Amatom29

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amatom29 Herausgegeben von der IPPNW Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung | Ausgabe 2017 | Spende 1 Euro

ein Magazin von kritischen, jungen Mediziner*innen

I PPNW

Her mit dem guten Leben… für alle? Konsequenzen sozialer Ungleichheit in der Welt

Themen: EU-Abschottungspolitik und Verschärfung AsylbLG – Fluchtbericht und Hilfstransport Balkanroute – Effektiver Altruismus – Organhandel Iran – Menschen mit Behinderung in Kambodscha – u.v.m.


Inhalt 1 Editorial 2 Festung Europa

Die Abschottungspolitik der EU und ihre menschenrechtlichen Konsequenzen

5 Verrohung von Sprache und Verschärfung von Gesetzen 7 Hinter dem Zaun Ein Bericht über Lebensbedingungen in einer Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende und die Frage nach dem Verbleib unserer Werte

9 Ein unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Deutschland 12 Zwischen humanitärer Hilfeleistung und Handlungsohnmacht Ein Erfahrungsbericht des Dresdner Support Convoy über Idomi

15 Der Tag

Eine Fluchtgeschichte

16 Worte wie Medizin

Von Therapeutischer Kommunikation und Beziehung

18 Der Kranke: Arzt.

Ärztinnen und Ärzte mit (chronischen) Erkrankungen

20 Zu Besuch bei der Inselärztin von Pellworm 21 Reflections on sustainability and our health-care system 22 Gutes Besser Tun Effektiver Altruismus

24 Eine Niere für 900€

Das iranische Modell zur Lebendorganspende

25 Psychiatrie und Menschenerechte 27 Was jeder Arzt und jede Ärztin gegen steigende Medikamentenpreise unternehmen kann 29 Evidence based medicine? Warum täglich Studiendaten verschwinden

30 Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten

Der schwierige Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung in Kambodscha

33 famulieren&engagieren Auslandsberichte

35 Aktivitäten der Ippnw-Studigruppen 37 Ansprechpartner*innen und Kontaktadressen IPPNW-Lokalgruppen an fast allen Unis

Impressum Redaktion: Ewald Feige (Berlin), Svenja Langenberg (Bremen), Antonia Neuberger (Mainz), Michael Rietsche (Mainz), Julia Weber (Ludwigsburg), Lara Weibezahl (Göttingen). Anschrift: der amatom, c/o IPPNW, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Tel. 030/698 074-0, Fax 030/693 81 66. Verleger: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/ Ärzte in sozialer Verantwortung e. V., Körtestraße 10, 10967 Berlin. Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN DE39 1002 0500 0002 2222 10, BIC BFSWDE33BER Gestaltung und Satz: Tim Jech. Bilder: Titelfoto: Antonia Neuberger, Tim Jech; S. 2: Svenja Langenberg; S. 5/6: Conrad Matthes Medinetz Gießen; S. 7/8: Fiene Wolf; S. 9/10: Mustafa und eine seiner Ehrenamtlichen (Foto von Annegret); S.12–14: SupportConvoy e.V.; S.17: Cartoon von Medilearn; S.18/19: Andreas Strehl; S. 20: Dr. Regine Ecker; S. 21: Julia Weber, Svenja Langenberg; S. 23: Antonia Neuberger; S. 24: Andreas Strehl; S. 25, S. 27, S. 29: Svenja Langenberg; S. 30/31: Epic Arts: Phnom Penh Post, Street Art: Antonia Neuberger; S. 33–35: f&e-Teilnehmer*innen. Nicht gekennzeichnete: privat oder IPPNW-Archiv. Druck: ddl-berlin.de, Druckerei Dienst Leistungen, Berlin. Papier: Circle matt, Recycling & FSC. Auflage: 6.000, erscheint jährlich, für studentische Mitglieder der IPPNW kostenlos. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. V.i.S.d.P.: Ewald Feige


Editorial

Editorial Fremdenfeindliche und rechts motivierte Gewalt gegen Asylbewerber und ihre Unterkünfte nahmen im Verlaufe des letzten und diesen Jahres stark zu. Und auch der AfD kommt durch die dauernde mediale Berichterstattung eine Bedeutung zu, die sie nicht verdient. Es kann nicht sein, dass wir Menschen das Feld überlassen, die mit tumben Parolen die Angst und Bereitschaft anderer Menschen zu ungerechtfertigten Schuldzuweisungen nutzen und die ein Bedürfnis nach absurd vereinfachenden Erklärungen bedienen. Währenddessen werden Menschen wie Tarek, der uns von seiner Reise nach Deutschland e­ rzählt, mit rechtlichem Kalkül und emotionsloser Bürokratie schikaniert, behandelt wie ­Menschen zweiter Klasse. Was dies bedeuten kann, zeigt uns Felix in seinem Artikel zu den Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetzes auf. Der beschwerliche Weg nach Europa wird durch Antonias Artikel zur Abschottungspolitik der EU und dem Bericht Florians über die Hilfstransporte auf den Balkan, die er begleitete, und seine Arbeit vor Ort, beispielsweise in Idomeni, näher beleuchtet. Angesichts der Gefahren und existenziellen Herausforderungen bis hin zu Traumatisierungen kann man sich nicht vorstellen, dass Menschen einen solchen Weg ohne triftigen Grund auf sich nehmen. Solange es einen wie heutzutage ­vorherrschenden Gradienten zwischen dem Lebensstandard im reichen Europa und den ärmeren Staaten aus Afrika und Asien gibt, solange werden die Menschen ihre Chance auf ein würdiges Leben suchen, solange werden sie weiter nach Gerechtigkeit streben und – solange wird die Migration in die EU stark sein. Soziale Ungleichheit existiert überall und sie macht krank. Als Mediziner*In werden wir tagtäglich mit diesem Phänomen und seinen Auswirkungen konfrontiert und es ist unsere Pflicht diese aufzufangen so weit wir können. Um das zu erkennen, muss man kein Gutmensch sein – es würde schon reichen, nicht einfach wegzuschauen. Ein internationales Beispiel aus Kambodscha illustriert die Barrieren, die Menschen mit Behinderung beim Z­ ugang zum Gesundheitssystem überwinden müssen. Doch auch in Deutschland muss man sich immer wieder mit den menschenrechtlichen Konsequenzen ärztlichen Handelns auseinandersetzen, wie Leas Artikel zum Thema ­Psychiatrie und Menschenrechte deutlich macht. Nichtsdestotrotz sollte man auf sich selbst achtgeben und sich nicht in seinen Idealen verlieren. Michaels Artikel über Ärzt*Innen und deren Umgang mit Stress und chronischen Krankheiten zeigt hierbei besorgniserweckende Defizite auf. Im hektischen Klinikalltag kann jedoch nicht nur die Sorge um die eigene Gesundheit untergehen, es erfolgt auch eine kognitive Gleich­schaltung und Ausbildung einer unkritischen Haltung, die teilweise schon im Studium beginnt. Laras Artikel zu der Einflussnahme der Pharma­konzerne auf Ärzt*Innen durch gezielte und oft subtil praktizierte Werbemaßnahmen veranschaulicht dies in besonderem Maße. Auch wenn eine eigene kritische Haltung zu entwickeln nicht Teil des Lehrplans ist, ist sie dringend notwendig in einem System, in dem etablierte Werte und Verhaltensmuster so eindrucksvoll tradiert und starr sind, wie in der Medizin. Eine Metaanalyse aus den USA stellte fest, dass Medizinstudierende nach ihrem Studium weniger empathisch sind als vorher. Dem gilt es entgegenzusteuern und wir hoffen, mit dem Inhalt des diesjährigen Amatom einen kleinen Beitrag dazu leisten zu können. Viel Spaß beim Lesen wünscht Euer Dr. Amatom

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Flucht und Migration

Festung Europa Die Abschottungspolitik der EU und ihre menschenrechtlichen Konsequenzen »Migration ist eine Tendenz zum Ausgleich, auch darin ähnelt sie Wasser im Fluss. Sie ist eine egalisierende Bewegung. Und solange die Aussichten auf eine Existenz, eine Perspektive vor und hinter Europas Toren so ungleich verteilt sind, so lange wird die Migration stark sein.« (Christian Jakob, taz)1

nach Italien wurde unter Strafe gestellt und Internierungslager für TransitmigrantInnen eingerichtet. Diesmal wichen die MigrantInnen noch weiter nach Osten aus, kamen über die Ägäisregion in Griechenland an. Die Türkei schaute dabei meistens nur zu – selbst frustrierte Anwärterin auf einen EUBeitritt, sah sie die Migration damals wohl

Entwicklung der Fluchtrouten Wenn man sich das Bild eines Stromes vorstellt – auch wenn es in vielerlei Hinsicht der Zuwanderung von Menschen nach Europa nicht gerecht werden kann – so wird doch recht schnell klar, warum eine durch Grenzkontrollen, Zäune und andere Abwehrmaßnahmen verstärkte „Festung Europa“ nicht realisierbar bleiben wird. Nichts zeigt dies deutlicher als die Entwicklung der Migrationsbewegungen, die seit jeher nach Europa hinein und innerhalb Europas stattgefunden haben. Erst die Öffnung der inneren Grenzen durch das Schengen-Abkommen verschärfte die Abschottung nach außen. Beispiel Spanien: In den spanischen Exklaven Melilla und Ceuta grenzt Europa unmittelbar an Afrika, lange gab es dort nur einen Grenzstein. Inzwischen sind beide Städte umzäunt, von EU-Geldern mitfinanziert, wurden zum Extremfall einer „Gated Community“. Zudem unterzeichnete Marokko ein Rückabnahmeabkommen. Der Weg von den Stränden der West-Sahara auf die Kanareninseln wurde ebenfalls auf Druck von Spanien durch Marokko unterbunden – schließlich sollten bitte keine ertrunkenen Menschen dort stranden, wo andere Urlaub machen. Die Route verlängerte sich, über Mauretanien bis hin nach Senegal. Mauretanien insbesondere kam Spanien mit einem „Rundum-Sorglos-Paket“ sehr entgegen: Es nahm jeden Menschen auf – egal, woher er stammte, solange nur der Verdacht bestand, dass dieser Mensch nach Spanien wollte – steckte Antonia Neuberger ihn in ein Auffanglager Medizinstudentin (das bekannteste in Nouaaus Mainz dhibou wurde mit spaniantonia.neuberger@ schem Geld bezahlt und web.de war bekannt unter dem

Ägäis-Route (Quelle: FRONTEX)

Spitznamen „Guantanamito“) und lud die Geflüchteten zuhauf an der malischen Grenze, am Südrand der Sahara, ab. Malis Bedeutung stieg in den Augen Spaniens und der EU: Das Transitland sollte die Migration aus Zentralafrika Richtung Europa unterbinden helfen, im Ausgleich bot die EU finanzielle Unterstützung und Visa. 2009 kamen jedoch nur ganze 29 der 14 Millionen Einwohner Malis nach Europa – als Saisonarbeiter auf den Kanaren. Nicht das einzige Abkommen dieser Art, mit ähnlich fraglichen Vorteilen für die Nicht-EU-Vertragspartner. Höhepunkt war 2012 ein Abkommen mit Nigeria, einem „wichtigen Partner bei der Entwicklung eines integrierten Grenzschutzes“ (Frontex, 2012)2 – einem Land, das über 3.000 km entfernt von der Schengen-Zone liegt. Nachdem die westliche Mittelmeerroute durch diese Anstrengungen zu gefährlich geworden war, wurde in der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehntes die zentrale Mittelmeerroute (über Libyen und Tunesien nach Italien) bei MigrantInnen beliebter, auch wenn hierzu die Sahara an ihrer breitesten Stelle durchquert werden musste. Es folgten Abkommen mit Libyens Diktator Gaddafi und Tunesiens Machthaber Ben Ali – die Überfahrt

noch eher als „Problem der Anderen“ an. 2011 brachte den „Arabischen Frühling“, der zur Absetzung der Machthaber in Tunis und Tripolis führte und eine kurze Öffnung der durch diese Länder verlaufenden Migrationsroute bedeutete. Diese währte jedoch nur kurz: Die EU brachte Libyen und Tunesien schnell dazu, die Strände wieder dichtzumachen – in Libyen wurde den Rebellen dieses Versprechen schon vor dem Sturz Gaddafis abgenommen. Seine Gefängnisse betrieben sie einfach weiter. Inzwischen machen die unsicheren staatlichen Strukturen Libyen zu einem Mekka des Menschenhandels – laut einem Bericht der europäischen Anti-Schlepper-Mission beläuft sich das Jahreseinkommen der Schleuser auf 250–300 Millionen Euro.3 2013 kam es zum ersten Rückabnahmeabkommen mit der ­Türkei – Hilfe bei der Grenzüberwachung im Tausch gegen Visa-Erleichterungen. Dieses hielt allerdings nur bis 2015, als die Türkei erneut ihre Grenzen öffnete. Daraufhin explodierten die Zahlen der über die Balkanroute nach Europa drängenden Menschen (Frontex) 4. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass das UN-Ernährungsprogramm im Dezember 2014 wegen Geldmangels Projekte in den Flüchtlingslagern im Libanon und Jor-


Flucht und Migration

Bürgerwehren, die sich mit der Rückführung illegalisierter MigrantInnen brüsten, öffentliche Stimmungsmache gegen Geflüchtete durch hohe staatliche Würdenträger und repressive Gesetze sind nur einige Beispiele.7

Westafrika-Route

danien kürzte oder ganz strich.5 Konsekutiv bauten die Länder auf der Balkanroute die Grenzüberwachung aus oder schützten ihre Grenzen durch Mauerbau. Seit dem Bau eines Grenzzaunes in Mazedonien im Februar 2016 gilt die Balkanroute als geschlossen, auch wenn natürlich immer noch Menschen diesen Weg nehmen. Eine Verlagerung auf die zentrale Mittelmeerroute wird von vielen erwartet. Auch im Norden wird inzwischen gebaut: Zwischen Norwegen und Russland soll es bald ebenfalls einen Zaun geben, um die illegale Migration einzudämmen. Im letzten Jahr kamen 5.500 Geflüchtete über diesen Weg nach Norwegen.6

Krise in Europa? Nach der Schließung der Grenzen kam es in Griechenland zur Bildung nicht-legaler Camps. In Idomeni, einem kleinen Dorf an der mazedonischen Grenze, welches einen wichtigen Grenzbahnhof beherbergt, kamen zuletzt immer mehr Geflüchtete an, die aufgrund der Grenzschließung dort strandeten. Auch wenn deren Zahl fluktuierte, kann man von ungefähr 10.000–19.000 Geflüchteten ausgehen, die sich dort zeitweise aufhielten. Grenzgänger wurden von der mazedonischen Polizei, oft verbunden mit physischer Gewalt, aufgehalten und abgeschoben. Am 24. Mai 2016 wurde von den griechischen Behörden damit begonnen das Lager, das zu diesem Zeitpunkt ungefähr 9.000 ­Geflüchtete beherbergte, zu räumen. Die Geflüchteten sollten in staatlich organisierte Camps gebracht werden. Griechenland selbst ist ein Staat mit massiven ökonomischen und sozialen Problemen und kaum in der Lage, die hohe Anzahl an Geflüchteten aufnehmen und

versorgen zu können. Darüber hinaus gibt es in Griechenland kein funktionierendes Asylrecht, da das Land bis zur Grenzschließung vor allem zum Transit genutzt wurde. Nun stellen aber immer mehr Geflüchtete aus Angst vor der Rückführung in die Türkei einen Asylantrag. Die Versorgung der Geflüchteten in Idomeni beispielsweise war größtenteils von Nichtregierungsorganisationen (wie Ärzte ohne Grenzen), sowie den Anwohnern vor Ort organisiert. Aufgrund der schlechten Versorgungssituation und Lebensstandards, der Lagersituation und nicht zuletzt des oppressiven Verhaltens der mazedonischen Grenzpolizei kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen und gewaltsamen Ausschreitungen. Inzwischen spricht man bereits von Idomenis Nachfolgern, die sich an der ungarisch-serbischen Grenze bilden. Dort werden am Tag ungefähr 30 Menschen durchgelassen, um Asyl zu beantragen – ein Hoffnungsschimmer für die Menschen, die von Serbien kommen, da es den momentan einzigen legalen Weg für viele Menschen nach Europa bedeutet. Nichtsdestotrotz ist die „Willkommenskultur“ in Ungarn eher abschreckend:

Balkan-Route

Innerhalb der EU stellt die Flüchtlingskrise eine Zerreißprobe dar. Länder wie Italien und Griechenland fühlen sich überfordert und alleingelassen. Auch wenn der Europäische Ministerrat letzten Herbst beschlossen hat, innerhalb von zwei Jahren 160.000 Geflüchtete aus diesen beiden Ländern auf die anderen EU-Staaten zu verteilen, so geschah dies nur im Fall von 4.000 Menschen.8 Fremdenfeindliche Ressentiments sind in Europa salonfähig geworden. Allein im Jahr 2015 gab es in Deutschland schon 500 Angriffe gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte.9

Pakt mit den Bösen? Zwischen allen 28 EU-Staats- und Regierungschefs und der Türkei besteht seit dem 18. März eine Vereinbarung, die die „Flüchtlingskrise“ in Europa lösen soll. Seit dem 20. März werden alle irregulären MigrantInnen, die neu in Griechenland eintreffen, in die Türkei rückgeführt. So soll den Geflüchteten die Motivation genommen werden, die gefährliche Reise über die Balkanroute anzutreten. Zudem soll das lukrative Geschäft der Schlepper unterbunden werden. Im Gegenzug will die EU sogenannte „europäische Kontingente“ (limitiert auf insgesamt 72.000 Menschen) aus der Türkei aufnehmen – für jede*n rückgeführte*n Geflüchtete*n wird ein syrischer Geflüchteter aus der Türkei in die EU aufgenommen. Einen Verteilungsschlüssel auf die Länder der EU gibt es bislang nicht. Im Lichte der jüngsten Entwicklungen in der Türkei steht diese Abmachung immer mehr in der Kritik.

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Flucht und Migration

„Flüchtlingsstrom“ an unsere eigene Haustür geschwemmt. Das Problem liegt auch in unserer Antwort begründet. Wie es die Chefin von MSF (Médecins sans frontières – Ärzte ohne Grenzen) in einem Interview so treffend formulierte: „Die Krisen der Welt werden zunehmend durch die Brille nationaler Sicherheitsinteressen gesehen.“ 13 Dies kann aber nicht die Antwort sein. Vielmehr sollte die menschenrechtsverletzende Abschottungspolitik durch eine humanistische und von gegenseitiger Unterstützung geprägte Migrationspolitik abgelöst werden – und das bitte schon vorgestern.

Zentrale Mittelmeerroute

Merkel spricht von Afrika als zentralem Problem der europäischen Migrationspolitik sowie von der geografisch komplizierten Lage Europas.10 Die Digitalisierung mache es zudem möglich, dass Menschen aus afrikanischen Ländern sehr gut über die Wohlstandsunterschiede zwischen ihnen und den Menschen in Europa informiert seien. Von daher sei es nicht verwunderlich, dass die EU über Investitionen versucht, gezielt die Fluchtursachen vor Ort, insbesondere in wirtschaftlicher Hinsicht, zu bekämpfen. So lautet der Vorschlag der Europäischen Investitionsbank, über einen Zeitraum von fünf Jahren sechs Milliarden mehr zu investieren, in Infrastrukturprojekte (Bildung, Wasserversorgung und Gesundheit) in Ägypten, den Maghreb-Staaten, Jordanien und dem Libanon, aber auch Serbien und Albanien. Dies soll damit insbesondere Ländern zugutekommen, die schon sehr viele Geflüchtete aufgenommen haben.11 Doch auch in anderer Hinsicht wird man aktiv. Deutschland unterstützt die neue Einheitsregierung in Libyen in der Hoffnung, die illegale Migration über das Land weiter eindämmen zu können. Zudem ist die EU seit Sommer letzten Jahres militärisch vor Ort präsent. Hintergrund: Von Libyen bis Italien sind es nur wenige hundert Seemeilen, die immer wieder von Geflüchteten überquert werden, oft mit Hilfe von Schlepperbanden und in teilweise maroden oder kaum seetüchtigen Booten. Auch in Mauretanien fließen Entwicklungshilfegelder vornehmlich in die Grenzsicherung: In die Ausbildung der Polizei, die Ausstattung des Flughafens oder etwa den Aufbau von Grenzschutzanlagen etc. Nutznießer der Entwicklungshilfe sind demnach nicht die Bevölkerung, sondern der sie unterdrückende Staatsapparat. Grenzen, die zuvor keine Bedeutung hatten, da innerhalb Westafrikas Freizügigkeit

herrschte, wurden aufgerüstet. Dadurch wurde aus dem Transitland Mauretanien eine Endstation für viele der Menschen, die sich oft illegal in dem Land aufhalten (weil sie sich die 85 Euro für die seit 2012 verlangte Aufenthaltsgenehmigung nicht leisten können) und die zahlreichen Diskriminierungen ausgesetzt sind. In Niger werden die aufgegriffenen MigrantInnen in sogenannten „Willkommenszentren“ über die Gefahren der Migration nach Europa und die dortigen schlechten Lebensbedingungen aufgeklärt – durch Erlebnisberichte von gescheiterten Flüchtenden mit dem Ziel der Abschreckung. In Eritrea und dem Sudan, deren Regime selbst schwerste Menschenrechtsverletzungen begangen haben, soll es mit Unterstützung der GIZ (Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, dem offiziellen Entwicklungshilfeorgan des deutschen Staates) ein Programm zur Ausbildung von Grenzwächterinnen und -wächtern und zur Errichtung von Aufnahmelagern inklusive Hafträumen für Geflüchtete geben.12 Auch wenn es einem so vorkommen mag: Die Krisen dieser Welt sind nicht unbedingt mehr geworden, sie sind uns aber näher gerückt und werden durch den sogenannten

Westliche Mittelmeerroute

Quellen: 1 Christian Jakob (taz.de),„Fluchtrouten verändern sich“, 11.04.2016 2 Frontex (frontex.europa.eu), „Frontex signs working agreement with Nigeria“, 19.01.2012 M. Bewarder, F. Flade (welt.de), „In Libyen harren sie aus bis der Frühling kommt“, 21.02.2016 4 Frontex (frontex.europa.eu), Western Balkan Route, abgerufen am 26.08.2016 5 Zeit.de, „UN setzen Nahrungsmittelhilfe für SyrienFlüchtlinge aus“, 01.12.2014 3

The New York Times, „Norway Will Build a Fence at Its Arctic Border With Russia“, 24.08.2016

6

Matthias Meisner (tagesspiegel.de), „Horgos – das neue Idomeni?“, 16.08.2016

7

Zeit.de, „Griechenland beklagt fehlende ­Unterstützung durch die EU“, 23.08.2016

8

Paul Middelhoff (zeit.de), „Karte der Gewalt“, 26.08.2015

9

Sueddeutsche.de, „Merkel: ‚Afrika ist das zentrale Problem‘“, 22.06.2016

10

Alexander Mühlauer (sueddeutsche.de), „EU-Investitionen sollen Menschen von Flucht nach Europa abhalten“, 22.06.2016

11

Ramona Lenz (medico), „Jagd auf Migranten in Afrika“, 18.05.2016 und Zeit.de, „GIZ hilft Diktatoren in Afrika beim Grenzschutz“, 14.05.2016

12

Philipp Faigle (zeit.de), „Ein Menschenleben ist billig geworden“, 22.08.2016

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Flucht und Migration

Verrohung von Sprache und Verschärfung von Gesetzen »Das Wort, dem gewissenlosen Demagogen ausgeliefert, dem puren Taktiker, dem Opportunisten, es kann zur ­Todesursache für Millionen werden […]; eine beliebig zu klassifizierende Gruppe von Mitbürgern kann durch Worte dem Verderben ausgeliefert werden.« Heinrich Böll, 1958 Der Anlass für diesen Beitrag waren die wiederholten Verschärfungen im Asyl- und Aufenthaltsrecht seit Herbst 2015, die Brüche internationalen Rechts an den europäischen Grenzen, sowie das Erstarken rechtsnationaler Parteien und Argumentationen in Europa. Hinzu kommen eigene Erlebnisse. Im Winter bin ich, wie viele tausend Andere, den Menschen auf der Balkanroute mit solidarischer Hilfe begegnet. Freunde von mir sind umgekehrt denselben Weg als sogenannte „Flüchtlinge“ gegangen. Sie wurden dazu gezwungen, weil sie woanders geboren wurden.

