël in ihrem Haus in Jenin. Dieser Besuch war für Yaël Armanet ein Zeichen für den Frieden .
„Cinema Jenin“ Das internationale Interesse für den Film „Heart of Jenin“ und Ismail Khatibs Handeln veranlasste die italienische Stadt Cuneo zum Bau eines Jugendzentrums. Dieses steht unter der Leitung von Ismael Khatib. Der Regisseur Marcus Vetter, der im Rahmen der Dreharbeiten längere Zeit in Jenin gelebt hatte, begann dort Filmworkshops anzubieten. Es entstanden kreative Produktionen von Kurzfilmen. Doch es fehlt an einem Ort, an dem die Jugendlichen ihre Werke präsentieren konnten. Zusammen mit Ismail Khatib und dem Übersetzer Fakhri Hamad wurde Marcus Vetter auf das alte Kino im Herzen Jenins aufmerksam. Es wurde zu Beginn der ersten Intifada 1987 geschlossen. So entstand das Projekt „Cinema Jenin“ und der gleichnamige Dokumentarfilm über den Wiederaufbau des alten Kinos. In dem Film wird deutlich, mit welchen Hindernissen und Konflikten die Aktivisten konfrontiert waren. Die Fragilität des Projektes spiegelt sich unter anderem in dem tödlichen Anschlag auf den palästinensisch-israelischen Unterstützer und Friedensaktivisten Juliano Mer-Khamis wider. Trotz Rückschlägen und Widerständen entwickelte sich das Cinema Jenin zu einem Ort der Zusammenkunft, Unterhaltung und Weiterbildung. Es entstand neben dem Kinosaal außerdem ein Gästehaus, ein Openairkino sowie ein Café. Im August 2010 öffnet das Kino erstmals seine Türen.
„Arna’s children“
Juliano Mer-Khamis
Arna MerKhamis war die Mutter des ermordeten Juliano Mer-Khamis. Sie war die Tochter einer Zionistenfamilie. Sie heiratete 1950 den palästinensischen Araber Sabilb Kahmis. 1988 baute die Israelin zwei Kinderhäuser in Jenin auf. Ihre Idee war den Kindern einen Zugang zu Bildung zu schaffen. Die Anfänge gestalteten sich schwierig, da das Lager bisher nur durch israelische Soldaten betreten worden war. Der alternative Nobelpreis, welchen Frau Mer-Khamis 1993 in Stockholm erhielt, ermöglichte ihr, den
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Aufbau des ersten Freedom Theatre zu finanzieren. Dort begann sie mit ihrer theaterpädagogischen Arbeit palästinensischen Kindern eine Alternative zum alltäglichen Leben unter der Besetzung der Israelis zu geben. Das Medium Theater bot ihnen die Möglichkeit traumatischen Ereignissen so wie Frustration, Wut und Angst Ausdruck zu verleihen. Das Steintheater, ein Teil Arnas
Projektes, wurde 2002 bei der Invasion israelischer Soldaten völlig zerstört. Juliano Mer-Khamis porträtiert in seinem Film „Arna’s children“(2003) das Werk seiner Mutter sowie die Geschichte von Kindern der Theatergruppe. Sie entwickelten sich beispielsweise zu einem Selbstmordattentäter, zu einem Führer von einer Widerstandsgruppe oder fielen kämpferischer Auseinandersetzungen zum Opfer.
israelischen Besatzung. Dennoch erfuhr er in Jenin immer wieder Kritik für seine Bemühungen, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren anstatt den Widerstand zu stärken.