Die Würde des Menschen ist nicht relativierbar Obwohl Wohlfahrtsverbände, Ärzt*innen-, Menschenrechts- und Anwaltsorganisationen sich in detaillierten Stellungnahmen dagegen ausgesprochen haben, wurden sogenannte Asylpakete beschlossen, die Lösungen in der „Flüchtlingskrise“ bringen sollten. Es ging darin um beschleunigte Asylverfahren, um Abschiebungen kranker Menschen, Aussetzen des Familiennachzugs für Menschen, die nur subsidiären Schutz zugesprochen bekommen und weitere Einschränkungen des in der deutschen

Verfassung festgeschriebenen Rechts auf Asyl.1 Seit den 1980er Jahren versuchen die Regierungen der Bundesrepublik Deutschland Sozialleistungen für Menschen abzusenken, die um Asyl bitten. Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), das 1993 eingeführt wurde, gilt für die betroffenen Personen ein Sondergesetz, das ihren Anspruch auf Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen regelt. Das Bundesverfassungsgericht stellte dazu in einem Urteil vom 18. Juli 2012 fest: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG [Grundgesetz, Anm. d. Verf.] garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ 2 Das Gericht beanstandete damals als verfassungswidrig, dass das AsylbLG, im Vergleich zu deutschen Staatsangehörigen, unbegründet verminderte Geldleistungen vorsah. Das Gesetz wurde im März 2015 dahin gehend geändert, dass die Geldleistungen an das Niveau des Arbeitslosengelds II angeglichen wurden, welches aber nicht erreicht wird.3 Noch immer gilt für Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen und Monate bis Jahre auf eine Entscheidung warten und für alle, die mit dem Aufenthaltsstatus der Duldung leben müssen (d.h. Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, die aber aus verschiedenen Gründen nicht abgeschoben werden können) ein Sonder-

gesetz, nach dem sie nur ein Recht auf Sozialleistungen unter dem Existenzminimum und eine unzureichende medizinische Versorgung haben. Hinzu kommt, dass sie in speziellen Einrichtungen wohnen müssen, der Residenzpflicht unterliegen und ihnen untersagt ist zu arbeiten oder die Arbeitssuche erschwert wird. Die Vereinten Nationen riefen die Bundesrepublik u.a. im Jahr 2011 dazu auf, die Ungleichbehandlung beim Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung und zum Arbeitsmarkt aufzuheben.4

Sprachliche Abgrenzung legitimiert Ungleichheit Menschen, die in die Bundesrepublik Deutschland einreisen wollen, weil ein Leben in ihrem Herkunftsland nicht mehr möglich ist, haben seit Jahren so gut wie keine Möglichkeit, dies auf legalem Weg und selbstbestimmt zu tun. Stattdessen bestimmt über Monate bis Jahre das komplizierte, zunehmend chaotische Asylverfahren über den Rhythmus ihres Lebens. Die Entscheidungspraxis ist undurchsichtig und abhängig von den politischen Vorstellungen der aktuellen Regierung.5 Die psychischen Folgen dieses unsicheren und entwürdigenden Zustands sind erheblich. Seitdem im letzten Jahr die Themen Migration und Flucht in die Schlagzeilen und alltägliche Debatte vordrangen, gibt es die „Flüchtlingsdebatte“, das „Flüchtlingsproblem“, die „Flüchtlingskrise“, und vor allem „die Flüchtlinge“. Und die staatliche, wie die nichtstaatliche Gewalt gegen diese Gruppe haben seitdem drastisch zugenommen. In der europäischen Öffentlichkeit werden offen wirtschaftspolitische Überlegungen und Menschenrechte gegeneinander abgewogen. Gewalt gegenüber Schutzsuchenden und der Tod tausender Menschen an der europäischen Grenze sind Bestandteile der Gegenwart geworden. Die aktuelle Bundesregierung schließt Verträge mit der Türkei, Marokko und dem Sudan. Es werden Abkommen mit Ägypten, Afghanistan und Pakistan forciert. Entwicklungshilfe soll an die Rücknahme von abgeschobenen Menschen und die Abschottung der Länder in Richtung Europa gekoppelt werden.6

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Flucht und Migration

Die Klassifizierung von Menschen anhand der Staatsbürgerschaft, der Religion, der Herkunft, der Farbe ihrer Haut oder der Art des Aufenthaltsstatus, ist die Grundbedingung für gruppenbezogene Gewaltverbrechen. Die Einteilung in ein Wir und ein Sie ruft diese Gewalt hervor und erleichtert die Gewöhnung daran. Wenn Menschen nicht zum konstruierten Wir gehören, können sie anders behandelt werden. Wenn Menschen medizinische Versorgung oder Nahrung verweigert wird, sie gezwungen werden, auf überfüllte Boote zu steigen oder in Lagern festsitzen, werden sie aus dem Wir ausgestoßen. Diese menschenunwürdigen Bedingungen nehmen ihnen die Menschlichkeit.

Rechte zugesprochen werden, weil sie in verschiedenen Gegenden der Erde geboren wurden. Das klingt selbstverständlich und die Gleichwertigkeit der Menschen wird wörtlich nicht von der Regierung der Großen Koalition in Frage gestellt. Aber ihre Gesetze und ihr Handeln tun es. Sie stützt sich dabei auf einen vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens, der Grenzsicherung und die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit als notwendig erachtet, der Menschen in Deutsche und Ausländer unterteilt, in „echte Flüchtlinge“ und „(Armuts-)Migranten“, um Letzteren ihre Rechte vorzuenthalten.

Menschlichkeit und auch Armut ist ein politischer Fluchtgrund. Die maßgebliche ökonomische Ideologie dieser Staaten verschärft das Gefälle des materiellen Wohlstandes, zerstört Sozialstaaten und verstärkt die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, auf Kosten vor allem derer, die sie an den Grenzen einsperren lassen.

Grenzen und Ungleichheit überwinden

Diese Entmenschlichung und sprachliche Unterscheidung mit Worten wie „Flüchtling“, „Flüchtlingsfamilie“, „Flüchtlingsmädchen“ usw. macht es leichter, sich an Bilder von ertrunkenen Familien zu gewöhnen. Diese Personen als grundlegend anders, Felix Ahls weniger menschlich zu PJ Universität Düsseldorf, betrachten, ist ein Schutz Medinetz Düsseldorf, vor der Ohnmacht und der Felix-ahls@web.de Trauer, die das Leid der Mitmenschen hervorruft. Die Unterteilung in Gruppen und eine Argumentation anhand von Vorurteilen dienen der Vereinfachung einer chaotischen Realität. Darüber hinaus erzeugt die sprachliche und physische Ungleichbehandlung selbst die Gruppenzugehörigkeiten, mit denen sie begründet wird.

Unsere Gegenwart, in der viele tausend Menschen in Europa aufgrund von Gesetzen sterben und in Lagern und Gefängnissen erniedrigt werden, macht es für uns notwendig, diesen Konsens aufzubrechen und zu entkräften.

Hunderttausende haben im letzten Jahr die entwürdigenden Grenzen vieler Staaten überwunden. Ebenso müssen die Grenzziehungen in der Sprache und zwischen uns Menschen geschobene Identitäten überwunden werden.

Sie sind zudem politisch gewollt von Regierungen und nutzen Gesellschaften, zu deren Grundlagen die wirtschaftliche Ungleichheit und der Nationalstaat gehören. Unabhängig davon, auf welchem Merkmal Rassismen und Klassenzugehörigkeiten beruhen, wurden und werden sie genutzt, um bestehende politische und ökonomische Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und aufrechtzuerhalten. Durch Ausgrenzung der einen Gruppe soll das Privileg des materiellen Wohlstands der anderen gesichert werden. Das geschieht durch das Errichten von Stacheldraht und das Patrouillieren von Militärschiffen und Hubschraubern an den Grenzen. Es ist eine Beleidigung der viel zitierten Aufklärung, dass Menschen verschiedene

Die Klassifizierung von Menschen in illegale und legale Migranten, Flüchtlinge oder Asylbewerber ist ein Baustein der ungerechten und verrohten Gegenwart. Wir sollten uns nicht darauf einlassen.

Quellen: h ttp://anwaltverein.de/de/newsroom/ sn-4-16-zum-gesetzentwurf-der-bundesregierung-zur-einfuehrung-beschleunigter-asylverfahren-33981

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Es beleidigt meine Freunde und mich, dass die Regierungen Europas entscheiden, dass ich in einem Flugzeug reisen darf und sie in überfüllte Schlauchboote steigen und ihr Leben riskieren müssen. Es beleidigt alle, für die die Gleichheit der Menschen unbezweifelbar und universell ist, wenn Menschen in Gruppen eingeteilt und ihnen unterschiedliche Rechte zugesprochen werden. Während die Menschen in Lagern unsichtbar gemacht werden, bestehen die Ursachen für ihren Verlust und ihren Schmerz im Exil weiter und die Politik der europäischen Regierungen verschärft diese Situation, indem ihnen ihre Rechte zunehmend abgesprochen werden. Die eskalierende Abschottungspolitik der wohlhabendsten Staaten ist ein Verbrechen gegen die

„ Die Bundesregierung war in den Jahren 1990 bis 1993 in erster Linie bemüht, die Zahl der nach Deutschland einreisenden Asylbewerber zu begrenzen und die Kosten für ihre Aufnahme und allgemeine Versorgung gering zu halten (vgl. BTDrucks 12/4451, S. 1 und 5). Diese Erwägungen stehen auch hinter den Regelungen zu Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.“ ; https://www.bundesverfassungsgericht.de/ SharedDocs/Entscheidungen/DE/2012/07/ ls20120718_1bvl001010.html

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http://www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/asylblg/ BVerfG-AsylbLG-Novelle-2014.html

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h ttp://www2.ohchr.org/english/bodies/cescr/docs/ E.C.12.DEU.CO.5-ENG.doc https://www.proasyl.de/news/immer-weniger-­ fluechtlingsschutz-fuer-menschen-aus-syrien-irakeritrea-afghanistan/

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http://www.ardmediathek.de/tv/Monitor/Monitor-vom-04-02-2016-mit-Geb%C3%A4rdenspra/ Das-Erste/Video?

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Flucht und Migration

Hinter dem Zaun Ein Bericht über Lebensbedingungen in einer Aufnahmeeinrichtung für Asylsuchende und die Frage nach dem Verbleib unserer Werte

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er Blick ist ins Leere gerichtet. Scheinbar bedächtig wippt Samir 1 im Schneidersitz vor und zurück. Er ist neun Jahre alt, wirkt allerdings deutlich jünger. Seine längliche Augenform und die scheinbar zu große Zunge in seinem kleinen Mund erzählen von seinem 21. Chromosom, das drei- anstatt, wie bei den meisten Menschen, zweifach ausgebildet ist. Samir hat Trisomie 21, auch Down-Syndrom genannt. Es ist die Behinderung, die häufig als Beispiel dafür genommen wird, dass Menschen auch mit geistiger Behinderung ein glückliches Leben führen können. Plötzlich kommt ein lautes Kreischen aus Samirs Mund. Er dreht die Augen nach oben, scheint etwas an der Decke zu suchen. Er nimmt seine Beine und positioniert sie wie ein Schlangenmensch hinter seinen Kopf. Dann fällt er wieder zurück in seine wippende Ausgangsposition.

Seine Heimat war eigentlich mal Mazedonien. Da hat man aber nichts für ihn tun können. Man hat nicht einmal eine genetische Untersuchung durchgeführt und die Eltern über die Behinderung aufgeklärt. Sogar ihr Haus und ihr Auto hätten sie verkauft, berichtet der Vater Herr Maznov. In der Hoffnung, dass sie mit dem Geld in Privatkliniken Hilfe erhalten. In der Hoffnung, dem Verständnis davon, was mit ihrem Sohn los ist und was er braucht, ein Stückchen näher zu kommen. Aber alle Untersuchungsansätze sind im Sand verlaufen. Maznov kann nicht einmal sagen, ob die Krankenhäuser in Mazedonien überhaupt in der Lage sind, seinen Sohn zu untersuchen und zu behandeln oder worin das Problem sonst begründet gewesen sein könnte. Und es ist auch nicht das, was ihn jetzt noch beschäftigt, denn Mazedonien liegt zwei Jahre und einen langen Fluchtweg zurück. Samir sitzt nun auf einem Bett in einer deutschen Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende. Seit elf Monaten sitzt er hier. Oder auf dem Boden. Oder auf dem Stuhl. Mehr hat das karge Zimmer nicht zu bieten und einen anderen Ort gibt es in der Einrichtung für Samir nicht. Die hauseigene Spielstube kann nur einen Bruchteil der vielen hier lebenden Kinder aufnehmen und ist zudem nicht auf Kinder mit Behinderung eingestellt. Ebenso wie die hausinterne „Schule“, in der für Kinder ein paar Stunden in der Woche Deutschunterricht angeboten wird. In der Einrichtung leben derzeit rund 600 Bewohner. Ein umzäuntes Gelände, ein kleiner Spielplatz, eine große Containeranlage

und alte Häuserzeilen prägen das Erscheinungsbild. Die Menschen leben auf engstem Raum – manchmal bis zu 16 Personen in einem Zimmer. Das führt zu einem großen Lärm- und Stresspegel, Auseinandersetzungen und soziale Spannungen sind an der Tagesordnung, die Polizei ist fast täglich im Einsatz. Dies ist eigentlich kein Ort für Kinder. Dennoch wuseln den ganzen Tag zahlreiche unbetreute Kinder in den Gängen herum. Unter ihnen auch die drei jüngeren Schwestern von Samir. Eine von ihnen ist im schulfähigen Alter, hat aber seit einem Jahr keine reguläre Schule gesehen. Sie spielen auf den Fluren und strolchen ­hinter den Häusern herum. Oft sind sie auf sich allein gestellt, weil ein Elternteil alltäglichen Erledigungen nachgehen und sich das andere um Samir kümmern muss.

ke auf den Fluren. Und das Essen. Samir kann nicht richtig schlucken und ist auf breiartige Nahrung angewiesen. Diese aber ist in der Verpflegung der Einrichtung nicht ­vorgesehen.

Samir kann nicht sprechen, sich nicht waschen, ankleiden oder auf Toilette gehen. Manchmal beißt und kratzt er um sich, hinterlässt Spuren auf den Armen seiner Eltern. Das Laufen fällt ihm schwer. Wenn Samir mit anderen Kindern spielt, läuft er Gefahr, sie zu verletzen, weil er sie so fest drückt. Deswegen muss immer ein Elternteil bei ihm sein. Weil Samir sich mehrfach am Tag einkotet und er zu groß für die Reinigung mit Feuchttüchern ist, muss er jeden Tag geduscht werden. Die Prozedur gleicht einer Tortur, denn es gibt in der Einrichtung keine Schläuche, sondern nur Duschbrausen weit oben an der Wand, was das gezielte Reinigen schwer macht. Manchmal schwankt die Warmwasserzufuhr, so dass Samir dann mit kaltem Wasser gewaschen werden muss und zusätzlich in Stress gerät. Stress bereitet ihm auch die Lautstär-

Das Essen, das von einem Caterer geliefert wird, ist ohnehin Grund ständiger Beschwerden der Bewohner. Die Menge von 400g zum Mittagessen reicht einigen nicht aus und das Angebot ist wenig abwechslungsreich; es gibt fast jeden Tag Reis mit Soße und Joghurt. Wasser müssen die Bewohner aus den Wasserhähnen der häufig verdreckten Sanitäranlagen trinken. Da viele direkt mit dem Mund an den Wasserhahn gehen, besteht die Gefahr der Infektion. Aus Angst vor Krankheiten schleppt Herr Maznov für seine Familie Wasser aus dem 1,5 km entfernten Supermarkt heran. Allerdings reicht das kleine Taschengeld pro Woche (28,50 € pro Person und ca. 18 € pro Kind) kaum aus, um zusätzlich gesondertes Essen und Wasser zu finanzieren. Familie Maznov ist daher auf Spenden von NGOs angewiesen.

Fiene Wolf ist Verfahrensberaterin der Diakonie Hessen in der Landeseinrichtung für Asylbegehrende in Ingelheim. Wer Familie Maznov unterstützen möchte, kann mit dem Verein „Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen, Mainz e.V.“ in Kontakt treten: j.schweizer@zsl-mainz.de.

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von drei auf sechs Monate hochgesetzt. Während sie zuvor in der Regel nur wenige Wochen in den Aufnahmeeinrichtung verweilten, und mit anschließendem Transfer in die Kommunen auf bessere Lebensbedingungen hoffen durften, halten sich nun viele monatelang und einige ohne zeitliche Obergrenze in den Einrichtungen auf. Dabei bleiben ihnen viele grundlegende Rechte verwehrt.

Mitarbeiter der Einrichtung reagierten nur minimal auf die besondere Situation der 6-köpfigen Familie mit ihrem behinderten Kind. Es dauerte zwei Monate, bis die Eltern passende Windeln für ihren Sohn und einen Pürierstab zur Zubereitung seines Essens erhielten. Nach sechs Monaten stellte man ihnen ein zweites Zimmer zur Verfügung, wodurch nun ein Elternteil in der Lage ist nachts zu schlafen, während das andere bei dem autoagressiven Samir wacht. Nach neun Monaten ermöglichte man der Familie angesichts der benötigten Sondernahrung für Samir ein Extra-Taschengeld. Der gesundheitliche Zustand von Samir wurde allgemeinärztlich untersucht und bis auf eine kardiologische Abklärung seines angeborenen Herzfehlers fanden keine weiteren Untersuchungen statt. Die durch einen Zungenbiss entstandene Wunde, die Samir sich bei einem Sturz zuzog, wurde genäht. Das fällt unter Akutversorgung und in das Selbstverständnis des einrichtungsinternen medizinischen Dienstes. Fast ein halbes Jahr hingegen dauerte es, bis die bei Samir viel zu großen Polypen entfernt wurden, die ihn beim Schlucken und Atmen behinderten. Eine Erforschung, an welchen Formen von Behinderung und welchen neurologischen Störungen Samir eigentlich leidet, wurde nicht eingeleitet. Ebenso wurde weder der Verdacht auf Taubheit abgeklärt noch die Pflegestufe und der Grad der Behinderung festgestellt. Problematisch ist das nicht nur, weil der Junge damit unbehandelt bleibt und sich sein Zustand womöglich verschlechtern könnte. Auch kann der zuständige Sozialdienst nicht prüfen, ob die Unterbringung des Jungens in der Einrichtung überhaupt vertretbar oder nicht vielmehr gesundheitsgefährdend ist. Problematisch ist zudem,

dass somit auch wichtige Erkenntnisse für das Asylverfahren fehlen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hatte bei der Prüfung des Asylantrags festgestellt, dass „keine Gefahrenlage“ für Samir bei einer Rückkehr in seinen Heimatstaat vorläge. Es sei nicht erkenntlich, dass sich in Mazedonien sein „Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde“, oder er „alsbald nach seiner Rückkehr […] in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen wäre“. Der zuständige Entscheider legte dieser Beurteilung die nur unzureichend vorliegenden medizinischen Befunde zugrunde und entschied entgegen des Sachvortrags der Eltern in der Anhörung negativ. Wie kann eine Familie darlegen, wie schwer erkrankt ihr Kind ist und welche Folgen bei einer Nichtbehandlung auf das Kind zukämen, wenn es niemand untersucht und eine fachkundliche Einschätzung vornimmt? Wenn die Eltern selbst nicht wissen, in welcher Gefahrenlage sich ihr Kind befindet? Und wie soll eine abschiebungswillige Ausländerbehörde sicherstellen, dass der Prozess des Rückführens nicht schwere gesundheitliche Folgen für den Jungen hätte und somit eigentlich inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse vorliegen? Die dramatische Situation der Familie Maznov hat ihre Ursache vor allem in einer Gesetzesänderung im Zuge des Asylpakets I: Seit Oktober 2015 sind Asylbewerber aus den sogenannten Sicheren Herkunftsstaaten verpflichtet, in den Aufnahmeeinrichtungen zu wohnen (§47 Abs. 1a AsylG), außer ihre Asylanträge würden wider Erwarten positiv beschieden.2 Auch für Asylsuchende aus anderen Staaten wurde die maximale Aufenthaltsdauer in der Einrichtung

Der Zugang zu Bildung hat einen hohen Stellenwert in Deutschland 3. Eine Beschulung ist für Kinder in Aufnahmeeinrichtungen nach der EU-Aufnahmerichtlinie spätestens nach drei Monaten zu gewährleisten (Art.14 Abs. 2 2013/33/EU). Wenn die Erstaufnahmeeinrichtung ihrer ursprünglichen Benennung nach tatsächlich nur eine erste Durchlaufstation für ein paar Wochen darstellen würde, wäre die faktische Ungleichbehandlung bei Nichtbeschulung aus praktischen Gründen vertretbar, denn bestehende Rechte benötigen auch Zeit für ihre Umsetzung. Samir und seine Geschwister halten sich nun aber seit bald einem Jahr in Deutschland auf - legal, gemeldet und schutzsuchend – ohne dass eine Beschulung stattgefunden hätte. Auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit ist als Menschenrecht von Deutschland anerkannt und in verschiedenen Regelwerken bekräftigt worden. Asylbewerbern sollen nicht nur die erforderlichen ärztlichen und zahnärztlichen Behandlungen (§4 Abs.1 AsylbLG), sondern auch alle sonstigen zur Gesundheit unerlässlichen Leistungen gewährleistet werden (§6 Abs. 1 AsylbLG). Dennoch agierte der medizinische Dienst bei Samir nur im Sinne einer Akutversorgung und zeigt, dass kein Umdenken hin zu einer vollen medizinischen Versorgungsleistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz stattgefunden hat. Was für ein Rechtsraum herrscht eigentlich hinter dem Zaun einer solchen Aufnahmeeinrichtung? Und was bedeutet das für uns als Teil der Mehrheitsgesellschaft? Sind es nicht auch unsere Werte, die dort verfallen? Wer gewährleistet Samir und seinen Geschwistern einen „der körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung des Kindes angemessenen Lebensstandard“, wie es die EU-Aufnahmerichtlinie vorsieht (Art. 23 Abs. 1 2013/33/ EU)? Welchen Gehalt tragen unsere Werte, wenn sie nicht dort Anwendung finden, wo sie am ehesten gebraucht werden, nämlich


Flucht und Migration

bei den Schwächsten unserer Gesellschaft – bei den Erkrankten, den körperlich und geistig Beeinträchtigten, den Erschöpften und Traumatisierten, den Kindern? Familie Maznov blieb der Gehalt unserer Werte verborgen. Vor ein paar Wochen haben sie erfahren, dass bei Samir neben der Trisomie 21 auch noch ein Autismus vorliegt. Eine externe Psychologin, die sich auf Bitten von Unterstützern bereit erklärt hatte, Samir unentgeltlich zu untersuchen, stellte die schwerwiegende Diagnose. Es ist unklar, was das für die Lebensqualität und die Lebensdauer von Samir bedeutet. Ob er jemals umfassend untersucht und thera-

piert wird, hängt wohl vor allem von dem Einsatz von Ehrenamtlichen ab. Weil Samir ein Kind von Eltern aus einem sogenannten Sicheren Herkunftsstaat ist. Weil er dazu verdammt ist, hinter einem Zaun in einer Einrichtung zu leben, in der Menschen nicht als gleichwertig angesehen werden. Samir fällt wieder in sein eigentümliches Kreischen. Wackelnd läuft er zu seinem Vater, drückt sich an ihn und lässt sich von ihm auf den Schoß nehmen. Große Arme umgreifen ihn von hinten, wirken warm und beruhigend. Samir verstummt für einen Moment. Der Blick seines Vaters schweift traurig und erschöpft ins Leere.

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Alle Namen sind geändert.

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avon sind vor allem Asylsuchende aus Albanien, D Serbien, Mazedonien, Kosovo sowie Bosnien und Herzegowina betroffen; gelistet nach Zahl der Folgeanträge im Juni 2016 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Aktuelle Zahlen zu Asyl. Juni 2016. S.5, abgerufen am 30.08.2016 unter <www.bamf. de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/ Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-juni-2016.html?nn=7952222>).

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S o ergibt sich das Recht auf Bildung bereits aus dem Grundgesetz (Art. 1 Abs. 1 u. Art. 2 Abs.1 i.V.m. Art. 3 Abs.1) und ist zum Beispiel im „Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ (Art. 13), im „Übereinkommen über die Rechte des Kindes“ (Art. 28) und in der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ (Art. 14) verankert.

Ein unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Deutschland

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mmer wieder liest man von Minderjährigen, die alleine nach Deutschland fliehen, um sich hier ein neues Leben aufzubauen. Mustafa ist einer von ihnen. Er ist 17 Jahre alt, kommt aus Afgha­ nistan und lebt seit Dezember 2015 bei einem deutschen Ehepaar, Annegret (63) und Eberhardt (69). Bisher ist Mustafa in Deutschland noch nicht als Flüchtling anerkannt, weshalb wir seinen wirklichen Namen ebenso wenig wie den Nachnamen seiner neuen Eltern drucken. Auch auf dem Foto ist er deshalb nur von hinten zu sehen. Am Tag der ersten Kontaktaufnahme mit Annegret griff ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in einem Regionalzug in der Nähe von Würzburg mehrere Menschen an. Über ihn hat man in den folgenden Tagen viel gehört, sehr viel mehr als über die Jugendlichen, die sich nicht radikalisieren. Auch gerade deshalb ist dieses Interview so wichtig.

Annegret erzählt Amatom: Wie seid ihr auf die Idee gekommen, einen UMF (unbegleiteten minderjährigen Flüchtling) aufzunehmen? Annegret: Wir hatten in der Zeitung gelesen, dass Flüchtlinge unterwegs sind, auch Jugendliche. Und erstens: Wir haben freie Räume. Zweitens: Wir haben Söhne und wenn die in die Situation kommen würden, das Land verlassen zu müssen, dann hätte ich es auch gut gefunden, wenn jemand für sie sorgt. Insofern war das eine naheliegende Überlegung. Welche Eltern möchten nicht gerne, dass ihre Kinder eine gute Betreuung haben? Außerdem hatten wir schon häufiger Pflegekinder in der Vergangenheit und auch das verstärkte den Gedanken.

Amatom: An wen habt ihr euch gewandt als ihr beschlossen hattet, jemanden aufzunehmen? Annegret: Das Jugendamt hat in der Lokalzeitung einen Aufruf abdrucken lassen, dass sich bitte Menschen, die bereit wären jemanden aufzunehmen, melden sollten. Das haben wir gemacht. Der Leiter des Jugendamtes, mit dem ich telefoniert habe, sagte: „Auf Leute wie Sie haben wir gewartet!“ Das war ganz nett, weil wir zunächst einmal dachten, wir wären zu alt. Aber es geht ja nicht um ganz junge Geflüchtete, denn sie sind ja auch schon älter und haben schon einiges an Erfahrung hinter sich. Deshalb waren auch Pflegeeltern älteren Datums willkommen. Amatom: Musstet ihr irgendetwas vor­ weisen?

Annegret: Das weiß ich jetzt gar nicht, ob das bei anderen Eltern so war, aber wir mussten nichts vorweisen. Wir waren ja sozusagen schon bewährt als Pflegeeltern und dem Jugendamt bekannt. Es gab ein Gespräch und da wurde dann auch gefragt: Warum wollen Sie das machen, welche Gegebenheiten sind vorhanden? Also wenn beide den ganzen Tag berufstätig sind, dann sind das keine guten Voraussetzungen. Amatom: Und wie wurde entschieden, dass Mustafa1 zu euch kommt? Annegret: Es gab eine Gruppe von Jugendlichen, die hier waren. Sie wohnten in einer Übergangsunterkunft und hatten schon ersten Deutschunterricht. Zunächst wurden die Jugendlichen gefragt, ob sie lieber in einer betreuten Wohngemeinschaft wohnen wollen oder lieber in einer Familie und wenn ja, alleine oder zu zweit. Wir hat-

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ten uns entschieden, einen Jugendlichen aufzunehmen, weil wir dachten, für das Erlernen der Sprache sei das besser und auch für den Einstieg. Amatom: ­Und wie habt ihr euch vorbereitet? Annegret: Es gab ein Treffen beim Jugendamt, bei dem wir uns kurz kennen lernten und beide Seiten hätten „ja“ oder „nein“ sagen können. Darüber hinaus gab es ein ausführliches Gespräch mit dem Jugendamt, das ganz hilfreich war. Dort wurde gesagt, dass es wichtig sei, am ersten Tag nicht übermäßig Tamtam zu machen. Denn was will man sagen mit eingeschränkten Deutschkenntnissen! Daraufhin haben wir uns überlegt, wir besorgen noch gar nichts für ihn, sondern fahren mit ihm gemeinsam zum Einkaufen und besorgen ihm ein Bett und alles, was er braucht, mit ihm gemeinsam. Das war auch ganz gut, weil er zum Beispiel einen Wunsch hatte: Das Bett war ihm eigentlich egal, es sollte nur so hoch wie möglich sein… Amatom: Aha, warum das? Annegret: … und das fand ich ganz spannend. Wir haben uns dann natürlich darüber unterhalten und er konnte es uns damals noch gar nicht ganz erklären. Später erfuhren wir: Zu Hause hatte er auf dem Boden geschlafen. Und Bett in Europa bedeutet einfach: hoch und weit weg vom Boden. Amatom: Und wie verständigt ihr euch? Annegret: Auf Deutsch. Amatom: Von Anfang an?

Annegret: Ja es gibt gar keine Alternative. Und das ist auch gut. Er hat – das finde ich sehr erleichternd – Lesen und Schreiben gelernt in seiner Sprache. Das erleichtert natürlich das Lernen in einer anderen Sprache, weil es dann immer Übersetzungshilfen gibt. Das ist alles sehr viel komplizierter wenn sie Analphabeten sind.

Ländern. Das ist so eine Art Ehrerbietung, wie „Tante“ vielleicht. Außerdem hat das den Vorteil, dass man sich den Namen nicht merken muss (lacht).

Amatom: Und wie sieht euer Alltag aus?

Annegret: Offen zu sein. Mit möglichst wenig Unvoreingenommenheit. Sich bewusst zu sein, dass das gestandene Jugendliche sind, die schon viel erlebt haben. Ihnen Freiheiten zu gestatten. Und dass es gleichzeitig auch noch Kinder sind. Gelassen zu sein, auch wenn es schwierig wird. In schwierigen Situationen nicht in Panik zu verfallen. Ich glaube, das ist hilfreich.

Annegret: Jetzt in den Ferien schläft Mustafa überwiegend lange, da unterscheidet er sich nicht von anderen Jugendlichen. Er hat Freunde, mit denen er sich trifft. Er ist hier auf die Hauptschule gegangen nach der ersten Deutschlernphase, das war überwiegend auf ehrenamtlicher Basis. Zunächst habe ich die Aufnahme in die Hauptschule sehr begrüßt, dann war ich sehr enttäuscht, weil dort gar keine Einbindung in die normalen Klassen stattgefunden hat. Es gab eine Extraklasse, in der im Grunde der Sprachlernunterricht fortgeführt worden ist und nicht mal Unterrichtsfächer wie z. B, Sport hat mit den anderen Schülern stattgefunden. Außerdem war dann noch unglücklicherweise die Lehrerin langzeitkrank, sie war nur drei Wochen im gesamten Schuljahr da. Somit war das sehr rudimentär. Jetzt ist er angemeldet an der BWS (Berufsbildende Schulen), da bin ich sehr gespannt. Amatom: Wie hat sich Mustafa denn mit dem hier üblichen Essen arrangiert? Annegret: Sehr gut. Er sagt auch allen seine „Mama“ könne gut kochen. Er sagt übrigens „Mama“ und „Papa“, was aber glaube ich nicht unserem „Mama“ und „Papa“ entspricht, sondern das kenne ich auch von anderen jüngeren Leuten aus anderen

„Mustafa“ mit einer seiner Ehrenamtlichen, die ihm Mathematik beibringt.

Amatom: Was würdet ihr jemandem empfehlen, der überlegt, einen UMF aufzunehmen?

Amatom: Was meinst du mit „Schwierig“? Annegret: Er ist sehr liebenswürdig, sehr zuvorkommend. Dann gab es aber auch Situationen, in denen er sich sehr zurückgezogen hat und einfach andere Vorstellungen hatte als wir. Das ist dann meine persönliche Macke, dass ich es nicht gut aushalte, wenn man nicht mit mir spricht. Wir mussten klären, dass er sich zurückziehen kann, aber nicht als Abbruch, sondern dann brauche ich eine kurze Information. Ein anderes Thema ist, dass er eben ­einen anderen kulturellen Hintergrund hat. Er hat eine Verlobte. Wenn er zu ihr fährt, dann setzt er sein ganzes Taschengeld in Form von Geschenken für die Familie um. Dafür hatte ich zunächst überhaupt gar kein Verständnis. Dann hat der Übersetzer eben auch gesagt, das sei aber so. Diese Verlobung ist ohne den Anspruch auf einen Brautpreis zustande gekommen. Das bedeutet aber, dass er Geschenke machen muss. Das ist sozusagen landestypisch. Was aber zusätzlich immer noch bedeutet, dass er dem Vater dankbar sein muss, dass er ihm die Tochter gibt, ohne den Brautpreis zu verlangen. Das ist für uns irgendwie etwas… nun ja… gewöhnungsbedürftig. Und er ist eben jemand der nicht aus Kabul kommt, also nicht sehr viel mit westlicher Zivilisation in Berührung gekommen ist. Er ist aus dem Norden von Afghanistan, einer sehr ländlichen Region, aber man könnte auch denken er ist Student und kommt aus… ich weiß nicht woher. Er ist das sehr anpassungsfähig. Das finde ich erstaunlich. Er lernt sehr schnell, ich finde es ist eine Ressourcenverschwendung, was da getrieben wird mit diesen Leuten, die begabt sind und nicht lernen können. Es gibt einen


Flucht und Migration

Jugendlichen, der hier auf das Gymnasium geht. Er hat zwei Jahre Koranschule gehabt und er kommt da mit. Das muss man sich mal vorstellen! Er ist hier in die achte Klasse gekommen. Das finde ich… also es ist mir ein Rätsel. Insofern bin ich sehr zuversichtlich, dass auch Mustafa seinen Weg gehen wird, eine Ausbildung machen kann und sich dadurch dann selbst gut ernähren kann und irgendwann auch ins Sozialsystem der Bundesrepublik einzahlen wird. Mir wäre noch wichtig zu sagen, dass wir beide finden, dass Mustafa für uns eine Bereicherung ist, einfach weil er so ein liebenswürdiger und netter Mensch ist und auch, weil durch ihn ein Einblick in eine ganz eigene Kultur möglich ist, die wir sonst so intensiv nicht erlebt hätten. Ich finde es immer gut, wenn man über den eigenen Tellerrand hinaus etwas erfährt.

hatten das Gefühl, sie würden auch vor der Nutzung von Pistolen und Gewehre nicht zurückschrecken.

Amatom: Worüber hast du dich am meisten gefreut? Was war am schönsten? Am besten?

Amatom: (Pause) Dann danke, Annegret.

Mustafa: Diese Familie möchte ich bleiben. Mama und Baba bleiben.

Mustafa2 erzählt

Annegret: Soll ich ihn dir noch einmal geben?

Amatom: Und was ist schön? Was magst du?

Amatom: Ja! Mustafa: Hallo Amatom: Hallo. Kannst du mir von deinem Weg hierher erzählen?

Mustafa: Bleiben…eine Ausbildung machen. Amatom: Hast du ein Hobby? Mustafa: Nein, noch nicht (lacht).

Mustafa: … Berge zwischen Iran und Afghanistan. Fuß von meiner Mutter wie sagt man?

Amatom: Möchtest du etwas Bestimmtes machen?

Annegret (in Hintergrund, scheint eine Geste zu beschreiben): Umgeknickt.

Mustafa: Tischler… aber zuerst muss ich Deutsch lernen.

Amatom: Warum hast du deine Heimat verlassen?

Mustafa: Ja umgeknickt. Meine Mutter ist einen Monat lang in einem Krankenhaus in Iran geblieben. Dann Richtung Türkei, in Türkei…

Amatom: Was würdest du einer Familie in Deutschland sagen, die sagt, sie möchte auch jemanden aufnehmen?

Mustafa: Ich kann nicht… Wie soll ich erklären?

Annegret (im Hintergrund): An der Grenze…

Amatom: Wenn du etwas nicht sagen möchtest, ist das ok!

Mustafa: Ja, an der Grenze, sie sagen zwei Gruppen. Eine Gruppe da lang und dann in Türkei, alle zusammen, und du kannst dann deine Mutter sehen. Und in Türkei ich habe meine Schulter…

(nach einigen Versuchen „übersetzt“ Annegret diese Frage in einfacheres Deutsch) Mustafa: (lacht) äähm. Was soll ich sagen?

Mustafa: Nein, nein, ich kann alles sagen, aber ich kann nicht erklären. Amatom: Ok, willst du es versuchen? Ein bisschen? Mustafa: Meine Mutter kann erklären… Annegret: Hallo… Amatom: Hallo Annegret. Wir waren gerade an dem Punkt, warum Mustafa aus Afghanistan geflohen ist und er sagt, du könnest das besser erklären. Annegret: Es gab innerfamiliäre Konflikte, weil der Onkel, der Bruder der Mutter, in eine Talibanfamilie eingeheiratet hat und selber Taliban ist. Er hat fünf Söhne und die haben Druck ausgeübt, dass Mustafa, seine Mutter und sein Bruder sich auch den Taliban anschließen sollen. Sie sind auch bewaffnet, das ist man eben in Afghanistan und sie hatten Angst, dass sie auch… sie haben sie geschlagen, sowohl die Mutter als auch Mustafa und seinen Bruder und sie

Annegret: Ausgekugelt… Mustafa:…ausgekugelt und dann ich habe ein Tag oder zwei Tage geblieben und dann meine Mutter nicht da und ich habe gegangen nach Griechenland und in Griechenland viel Polizei. Viele Leute und mit Polizei ich dann nach Deutschland. Amatom: Wie fühlst du dich hier in Deutschland? Mustafa: Was für eine Frage… gut!

Annegret: (lacht auch)… du kannst sagen… du kannst sagen, sie soll zweimal am Tag mit dem Jugendlichen Deutschunterricht machen. (lacht) Mustafa: (lacht auch) Ich muss sagen, ich kann nicht Deutsch lesen und Annegret jeden Tag mit mir eine Stunde Deutsch lesen… lernen…und ich kann sagen, ich kann jetzt auch schon lesen. Amatom: Das waren alle Fragen, die ich dir stellen wollte. Möchtest du noch etwas sagen? Mustafa: Meine Mama hat gesagt, das ist ein Interview. Und ich habe das nicht verstanden. Was ist ein Interview?

Amatom: Gab es auch etwas, das schwierig für dich war? Mustafa: (bestimmt) Nein! Amatom: Wie ist es für dich, in einer neuen Familie zu wohnen? Mustafa: Diese Familie ist ganz gut.

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Name von der Redaktion geändert

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nmerkung der Redaktion: Noch ist Mustafa nicht A als Geflüchteter anerkannt. Sein Vormund bat uns deshalb, seine Anonymität zu wahren.

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Zwischen humanitärer Hilfeleistung und Handlungsohnmacht Ein Erfahrungsbericht des Dresdner Support Convoy über Idomeni

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as Camp für Menschen auf der Flucht im Grenzort Idomeni war ursprünglich für wenige tausend Menschen angedacht, die von dort aus die Grenze zu Mazedonien überqueren sollten, um nach wenigen Tagen Aufenthalt auf dem direkten Weg mit dem Zug in die nächsten Durchgangscamps in Serbien zu gelangen. Um die Anzahl zu regulieren, wurden regelmäßig Busse, die zumeist aus Athen kamen, an der ca. 20 km entfernten EKO-Tankstelle oft tagelang festgehalten. Bis auf eine unabhängige, selbstorganisierte Küche gab es dort vorerst keine Versorgungsstruktur (ausgenommen des Shops in der Tankstelle). Teils hunderte, teils weit über tausende Menschen warteten hier darauf, das Camp in Idomeni zu erreichen.

Mit der sukzessiven Grenzschließung, beginnend in Österreich und sich entlang der Balkanroute bis nach Mazedonien ziehend, änderte sich die Situation erheblich. Immer weniger Menschen wurden pro Tag über die Grenze gelassen, sodass sich die Anzahl der an der Tankstelle gezwungenermaßen lebenden Menschen bis auf 2.500 ausweitete. Vermehrt fanden die Flüchtenden nun selbstständig einen Weg nach Idomeni, ob mit Taxi oder zu Fuß. Teils machten sich hunderte Menschen gleichzeitig in der griechischen Mittagssonne auf den Weg über die Autobahn an die Grenze. In Idomeni selbst stieg die Zahl der Menschen rapide. Jeden Tag konnten neue Zelte gezählt werden und für mindestens zwei Wochen war nicht abzusehen, wie groß dieses Camp, das sich nun zu einem eher permanenten und informellen entwickelte, noch werden würde. Gleichzeitig entstanden rund um Idomeni weitere informelle Strukturen. Vor allem als es in Nordgriechenland einen ein-

wöchigen, dauerhaften Regenfall gab, zogen es einige Menschen vor, ihre Zelte auf einem versiegelten Untergrund des nahegelegenen Hotel Haras aufzustellen, statt auf den Feldern Idomenis, die mehr und mehr einem riesigen Schlammsee glichen. In dieser Zeit waren die offiziellen Hilfsstrukturen überlastet. Es fehlte an Grundnahrungsmitteln, Decken, Zelten, Medikamenten, einfach an allem. Es waren vor allem unabhängig agierende, selbstorganisierte Freiwillige, die versuchten einige Löcher zu stopfen, in dem sie selbstständig Spenden-, Essens-, und Teeausgaben koordinierten. Gleichzeitig war das Camp ein Dauerthema in den Medien. Es gingen Bilder und Videos von den katastrophalen Zuständen für die Menschen durch die Welt und nahezu täglich kamen Interviewanfragen von unterschiedlichsten Medien. Die massive Medienpräsenz im Camp führte sukzessive zu einer Erhöhung der Spenden,

als auch der Anzahl von Freiwilligen aus der ganzen Welt, was auch direkten Einfluss auf unsere Arbeit hatte. Angekommen sind wir in Idomeni mit einer Gulaschkanone und dem Ziel in den noch sehr kalten Nächten im Febrauar/ März süßen Chai auszuschenken und die in Dresden gesammelten Spenden, insbesondere Decken und Zelte, auszugeben. Sehr schnell kamen wir jedoch an unsere Kapazitätsgrenzen. Der Chai war alle, der Bedarf danach jedoch bei weitem nicht gedeckt. Wir entschieden uns, mit der größten Küche aus den Niederlanden, „Aid Delivery Mission“, und dem Projekt „Solidaritea“ eine dauerhafte Chaiküche im Camp zu errichten, um von morgens 8 Uhr bis 2 Uhr in der Nacht den süßen Tee anzubieten. Mit täglich 250 kg Zucker und bis zu 10 kg Schwarztee konnten, nur durch ein erhebliches Spendenaufgebot und der Zusammenarbeit dieser drei selbstorganisierten Strukturen, ca. 10.000 Becher Chai am Tag ausgegeben werden. Immer wieder standen wir kurz vor finanziellen Engpässen. Immer wieder waren wir kurz davor das Zelt schließen zu müssen und immer wieder kamen uns andere Organisationen im letzten Augenblick zur Hilfe. Es waren Zucker-, Becher- oder Finanzspenden ohne die das Projekt nicht hätte am Leben gehalten werden können. Mit dem explodierenden Camp wuchsen jedoch auch unsere Fragen zum Sinn unserer Arbeit. Regelmäßig durchschlich uns das Gefühl, dass wir mit zunehmender Symptombekämpfung den Ursachen der


Situationen für Menschen auf der Flucht nichts entgegen zu setzen haben. Vielmehr manifestierten wir im Einklang mit anderen Organisationen diskriminierende und menschenunwürdige Zustände indem wir sie „erträglicher“ machten und dauerhafte Strukturen aufbauten. Uns ist bewusst, dass ein Großteil der Menschen vor Krieg flüchtet. Bilder und Videos der vielen neuen Freund_innen, die wir jeden Abend gewannen, verdeutlichten dies beinahe zu sehr für unsere Gemüter. Die Waffen kamen und kommen noch immer auch aus Deutschland. Es ist jedoch vor allem auch der alltägliche Konsum der reichen Welt auf Kosten der Schätze anderer Nationen, die Auswirkungen des Klimawandels und die Manifestation der Unterscheidung in „wir und die anderen“, die uns nachdenklich stimmten. Wir sahen uns immer als Teil einer solidarischen Utopie und wollten diese verkörpern, gleichzeitig sind wir aber immer auch Teil der realen Dystopie und reproduzieren diese täglich. Innerhalb kürzester Zeit haben wir angefangen unsere Prinzipien von Nachhaltigkeit aufzugeben. Wir verteilten Tonnen an Plastikflaschen, die, entlang der Straßen liegend, eine eigene Geschichte erzählen. Schlafsäcke, Decken und Kleidung wurden so lange benutzt, bis sie auf den langen Fußwegen zu schwer wurden oder unnütz erschienen und waren ebenso im Wald, den Camps oder an den Straßen zu finden. Die Menschen bekommen im nächsten Zwischenziel (hoffentlich) Neues. Der Überfluss, mit dem wir groß werden, ist für die Menschen auf der Flucht definitiv eine Hilfe. Insgesamt wurde uns jedoch deutlicher als zuvor vor Augen geführt, dass wir handlungsohnmächtig sind, hier vor Ort daran zu wirken. Den Tee, selten aus fairem Handel, servierten wir in Wegwerfbechern. Ebenso das Essen. Bioprodukte waren in diesen Mengen nicht bezahlbar. Es erschien schwer umsetzbar für über zehntausend Menschen Mehrweggeschirr zu stellen, dieses beisammen zu halten und abzuwaschen. So produzierten wir Tag ein, Tag aus unseren Beitrag zur Kernproblematik ökologischer Nachhaltigkeit und reproduzierten Fluchtursachen. Die akute Situation, die Not, all dies ließ uns verstehen, dass es keine Verneinung schneller, problemloser Hilfeleistungen geben darf. Dennoch wirkt es fragwürdig, wie die großen, offiziellen NGOs im struk-

turellen Rad der Grenzen und Nationen fest stecken. Es manifestierte sich in dem Camp ein „Wir“ und ein „Anders“, ohne dass dies vielleicht gewollt war. Tausende Menschen standen für ein einziges Sandwich am Tag an. Es ging die Menschlichkeit, das liebevolle Element, verloren. Alles wirkte wie ­Abarbeiten. In diesen Worten steckt keine Kritik an den Menschen, die jeden Tag aufs Neue bis zur Belastungsgrenze halfen. Es ist eine strukturelle Problematik, die wir hier an-

sprechen. Menschen werden eingeteilt. Es werden Menschen mit einem „Darf“-Stempel geboren. Sie dürfen den Wohlstand der Nationen auskosten. Und es gibt welche, die diesen Stempel nicht per Geburt erhalten. Diese Struktur ist so umfassend und scheinbar selbsterklärend, dass sich Menschen, die dieses System direkt vor Ort erhalten, nicht trauen (können/wollen) „nein“ zu sagen. Polizei und andere Exekutivorgane schützen es wie selbstverständlich. In Idomeni wurde Tränengas eingesetzt. Gegen Menschen, die Schutz suchen!