Freedom Theatre Jenin
http://www.unrwa.org/etemplate.php?id=118, Stand: 30. Juli 2012 http://www.unrwa.org/etemplate.php?id=118, Stand: 30. Juli 2012 http://www.spiegel.de/kultur/kino/dokumentarfilmdas-herz-von-jenin-gutmensch-wider-willen-a-623206. html, Stand 30. Juli 2013 http://www.nachderstille.de/the_film.html , Stand: 5. August 2012 http://www.sueddeutsche.de/kultur/im-kino-cinemajenin-im-dunkeln-leuchtet-hoffnung-1.1395423, Stand: 30. Juli 2012 http://www.medico.de/themen/menschenrechte/ nahost/dokumente/paradoxe-hoffnung-im-fluechtlingslager-jenin/4077/, Stand 7. August 2012 http://www.arna.info/Arna/movie.php Stand 30.Juli 2012
Im Jahr 2006 gründete Juliano das „Freedom Theatre“, um die Arbeit seiner Mutter in Jenin fortzuführen . Mer-Khamis wurde im April 2011 von einem maskierten Attentäter vor dem Theater in Jenin erschossen. „Er war einer der begabtesten Schauspieler und einer der mutigsten. Ein Jude in den Augen der Araber und ein Araber in den Augen der Juden“, schrieb die israelische Zeitung „Haaretz“. Khamis war scharfer Kritiker der
Jenin – eine Stadt der Begegnungen, der Emotionen, der Explosivität, des Widerstandes, der Vorurteile, der Kreativität, der Friedensarbeit und Hoffnung …
Die Kontraste des Heiligen Landes Eindrücke aus Israel und Palästina
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ch kann mich noch gut an meinen ersten Tag in Israel nach meiner Ankunft in Tel Aviv erinnern. Es war ein früher und bereits warmer Sommermorgen und wir fuhren in die antike Altstadt von Jaffa, um das Mittelmeer das erste Mal nach langer Zeit wieder zu sehen. Von Matthias Nägele
Dort angekommen, bot sich mir ein wunderschöner Blick auf die Sandstrände und das Stadtzentrum von Tel Aviv mit all seinen schönen Cafés, Bars und Wohnhäusern im weiß leuchtenden Bauhaus-Stil. Die ersten Strandbesucher machten es sich bereits unbeschwert auf ihren Badetüchern bequem, während flanierende Hundebesitzer mit der selbstgerollten Zigarette in der Hand ihre Hunde zum Morgenspaziergang ausführten. Wir zogen weiter. Nur eine Stunde später, nach einer kurzen Autofahrt über die Autobahn Richtung Süden, zeigte sich der Nahe Osten von einer Gegensätzlichkeit, die sich wie ein aufrüttelnder Schlag ins Gesicht anfühlte: Wir standen vor einer über 3 Meter hohen, bis an den Horizont reichenden und mit Stacheldraht gesicherten Betonmauer. Dahinter befand sich der Gaza-Streifen mit seinen über 1,7 Millionen Menschen.
Solche Kontraste waren es, mit denen man in Israel und Palästina immer wieder aufs Neue konfrontiert wird. Zum Beispiel derjenige zwischen den schönen, sauberen und grünen Städten Israels und den ummauerten, von Checkpoints zerstückelten und oft verdreckten Grenzstädten der palästinensischen Gebiete. Oder derjenige eines fünfminütigen Spaziergangs von der Jaffa Road, der mit internationalen Departmentstores voll bestückten zentralen Einkaufsmeile Westjerusalems, hinein in die Altstadt, mit ihren Jahrtausende alten zentralen religiösen Pilgerstätten. Das Heilige Land, eine Fläche kleiner als Brandenburg und Heimatort von über 7,8 Millionen Israelis und 4 Millionen Palästinensern, beherbergt eine fast unüberschaubare Anzahl an Parallelgesellschaften. Abseits von oberflächlichem Patriotismus und Zusammengehörigkeitsgefühl leben in beiden Ländern Menschen mit
den unterschiedlichsten Wertvorstellungen, Idealen und Lebensweisen: Junge säkular und sozialistisch eingestellte Israelis der Küstenstädte Tel Aviv und Haifa, eher konservativ-nationalistische, ärmere russische Immigranten der Großstadtgürtel, arabischstämmige Israelis im Norden Israels, ultraorthodoxe jüdische Gemeinden in Jerusalem und Beit Shemesh, radikal-orthodoxe, aus den USA immigrierte Siedler in den kleinen Siedlungen des Westjordanlands, jüdische Jungfamilien in den preislich attraktiven und grenznahen Siedlungsnachbarschaften, westlich orientierte und von Nationalstolz geprägte junge Palästinenser in Ramallah, konservativmuslimische und Landwirtschaft betreibende Familienverbünde im Norden des Westjordanlands, mit den USA verbundene arabische Christen in Bethlehem, aus ihrer Heimat vertriebene verarmte palästinenMatthias Nägele sischen Familien in den Hamburg vielen Flüchtlingscamps oder desillusionierte Palästinenser im Gazastreifen. Sobald man anfängt nachzufragen, beginnt man zu realisieren, wie