Grundlegendes zum Convoy: FÜR WAS WIR STEHEN Wir engagieren uns für geflüchtete Menschen. Alle zwei bis drei Wochen fahren freiwillige HelferInnen mit unserem Support Convoy in Flüchtlingscamps, wo wir den Menschen auf ihrer lebensbedrohlichen Flucht trockene Kleidung, Decken und Zelte zur Verfügung stellen und gemeinsam mit ihnen wärmende Getränke und Essen zubereiten. Entstanden ist unsere Initiative als Reaktion auf die humanitäre Katastrophe auf den Flüchtlingsrouten, die die erste Gruppe von Freiwilligen im November 2015 dazu bewog an die serbisch-mazedonische Grenze zu fahren, um gegen die beißende Kälte des Winters anzukämpfen. Auf unseren Webseiten berichten wir täglich von unseren Tätigkeiten und über die Lage vor Ort. WO WIR UNTERSTÜTZEN Im Zuge der verschärften Flüchtlingspolitik haben wir Hilfsstrukturen in verschiedenen Einsatzorten aufgebaut. So waren wir in Serbien und auf den griechischen Inseln Lesbos und Chios. Momentan sind wir an verschiedenen Orten in Griechenland und werden bald nach Sizilien aufbrechen. Weiteres unter https://www.facebook.com/support.convoy/ Zu meiner Person: Florian Höntsch, M. Sc. Raumentwicklung und Naturressourcenmanagement, seit ­Februar in Zusammenarbeit mit dem Convoy wiederholt als Freiwilliger in Griechenland unterwegs, u.a. verantwortlich für die Umsetzung des Teeprojekts in Idomeni


Gleichzeitig wurde aus der Flucht ein Geschäft. Eine Tankstelle spezialisierte sich scheinbar auf die Illegalisierten, die versuchten ihre Flucht durch den Wald und die Berge fortzusetzen. Es konnten Pullover, Rucksäcke und ähnliche Produkte gekauft werden. Taxifahrer verdienten sich eine goldene Nase an der Ahnungs- und Hilflosigkeit der Menschen auf der Flucht. Makaber trifft es wohl am besten. An so vielen Stellen gab und gibt es Korruption und Abzocke. Wir suchten hier vergebens das solidarische Europa. Menschen scheinen dazu erzogen zu werden, an sich selbst zu denken. Jeder tut das Beste für sich, dann ist es insgesamt das Beste für alle. Schon immer war uns dieser Individualismus suspekt, aber so praktisch und diskriminierend wie in Idomeni wurde er uns noch nie aufgezeigt. Rückblickend betrachtet, stellen wir fest, dass wir unsere Arbeit in Idomeni sehr naiv

begonnen haben. Wir wollten einfach nur helfen und haben zu selten unsere Arbeit reflektiert. Nun betrachten wir die Zeit differenzierter. Reine humanitäre Hilfeleistung erscheint uns noch immer wichtig und sinnvoll, doch möchten wir die strukturellen Problematiken nicht einfach akzeptieren. So ist eine dauerhafte Öffentlichkeitsarbeit, die den Fokus auf die Hintergründe und Verantwortlichkeiten für die Flucht von Menschen im Allgemeinen, sowie die aktuelle Situation legt und versucht den medialen Diskurs zu beeinflussen, um nicht immer nur von den „armen Menschen in Not und ihrer schrecklichen Situation“ zu berichten, ein weiteres Aufgabengebiet. Letztendlich schafft es nur ein Wandel der öffentlichen Meinung politische Entscheidungen zu beeinflussen, damit die Vision der Bewegungsfreiheit für alle irgendwann einmal Realität werden kann. Um uns von unserer paternalistischen Perspektive lösen zu können, müssen wir

es darüber hinaus schaffen, Menschen auf der Flucht selbstorganisierten Frei-/Wohnraum zu bieten und sie in die Hilfsstrukturen einzubinden. Sie haben eine eigene Stimme, treffen eigene Entscheidungen und können Plattformen nutzen, diese zu verbreiten, wenn sie den Zugang dazu bekommen. Weg von dem „Wir für Sie“-Ansatz hin zu gemeinsamen, kooperativen Strukturen der Hilfeleistung. Das alles trifft jedoch nicht den dringlichsten Wunsch nach Schutz und einem Leben mit Perspektive und Würde. Bei allen Schwierigkeiten sollten wir auch immer daran denken, dass Menschen direkte Unterstützung bei ihrer Flucht benötigen, je schwieriger und illegalisierter die Flucht nach Europa auch wird. Doch solange die Ursachen nicht angegangen wurden, werden Menschen nicht aufhören Schutz in ­Europa zu suchen.

Hibakusha weltweit Eine Ausstellung der IPPNW

50 Orte, an denen die Atomwirtschaft ihre Spuren hinterlassen hat – 50 Poster berichten von den schrecklichen Folgen für Menschen und Umwelt – mit großer Übersichts-Weltkarte. Auszuleihen bei der IPPNW-Geschäftsstelle in Berlin.

Hibakusha – so nennt man in Japan die Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki. Aber auch andernorts gibt es Menschen, deren Leben die Atomindustrie zerstört hat: Vom Atomwaffentestgelände in Nevada bis zum Super-GAU von Fukushima, von der Atomkatastrophe von Majak bis zum Uranbergbau in Australien – diese Ausstellung ist den Hibakusha in aller Welt gewidmet.

Informationen undwww.hibakusha-weltweit.de Ausleihe unter: www.hibakusha-weltweit.de WeitereWeitere Infos und Ausleihe unter:


Flucht und Migration

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Der Tag Es war ein normaler Tag. Um 06:30 bin ich müde aufgestanden, nachdem ich wie alle Syrer durch die Nacht alle meine Albträume durchgeblättert hatte, anstatt ein paar Stunden zu schlafen. Langsam habe ich mich unter die Dusche begeben. Das Geräusch des auf meinen Körper fallenden Wassertropfens ängstigte mich für einen Augenblick. Es hörte sich wie ein Luftangriff an. Wie es jedem Rechtsanwalt üblich ist, hatte ich meinen dunkelblauen, gut gebügelten Anzug an. Mit geübten Händen habe ich schnell die Krawatte geknotet, damit wurde mir auch die Freiheit, normal zu atmen, entzogen. Meine Mutter wartete mit einer Kanne Kaffee auf mich. Zusammen haben wir unseren Kaffee genossen. Ich durfte erst gehen, nachdem sie mir das Versprechen abgenommen hatte, rechtzeitig zum Mittagessen zu kommen. Halten konnte ich mein Versprechen nicht. „Du musst sofort los, die Entscheidung wurde getroffen, du bist ab sofort verfolgt.“, sagte ein Freund von mir hektisch am Telefon. Ich war im Amtsgericht. Die Statue von Justitia stand da, jedoch die Gerechtigkeit nicht. Ich habe meine Krawatte entknotet und bis heute nie wieder geknotet. Ich habe sichergestellt, dass ich meinen Pass dabeihabe. Schnell bin ich in mein Auto eingestiegen und gen Libanon gefahren. Auf dem Weg dorthin habe ich schweigend von allen Gesichtern, Gebäuden, Geräuschen und Gerüchen Abschied genommen. Dort, wo ich meine Freundin zum ersten Mal geküsst habe, bin ich vorbeigefahren. Ich wusste nicht, wann ich ihre Lippen noch einmal genießen werde. Ich habe mich nicht getraut, zu meiner Mutter zu fahren, die bis heute zuversichtlich auf mich wartet. Nach langem Hin und Her an der Grenze konnte ich es schaffen, die Grenze zu überqueren. Als ich Beirut erreichte, fühlte ich mich erleichtert, jedoch verschwanden diese Gefühle am nächsten Tag. Ich bin hier nicht willkommen. Das habe ich sofort festgestellt. Keiner will mir seine Wohnung vermieten. Die Absage bekam ich direkt nachdem der Vermieter meinen syrischen Dialekt erkannt hat. Zu jener Zeit merkte ich, dass das Geld gar keinen Wert hat. Es kann mir die Würde nicht kaufen. Bei einem Freund habe ich zwei Wochen übernachtet. Mit ihm und seiner Frau in ei-

nem kleinem Zimmer. Meinetwegen sind sie zwei Wochen lang voneinander ferngeblieben. Lautlos habe ich jede Nacht geweint. Danach konnte ich ein kleines Zimmer in einem kirchlichen Wohnheim mieten. In diesem Zimmer, das für mich allein eng war, habe ich drei andere syrische Jungen empfangen, die der Krieg in den Libanon geworfen hat. Kurz danach wurde für die Syrer von 18:00 bis 06:00 eine Ausgangsperre verhängt. Jeder, der die syrischen Schilder meines Autos gesehen hat, hat mich beschimpft und versucht, mich einzuschüchtern. In Syrien wurde meine Mutter ständig wegen mir von den Geheimdiensten belästigt, und auf mich wartete der Tod. Im Libanon wurde ich wegen meiner Staatsangehörigkeit diskriminiert und entwürdigt. Meine Träume von einem wundervollen Leben habe ich im Libanon begraben und mich entschieden auszuwandern. Nach einem Jahr Wartezeit und mehr als zehn Visa-Ablehnungen von verschiedenen Botschaften, habe ich mithilfe meines Bruders ein Visum für Deutschland bekommen. Wegen der Verpflichtungserklärung, die mein Bruder mir ausstellte, durfte ich keine Leistungen von der Stadt beziehen. Zwei Wochen nach meiner Ankunft konnte ich ignorieren, dass ich Rechtsanwalt bin und fing an, neben der Sprachschule bei McDonalds die Toiletten zu putzen. In fünf Monaten konnte ich die B1-Stufe der deutschen Sprache erreichen, was mich dazu berechtigte, eine Zulassung von der Uni-Mainz zu bekommen. Nach Mainz bin ich gezogen und in einem Studentenwohnheim habe ich gewohnt, wo ich nette Leute kennengelernt habe. Dank ihnen konnte ich die Sprache schnell beherrschen. Mein Studium habe ich zuerst durch die Arbeit in einer Shishabar finanziert. Vom Trinkgeld habe ich gelebt. Sobald ich gut Deutsch konnte, habe ich mich freiwillig als Dolmetscher bei einer Flüchtlingshilfsorganisation gemeldet. Ich war froh, dass ich meinen Leuten helfen konnte. Zwischen dem Studium, der Arbeit und der ehrenamtlichen Tätigkeit hatte ich kaum Zeit etwas anderes zu tun als zu schlafen. Trotzdem war diese Phase die beste Zeit, die ich nach meiner Flucht erlebt habe. Am Anfang 2016 wurde ich als Werkstudent bei ebenjener Hilfsorganisation angestellt. Die Kolleginnen und Kollegen dort waren für mich wie eine Familie und sind

immer noch so. Mainz gab mir das Gefühl, dass ich daheim bin. Leider hat das nicht lange gedauert. Mainz hat mich zwei Mal abgelehnt. Einmal beruflich, als die Organisation, die ich fleißig bedient habe, es verweigert hat, mich fest anzustellen. Und einmal emotional, als ein Mädchen, das ich wirklich mochte, mich abgelehnt hat. Das kann jedem passieren, ich weiß, aber ich wurde früher nie abgelehnt, weder beruflich noch emotional. In Syrien war ich die Person, mit der alle Mädels befreundet sein möchten. Die Person, der alle Arbeitgeber eine Stelle geben wollen. Mainz hat mich aufgeweckt und mir die Realität klargemacht, dass Tarek Bashour hier nicht existiert. Hier bin ich nur einer von vielen Syrern, die nur zu bedauern sind. Ich habe mir danach versprochen, Tarek Bashour hier wieder zu erschaffen. Ich habe eine Zusage für eine Stelle in Leipzig bekommen und bin hingezogen. Jetzt und während ich am Karl-Heine-Kanal sitze und diese Wörter schreibe, ist ein Kind gestürzt und hat seine Knie leicht verletzt. Alle Leute und ich sind zu ihm gerannt und haben ihm geholfen. Kurz danach ist mir ein Video eingefallen, in dem vor ein paar Tagen einem Kind in Aleppo der Kopf abgehackt wurde. Es ist schwer zu glauben, dass Tarek Bashour diese beiden Ereignisse Sozialarbeiter Malteser auf demselben Planeten Hilfsdienst e.V. Leipzig passierten. Die Mutter tarekbashour@hotmail.com des deutschen Kindes hat es ängstlich umarmt. Die Mutter des syrischen wurde geschlagen und von ihrem Sohn ferngehalten. Ich habe mich an meine Mutter erinnert, sie angerufen und ihr wieder versprochen, dass ich eines Tages zum Mittagessen nach Hause kommen werde. Jetzt gehe ich ins Bett und wiederhole wie jede Nacht meine Albträume, mit der Hoffnung, dass ich eines Tages aufstehen werde, meinen Anzug anhabe und die Krawatte knote in einem freiem Syrien, in dem die Kinder umarmt und nicht umgebracht werden. Tarek Bashour Leipzig den 05.08.2016


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Worte wie Medizin Von Therapeutischer Kommunikation und Beziehung

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ach Bernhard Lown sind Worte das mächtigste Werkzeug, über das wir in der Medizin verfügen. Der Umgang mit Patienten und die Arzt-Patienten-Kommunikation sollten nicht nur informativ, sondern vielmehr „therapeutisch“ sein, d.h. den Patienten und die Therapie unterstützen.

Gewöhnlich und von alleine sind sie das aber nicht. Im Gegenteil, die meisten Suggestionen in der Medizin sind (unbedacht) negativ. Der Patient wird in eine passive Haltung gedrängt, Befund- und Diagnosemitteilung und Risikoaufklärung lösen Negativerwartungen, Nocebo-Effekte aus, ­ die genau die Symptome und Nebenwirkungen induzieren, die sie beschreiben (Häuser 2012). Gutgemeinte Aufmunterungen wie „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“ und Lügen wie „Das dauert nicht lange“ oder „Das tut gar nicht weh“ bewirken nicht die beabsichtigte Beruhigung sondern erhöhen im Gegenteil Angst und Schmerz. Wenn man die Nocebo-Effekte und Negativsuggestionen in der Medizin kennt, kann man sie eher in seinem Arbeitsfeld erkennen und vermeiden (Zech 2014): Den Transport in strikter, nicht notwendiger Rückenlage, der Blick über den Kopf bei der Narkoseeinleitung, die suggestive Abfrage „Ist Ihnen wirklich nicht übel!“, die Prognose „Sie werden sich ein paar Tage wie erschlagen fühlen“, die drastische Mahnung „In ­Ihnen tickt eine Zeitbombe“.

Prof. Dr.med. Dr.rer.nat. Ernil Hansen Universitätsklinikum Regensburg ernil.hansen@ukr.de

Zudem stellen medizinische Situationen wie eine schmerzhafte Verletzung, ein Notfall, der Kreissaal, eine Behandlung im Zahnarztstuhl oder die Situation im Krankenhaus, bei der Narkoseeinleitung, während einer Operation in Regionalanästhesie oder auf einer Intensivstation für Patienten eine Extremsituation dar. In solchen, als existentiell bedrohlich empfundenen Situationen verhalten sich Menschen oft nicht „normal“, sie gehen als Schutzreaktion in eine natürliche Trance.

Dabei steht weniger ein rationales als ein bildhaftes Verständnis im Vordergrund. Außerdem ist diese Trance gekennzeichnet durch eine fokussierte Aufmerksamkeit, bei der ein Patient alles, was er sieht und hört, begierig aufnimmt und auf sich bezieht, und durch eine stark erhöhte Suggestibilität, das heißt, dass Suggestionen leichter und stärker als gewöhnlich psychische und körperliche Veränderungen auslösen (Hansen 2010). Dieser besondere Zustand ist aber nicht nur Ursprung von negativen Auswirkungen, sondern kann auch dazu genutzt werden, um besonders effektiv mit positiven Suggestionen das Wohlbefinden, die Stabilität und die Selbstheilungskräfte von Patienten zu verbessern. Dazu kann man auf die Erfahrung und Erkenntnisse der modernen Hypnose und Hypnotherapie mit ihrer Expertise für Suggestionen, Trancezustände und Patientenkontakt zurückgreifen. „Suggestion“ bedeutet hierbei das Aufzeigen von Möglichkeiten im Sinne von I suggest. So können Negativerwartungen, die sich bei der Symptomschilderung des Patienten in den Worten „Ich habe immer so ….“ ausdrückt, schon dadurch unterbrochen werden, indem der Arzt den Satz wiederholt („spiegelt“), aber das Wort „immer“ durch „oft“ ersetzt und damit auf die Ausnahmen als Lösungsansatz verweist. Aus einer Risikoaufklärung kann die Schärfe genommen werden, wenn sie immer in Verbindung mit einer positiven Aussagen erfolgt („Linking“), dem erwarteten Nutzen der Behandlung, den prophylaktischen Maßnahmen zur Verhinderung der Komplikation, Überwachungsmaßnahmen, die eine rasche Erkennung und Behandlung der Nebenwirkung erlauben und die dann möglichen Behandlungsmöglichkeiten, die einen größeren Schaden verhindern, und der mögliche patienteneigene Beitrag (z.B. Atemübung, die Pneumoniegefahr senkt). Außerdem sieht das neue Patientenrech-

tegesetz ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass der Patient auch auf Aufklärung verzichten kann vor. Die medizinische Aufklärung hat nämlich erhebliche Nebenwirkungen (Zech 2015), über die der Patient wie bei jeder anderen Behandlungsnebenwirkung aufgeklärt werden muss, damit er die Entscheidung treffen kann, ob er das wirklich will. Vor allem wollen Patienten mit dem Arzt das Aufklärungsgespräch führen, der dann auch die Behandlung durchführen wird. Gegen diesen Patientenwunsch wird flächendeckend und routinemäßig durch die „Prämedikationsambulanzen“ verstoßen, obwohl es dafür keinen medizinischen Grund gibt. Dadurch wird das klassische Arzt-Patienten-Verhältnis zunehmend abgelöst durch reines Prozessdenken, was zu vermehrtem perioperativen Stress führt (Aust 2011). Der junge Arzt sollte diesen Kontakt vor der Behandlung auch außerhalb der Dienstzeit und jedes Dienstauftrags suchen, damit er überhaupt einmal erlebt, was das für den Patienten bedeutet. Aus einer solchen Beziehung zu Patienten kann man die Befriedigung und Motivation im Arztberuf schöpfen, die für eine gute und lange Arbeit in diesem Beruf notwendig ist, nicht vom Krankenhausmanagement. Suggestionen sind effektiver und stoßen auf weniger Widerstand, wenn sie indirekt gegeben werden. Bei der Präoxygenierung, der Sauerstoffgabe vor Narkoseeinleitung könnte es statt „Jetzt tief durchatmen!“ heißen: „Mit jedem tiefen Atemzug können Sie frische Luft und mit dem Sauerstoff alles, was Ihnen jetzt guttut aufnehmen. Und mit dem Ausatmen können Sie die verbrauchte Luft – und alles, was Sie stört oder belastet abgeben. Und einatmen: Ruhe und Zuversicht und Kraft für die Heilung.“ Die Ankündigung einer Blutabnahme oder Medikamentengabe sollte nicht negativ festlegen: „Das sticht jetzt einmal.“, „Jetzt wird Ihnen gleich etwas schwindelig“ oder „Das brennt jetzt mal ein bisschen.“, sondern neutral oder positiv ausgedrückt werden: „Achtung, ich fange jetzt an.“, „Das macht alles etwas leichter, vielleicht sogar beschwingt.“ oder „Wenn Sie das Medikament vielleicht spüren, sagt Ihnen das, dass es wirkt.“ Es sind die Ausdrücke „Sicherheit“, „Wohlbefinden“, „Beistand“, „Heilung“, die immer


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wieder fallen sollten, weil sie für Patienten größte Bedeutung haben. Ein herausragendes Beispiel, an dem sich die Möglichkeiten hypnotischer Kommunikation bei Regionalanästhesie besonders eindrucksvoll aufzeigen lassen, ist die Anwendung bei einer Wachkraniotomie, d.h. der Operation eines Hirntumors in der Nähe der Sprachregion oder motorischer Hirnareale, bei der der Patient während der Operation wach sein soll, damit er zur Vermeidung von Schädigungen sprachlich und/oder motorisch getestet werden kann. Statt den Patienten dafür aus einer Narkose aufwachen zu lassen, wie es die Standardmethode darstellt, kann diese Operation aber auch ohne Medikamente wie Schmerz- oder Sedierungsmittel durchgeführt werden, wobei die Analgesie durch kraniale Leitungsblockaden gewährleistet ist (Hansen 2013). Es zeigt sich, dass mit entsprechender Begleitung und Kommunikation die Belastungen einer Wach-Kraniotomie, das bewusste Miterleben der Operation am eigenen Gehirn und vor allem die Geräusche beim Festschrauben des Kopfes bei der Kraniotomie mit Knochenbohren und -fräsen sowie beim Absaugen von Blut und Tumor sehr gut zu meistern sind bzw. vom Patienten gar nicht als Belastung empfunden werden. Wichtig bei dieser Begleitung sind die Dissoziation an einen inneren Ruhe- und Wohlfühlort, sowie eine Umbewertung (Reframing) der unangenehmen Geräusche. Der Operationssauger wird zum vorbeifließenden Bach und das Aufbohren des Schädels zum Umsägen von Bäumen im Wald, zu einem Motorboot am Meer, zu einem Rasenmäher in Nachbars Garten oder, wie ein Patient empfand: zum Mixer, mit dem er sich einen Fruchtdrink zubereitet. Eine große Bedeutung kommt bei diesem Vorgehen dem Körperkontakt zu, in Form eines Händehaltens oder einer Hand auf der Schulter. Beides ist ein starkes Symbol der Begleitung, aber auch eine gute Überwachungsmöglichkeit bezüglich Entspannungszustand und Atmung. Durch Atem-Pacing und -Leading, d.h. durch synchronen leicht erhöhten bzw. verzögerten Druck der aufliegenden Hand in der Ausatmung, kann der Atem vertieft und verlangsamt werden. Der Körperkontakt erlaubt es dem Patienten, die Augen geschlossen zu halten und an seinem safe place zu bleiben, weil er den Begleiter an seiner Seite weiß

…mehr Cartoons unter www.facebook.com/medilearn oder www.medi-learn.de/cartoons

und spürt. Dieses Vorgehen ist nicht nur bei dem Extrembeispiel Wachkraniotomie wirksam, sondern natürlich viel mehr noch bei jeder Begleitung einer Therapie (z.B. Operation in Regionalanästhesie, Zahnbehandlung, Gastroskopie, Anlage eines Katheters) oder eines Transports. Bei Notfalltransporten hat sich ein einfacher, positiver Text als förderlich für das Überleben herausgestellt. Im Notfall sollte sich die Kommunikation nicht allein auf eine gute Teamzusammenarbeit und Informationsweitergabe beschränken, sondern auch den Patienten einschließen, der einen Menschen zur Seite wirklich braucht. Vieles spricht dafür, dass man selbst während einer Reanimation auch mit dem Patienten sprechen sollte. Nur bisher tut das niemand. Die Bedeutung und Wirksamkeit einer Suggestion, egal ob positiv oder negativ, ergibt sich aus dem Kontext. So, wie ein Schlag auf den Rücken völlig unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann: Stammt

er von einem alten Schulfreund, den man lange nicht gesehen hat, ist es ein kameradschaftliches Zeichen und löst Freude aus. Stammt er dagegen von einem Skinhead, löst er Schmerzen, Furcht und einen Fluchtreflex aus. Der bestimmende Kontext sind die individuellen Vorerfahrungen, Erwartungen und Ängste des Patienten ebenso wie die therapeutische Beziehung zwischen Arzt und Patient. Quellen: Häuser W, Hansen E, Enck P. Nocebophänomene in der Medizin: Bedeutung im klinischen Alltag. Dtsch ­Ärztebl 2012; 109(26):459–465 Hansen E,·Bejenke C. Negative und positive Suggestionen in der Anästhesie – Verbesserte Kommunikation mit ängstlichen Patienten bei Operationen. ­Anaesthesist 2010; 59:199–209 Aust H, Eberhart LH, Kalmus G et al. Wertigkeit von 5 Kernaspekten der Prämedikationsvisite. ­Anaesthesist 2011; 60: 414–420 Hansen E, Seemann M, Zech N, et al. Awake cranio­tomies without any sedation: The awake-awake-awake technique. Acta Neurochir 2013; 155(8):1417–1424

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Der Kranke: Arzt. Ärztinnen und Ärzte mit (chronischen) Erkrankungen

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ls Student im Praktischen Jahr schaffe ich es, mir an der Arztzimmertür die Stirn aufzuschlagen – Kopfplatzwunde. Kompresse auf die Stirn, ab zur chirurgischen Notaufnahme. Im Foyer passiere ich 2 Handwerker des Hauses, Kommentar: „‘n Doktor der ‘nen Doktor braucht“. Ich muss lachen, nicht zuletzt über mein Talent mit der Tür.

Die Kopfplatzwunde wurde genäht, die Narbe ist kaum noch sichtbar. Aber – was, wenn Ärztinnen und Ärzte ernsthaft Hilfe brauchen, und das immer wieder? Wenn er mehrmals im Monat für den Nachtdienst ausfällt; wenn sie Probleme hat, ihre Termine beim Facharzt wahrzunehmen – die man ja oft Monate im Voraus ausmachen muss? Was, wenn „der Doktor“ wirklich krank wird, und das dauerhaft?

keine Seltenheit. Besonders alarmierend: 71 Prozent der befragten Mediziner gab an, aufgrund der Arbeitszeiten schon an gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu leiden. Und zu Recht fragt Dr. med. Theodor Windhorst, Präsident der westfälisch-lippischen Ärztekammer: „Können kranke Helfer und Heiler den kranken Patienten noch helfen? Wird Überarbeitung bei Ärzten zu Berufskrankheit?“ 1

Die Dosis macht das Gift: Arbeiten in der Medizin

Zu Stress, Zeit-, Kosten- und Leistungsdruck kommt noch ein Phänomen, für das wir ÄrztInnen anscheinend anfällig sind – unsere Opferbereitschaft. Herr Dr. med. Albrecht fragt schon im Jahr 2000 in der „Zeit“: „Ist nur ein halb toter Arzt ein guter Arzt? Selbst heftigste Fieberschübe, rasende Kopfschmerzen […] kann Mediziner nicht davon abhalten, zu den Kranken zu eilen.“ 2 Über die Gründe hierfür lässt sich streiten, seien es finanzielle Überlegungen oder eher die „individuelle Aufopferungsleistung“ 2. Innerhalb gesunder Grenzen

Mediziner (w/m) arbeiten in einem Beruf, der für sich schon krank machen kann. So schlägt 2013 der Marburger Bund nach einer Online-Umfrage unter 3309 Ärztinnen und Ärzten zu deren Arbeitsbedingungen Alarm: Überlastete und überarbeitete Ärztinnen und Ärzte riskierten in den Krankenhäusern ihre Gesundheit. Die Kliniken seien „gnadenlos unterbesetzt“, wöchentliche Arbeitszeiten von 60 Stunden und mehr

und als Ausnahme gehört es zu unserem Beruf, notfalls die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen. Aber außerhalb dieser Grenzen beginnt der Raubbau an uns selbst, den wir Mediziner nur zu oft begehen. Allein ich selbst weiß von mehreren Myokarditis-Fällen unter jungen Ärztinnen und Ärzten – salopp gesagt, manche arbeiten bis zur organischen Erschöpfung.

The tailor‘s wife is worst clad: Ärzte als Patienten Ärztinnen und Ärzte sind Menschen, und werden krank wie jedes andere Mitglied der „Normalbevölkerung“. Vermutlich sogar öfter, bedenkt man den aufreibenden Beruf, oder die dort vorhandenen Infektionsmöglichkeiten. So weit, so einleuchtend. Nur, der ärztliche Umgang mit der eigenen Erkrankung ist nicht ganz so verständlich. Es scheint verschiedene Archetypen des kranken Arztes, der kranken Ärztin zu geben: Den Verdränger, der selbst eindeutige, auch alarmierende Symptome hartnäckig ignoriert. Die Übergenauen, die die behandelnden Kollegen mit Studienergebnissen nerven und Diagnose sowie Therapie ständig in Frage stellen. Den Misstrauischen, der die Kompetenz der Kolleginnen und Kolleginnen bezweifelt und nur sich selbst vertraut. Die Selbstbehandlerin, man hat ja schließlich selbst auch Medizin studiert. Eine Mischung aus allem, und natürlich diejenigen, die versuchen, auf gesunde Weise mit ihrem Kranksein umzugehen.3 In einer Schweizer Studie (Schneider et al. 2007) wurden 1784 Medizinerinnen und Mediziner schriftlich befragt und deren Antworten mit einer großen Erhebung unter der Schweizer Bevölkerung verglichen (2002 Swiss Health Survey, 19 706 Befragte). Resultat: Nur 21 % der Mediziner besaßen einen Hausarzt, in der Normalbevölkerung war dies zu 90 % der Fall. Im Schnitt ging die Schweizer Bevölkerung in den letzten 12 Monaten 3,2 mal zum Arzt, die Ärztinnen und Ärzte selbst konsultierten im gleichen Zeitraum nur 1,9 mal einen Kollegen. Freilich: Kaum ein ausgebildeter Arzt wird sich mit einer gewöhnlichen Erkältung bei einem Kollegen vorstellen, insofern muss man diese Zahlen mit Vor-


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Ballungsraum: „Ich kenne keinen, der mit Fieber zu Hause bleibt. Wenn jemand krank wird, bleibt er /sie nicht eine Woche zu Hause, wie es andere Leute tun, sondern ist einen Tag weg und kommt am nächsten Tag wieder in die Klinik.“ Ob dies so sinnvoll und gut für die Patienten, aber ebenso auch für uns Ärztinnen und Ärzte ist, wäre eine wichtige Frage.

sicht betrachten. Aber: 64 % der teilnehmenden ÄrztInnen gaben an, Medikamente einzunehmen (Normalbevölkerung: 44 %). Besonders bedenklich: Über 90 % dieser Medikamente wurden ohne kollegialen Rat oder Verschreibung eingenommen, und dies auch für ernstzunehmende chronische Erkrankungen wie Bluthochdruck oder Depression.4 Eine französische Studie von 2004 ergab, dass überlastete oder mit ihrer Arbeitssituation unzufriedene Ärztinnen und Ärzte signifikant mehr Analgetika und Beruhigungsmittel einnahmen.5 Fazit: Wir Ärztinnen und Ärzte tun uns schwer, für uns selbst so zu sorgen, wie wir es tagtäglich für andere tun. Schon die eigene Krankheit anzuerkennen, scheint ein Problem zu sein, ebenso aber, sich Hilfe bei einem Kollegen zu suchen – meistens behandeln wir uns also lieber selbst, wenn überhaupt.

Krank im System: Herausforderung Klinikalltag Aber auch wenn dies alles kein Hindernis mehr ist, wenn die Diagnose steht und man sich in guten kollegialen Händen weiß – ab dann beginnt erst die eigentliche Herausforderung: Die (chronische) Erkrankung und deren Therapie mit dem ärztlichen Alltag unter einen Hut zu bringen. Regelmäßige Termine beim Facharzt, Blutabnahmen, radiologische Kontrollen oder unterstützende Therapieformen wie Physiotherapie – für all das muss frau und man Termine einhalten, die oft Monate im Voraus vereinbart werden müssen. Im Krankenhaus eine Herausforderung, allein auf-

grund der unregelmäßigen Arbeitszeiten. Ganz zu schweigen davon, dass sich der Dienstplan oft kurzfristig ändert, frau für einen akut erkrankten Kollegen einspringen muss oder man den wertvollen Abendtermin beim Therapeuten verpasst, weil man – wie so oft – aufgrund des unvorhersehbaren Klinikalltags länger gearbeitet hat als geplant. Chronisch erkrankt sein heißt, dass man eben auch ab und an so krank ist, dass man nicht arbeiten kann – soweit, so glasklar. Nur: Wenn wir als Ärztin und Arzt in Klinik oder Praxis ausfallen, bleibt unsere Arbeit nicht einfach liegen – unsere Arbeit sind die Patienten, und deren Erkrankung macht ebenso wenig Pause wie die unsrige. Ergo: Fallen wir aus, müssen unsere KollegInnen den Ausfall kompensieren. Bei einer oft dünnen Personaldecke in den Kliniken, Tendenz: steigend 1, ist dies nicht nur eine Belastung für die KollegInnen, sondern auch für diejenigen, die für sich sorgen und wegen Krankheit zu Hause bleiben. Carla*, Padiäterin aus Frankfurt, berichtet: „Ich melde mich extrem selten und extrem ungern krank, und nur, wenn ich wirklich nicht mehr fit bin. Das Gefühl, dass andere wegen mir mehr arbeiten müssen, ist sehr unschön. Besonders schlimm ist es bei Nachtdiensten oder Wochenenddiensten, weil dann jemand, der nicht damit gerechnet hat, plötzlich nachts oder am Wochenende arbeiten muss.“ Dies führt häufig dazu, dass Ärztinnen und Ärzte sich erst gar nicht krank melden, oder erst, wenn es gar nicht mehr geht. Und: Sie nehmen sich oft viel zu wenig Zeit, wieder fit zu werden, und gehen halb-krank wieder zum Dienst. Karl*, internistischer Facharzt im Stuttgarter

Dabei birgt unser Beruf auch positive Möglichkeiten der Krankheitsbewältigung. Wir besitzen grundsätzlich das Wissen, Warnsignale unseres Körpers frühzeitig als solche zu erkennen – um dann zügig den kollegialen Blick von außen in Anspruch zu nehmen. Wir kommen – meiner eigenen Erfahrung nach – schnell und unkompliziert an Termine bei Fachärztinnen und Fachärzten, Versicherungsstatus hin oder her. Das intellektuelle Verständnis unserer Krankheit ist quasi garantiert. Und ob wir „nur“ im Studium Patienten betreut haben oder uns tagtäglich um erkrankte Menschen kümmern – wir sind geschult darin, Lösungen zum Umgang mit ge- Michael Rietsche sundheitlichen Problemen Arzt in Weiterbildung zu finden. & Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Eigentlich wissen wir ja in Frankfurt am Main genau, was gut für uns ist. m.rietsche@posteo.de Höchste Zeit also, uns so gut um uns selbst zu kümmern, wie wir das für Andere tagtäglich tun. Wir haben es ja schließlich gelernt. * Namen von der Redaktion geändert

Quellen: Marburger Bund (www.marburger-bund.de), „Können kranke Ärzte den kranken Patienten noch helfen?“,12.03.2013

1

Harro Albrecht. Kranke Ärzte. DIE ZEIT, 46/2000

2

Lajos Schöne (www.welt.de), „Die Götter in Weiß sind kränker als ihre Patienten“, 30.04.2015

3

Schneider M, Bouvier Gallacchi M, Goehring C, Künzi B, Bovier PA. Personal use of medical care and drugs among Swiss primary care physicians. Swiss Med Wkly 2007

4

Verger P, Aulagnier M, Protopopescu C, Villani P, Gourrheux JC, Bouvenot G, et al. Hypnotic and tranquillizer use among general practitioners in south-eastern France and its relation to occupational characteristics and prescribing habits. Fundam Clin Pharmacol. 2004

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Zu Besuch bei der Inselärztin von Pellworm

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ls ich Kind war hatte ich eine genaue Vorstellung davon, was ein Arzt macht: Er trägt einen weißen Kittel, hat eine große Ledertasche mit vielen Instrumenten dabei, und kommt auch mitten in der Nacht zum Krankenbett, fühlt den Puls und rettet Leben mit geheimnisvollen Pillen, Wadenwickeln und tröstenden Worten. Ein Arzt war für mich jemand, der jeden im Dorf kannte, immer im Dienst war und in jeder Notsituation gerufen wurde.

Im Laufe meines Lebens hat sich mein Bild vom Arztberuf deutlich verändert. Im Studium erfuhr ich, dass der Arzt in meiner Vorstellung Anfang des 20. Jahrhunderts ausgestorben ist. Aber jedes Mal, wenn ich mit Regine spreche, kommt mir dieses alte Arztbild wieder in den Sinn. Dr. Regine Ecker ist Assistenzärztin für Allgemeinmedizin auf Pellworm. Umgeben von Watt und südlich der Ferienziele Sylt, Föhr und Amrum liegt diese kleine Nordseeinsel, längst nicht so bekannt wie ihre Nachbarn. Ein Bus fährt mich eine Stunde lang von Husum zum Fähranleger nach Nordstrand, die Fähre braucht noch einmal 45 Minuten, dann bin ich da. Pellworm ist eine grüne Insel, umgeben von einem großen Deich, der mit Schafen übersäht ist. Dreimal so viele Schafe wie Menschen leben hier, selbst Schweine gibt es mehr als Zweibeiner. Im Winter wohnen nur 700 Menschen hier und so mancher Insulaner behauptet, dass diese Zahl noch zu hoch gegriffen sei. Fünfhundert weitere haben eine Zweitwohnung auf Pellworm und bis zu 2000 Gäste – so nennen die Insulaner ihre Touristen – finden sich hier im Sommer. In den letzten 29 Jahren gab es nur einen Arzt hier: Dr. Uwe Kurzke, der seit Juli weggezogen ist. Regine Ecker ist seine Nachfolgerin geworden, zeitweise unterstützt von drei KolLara Weibezahl legen vom Festland, die 10. Semester Medizin Göttingen gemeinsam das neue MeL.Weibezahl@gmx.net dizinische Versorgungszentrum auf Pellworm ärztlich

besetzen. Ich lernte die Insel und Regine im Blockpraktikum Allgemeinmedizin im Februar 2016 kennen. „Hätte es den Facharzt für Notfallmedizin in Deutschland gegeben, wäre ich wahrscheinlich nicht hier“, sagt die gelernte Rettungsassistentin, die anschließend in Witten-Herdecke Medizin studierte, „die Arbeit im Rettungsdienst ist eine Berufung für mich“. So arbeitete sie in der Unfallchirurgie, der Anästhesie und der Inneren mit dem Ziel eine breite Ausbildung für die Tätigkeit als Notärztin zu bekommen, bis sie eine Anzeige über eine Assistenzarztstelle auf Pellworm las. Was andere von diesem Job vermutlich abgeschreckt hätte, gefiel ihr: Allgemeinarzt und Notarzt zu sein. Im Ernstfall auch mal über Tage von der Außenwelt abgeschnitten, da bei Sturmflut weder Seenotkreuzer noch Hubschrauber einen Patienten in ein Krankenhaus bringen können. Als Dr. Kurzke seinen Abschied ankündigte, war für sie klar: „Ich will auf Pellworm bleiben. Hier hat man mich so nett aufgenommen und ich weiß, was ich hier an diesem Ort habe.“

So einiges läuft anders auf Pellworm. Es gibt kein Kino und keine Diskothek. Es gibt kaum Straßenlaternen, nach Einbruch der Nacht wirkt die Insel oft menschenleer. „Das hat mich nie gestört. Schon früher war ich nur selten im Kino, stattdessen bin ich lieber Rad gefahren.“ Seitdem sie auf der Insel wohnt, ist sie ein Mitglied der Triathlongruppe von Pellworm und spielt Trompete im Posaunenchor. Ihr Hund Lotte begleitet sie bei ausgedehnten Spaziergängen und schwimmt mit ihr in der Nordsee. Sie scheint ein Teil der Insel geworden zu sein. Auch die ärztliche Tätigkeit ist anders als auf dem Festland. Eine Ärztin muss hier nicht nur entscheiden, welchen Patienten sie hier selbst betreuen kann, und wer aufs Festland muss, es gilt auch abzuwägen, ob der Patient für den Transport eine ärztliche Begleitung benötigt (also per Rettungshubschrauber transportiert werden muss) oder per Seenotkreuzer (d.h. ohne Arzt) transportiert werden kann. Eine Einweisung ins Krankenhaus zieht hier erheblichen Aufwand nach sich. Neben dem Zustand des Patienten spielt hier auch die Wetterlage, die Tageszeit (bei Einbruch der Dunkelheit sind nur wenige Hubschrauber einsatzbereit) und der Zeitpunkt der Erkrankung eine Rolle. „An einem Montag bringt man eher den Mut auf einen Patienten auf der Insel zu behalten und zu versorgen, da man ihn täglich einbestellen kann. Steht das Wochenende vor der Tür sieht das schon anders aus“ sagt sie mit einem Augenzwinkern. „Auch wenn man als einziger Arzt auf der Insel für die Patienten Tag und Nacht einsatzbereit sein muss, so darf man es – im eigenen Interesse – mit der Fürsorge nicht übertreiben.“


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Reflections on sustainability and our health-care system »Sustainable development is the kind of development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs.« (Our Common Future, Brundtland Commission)

Why should we stand up for a more sustainable healthcare system and how can things be changed? Firstly it is important to consider the contribution of healthcare systems to climate change. Resource waste and greenhouse gas emissions especially from procurement, building energy use and travel, are well known problems in the healthcare sector. Climate change causes droughts, heatwaves and flooding which can ruin harvests and facilitate the spread of diseases. This may render populations vulnerable to starvation and emigration. These consequences have both physical and mental health impacts resulting in further pressures on healthcare systems; it is a vicious cycle. The illnesses, which can be linked to the effects of climate change, include cancer, asthma, malnutrition, cardiovascular disease, infectious diseases, mental illness and others. All these diseases are termed “common diseases” and cost billions of dollars each year. Hence sustainability in the healthcare sector is a topic that not only affects the healthcare workers but also has “a public health impact that would be felt by everyone on the planet” (Leading the Health Care Sector to Sustainability). There are a few different initiatives, which are suggested to improve the sustainability of healthcare:

1. Energy reduction There is currently no Pan-European data on healthcare sector emissions but it is estimated to be responsible for at least 5% of total EU greenhouse gas emissions, which results in an indicative carbon footprint of 250 million tonnes per year. The use of non-renewable energy sources is directly linked to the emission of greenhouse gases which lead to the above described public health consequences. The World Health Organization (WHO) estimates that “climatic changes already [...] cause over 150,000 deaths annually“ (WHO, Climate Change). Possibilities of reducing the use of energy in the healthcare sector are to identify and replace underperforming equipment, to maximise natural sunlight in the hospitals, to install efficient light sources and set temperature range based on function of space and time of day. It starts with the light bulbs used and ends with the construction of new, highly energy-efficient hospital buildings including rainwater collection systems, green roofs, sustainable materials and high performance curtain wall systems.

incinerated and buried and causes water and air pollution. European hospitals could reduce their environmental footprint by 75%–98% by only optimising the use of resources and by reducing their produced waste e.g. by recycling instead of wasting. Waste reduction in the healthcare sector also means the reduction of regulated medical waste (RMW). RMW is the portion of waste that may be contaminated by blood, body fluids or other potentially infectious materials and therefore poses a significant risk of transmitting infection. Over half the world’s population is at risk from illness caused by infectious healthcare-associated waste. In­stead of incineration, which is an important source of dioxin, mercury, lead and other harmful pollutants, hospitals should use safer noburn technologies.

3. Safer chemicals: Safer chemicals signify the use of greener chemicals and equipment for cleaning and maintenance processes, as well as transition to safer sterilants and disinfectants. Chronic chemical exposure can cause diseases, even if very small doses are used. In particular, developing babies and small children are the most vulnerable. High-priority chemicals include polyvinyl chloride (PVC), phthalates, mercury, nanomaterials, chemicals that are carcinogenic, mutagenic or toxic to reproduction (CMRs) and others. Phthalates and Bisphenol A are so-called “endocrine disrupting chemicals (EDC)” that interfere with the endocrine system and are frequently found in medical devices.

Alisha Patel, medical student at Norwich Medical School, University of East Anglia, Alisha.Patel@uea.ac.uk

Julia Weber, practical year at Ludwigsburg hospital, Heidelberg University, j.weber@stud.uniheidelberg.de

2. Waste reduction:

4. Smarter purchasing:

The healthcare sector is responsible for about 12 kg of waste per staffed bed per day, which means more than 5.9 million tonnes annually. The resulting waste is then

The healthcare sector not only consumes an enormous amount of energy and water but also many disposable products like building materials, furniture and medical de-


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vices. Smarter purchasing or Environmentally Preferable Purchasing (EPP) signifies the act of buying products that cause less environmental damage than competing products. EPP is one possibility of saving money and reducing waste while ensuring good patient care.

5. Education: It is important to involve medical students in sustainable healthcare as they are the future of the health system and they will be more seriously faced with the consequences of climate change. In the UK, there is already a network for sustainable healthcare education that offers scholarship programs, e-learning and in-house training. This includes climate change teaching in the medical school curriculum which can help to highlight the links between our health and our environment as well as identify initiatives for adaptation and mitigation.

Medical students themselves in some UK universities are actively involved with the work of this network by engaging in medical education as well as forming their own student groups such as Healthy Planet UK. The healthcare sector is huge with a lot of power and influence with regards to making changes to practice. This sector has a responsibility for the health of the population and within this, climate action and sustainability is paramount. Sources: Brundtland Commission, en.wikipedia.org (20th August 2016). Climate Change, WHO (2016). www.who.int (08th August 2016). EDCs infographic, Healthcare Without Harm, 2016. www.noharm-europe.org (09th August 2016). Education and Training. Centre for Sustainable ­Healthcare. http://sustainablehealthcare.org.uk (16th August 2016). Infographic “Cash in on Environmental S­ ustainability”. https://www.advisory.com/international (06th August 2016).