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olive tree in the westbank
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viel Leid sich in den über 60 Jahren Konflikt auf beiden Seiten angesammelt hat. Man wird wütend, bekommt den Impuls, mit dem Finger auf den Schuldigen zu zeigen. Aber wohin soll man zeigen? Auf den gelangweilten, die größte Zeit mit seinem iPhone spielenden achtzehnjährigen israelischen Wehrdienstleistenden im Westjordanland, der den Befehl von oben bekommen hat, die nächsten sechs Stunden niemanden durch den Checkpoint zu lassen? Auf den besorgten israelischen Familienvater, welcher seit Jahren mit Überzeugung die konservative Likud-Partei wählt und so indirekt den unaufhörlich weiterlaufenden Siedlungsbau im
sunset at Jaffa Gate, Jerusalem
Westjordanland unterstützt? Oder den palästinensischen Selbstmordattentäter, welcher einen Tag zuvor einen engen Freund bei einem Luftschlag verloren hat und mit seiner Tat wiederum einen Gegenschlag durch die israelische Armee provoziert? Je länger man sich mit dem Konflikt beschäftigt, desto schwerer wird es, zwischen richtig und falsch, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die Dinge verwaschen vor den Augen, bis nur noch ein einheitliches Grau und die kalte Abfolge der Kausalität zurückbleibt. Kausalität bedeutet in diesem Zusammenhang für mich, dass die Wahrscheinlichkeit eines funktionierenden und zusammenhängenden palästinensischen Staates jeden Tag weiter schwindet, an dem der illegale Siedlungsbau im Westjordanland fortgesetzt wird. Kausalität meint jedoch auch, dass sich niemals ein florierender wirtschaftsstarker Staat nach dem Vorbild Israels ausbilden wird solange Korruption und Vetternwirtschaft innerhalb Palästinas so weiter gehen wie bisher und daraus folgende Probleme lediglich auf die äußeren politischen Umstände zurückgeführt werden. Zuletzt heißt Kausalität, auch
wenn es nicht gerne ausgesprochen wird, dass Israels Politik der konsequenten Verletzung von Menschenrechten der Palästinenser, insbesondere dem Recht auf Wasser, Bewegungsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, freier Entfaltung und geschütztem Eigentum einen wichtigen ursächlichen Faktor darstellt, welcher gewalttätige Übergriffe auf das israelische Volk heraufbeschwört. All diese Tatsachen und Erkenntnisse stimmen traurig, demotivieren und versperren den Blick auf einen baldigen Frieden. Gerade in diesen Momenten ist es überaus wichtig sich eine einfache Wahrheit vor Augen zu führen: Trotz all der Kontraste und tiefen Gräben ist der überwiegende Teil der Menschen in Israel und Palästina im Innersten gleich. Es sind Menschen wie du und ich, die einfach nur ein gutes Leben in Gesundheit, Sicherheit und Chancengleichheit führen wollen, die einem Beruf nachgehen, eine Familie gründen und ihre Kinder in den eigenen vier Wänden aufwachsen sehen wollen.
Wenn man sein Herz öffnet und den Menschen im Heiligen Land in die Augen schaut, wird einem klar, dass diese Menschen Frieden wollen. Diese gemäßigten Teile sind es, welche aneinander geführt werden sollten, ungeachtet der physischen und psychischen Mauern, die auf beiden Seiten über die Jahrzehnte gebaut worden sind. Solange sich weiter die radikaleren Teile der Bevölkerung auf beiden Seiten in den Entscheidungsebenen medienwirksam gegenüberstehen und Intoleranz und Hass auf ihre Nachbarn bis in die Kindergärten hinein predigen, ist eine Lösung in weiter Ferne. Es ist mein größter Wunsch, dass kritische Stimmen ihnen das Mikrofon wegnehmen und beide Völker endlich in einen vorurteilsfreien und vernunftbasierten Dialog treten. So ist es vielleicht irgendwann möglich, die sich immer tiefer drehende Kausalitätsspirale zu durchbrechen und dem langersehnten Frieden im Heiligen Land ein kleines Stück näher zu kommen.