Leading the Health Care Sector to Sustainability. www.youtube.com/watch?v=vY4ohVzrMkg (06th August 2016). Less Waste. Healthier Hospitals. A Practice ­Greenhealth Program. http://healthierhospitals.org/ (06th August 2016). Less Waste. Practice Greenhealth. https://practicegreenhealth.org (06th August 2016). Patel, Alisha (2015). Why sustainability should be important to medical students. British Medical Journal Blog. http://blogs.bmj.com/bmj/ (16th August 2016). Regulated Medical Waste – Overview. Healthcare ­Environmental Resource Center. http://www.hercenter.org (06th August 2016). Report of the Special Rapporteur on the adverse ­effects of the movement and dumping of toxic and dangerous products and wastes on the enjoyment of human rights, Calin Georgescu. July 2011. http://noharm-europe.org (08th August 2016). Safer Chemicals, Healthcare Without Harm, 2016. ­http://noharm-europe.org (08th August 2016). State of the Art Report: Low Carbon Buildings in the Healthcare Sector. The LCB-HEALTHCARE Consortium, April 2011. http://noharm-europe.org (08th August 2016). The Health Care Sustainability Initiative. Resources to help hospitals improve their community, environment, and bottom line. https://www.advisory.com (06th August 2016). Waste management, Healthcare Without Harm, 2016. http://noharm-europe.org (08th August 2016).

Gutes Besser Tun!

E

xtreme Armut, Klimawandel, Überbevölkerung – tagtäglich werden wir mit den Heraus­forderungen dieser Welt konfrontiert. In den Nachrichten sehen wir Bilder von Hungerkatastrophen, überfüllten Flüchtlingslagern und zerbombten Häuserruinen. Im Radiointerview erzählt uns ein Klima­ experte welche verheerende Auswirkungen der Treibhauseffekt hat und in der Straßenbahn fragt ein Obdachloser nach ein bisschen Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Viele von uns möchten einen Unterschied machen. Wir sehen Leid, Ungerechtigkeit und Tod und möchten dies ändern. Doch wo sollen wir anfangen? Für welche Sache soll ich mich einsetzen? Welche Fähigkeiten oder Karriere brauche ich um etwas zu ändern? Kurzum: Wie kann ich den größten Unterschied machen?

Genau diese Frage möchte die rasant wachsende Bewegung des Effektiven Altruismus beantworten. Effektive Altruisten möchten nicht nur etwas Gutes tun, sondern das Beste mit den Mitteln wie Geld, Zeit und Fähigkeiten, die jeder einzelnen Person zur Verfügung stehen. Dabei orientieren sie sich an wissenschaftlichen Kriterien. Alle Handlungsalternativen werden betrachtet und aufgrund von empirischen Daten und weiterführenden Analysen verglichen. Nicht das Mitgefühl soll unser Handeln leiten, sondern unbestechliche Daten und der Verstand. Der Effektive Altruismus ist keine einheitliche Organisation, sondern vielmehr eine Idee, die Menschen mit ganz verschiedenen Hintergründen verbindet. Sie alle haben gemeinsam, dass etwas Gutes

zu tun ein zentraler Lebensinhalt von ihnen ist, sie offen für verschiedenste Handlungsoptionen sind und sie ihr Ziel Gutes zu tun auf eine möglichst effiziente Weise erreichen wollen. Effektive Altruisten diskutieren in sozialen Medien, Lokalgruppen oder auf Kongressen wie der EA Global über die besten Strategien zur Weltverbesserung. Es geht u.a. um Priorisierung von Zielen, das Finden von vernachlässigten Bereichen, das Treffen von rationalen Entscheidungen und eine altruistische Lebensweise. Eine zentrale Rolle nimmt im Effektiven Altruismus das effektive Spenden ein. Effektive Altruisten sind davon überzeugt, dass Spenden einen sehr positiven Effekt in dieser Welt haben können. Viele von ihnen ge-

ben einen beachtlichen Anteil ihres Einkommens an Wohltätigkeitsorganisationen. Als Mitglieder von z.B. Spendergemeinschaften wie Giving What We Can, spenden viele von ihnen mindestens 10% ihres Einkommens an wohltätige Zwecke. Dabei plädieren sie für ein nutzenorientiertes Spenden. Das Geld soll dorthin gehen, wo es den größten Effekt hat. Da es große Unterschiede zwischen verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen gibt, ist es nach Meinung der Effektiven Altruisten notwendig nach den besten Spendenmöglichkeiten Ausschau zu halten. Der australische Philosoph Peter Singer, ein begeisterter Verfechter des Effektiven Altruismus, beschreibt den Vergleich von verschiedenen Spendenmöglichkeiten in seinem Buch The most good you can do


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anhand eines Beispiels: »In den USA kostet ein Blindenhund 42.000 Dollar. In Entwicklungsländern kostet die Behandlung eines Patienten, der wegen einer bakteriellen Entzündung des Auges erblindet ist, weniger als 40 Dollar, und 80 Prozent der Operationen sind erfolgreich. Das bedeutet, dass für die Kosten eines Blindenhundes in den USA 840 Menschen in Entwicklungsländern das Augenlicht zurückgegeben werden kann. Und der Blindenhund gibt dem Blinden noch nicht einmal das Augenlicht zurück.« Auf der Suche nach unterstützungswürdigen Hilfsorganisationen dient den Effektiven Altruisten vor allem die Website givewell. org. Givewell, das 2007 von den Hedgefonds-Analysten Holden Karnowsky und Elie Hassenfeld gegründet wurde, bewertet Hilfsorganisationen nach ihrer Effektivität anhand eines Kosten-Nutzen-Kalküls. In detaillierten Fallstudien versuchen die Mitarbeiter festzustellen, wie viel den Menschen pro eingesetztem Dollar geholfen wird und wie transparent die Organisationen in ihren Projekten sind. Auf ihrer Website empfehlen sie besonders effektive Wohltätigkeitsorganisationen, wie z.B. die Against Malaria Foundation. AMF verteilt Moskitonetze in Afrika, Lateinamerika und Asien, die im Schnitt etwa 5 Dollar kosten. Laut den Untersuchungen von Givewell senkt dies die Kindersterblichkeit und die Zahl der Malarianeuinfektionen deutlich. Zu diesem Ergebnis kommen sie anhand der Verrechnung der Lebensdauer der Netze und Insektizide mit der Bevölkerungsstruktur und Kindersterblichkeit in den betroffenen Ländern. Givewell gibt sogar eine Zahl an mit der durch die Verteilung von Moskitonetze durchschnittlich ein Leben gerettet werden kann: 3500$. Effektives Spenden ist aber schon lange nicht mehr das einzige Thema, mit dem sich der effektive Altruismus auseinandersetzt. Die Effektiven Altruisten haben das Ziel, möglichst viele Lebensbereiche auf das Ziel auszurichten, das meiste Gute zu tun. 2011 gründeten William McAskill und Benjamin Todd „80.000 Hours“. Die Organisation, deren Name für die durchschnittliche Anzahl an Stunden steht, die ein Mensch in seinem Leben arbeitet, will jungen Menschen darin unterstützen eine Karrierewahl zu treffen, die einen möglichst positiven Effekt hat. Demnach ist es nicht nur entscheidend seiner Leidenschaft bei der Berufswahl zu fol-

gen, sondern v.a. vernachlässigte Bereiche zu finden und seine Fähigkeit optimal zu nutzen, um das meiste Gute zu erreichen. Was bei den Eignungstests herauskommt, kann sehr unterschiedlich sein. Für den einen kann es am besten sein in die Forschung zu gehen und nach vernachlässigten Krankheiten zu forschen, für jemand anderen sein Glück in der Politik zu versuchen. Ein besonderes Modell dabei ist „Earning to give“. Die Idee hinter dem Ansatz besagt, dass es ineffizient ist, wenn alle Wohltäter in die erste Front wie z.B. die Entwicklungshilfe gehen. Vielmehr braucht es sowohl Menschen, die direkt vor Ort effektive Projekte umsetzen, als auch Menschen, die die Umsetzung dieser Projekte mit finanziellen Mitteln unterstützen. Dementsprechend kann es effektiver sein in die Wirtschaft zu gehen und einen großen Teil seines Einkommens zu spenden, als für einen niedrigen Lohn in einer Hilfsorganisation zu arbeiten. Ein Beispiel für „Earning to give“ ist der Prince­ton Absolvent Matt Wage. Wage schloss 2012 sein Philosophiestudium in Princeton mit Auszeichnung ab. Er hatte das Angebot in Oxford seinen Doktor zu machen, aber entschied sich stattdessen einen Job an der Wallstreet anzunehmen. In 2013 spendete er mehr als 100.000$, etwa die Hälfte seines Nettoeinkommens. Das Beispiel von Matt Wage spiegelt eine Überzeugung des Effektiven Altruismus ­wider. Er geht nicht immer gegen das System, sondern möchte die bestehenden Strukturen bestmöglich ausnutzen. Der Effektive Altruismus ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Was vor allem in den USA und Großbritannien begonnen hat, hat sich mittlerweile auf die ganze Welt ausgebreitet. Es gibt Lokalgruppen des Effektiven Altruismus u.a. in Brasilien, Isreal und Australien. Im deutschsprachigen Raum setzt sich vor allem die Stiftung für Effektiven Altruismus für die Verbreitung der Ideen der Bewegung ein. In vielen deutschen Städten wie z.B. Berlin, München oder Osnabrück haben sich zudem Lokalgruppen gebildet. Prominente Unterstützer des Effektiven Altruismus sind unter anderem der Starinvestor Peter Thiel oder Dustin Moskovitz, der Mitbegründer von Facebook. 2015 fand der größte EA Global Kongress auf dem Gelände von Googlecampus in Mountainview, California statt mit Rednern wie Elon Musk, dem Gründer von Tesla und SpaceX und dem Direktor von Google.org, dem karitativen Arm von Google.

Aber längst nicht alle sind von der Bewegung begeistert. Ein Problem sehen manche im dem psychischen Aspekt des Effektiven Altruismus. Zu altruistischen Taten motiviert uns nicht der Verstand, sondern das Gefühl. Wir sehen einen Obdachlosen auf der Straße und haben aus Mitleid das Bedürfnis ihm zu helfen. Die Idee des Effektiven Altruismus besagt nun aber, dass es einen effizienteren Nutzen für das Geld gibt und unterdrückt so den Impuls zu spenden. Einige Kritiker befürchten, dass dieser Effizienzgedanke auf Kosten des Mitgefühls geht und wir so langfristig weniger Gutes tun werden. Effektive Altruisten entgegnen auf diesen Einwand, dass es einen Unterschied zwischen akutem Mitgefühl und reflektierter Empathie gibt. Reflektierte Empathie umfasst dabei nicht nur den Akt des Helfens, sondern auch, dass die Hilfe wirksam ist. Akutes Mitgefühl kann hingegen blind sein für die Wirksamkeit. Sie betonen, dass jedes soziale Engagement zu begrüßen sei, weil es davon in dieser Welt bis jetzt viel zu wenig gebe. Gleichzeitig komme es jedoch nicht auf die guten Absichten an, sondern letztendlich darauf, was sich durch das soziale Engagement in der Welt ändert. Ein weiterer Kritikpunkt wirkt schwerer. Viele werfen dem Effektiven Altruismus vor zwar die Welt besser machen zu wollen, aber nicht die grundlegenden Strukturen, welche die extreme Ungleichheit zwischen arm und reich hervorruft, zu verändern. Es reiche nicht, jeden Monat einen Teil seines Einkommens zu spenden und damit im schlimmsten Fall noch Abhängigkeiten zu schaffen. Vielmehr bedürfe es grundlegender struktureller Änderungen, um die Herausforderungen unserer Zeit zu lösen. Der Effektive Altruismus vertritt tatsächlich keine allumfassende politische Agenda, die alle Probleme dieser Welt löst und die Weltordnung ändert, auch wenn sich z.B. mit dem Global Priorities Project und Sentience Politics in den letzten Jahren politische EA-Organisationen gegründet haben. Dennoch schließen sich die Änderung von Strukturen und das Unterstützen von Projekten, wie das Verteilen von Malarianetzen oder Entwurmungskampagnen, nicht aus. Vielmehr ergänzen sie sich. Eine gesunde und gebildete Bevölkerung kann besser an der Optimierung von politischen Institutionen mitarbeiten und einen Wandel herbeiführen. Einen Wandel hin zu einer Welt, in der alle gesund, glücklich, erfüllt und frei sind, das erklärte Ziel des Effektiven Altruismus.

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Eine neue Niere für 900€ Das iranische Modell zur Lebendorganspende

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ls Standardtherapie im Endstadium eines Organversagens gilt die Organtransplantation. Weltweit übertrifft die Nachfrage nach Organen jedoch bei Weitem das Angebot, weshalb im Iran 1988 ein System zur Lebendspende von Nieren eingeführt wurde. Es ist das einzige Land der Welt mit einer staatlichen Förderung der Lebend­ organspende an Fremde. Angeblich konnte die Warteliste für Spendernieren im Iran bis 1999 dadurch komplett eliminiert werden. Doch wie sieht die Realität aus?

Patient*innen im Endstadium eines Nierenversagens können sich an die Iranian Kidney Foundation wenden. Diese koordiniert die Kontaktaufnahme zwischen Spender*innen und Empfänger*innen, regelt die Bezahlung und wickelt den gesamtem Transplantationsprozess ab. Für alle potentiellen Spender*innen sind eine vollständige Diagnostik und Erhebung des Gesundheitsstatus vorgesehen, die in der Realität aber nicht immer mit größter Sorgfalt durchgeführt werden. Auch eine Nachsorge der Spender*innen erfolgt in nur wenigen Fällen. Oft sind sie nicht über die potentiellen Folgen der Nephrektomie aufgeklärt. So ergeben sich gesundheitliche Risiken für Organspender und -empfänger*innen. Dazu gehören akute OP-Komplikationen, Nierenversagen, Blut­hochdruck, chronische Schmerzen u.a. Die Organspender sind vor allem junge Männer aus den unteren gesellschaftlichen Schichten. Sie sind arm und weniger gebildet. Sie erhalten für ihre Spende 900 Euro und eine kostenlose Krankenversicherung für ein Jahr. Was nach der Spende passiert, weiß niemand. Es gibt kein nationales Register und kein Follow-Up. Die Spender*innen sind die „neglected victims“ dieses Systems. In kleineren Studien berichten 60% bis 70% von ihnen über soziale Isolation nach der Spende, über postoperative Depressionen, Angstgefühle sowie negative finanzielle und physische Auswirkungen der Organspende.

Julia Weber, PJ Klinikum Ludwigsburg, j.weber@stud.uni-­­ heidelberg.de

Die Bezahlung für die Lebendorganspende ist inzwischen nicht mehr allein staatlich reguliert. Stattdessen stehen Organemp-

fänger*in und -spender*in über die Iranian Kidney Foundation in direktem Kontakt und können über den Preis für das Organ verhandeln. Dieses Vorgehen entspricht der Definition von Kommerzialisierung von Transplantationen, wie sie in der Deklaration von Istanbul zu Organhandel und -tourismus zu finden ist: „Die Behandlung von Organen als Ware, dies beinhaltet den Kauf oder Verkauf sowie die Verwendung zu gewinnbringenden Zwecken.“ Auch die Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) und der Weltärztebund (World Medical Association, WMA) sind gegen die entgeltliche Spende von Organen: „Die Bezahlung von Organen für Spende und Transplantation muss verboten werden.“ (WMA, 2014). Wo Geld und Gesundheit aufeinander treffen, ist auch Missbrauch nicht weit. So wurden Fälle berichtet, in denen die Gesundheitsdaten der Spender*innen gefälscht wurden, damit sie für eine Organspende in Frage kommen. Und potentielle Spender*innen geben Annoncen auf und machen Aushänge, um ihre Organe anzupreisen und einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen.

Weiterhin bietet die fehlende Relevanz von postmortalen Spenden und Lebendspenden von Angehörigen Raum für Kritik am iranischen Modell. Die postmortale Organspende wurde im Iran erst 12 Jahre nach der Lebendorganspende erlaubt, nämlich im Jahr 2000 mit der Deklaration des Organ Transplantation Brain Death Act. Vorher war eine postmortale Spende aus versorgungstechnischen sowie religiösen und kulturellen Gründen nicht möglich. Der Anteil der postmortalen Spende an allen Organspenden ist zwar weiterhin steigend, im Vergleich zur Lebendspende jedoch immer noch gering. Es bedarf der weiteren Aufklärung der iranischen Bevölkerung und auch der Ärzteschaft, denn immer noch bestehen hier Misstrauen und mangelnde Information. Es ist außerdem denkbar, dass der Ausbau des Programms zur Lebendorganspende an Fremde eine weitere Hürde in Bezug auf postmortale Spende und Lebendspende an Angehörige darstellt. Befürworter*innen des iranischen Modells hingegen argumentieren, dass ohne die Lebendspenden mehr Menschen im Endstadium eines Nierenversagens versterben würden. Und dass es sonst mehr Patient*innen


Gewissen und Medizin

gäbe, die im Ausland Transplantationstourismus betreiben und die benötigten Organe käuflich erwerben würden, was mit einem höheren Übertragungsrisiko von Infektionskrankheiten, wie z. B. Hepatitis B, C oder HIV verbunden ist. Sie sehen die Ausweitung des iranischen Modells als Möglichkeit, um den illegalen Organhandel und unethischen Transplantationstourismus einzudämmen und außerdem das Problem des Organmangels zu bekämpfen. Sie gestehen aber auch den Optimierungsbedarf dieses Modells ein: Die reduzierte Lebensqualität der Nierenspender*innen nach der Spende und die fehlende gesundheitliche Nachsorge. Das iranische Modell zur Lebendorganspende bietet viel Raum für Diskussion und wirft ethische Fragen auf. Wie verzweifelt ist ein Mensch, wenn er freiwillig eine Niere an einen Fremden spenden möchte? Sieht er keinen anderen Ausweg aus seiner finanziellen Notlage? Und ist er sich den weitgreifenden Folgen seiner Organspende für den eigenen Körper überhaupt bewusst? Wenn sich das System nicht abschaffen lässt, so sollte die physische und psychische Gesundheit der Organspender*innen

Priorität haben. Umfassende klinische Voruntersuchungen, regelmäßige Nachsorgetermine und eine lebenslange, kostenlose Krankenversicherung für die Spender*innen und ihre Familien sind wünschenswert. Weiterhin muss eine finanzielle Abhängigkeit zwischen Spender- und Empfänger*innen vermieden werden. Dies gelänge z. B. durch eine Anonymisierung der Spende, sodass Spender*in und Empfänger*in nicht mehr über den Preis verhandeln könnten und die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Organspende allein bei den behandelnden Ärzt*innen und der koordinierenden Iranian Kidney Foundation läge. Eine Lebendorganspende an Fremde ist also nur akzeptabel, solange die Lebensqualität und Gesundheit keiner der Beteiligten gemindert wird und die Spender*innen sich über die Folgen ihrer Spende bewusst sind.

Fallahzadeh, M. K, Jafari, L et al (2013). Comparison of Health Status and Quality of Life of Related Versus Paid Unrelated Living Kidney Donors. American Journal of Transplantation, Ausgabe 13, Seiten 3210-3214. Ghahramani, N (2016). Paid Living Donation and Growth of Deceased Donor Programs. ­Transplantation, Ausgabe 100, Nummer 6, Seiten 1165–1169. Ghods, A. J und Savaj, S (2006). Iranian Model of Paid and Regulated Living-Unrelated Kidney Donation. Clin J Am Soc Nephrol, Ausgabe 1, Seiten 1136–1145. Gordon, E. J, Gill, J. S (2013). Where There Is Smoke There Is Fire: The Iranian System of Paid Donation. American Journal of Transplantation, Ausgabe 13, ­Seiten 3063–3064. Griffin, A (2007). Kidneys On Demand. British Medical Journal, Ausgabe 334, Seiten 502–505. Jahromi, A. H, Fry-Revere, S, Bastani, B (2015). A Revised Iranian Model of Organ Donation as an Answer to the Current Organ Shortage Crisis. Iranian Journal of Kidney Diseases, Ausgabe 9, Nummer 5, Seiten 354–360. Khatami, M. R, Nikravan, N und Alimohammadi, F (2015). Quality and Quantity of Health Evaluation and the Follow-up of Iranian Living Donors. New York: Elsevier. Transplantation Proceedings, Ausgabe 47, Seiten 1092–1095. The Transplantation Society und The International ­Society of Nephrology (2008). The Declaration of Istanbul on Organ Trafficking and Transplant Tourism.

Literatur: Azar, S. A, Nakhjavani, M. R et al (2007). Is Living Kidney Donation Really Safe? New York: Elsevier, Transplantation Proceedings, Ausgabe 39, Seiten 822-823.

WMA General Assembly, Durban, South Africa (2014). WMA Statement on Human Organ Donation and Transplantation. Zaargooshi, J (2011). Quality of Life of Iranian Kidney „Donors“. The Journal of Urology, Aufgabe 166, Seiten 1790–1799.

Psychiatrie und Menschenrechte

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ie Aufnahme erfolgte bei fremdaggressivem Verhalten auf Grundlage von §18 NPsychKG, nachfolgend auf §16 NPsychKG. Im ärztlichen Aufnahmegespräch zeigte der Pat. aggressives Verhalten gegenüber dem Personal. Es erfolgte die Anlage einer 5-Punkt-­Fixierung, da sich der Pat. nicht begrenzen ließ. Er erhielt als i.m. Medikation einmalig 10 mg Diazepam und 10 mg Haloperidol. Da eine drohende Eigenoder Fremdgefährdung nicht akut absehbar war, erfolgte zwei Tage später die richterliche Aufhebung des Beschlusses, woraufhin der Pat. seine Entlassung wünschte. Die Entlassung erfolgte gegen ärztlichen Rat. (Standardformulierungen eines psychiatrischen Entlassbriefes)

Warum die Menschenrechte in der Psychiatrie ein Thema sind

• Freiheitsbeschränkungen (z.B. Einweisung, Isolierung, Fixierung)

Es ist die Psychiatrie, in der so häufig wie in keiner anderen medizinischen Fachrichtung Maßnahmen gegen den Patientenwillen durchgeführt werden. Zwar ist die Minimierung von Zwängen inzwischen zu einem Qualitätsmerkmal von Psychiatrien geworden, dennoch finden weiter alltäglich in Deutschland Zwangsmaßnahmen statt. Dazu gehören:

• Zwangsbehandlungen (z.B. Medikamente, Ernährung, Elektrokrampftherapie) • Informeller Zwang (z.B. Überzeugungsversuche, Erpressung) Patienten nehmen die Maßnahmen, die gegen ihren Willen durchgeführt werden, laut mehrerer Studien selbst nach Bes-

serung ihrer psychischen Verfassung in der großen Mehrheit als demütigend und verfrüht wahr. Die Häufigkeit von Zwangsmaßnahmen unterscheidet sich unter den Kliniken und (Bundes-)Ländern erheblich und differiert laut verschiedener Studien zwischen 1,9% –13,5% aller stationär psychiatrisch behandelten Patienten. Häufig sind es die Sucht-, dementiellen oder psychotischen Erkrankungen, die eine Fremdaggressivität zur Folge haben.

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Gewissen und Medizin

Geht es ohne Zwang?

Wann ist Zwang nötig?

Zur Möglichkeit einer Psychiatrie ohne Zwang gibt es verschiedene internationale Erfahrungsberichte. So wird zum Beispiel in Österreich seit vielen Jahren auf geschlossene Stationen völlig verzichtet. Stattdessen finden dort jedoch vergleichsweise deutlich mehr Fixierungen statt. Fixierungen wiederum sind in einigen Kantonen der Schweiz und in Großbritannien gesetzlich verboten. Ersatzweise greift man dort jedoch häufiger auf Isolierungen zurück. Isolierungen werden in Deutschland nur noch sehr selten durchgeführt. Die Zahl der Fixierungen ist wiederum in Deutschland erkennbar höher.

Für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen gibt es ein System von gesetzlichen Voraussetzungen und detaillierten Handlungsempfehlungen von Fachverbänden, das nicht lückenlos ist, Ermessensspielraum lässt und sich zudem zwischen den Bundesländern unterscheidet.

Verbale Deeskalationsversuche scheitern häufig an der Aggressivität, der mangelnden Einsichtsfähigkeit oder Frustrationstoleranz der Patienten, wie es in extremen psychischen Erregungszuständen der Fall sein kann. Somit ersetzt eine Zwangsmaßnahme die andere. Eine sehr liberale Psychiatrie kann wiederum Gewalt an anderer Stelle zur Folge haben – Klinikbeschäftigte haben das Recht auf einen sicheren ­Arbeitsplatz. Wollte man auf jeglichen Zwang in der Psychiatrie völlig verzichten, würden fremdaggressive Patienten verstärkt bei der Polizei oder anderen Vollzugsbeamten auftauchen. Dazu wäre es nach dem Gerechtigkeitsprinzip wiederum nicht hinnehmbar, schwer kranken Patienten eine Behandlung vorzuenthalten. Forensische Psychiater beklagen sich, dass fremdaggressive Patienten in der Allgemeinpsychiatrie zu inkonsequent oder zu kurz behandelt würden und somit überhaupt erst in der Forensik landeten.

Lea Dohm Dipl.-Psychologin/Psychol. Psycho-therapeutin, Stadthagen/Hannover leadohm@gmx.de

eispiel: §1906 (BGB) VoraussetzunB gen zur Zwangsmedikation: • W enn der Patient die Notwendigkeit nicht erkennt • W enn ein drohender erheblicher gesundheitlicher Schaden abzuwenden ist • W enn es keine zumutbare Alternative gibt • Wenn der Nutzen die erwartbare Beeinträchtigung deutlich übersteigt Als good practice gelten zum Beispiel die Handlungsempfehlungen des DGPPN von 2010 (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde): Demnach sind Zwangsmaßnahmen immer nur Intervention der letzten Wahl, die nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sorgfältig abgewogen werden müssen. „Die Beendigung ist regelmäßig zu prüfen“, „ein angemessener zwischenmenschlicher Kontakt ist sicherzustellen“. Bei der Form der Freiheitsbeschränkung sollte demnach individuell entschieden werden, eine Aufklärung des Patienten wird als immer erforderlich betrachtet. Um einen weiteren Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen von Zwangsbehandlungen zu bekommen, ist es zunächst wichtig, zwischen dem Betreuungsrecht (auf Bundesebene) und den Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKG, Länderebene) zu unterscheiden. In den länderabhängigen PsychKG sind jedoch vielfach keine ausreichend klaren Anforderungen an Zwangsbehandlungen definiert, so dass es immer wieder auch zu rechtlich unklaren Situationen kommt, die die Kliniken individuell bewältigen müssen.

Das ist bitter, denn bereits 2009 mahnte die UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK) einen tieferen Menschenrechtsschutz in deutschen Psychiatrien an, was das Bundesverfassungsgericht 2012 erneut bekräftigte. Als der UN-BRK Ausschuss 2015 den Stand der Umsetzung in Deutschland prüfte, fehlten weiterhin allgemeine Kriterien eines rechtlich zulässigen Freiheitsentzugs.

Wer ist aktiv? Die APK (Aktion Psychisch Kranke e.V.) wurde 1971 von Bundestagsabgeordneten und psychiatrischen Fachleuten gegründet, um psychisch Erkrankten überparteilich eine größere Lobby zu verschaffen. Die Umsetzung der Menschenrechte in der Psychiatrie ist dabei ein zeitlich überdauerndes Projekt im UN-Unterausschuss zur Prävention von Folter, das vom Auswärtigen Amt gefördert wird. Abschließend sei noch kurz zur Vorsicht gemahnt: Bei der Recherche zum Thema gelangt man immer wieder direkt auf die Arbeiten der CCHR (Citizens Commission on Human Rights), bzw. deren deutschen Schwesterorganisation KVPM (Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte). Hier engagiert sich Scientology mit Nachdruck gegen Psychopharmaka im Allgemeinen und weitere Psychiatriethemen (Elektrokrampftherapie, etc.).

Quellen: Henking, T. & Vollmann, J.: Zwangsbehandlung psychisch kranker Menschen. Ein Leitfaden für die Praxis. Springer, 2015 Zinkler, M., Laupichler, K. & Osterfeld, M. (Hg.): Prävention von Zwangsmaßnahmen. Menschenrechte und therapeutische Kulturen in der Psychiatrie. Psychiatrie Verlag, 2016 https://www.dgppn.de/ (06.08.2016) http://www.apk-ev.de/themen/psychiatrie-und-menschenrechte/ (06.08.2016) http://de.cchr.org/ (06.08.2016) http://www.kvpm.de/home/

(06.08.2016)


Gewissen und Medizin

Was jeder Arzt und jede Ärztin gegen steigende Medikamentenpreise unternehmen kann

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enn man dieser Tage in die Medien schaut, ist immer wieder von überhöhten Medikamentenpreisen die Rede.­ Als Ursachen werden überzogene Gewinnmargen der Pharma­industrie, das Patentrecht und eine problematische Preispolitik diskutiert. All diese Aspekte sind ohne Frage entscheidend. Ein wesentlicher Aspekt der Preisentstehung wird jedoch ­selten erwähnt:

Die Industrie rechtfertigt ihre Preise meist mit hohen Ausgaben für die Forschung, die, so lange der Patentschutz gilt, gedeckt werden müssen. Nach Ablauf der Patente kommen in aller Regel Generika auf den Markt, die die Preise und damit die Gewinnmargen drücken. Doch die hohen Ausgaben für die Forschung sind nur ein Teil der Kosten, die die Industrie für ein Medikament aufbringt. Im Rahmen einer Transparenzoffensive der großen Pharmakonzerne wurden für das Jahr 2015 für Deutschland konkrete Zahlen veröffentlicht: Insgesamt 575 Millionen Euro haben 54 Pharmakonzerne in Deutschland im vergangenen Jahr an Ärzt*Innen und anderes medizinisches Personal sowie an Organisationen und Einrichtungen im Gesundheitswesen gezahlt. Den Großteil dieser Summe, 366 Millionen Euro, gab die Industrie nach eigenen Angaben für „Forschung und Entwicklung“ aus. An „Personen“ wurden 119 Millionen Euro gezahlt (21%). Die restlichen 90 Millionen (15%) gingen an „Stiftungen“.5 Es handelt sich bei den 209 Millionen Euro um Werbung, damit das Präparat so viel wie möglich verschrieben wird. Die Industrie holt sich ihre Ausgaben über die Medikamentenpreise zurück. In Deutschland, wie in fast allen anderen Ländern der Erde (Ausnahmen bilden beispielsweise Großbritannien und Neuseeland), ist Werbung von verschreibungspflichtigen Medikamenten direkt an den/die Konsument*in (also Patient*in) verboten. Zwar gibt es auch hier Möglichkeiten für die Industrie, Nischen in der Gesetzgebung zu finden, wie beispielsweise das Sponsoring von Selbsthilfegruppen, in dessen Gegenzug die Gruppen sich Vorträge über die jeweiligen Produkte der Firma anhören. So wurden laut der Onlinedatenbank des Spiegels (Angaben ohne Gewähr) im Jahr 2013

Selbsthilfegruppen in Deutschland mit etwa 5,3 Millionen Euro unterstützt.6 Werbung direkt an Ärzte hat viele Gesichter. Deren eindeutig sichtbare Formen, wie etwa Kugelschreiber und Schreibblöcke, sind in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten. Ein dieses Jahr in Kraft getretenes Gesetz zur Korruption im Gesundheitswesen droht Ärzt*Innen mit bis zu fünf Jahren Strafe, wenn sie ihr Interesse an persönlicher Bereicherung über das Wohl der Patient*innen stellen. Jedoch ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar, welche Vergehen genau unter das Gesetz fallen. Scheinbar werden auch künftig Beeinflussungen von Ärzten durch pharmagesponserte Kongresse, die Übernahme von Fahrtkosten, Teilnahmegebühren oder Essenseinladungen straffrei bleiben.8 Beunruhigend ist, dass ca. 80% aller Fortbildungen für Ärzte von der pharmazeutischen Industrie mitfinanziert werden, wobei dies noch immer oft mangelhaft gekennzeichnet sind.2 Manche Werbeverfahren zielen auf unbewusste Assoziationen ab: So werden beispielsweise die Farben der Präsentationsfolien bei Vorträgen nach der Verpackungsfarbe des Medikamentes oder des Logos der Industrie ausgewählt. Eine andere häufige Form der Werbung sind bezahlte

Redner – darunter auch Universitätsprofessoren.1 Diese halten auf Fortbildungen Vorträge, ohne kennzeichnen zu müssen, dass es sich hierbei nicht um ihre eigenen Erfahrungen oder Studienergebnisse handelt, sondern um Informationen, die die Industrie ihnen so zugespielt hat. 10.000 Euro und mehr im Jahr habe er von der Industrie durch Vorträge verdient, erklärt Prof. Dr. K. Lieb, Direktor für Psychiatrie und Psychotherapie in Mainz. Er war der erste Universitätsprofessor, der öffentlich erklärte, keinen Cent mehr von der Industrie anzunehmen, um seine Unabhängigkeit zu wahren.4 119 Millionen Euro wurden 2015 für Vortragshonorare in Deutschland gezahlt.5 Namhafte Redner zu bezahlen lohnt sich für die Industrie: Jeder in einen bezahlten Redner investierte US-Dollar führt allein im darauffolgenden Jahr zu einer Gewinnsteigerung von 624 US-Dollar. 1 Eine weitere beliebte Werbestrategie, um vor allem auch pharmawerbungskritische Ärzte zu beeinflussen, sind Phase-4-Studien ohne wissenschaftlichen Hintergrund. Hier sprechen Pharmavertreter gezielt Ärzte an und bitten sie, Informationen zu einem Medikament zu sammeln. Angeblich würden die Ärzt*innen einen Beitrag für die Sicherheit des Medikamentes leisten. Der Sinn der Studie ist jedoch, dass Ärzt*innen das jeweilige Präparat bevorzugt verschreiben – ihre Aufmerksamkeit wird auf das Produkt gerichtet und sie haben das Gefühl, dass sie mit dem Verschreiben dieses Produktes Daten für die Menschheit sammeln. Die erhobenen Daten werden jedoch vernichtet oder zumindest niemals veröffentlicht.1 Transparency International Deutschland konnte kürzlich nachweisen, dass in einigen Fällen Ärzt*Innen Geheimhaltungsklauseln unterschrieben hatten, sodass sie ihre

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Gewissen und Medizin

e­ igenen erhobenen Daten nur an die jeweils finanzierende Industrie, nicht jedoch an Dritte weiterleiten durften.10 Interessanterweise werden diese Anwendungsbeobachtungen von der Industrie zu den Forschungsausgaben gerechnet. Mehr als 100 Millionen Euro sollen jedes Jahr in Deutschland in Anwendungsbeobachtungen investiert werden.9 Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung nahm 2015 etwa jede*r zehnte Ärzt*In in Deutschland an einer solchen Anwendungsbeobachtung teil. Die Honorare dafür belaufen sich auf mehrere Hundert-, teilweise Tausend Euro pro eingeschlossenem/r Patient*In! 7 Berechnet man mit diesen Zahlen das Verhältnis zwischen Ausgaben für Werbung und für Forschung neu, so tolerieren alle Ärzt*innen, die sich so manipulieren lassen, dass die Industrie insgesamt 54% mehr Ausgaben hat. Jedes Jahr besuchen 15.000 Pharmavertreter*Innen 20 Millionen Mal Arztpraxen und Krankenhäuser, werben für ihre Produkte, verteilen Geschenke, bieten Honorare für Anwendungsbeobachtungen, laden zum Essen ein und bezahlen Fortbildungs- und Reisekosten. Die Zeit für diese Besuche fehlt den Ärzt*Innen in der

Behandlung der Patient*Innen.1 Ein häufiges Argument, Pharmavertreter*innen zu empfangen, sind die kostenlosen Proben, die diese mitbringen. Man könne diese an Patient*innen in finanziell schwierigen Situationen verteilen, um diesen die Zuzahlung zu ersparen. Auf diese altruistische Verzerrung baut die Industrie, denn die Proben lohnen sich. Ein Patient, der ein solches Medikament einmal verträgt, wird in häufigen Fällen nicht so schnell ein anderes Präparat akzeptieren, schon gar nicht, wenn für den Präparatewechsel nur der Preis spricht. Darüber hinaus zeigt eine Studie am Beispiel von Antihypertonika, dass Ärzt*innen viel schneller gewillt sind, die erheblich teureren Zweitlinienmedikamente (AT-1-Rezeptorblocker) herauszugeben als die günstigen ACE-Hemmer, die laut Leitlinie als Erstes probiert werden sollten. Hat der/die Ärzt*in noch AT-1-Rezeptorblocker-Proben, ist die Wahrscheinlichkeit doppelt so hoch, dass das teurere Medikament gegeben wird. Langfristig kommt für diese Mehrkosten die Gesellschaft auf. 1 „Durch korruptes Verhalten seitens der Ärzt*innenschaft wird die sensible Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen

beschädigt!“ erklärt die Organisation MEZIS (Mein Essen Zahl‘ Ich Selbst), das deutsche Äquivalent der weltweiten „No-free-lunch“-Bewegung. In jeder anderen Berufsgruppe gälten Geschenke wie gesponserte Fortbildungsreisen als Korruption.2 Dass die pharmazeutischen Industrien die Ausgaben für die Werbung decken, indem sie Medikamente teurer verkaufen, ist ein Grund für die steigenden Medikamentenpreise. Gleichzeitig führt diese Werbung zu einer Form der Wettbewerbsverzerrung. Ärzt*Innen verschreiben eher das beworbene Medikament, weshalb die Pharmaindustrie mit der meisten Werbung auch am meisten verkauft, selbst wenn günstigere Konkurrenzprodukte im direkten Vergleich gleich wirksam sind. Kleine Pharmaunternehmen, die sich diese Werbung nicht leisten können oder die Generika (günstigere Nachahmungen eines Medikaments, dessen Patentschutz abgelaufen ist) vertreiben, können deshalb auf dem Markt nicht bestehen. In der Folge bestimmen große Konzerne die Preise und besitzen Monopole auf lebensnotwendige Medikamente.

Quellen: „Understanding and responding to pharmaceutical promotion – A practical guide” Herausgeber: World Health Organisation and Health Action Initiative

1

2

https://www.mezis.de

3

https://de.wikipedia.org/wiki/Pharmaunternehmen DER SPIEGEL 20/2011 “Medizin: Seelsorge für die Industrie” https://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-78522323.html

4

5

Deutsche Apothekerzeitung Online 20.06.16 https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/ artikel/2016/06/20/fsa-vfa-transparenzinitiative-575-millionen-euro-fur-aerzte Tagesspiegel 30.06.2015, „Heimliche Helfer“ http://www.tagesspiegel.de/themen/agenda/warum-die-pharmaindustrie-selbsthilfegruppen-finanziert-heimliche-helfer/11991862.html

6

Tagesschau.de, 08.08.2016, https://www.tagesschau.de/wirtschaft/anwendungsbeobachtungen-121.html

7

Stiftung Warentest 06/2016, https://www.test.de/Anti-Korruptionsgesetz-Strafen-fuer-bestechliche-Mediziner-5015160-0/

8

Sueddeutsche Zeitung, 09.03.2016, Millionengeschäft mit Pseudostudien: Wie Pharmafirmen Ärzte beeinflussen http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/arznei­ mittel-millionengeschaeft-mit-pseudo-studien-wiepharmafirmen-aerzte-beeinflussen-1.2898741 9

Transparency International Deutschland e.V., Pressemitteilung 06.04.2016, https://www.transparency. de/2016-04-06_Durchbruch-bei-der.2782.0.html?&contUid=6560

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Evidence based medicine? Warum täglich Studiendaten verschwinden

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ir leben in einem medizinischen Zeitalter, in dem HIV bekämpft werden kann, viele Krebsarten geheilt werden können und die Menschen so alt werden wie nie zuvor. Und dennoch hat die Medizin ein fundamentales Problem: Es geht um die Sicherheit unserer Medikamente.

Seit dem Contergan-Skandal in den 1960er Jahren ist jede pharmazeutische Industrie weltweit per Gesetz gezwungen, ihre Medikamente vor deren Zulassung zu testen und für deren Risiken und Nutzen zu bürgen. Man versuchte so für eine größere Sicherheit zu garantieren, ohne die Staatskassen zu sehr zu belasten, denn Arzneimittelstudien sind teuer. Diese im ersten Augenblick logisch klingende Idee weist zwei fundamentale Fehler auf: Niemand hat bei der Erstellung einer solchen Studie so viele eigene Interessen wie die Industrie. Es ist so, als ob Eltern die Abiturklausuren ihrer Kinder bewerten dürften. Und wenn die Industrie eine solche Studie durchführt, ist sie im Besitz der Ergebnisse, sie kann also entscheiden, was veröffentlicht wird und was nicht. Auf unser Beispiel mit den Abiturklausuren bezogen, hieße das: Ob jemand das eventuell schlechte Abi-Zeugnis der Zöglinge zu Gesicht bekommt, läge ganz im Ermessen seiner Eltern. Nur etwa die Hälfte aller Studien über Medikamente werden je veröffentlicht. Die andere Hälfte beinhaltet Informationen, die in Archiven verschwinden. Nicht einmal die Probanden, bzw. Patienten, die an der Studie teilgenommen haben, erfahren je die Ergebnisse. Selbstverständlich sind hier Substanzen dabei, die nie die Marktzulassung erhalten, aber auch über die uns bekannten Medikamente gibt es viel mehr Informationen, als je veröffentlicht wurden. Und immer wieder kostet dieser Missstand Milliarden Dollar, vor allem aber Menschenleben. Ein gut untersuchtes Beispiel ist das Antiarrhythmikum Lorcainide. Im Jahr 1980 kam ein pharmazeutisches Unternehmen auf die Idee, dieses Medikament bei Patienten mit Zustand nach Herzinfarkt einzusetzen. Es wurde eine Studie mit 100 Probanden gestartet, in der festgestellt wurde, dass Lorcainide deutlich häufiger zum Tod führte als das Placebo (von 50 Teilnehmern

mit Placebo starb im Laufe eines Jahres nur einer, jedoch starben in der ebenso großen Gruppe, die Lorcainide bekam, zehn der Probanden). Das Medikament kam für diese Patientengruppe damals nicht auf den Markt. In den folgenden zehn Jahren kam ein anderer Pharmakonzern ebenfalls auf den Gedanken, diese Substanz als Antiarrhythmikum bei Patienten nach Herzinfarkt einzusetzen. Dieses Mal bekam das Medikament die Marktzulassung und bis nachgewiesen werden konnte, dass dieses Vorgehen schädlich ist, starben mehr als 100.000 Menschen unnötigerweise allein in den USA. Im Jahr 2010 galt das Virusstatikum Oseltamivir, besser bekannt unter dem Handelsnamen Tamiflu, als die einzige Rettung gegen die gefürchtete Schweinegrippe. Weltweit horteten Regierungen dieses Medikament, nachdem sogar die WHO es als hilfreich bewertet hatte. Ein aufmerksamer japanischer Kinderarzt wies jedoch in einem offenen Brief darauf hin, dass die WHO sich bei ihrer Bewertung auf eine Metaanalyse (also eine Studie, die mehrere Studien zusammenfasst) berief, deren Studien zu einem Großteil nie veröffentlicht worden waren. Es folgte ein Rechtsstreit, als Wissenschaftler versuchten, an diese Studienergebnisse zu gelangen. Schlussendlich stellte sich heraus, dass Tamiflu keinen signifikanten Nutzen für das Überleben der Erkrankten bot. In den letzten Jahren ist viel Öffentlichkeitsarbeit zu diesem Thema geleistet worden. Dennoch werden weltweit auch heute noch Daten von Studien verschwiegen, und bereits erhobene Daten gehen für immer verloren. Dieses Problem ist lösbar! Für jede Studie, bei der Daten an einem Menschen erhoben werden, muss zuvor eine Ethikkommission grünes Licht geben. Andernfalls ist die Durchführung der Studie illegal. Es gibt also ein vollständiges Register, das transparent

gemacht werden könnte. Forscher*innen, die Daten erheben und dann die Resultate verschweigen, müssten ihre Approbation/ Lizenz entzogen bekommen – finanzielle Strafen hätten zu wenig Effekt, da es sich aufgrund der immensen Profitmöglichkeiten für die Pharmaindustrie lohnen würde, diese Strafen in Kauf zu nehmen. Wenn die Strafe so hoch gesetzt würde, wäre es für die Industrie erschwert bis hoffentlich unmöglich Studien zu verschweigen und die Forscher*innen hätten ein eigenes Interesse daran, unabhängig von der Meinung der Industrie ihre Ergebnisse zu publizieren. Auch Journals müssten sich weigern, Studien zu veröffentlichen, wenn diese zuvor nicht transparent angemeldet worden wären. In meinen Augen ist dieser Zustand eine der größten Gefahren in der Medizin dieser Tage. Aber jede*r kann hier etwas tun! Was wir brauchen sind keine Image-Kampagnen der Pharmaindustrie – wir brauchen Gesetze, die weltweit greifen. Am 14.9.16 veröffentlichte die UN ein Statement, dass alle Regierungen der Welt aufforderte, entsprechende Gesetze zu erlassen, damit nie wieder Studiendaten verloren gehen. Jetzt muss unsere Generation dafür sorgen, Lara Weibezahl dass diese Aufforderung 10. Semester Medizin nicht nur umgesetzt wird, Göttingen L.Weibezahl@gmx.net sondern die Gesetze auch langjährig Bestand haben und nicht von Lobbyistengruppen aufgeweicht werden. Je mehr Menschen von diesem Missstand erfahren, desto mehr Druck kann auf die Politik ausgeübt werden, sich diesem Thema zu widmen. Es darf nicht in Vergessenheit geraten. Quellen: „Understanding and responding to pharmaceutical promotion – A practical guide“ World Health Organisation und Health Action Initiative 2010 „Medizin: Seelsorge der Industrie“ SPIEGEL 20/11 Buch: „Die Pharma-Lüge“ Ben Goldacre, Kiwi-Verlag, 1. Auflage, 2013 www.ted.com/talks/ben_goldacre_what_doctors_ don_t_know_about_the_drugs_they_prescribe Newsletter „All trials registred, Alltrials reported“, www.alltrials.net


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Inklusive Gesundheitsversorgung

Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten Der schwierige Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen mit Behinderung in Kambodscha

B

is ich mein Praktikum bei der GIZ in Phnom Penh antrat, war Kambodscha für mich auch nur ein Land zwischen Pathos und Exotismus, angesiedelt in dem Teil der Erde, dem wir oft ungefragt unsere sogenannte Hilfe zukommen lassen. Meine Motivation war klar egoistisch und meine Erwartungen groß. Kambodscha war verständlicherweise nicht beeindruckt und öffnete sogleich eine Büchse der Pandora an neuen Erfahrungen. Same same, but different.