Über das ReCap-Projekt ReCap steht für „Refugee Camp Project“ und ist ein von internationalen und palästinensischen Medizinstudenten organisiertes, einmonatiges Projekt im Westjordanland. Es wurde 2003 gegründet, wird maßgeblich durch die deutsche Sektion der IPPNW finanziert und findet jeweils einmal jährlich im Sommer statt. Hauptziel des Projektes ist es, Medizinstudenten aus aller Welt einen Einblick in das Leben in Flüchtlingscamps sowie das Gesundheitssystem Palästinas zu bieten. Inhalt des Projektes ist neben einer Einführungswoche mit verschiedenen Vorträgen und Diskussionsrunden sowie Rotationen in verschiedenen Krankenhäusern und Gesundheitskliniken die Betreuung einer Gruppe von palästinensischen Kindern und Jugendlichen eines Flüchtlingscamps in Bethlehem. Nebenbei besteht die Möglichkeit, an Forschungsprojekten zu Fragen der psychischen Gesundheit von Kindern in Flüchtlingscamps mitzuarbeiten bzw. diese selbst mitzugestalten. Während des Projektes werden die Teilnehmer an den Nahostkonflikt als Ganzes und all seine Begleiterscheinungen, insbesondere diejenigen der medizinischen Versorgung, herangeführt und treten in einen engen Dialog mit den betreuenden palästinensischen Medizinstudenten. Bewerben können sich Medizinstudenten aus aller Welt, vorzugsweise mit ersten klinischen Erfahrungen. Gute Englischkenntnisse werden vorausgesetzt. Arabischkenntnisse sind nicht notwendig, erleichtern jedoch die Kommunikation vor Ort. Mehr Informationen und Bewerbung unter www.ippnw-students.org.
Kontakte
Ansprechpartner und Kontaktadressen IPPNW-Lokalgruppen an fast allen Unis
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n vielen Unis gibt es lokale IPPNW-Studierendengruppen. Wenn du Interesse hast, wende dich einfach an die Geschäftsstelle oder direkt an die entsprechenden Ansprechpartner. Auch die Arbeitskreise der IPPNW freuen sich immer über studentische Mitarbeit.
IPPNW-Geschäftsstelle
Körtestr. 10, 10967 Berlin Tel: 030-698074-0 | Fax: 030-6938166 E-mail: ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de Ansprechpartner für Studierende in der Geschäftsstelle ist Ewald Feige Tel: 030-698074-11 Zuständig für das Programm famulieren&engagieren ist Ulla Gorges Studierende im Vorstand der IPPNW Der Vorstand der IPPNW wird alle zwei Jahre vom höchsten Organ unseres Vereins, der Mitgliederversammlung, gewählt. Ihm gehören acht Personen sowie der International Councillor an. Als StudentIn im Vorstand vertritt man/frau die Interessen der Studierenden, setzt sich ein für Studierendenarbeit und informiert die Studierenden in der IPPNW über das, was sich im Verein so alles bewegt. Diese Aufgabe übernimmt derzeit Ursula Völker aus Tübingen: Tel: 07071/7783639 StudierendensprecherInnen der IPPNW Jedes Jahr werden im Wintersemester beim bundesweiten Studierendentreffen zwei Studierende gewählt, die die Funktion der SprecherInnen übernehmen. Zur Zeit sind es Carlotta Conrad und Timothy Moore-Schmeil. Aktuelle Infos unter: studis.ippnw.de Mailingliste: ippnw-studies@ippnw.de Die internationale IPPNW-Studierendenhomepage: www.ippnw-students.org
Studierendengruppen
Aktuelle Kontakte auch unter studis.ippnw. de/studierendengruppen.html oder über die Geschäftsstelle. Aachen Anita Koschmieder Berlin Jens Nagel Bochum Laura Olbrich Dresden Carlotta Conrad Düsseldorf Kathrin Sonnenschein Tatyana Mitova www.ippnw-ddorf.de Erlangen Ann-Sophie Briest Frankfurt/Main Marie-Sophie Keßner Freiburg Jonas Hofmann Gießen Thomas Volckmann Göttingen Timothy Moore-Schmeil Halle Harriet Heuer Hamburg Beatrice Wichert Hannover Svea Kleiner Heidelberg/Mannheim Claudia Buntzel www.medinetz-rhein-neckar.de
Homburg / Saar Sebastian Symank Köln Anne Nolting Leipzig Bernadette Clever Lübeck Marius Schawaller Mainz Christina Everts Marburg Martin Brossmann München Dominik Symank Münster Melina Heinemann Regensburg Magdalena Schöner Rostock Franziska Rebentisc Tübingen Ursula Völker Witten-Herdecke Max Walter Würzburg Ruth Forstner, Arbeitskreise AK Atomenergie Henrik Paulitz AK Flüchtlinge Frank Uhe AK Medizin & Gewissen Ivonne Johann AK Medical Peace Work Dr. Eva-Maria Schwienhorst AK Süd-Nord Dr. Jens Wagner
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IPPNW: Frieden durch Gesundheit
Medizinstudierende für Gerechtigkeit und Frieden in einer Welt ohne atomare Bedrohung Was ist die IPPNW? IPPNW steht für Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. In Deutschland heißt die IPPNW zudem „Ärzte in Sozialer Verantwortung“. Die IPPNW wurde 1980 zur Zeit des Kalten Krieges gegründet. Heute arbeitet die IPPNW in 80 Ländern für eine menschliche Medizin und Gerechtigkeit in einer Welt ohne atomare Bedrohung.
Nur Atomkrieg und sonst nichts?
Was macht die IPPNW?
Nur was für Ärzte?
Die IPPNW • forscht: z.B. in internationalen Studien über die Gesundheitsfolgen von Atomwaffentests • setzt sich für Benachteiligte ein: z.B. bei direkten Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern für eine gute Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen in Deutschland • klärt auf: z.B. mit Info-Ständen und Publikationen über die Risiken und Chancen der Gentechnik.
Im Gegenteil! In Deutschland allein gibt es 1000 studentische Vollmitglieder. Studierende arbeiten oft lokal in Studierendengruppen. Jedes Jahr finden ein bundesweites und ein europäisches Studierendentreffen statt. Mit dem IPPNW-Programm famulieren & engagieren können Studierende weltweit in Partnerprojekten Erfahrungen sammeln und sich einbringen.
Anmeldung
Nein, längst arbeitet die IPPNW zu vielen Themen wie Ethik in der Medizin, Flüchtlingsfragen, Kurdistan, Atomenergie, Umgang mit Behinderten oder Studienreform. Die IPPNW hat mehrere bundesweite Arbeitskreise und veranstaltet Kongresse.
Ist die IPPNW eine Hilfsorganisation?
Nein, aber …! Die IPPNW arbeitet vor allem präventiv. So sollen Konflikte gar nicht erst entstehen. Durch die internationalen Kontakte der IPPNW entstehen aber oft konkrete Hilfsaktionen, wie Kinderhilfe im Irak, Bücherhilfe für Ex-Jugoslawien, medizinische Hilfe in den ehemaligen GUS-Staaten.
Was kann ich machen? Alle Aktivitäten sind offen für Interessierte. Das Besondere: Die IPPNW gibt lokalen Gruppen sehr viele Freiheiten und volle Unterstützung bei den Aktivitäten.
Mehr Informationen? www.ippnw.de
bitte ausschneiden und einsenden oder faxen an die IPPNW 030–6938166 Für Studierende kostet das im Jahr 32 Euro | Für Ärzte und Ärztinnen 120 Euro
Ja, ich werde Mitglied und unterstütze die Ziele der IPPNW. Studierende Mitglieder erhalten die Zeitschrift „IPPNWforum“ und den „amatom“ kostenlos.
Einzugsermächtigung Name
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Telefon/Fax
Bankleitzahl
Ich ermächtige die IPPNW zum Einzug von jährlich Euro
Unterschrift
Unterschrift
„Bomben“-Luftballons gegen die Waffenlobby vor dem Kollhoff-Tower
Die Quadriga nachgestellt
Grillen beim Cultural Evening
Gruppenfoto vor dem Brandenburger Tor
interessante Workshops
Denkmal für die Ermordeten Juden Europas
12. - 15. April 2012
Europäischer Studierendenkongress Berlin 2012
spannende Vorträge
Der Kranich: Symbol des Friedens
Abu Dis, Palästina
Mea Sharim, Jerusalem, Israel
Tel Aviv, Israel
Ramallah, Palästina
Hebron, Palästina
Jenin, Palästina
Jerusalem, Israel
Tel Aviv, Israel
Tel Aviv, Israel
Rafida, Palästina