Kleine Landeskunde Kambodscha Im Nachhinein habe ich das Gefühl, ich wusste von Kambodscha nichts. Ich wusste nicht, wie Armut aussah, ich hatte keine Ahnung, was das auch für mich als Touristin bedeutet. Man kann es amoralisch finden, aber jemanden, der ganz klar mit einem ganz anderen Set an Privilegien auf die Welt kam, auszunutzen und übers Ohr zu legen, ist eben die Art von Niedriglohnsektor für ungelernte Arbeitskräfte, der sich unter den gegebenen Umständen ausbildet. Ich war überrascht, dass man fast überall mit US-Dollar bezahlen konnte und wie wenig die einheimische Währung zählte. Auch das ist nur eine Anpassung an das gegebene Klima aus Entwicklungshilfeagenturen und Abhängigkeit von Spendengeldern, das auch darauf zurückgeht, dass die UN unter Federführung der USA nach dem Bürgerkrieg in Kambodscha einen als beispiellos geltenden Demokratisierungsprozess gestartet haben. Ich war entsetzt davon, wie schön sich ein Spaziergang unter Palmen anfühlen kann, wenn man nicht gerade über Knochen Antonia Neuberger stolpert und realisiert, Medizinstudentin dass dieser bezaubernde aus Mainz Ort einst als Massengrab antonia.neuberger@ diente.. Die Herrschaft der web.de ­ Khmer-Rogue, einer kommunistische Gruppierung, die die Rückkehr zum vorindustriellen Zeit­ alter erzwingen wollte und einen Großteil der eigenen Bevölkerung folterte und ermordete (Schätzungen bewegen sich im Bereich von 1,7–2,2 Mio. Menschen, knapp

ein Viertel der damaligen Einwohnerzahl), hat die Bevölkerung Kambodschas, immerhin knapp 16 Millionen Menschen1, nachhaltig traumatisiert. Insbesondere problematisch war der Kampf gegen intellektuelle Bevölkerungsschichten und „Verräter“ gegen die Organisation (ankha) der Khmer Rogue und die Zerstörung wirtschaftlicher und sozialer Strukturen. Das alles sind nur einzelne Fäden eines Teppichs, sowie auch Menschen mit Behinderungen Fäden im gesellschaftlichen Gewebe und der rote Faden dieses Artikels sind.

Menschen mit Behinderung in Kambodscha Die Prävalenz von Behinderung wird laut der Cambodia Socio-Economic Survey 2004 auf ungefähr 5% geschätzt, während die letzte nationale Erhebung von 2014 von ungefähr 10% spricht, wobei hier der Grad der Beeinträchtigung aus den Daten nicht ersichtlich ist (ungefähr 2% der befragten

Bevölkerung wurden als schwer behindert eingestuft)2,3. Diese Daten erscheinen im Lichte anderer Erhebungen (die WHO schätzt global die nationale Prävalenz von Behinderungen bei 10-15%)4 als zu gering. Dafür kann es verschiedene Gründe geben. Zum einen gibt es keine einheitliche Definition darüber, was eine Behinderung oder Beeinträchtigung ist. Die erhobenen Daten beruhen auf Selbstauskünften der kambodschanischen Bevölkerung, innerhalb derer das Verständnis, was eine Behinderung überhaupt konstituiert, gering ist. Staatliche Erfassungssysteme oder einheitliche Testungen auf Behinderung existieren nur rudimentär oder gar nicht. Auch entstehen viele Behinderungen (zum Beispiel im Rahmen von Infektionen) durch zu späte Hilfe oder werden durch unzureichende Versorgung verschlimmert. Insbesondere fehlt es an der weiterführenden Betreuung nach festgestellter Diagnose – Betreuungsprogramme, Bildungseinrichtungen, Unterstützungsprogramme für die betroffenen Familien, es fehlt an speziell auf die Bedürfnisse der PWDs (person with disabilities) zugeschnittenen Hilfsmitteln (wie z.B. Brillen, Rollstühle) und Versorgungsstrukturen (wie z.B. passende gesundheitliche Betreuung.).5,6 Hinzu kommt das soziale Stigma: Nach buddhistischem Glauben kann Behinderung durch eine schlechte Lebensführung in einem früheren Leben, als Strafe für vergangene Sünden oder einen schlechten


Inklusive Gesundheitsversorgung

Charakter verursacht werden. Zudem ist die kambodschanische Gesellschaft sehr hierarchisch (nach Alter und Geschlecht) strukturiert, wobei PWDs immer schlechter gestellt sind als ihre körperlich uneingeschränkten Altersgenossen. Sie können nicht zum Lebensunterhalt der Familie beitragen, sondern sind auf die Wohltätigkeit von anderen angewiesen, die dadurch gutes Karma erhalten. Dies verknüpft Behinderung in den Köpfen vieler mit Armut und Leiden. Darüber hinaus führt ihre Unfähigkeit, an einem von körperlicher Erwerbstätigkeit geprägten Wirtschaftssystem teilzunehmen zum Streit innerhalb der Familie, zum sozialen Ausschluss und geringem Selbstwertgefühl.

Aufbau des Gesundheitssys­ tems in Kambodscha Im Gegensatz zu Deutschland gibt es in Kambodscha kein flächendeckendes Versicherungssystem, vielmehr einen Flickenteppich aus Kostenfinanzierungssystemen, verschiedenen Trägern, staatlichen und privaten Einrichtungen. Auch wenn das kambodschanische Gesundheitssystem dem verwöhnten Deutschen archaisch, primitiv und schlecht funktionierend vorkommen muss, sollte man dabei immer bedenken, dass der Aufbau eines modernen Gesundheitssystems erst in den 90er-Jahren begann und zwar auf dem Boden der durch Bürgerkrieg und das Terror-Regime der Khmer Rouge völlig zerstörten Strukturen (1979 befanden sich weniger als 50 Ärzte in dem Land, von vormals 600).7 1993 begann die WHO das Gesundheitssystem in Kambodscha zu revitalisieren und zu stärken, sowie Kapazitäten innerhalb des Gesundheitsministeriums aufzubauen. Dazu wurde ein zweigleisiges System aus Anlaufstellen für die Primärversorgung ­(„health centers“) und die Sekundär- und Tertiärversorgung (referral hospitals, ­provincial hospitals and national institutions) entworfen. Eines der zentralen Probleme des Gesundheitssystems in Kambodscha ist sicherlich die Zweiteilung des Versorgungssystems in einen privaten und öffentlichen Sektor. Wie in vielen anderen LMIC (low and middle-income countries) auch ist es in Kambodscha üblich, Gesundheitsaus­ gaben aus eigener Tasche zu bezahlen (outof-pocket payment), in Form sogenannter user fees oder auch als informelle Zahlungen an das Gesundheitspersonal. Die user

fees sind in den staatlichen Strukturen oft niedriger als in den privaten, trotzdem bevorzugen viele Kambodschaner Letztere. Das kann unterschiedliche Gründe haben – Qualität, Erreichbarkeit, soziale Bindung und Misstrauen gegenüber dem staatlichen Gesundheitspersonal und –strukturen sind nur einige davon. Das Problem bei einem solchen Gesundheitsverhalten ist jedoch, dass jeglicher Kontrollmechanismus fehlt. Eine Maßnahme damit umzugehen ist sicherlich die Qualitätssicherung und Nachhaltigkeit im staatlichen Gesundheitswesen zu fördern. Noch fließt dafür zu wenig Geld und es gibt in Kambodscha eine sehr restriktive Kultur der überlaufenden Komitees und Subkomitees, der Korruption und Intransparenz zwischen den beteiligten Parteien, auch weil das kambodschanische Gesundheitssystem noch sehr von ausländischer Hilfe abhängig ist. Doch es besteht auch eine Chance darin, dass das Gesundheitssystem in der politischen Prioritätensetzung nur eine Randrolle spielt: Als wenig ertragreicher Sektor lässt es relativ gesehen mehr Spielraum für evidenzbasierte Maßnahmen und wird auch gerne als popularitätsgenerierendes Instrument von der regierenden Partei genutzt.

Eine weitere wichtige Maßnahme ist die Stärkung sozialer Sicherungsmaßnahmen im Hinblick auf Gesundheit. Ein Großteil der kambodschanischen Bevölkerung verlässt sich auf Subsistenzwirtschaft und ist deshalb insbesondere in Zeiten gesundheitlicher Krisen vulnerabel – entweder weil es sich die Gesundheitsausgaben gar nicht leisten kann oder wegen derselben verarmt. In Kambodscha gibt es momentan drei verschiedene Systeme, die finanzielle Barrieren beim Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem abbauen sollen. Das am weitesten verbreitetste ist der Health Equity Fund (HEF), der teilweise oder ganz die Gesundheitskosten von armen Menschen deckt (übernommen werden user fees und der Transport vom health center zum referral hospital). Auch wenn dies sicherlich dabei geholfen hat, den Zugang zur Gesundheitsversorgung für arme Menschen zu erleichtern, ergeben sich doch immer noch Probleme durch die fragmentierte Finanzierung und die große Zahl an mit dem Management des HEF betrauten lokalen NGOs. Eine weitere Möglichkeit, die oft auch unterstützend eingesetzt wird, ist die Ausgabe von Gutscheinen und der Aufbau von Community-Based Health Insurances, die jedoch beide noch nicht sehr weit verbreitet sind.

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Inklusive Gesundheitsversorgung

Zugang zum Gesundheits­ system für PWDs Die Barrieren, die PWDs den Zugang zum Gesundheitssystem erschweren, lassen sich nach Bigdeli und Annear (2009)8 wie folgt einteilen: Finanziell Laut der Studie von Kleinitz et al. (2012) sind die direkten und indirekten Kosten, die im Zusammenhang mit dem Besuch von Gesundheitseinrichtungen stehen, die größte Barriere.5 Direkte Kosten beziehen sich auf Medikamente und die Kosten der Behandlung, während indirekte Kosten unter anderem den Transport zur Einrichtung, Kosten für Verpflegung und den Verlust von Einkommen meinen. Auch kann die Qualität der Versorgung von der Fähigkeit der Bezahlung informeller Gebühren abhängen, was PWDs aufgrund ihres oft geringeren sozioökonomischen Status zusätzlich diskriminiert. Physisch Die Entfernung zur Gesundheitseinrichtung, der Transport dorthin, oft unzuverlässige oder zu kurze Öffnungszeiten und lange Wartezeiten sind ebenfalls Barrieren, nicht nur für Menschen mit Behinderungen. Für diese kommt oft erschwerend hinzu, dass es keine zuverlässigen, zugänglichen Verkehrsmittel gibt. Der Großteil der Bevölkerung ist auf Mopeds unterwegs, und auch wenn diese zum Teil ganze Familien transportieren können, sind sie doch für z.B. Menschen im Rollstuhl nicht ausgelegt. Dazu kommt, dass für den zusätzlichen Platz im Bus etc. oft auch mehr bezahlt werden muss. Nicht zuletzt fehlen vor Ort zum Beispiel oft Informationstafeln, Rampen, Behindertentoiletten oder andere nötige Zugangserleichterungen. Soziokulturell Wie oben schon angesprochen werden PWDs in vielerlei sozialen Situationen und kulturell bedingt diskriminiert. Dies zeigt sich auch in ihrem Verhalten gegenüber dem Gesundheitspersonal: Sie stellen weniger Ansprüche, fühlen sich minderwertiger und sind ängstlicher in Bezug auf die Einforderung von ihnen zustehenden Leistungen und Rechten. Auf der anderen Seite ist das Verständnis für die besonderen Bedürfnisse von PWDs beim Gesundheitspersonal oft gering ausgeprägt und das Verhalten ihnen gegenüber ist diskriminierend.

Qualität der Versorgung Dies war in der Studie von Kleinitz et al. die zweitwichtigste Barriere beim Zugang zur Gesundheitseinrichtung. Dazu zählen die oft gleichgültige bis lieblose Einstellung des Gesundheitspersonals, fehlendes Spezialwissen und Fähigkeiten in Bezug auf die Bedürfnisse der PWDs, sowie der Mangel an geeigneten Medikamenten.5 Oft hängt die Qualität der Versorgung direkt mit der Fähigkeit zur Bezahlung zusammen und es besteht ein geringes Verständnis des Ethos des Heilberufes in Bezug auf die Qualität und Angemessenheit der Versorgung, die Menschen mit Behinderungen zuteilwird. Erschwerend zu dem oft nicht vorhandenen oder mangelnden Fachwissen des Gesundheitspersonals auf lokaler, aber auch höherer Ebene (ausreichende Strukturen sind oft erst auf nationaler Ebene vorhanden, deren Einrichtungen sich in Phnom Penh befinden), kommt hinzu, dass die Überweisungsstrukturen gering ausgeprägt oder gar nicht vorhanden sind. Dies hat insbesondere bei Kindern schwerwiegende Auswirkungen auf die Entwicklung, den Eigenständigkeitsgrad und das gesamte spätere Leben. Anwenderkentnisse (user knowledge) Die oftmals stattfindende soziale Isolierung von PWDs hat weitreichende Auswirkungen auf das Wissen über ihre Gesundheit und ihre Rechte. So wurde in der Studie von Kleinitz et al. berichtet, dass PWDs oft Informationsveranstaltungen zum Thema ­ Gesundheit in ihrem Dorf nicht besuchten und von Unterstützungsmöglichkeiten wenig oder nichts wussten. Die Unsicherheit in Bezug auf die tatsächlichen Kosten oder auch die Lokalisation ihren Bedürfnissen entsprechender Services stellt ein nicht zu unterschätzendes Hindernis für viele PWDs dar.

Die Probleme von Menschen mit Behinderung in Kambodscha sind vielfältig und verwoben. Um aus diesem labyrinthartigen Spinnennetz zu entkommen, bedarf es noch vieler kleiner Schritte in dem Balanceakt, der gesellschaftliche und politische Veränderung in Kambodscha bedeuten kann, die nicht zuletzt vor allem von den Menschen vor Ort getragen werden sollte. Ich bin bewusst nicht auf die Einflussnahme von Entwicklungshilfeagenturen, auch der GIZ, eingegangen, da ich nicht das Gefühl habe, in dieser Hinsicht neutral urteilen zu können. Dennoch: Kritisches Hinterfragen von Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklungshilfestrukturen im Kontext von Kolonialismus und strukturellem Rassismus hat noch niemandem geschadet. Vor allem nicht, wenn man in diesem Bereich aktiv werden möchte.

Quellen: World Bank, Cambodia (Länderseite)

1

„Health, vulnerability and poverty in Cambodia. Analysis of the 2004 Cambodia Socio-Economic Survey.“ (2005) – Knowles, J.C., World Bank

2

„Cambodia – Demographic and Health Survey“ (2014) – National Institute of Statistics (NIS) – ­Ministry of Planning, Royal Government of Cambodia and Directorate General for Health (DGH) – ­Ministry of Health, Royal Government of Cambodia

3

„World Report on Disability“ (2011), WHO, Geneva

4

„A population-based study on the prevalence of­ ­impairment and disability among young Cambodian children“ (2014) – Evans et al.

5

„Barriers and facilitators of Health services for ­People with disabilities in Cambodia“ (2012) – ­Kleinitz et al.

6

„Barriers to Access and the purchasing function of health equity funds: Lessons from Cambodia“ (2009) – Bigdeli/Annear, Bulletin of the WHO

7

„Cambodia – Health Sector Induction Pack“

8

Ein kurzes Wort zur Gender-Frage. Sprache ist mächtig - der alltägliche Mix aus Tradition und Bequemlichkeit im Sprachgebrauch zementiert alte Wertvorstellungen und unbewusste Stereotypen. Das generische Maskulinum beispielsweise stört die gleichberechtigte Wahrnehmung der Geschlechter nachgewiesenermaßen. Aber: Wie soll geschlechtliche Gleichstellung in der Sprache konkret umgesetzt werden? Darüber herrscht nach wie vor Dissens. Wir als amatom-Redaktion beanspruchen nicht, in dieser Frage DIE eine, richtige Antwort zu kennen. Ganz abgesehen von all denjenigen Bereichen, in denen Sprache ganz unabhängig von Gender-Aspekten diskriminierend ist. Unser Fazit für die Texte im amatom ist deshalb: REGELN zum Gendern können nicht die passende Antwort auf ein so komplexes und formbares Konstrukt wie Sprache sein. Was wir uns wünschen, ist ein Diskurs - kontrovers, kreativ und leidenschaftlich! Und einen bewussten, sensiblen Gebrauch von Sprache durch unsere - nun ja: Autor*innen…


Famulieren & engagieren

Famulieren & engagieren 2016 f&e – famulieren und engagieren ist ein Austauschprogramm für IPPNW-Studierende. In Gastländern wie z.B. Nepal, Bosnien, Türkei oder Israel werden Famulatur und Engagement in einem friedens- oder sozialpolitischen Projekt kombiniert. Vor allem zählen die Begegnungen mit Menschen – in einem fremden Gesundheitssystem, mit einer anderen Geschichte, mit einem entgegengesetzten – oder auch gleichgesinnten – Wertekosmos. Einige f&e-ler*innen aus diesem Jahr haben ihre Gedanken und Eindrücke festgehalten. Eine Hommage an das, was f&e ist und was es mit uns macht: Verwirrung stiften. Gedanken anstoßen. Euphorie entfachen. Und lange nachwirken…aber seht selbst! Bewerbungen und mehr Infos unter: www.studis.ippnw.de/famulieren-engagieren

Japan

In meinen zwei Monaten in Japan bin ich vielen lieben Menschen begegnet: Beim International Peace Course, in der Famulatur und beim Rumreisen habe ich mich auch mit vielen Menschen aus der Friedensbewegung getroffen. Besonders beeindruckt hat mich ein Arzt, Dr. Eisuke Matsui, der in der Friedensbewegung aktiv ist und Strontium in Milchzähnen von Kindern um Fukushima testet. Er ist schon 80 Jahre alt, aber engagiert sich sehr für den Frieden und gegen die Fukushima-Politik von Abe. Ich war mit ihm bei einem Kongress gegen die Militärbasen auf Okinawa, wo er auch einen Vortrag gehalten hat. Ich habe bei ihm übernachtet und er und seine Frau haben mir das Haus mit kleiner Praxis und die schöne Natur in der Umgebung gezeigt. Sie haben mir noch einen privaten Vortrag über die Situation um Fukushima und die Strahlenbelastung bei äußerer und innerer Verstrahlung gezeigt. Die Blume, die er in der Hand hält, ist eine Blume, an der man die Mutationen durch Radioaktivität untersucht hat. Wie in diesem Haushalt bin ich in Japan immer mit offenen Armen empfangen worden. Es war eine sehr gute Erfahrung Japan von einer anderen Seite kennenzulernen als eine normale Touristin. Paula (Name von Redaktion geändert)

Rumänien

In Cluj (Rumänien) stiegen zwei deutsch-rumänische Mädchen in den Zug. Als wir uns über die Gründe unserer Zugfahrt unterhielten, wurde mein Reiseziel bald zum Gesprächsthema des ganzen Wagons (die beiden übersetzten flink). Hosman, ein Dorf, das eine halbe Stunde von Sibiu entfernt gelegen ist (dort musste ich aussteigen), war den mit mir aussteigenden „Sibiuern“ unbekannt. Meine (unbegründeten) Sorgen, ob ich am Bahnhof wirklich abgeholt werden würde und ob ich anschließend in irgendeiner Straße in irgendeinem Haus von irgendwem an diesem Abend erwartet werden würde, wurden dadurch nicht gerade weniger. In der Bahnhofshalle wartete schließlich T. mit einem Schild „elija“ (Name des Projekts, in dem ich gearbeitet habe) auf mich. Auch nachdem er mich begrüßt hatte, fragte mich eine jüngere Frau aus dem Zug, ob ich nicht lieber bei ihr übernachten möchte, es würde ja bald dunkel werden und keiner kenne Hosman... Ich versicherte dass alles in Ordnung sei, wäre aber wirklich lieber mit ihr mitgegangen. T., zurecht verwundert, zeigte Richtung Auto, nahm mir mein Gepäck ab und wir fuhren los. Die wenigen rumänischen Wörter, die ich mir auf der Fahrt versucht hatte zu merken, reichten bei weitem nicht für eine Unterhaltung. Deshalb zeigte T. immer wieder in die Landschaft und brachte mir Wörter wie „Hund“, „Straße“, „Schafe“ bei. Während der vier Wo-

chen in Hosman habe ich T. genau so erlebt: Anstatt langer (unnötiger) Konversationen hat er die „Baustelle“ bearbeitet, erkannt wo und was getan werden kann oder muss. Es kam mir so vor, dass T. (der mit seiner Familie im Dorf wohnt) morgens als erstes anfing zu arbeiten und abends als letzter aufhörte. Als eines Abends ein kleines Feuer in der Werkstatt ausbrach und T.‘s Arbeitszimmer völlig zerstörte, fing er noch in der Nacht an, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Als ich am nächsten Tag durch die Werkstatt zum Mittagessen ging, war das Arbeitszimmer komplett geräumt, vom Ruß befreit und die Wände waren zum Teil bereits neu gestrichen... Es hat mich beeindruckt, dass ein Mensch, der so eine unerlässliche Stütze im Projekt ist, so bescheiden und still ist und dennoch von allen als erster Anlaufpunkt für viele kleine Probleme wahrgenommen wird. Anna-Lena

Nepal Während meines Aufenthaltes in Nepal habe ich über meinen nepalesischen Freund Dipesh eine Dänin – Dorte – kennengelernt, die mich in vielerlei Hinsicht beeindruckt hat. Dorte ist über 70 Jahre alt und selten habe ich eine so fitte und lebensfrohe Frau in diesem Alter kenngelernt. Dorte hat mehrere Projekte in abgelegenen Dörfern in Nepal aufgebaut. Beispielsweise hat sie mit Hilfe von Spendengeldern, die sie in Däne-

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Famulieren & engagieren

mark gesammelt hat, für jeden Haushalt ein Toilettenhäuschen gebaut. Darüber hinaus vergibt sie Schulstipendien für mittellose Kinder. Laut Dipesh habe sich das Leben in den letzten Jahren im Dorf deutlich verbessert. Allerdings habe ich während der Tage, die ich dort gelebt habe, auch die negativen Aspekte von sozialem Engagement mitbekommen – welche Schwierigkeiten für Volunteers auftreten können und wie frustrierend diese Arbeit sein kann. In der Regel ändert sich nichts auf Knopfdruck und Veränderungen brauchen Zeit, Geduld und Geld. Nicht jeder nimmt die angebotene Hilfe an und das gespendete Geld wird leider auch in manchen Fällen für andere Zwecke genutzt. Große Probleme hatte ich unter anderem mit der Situation, als eine Dorfbewohnerin auf Dipesh zukam und sich darüber beschwerte, dass andere NGO’s „ganze Häuser“ für ein anderes Dorf bauen würden und in diesen Dörfern Bewohnern mehr Geld zur Verfügung gestellt wird. Für mich als Außenstehende ist es weiterhin schwierig zu verstehen, wie sich manche Leute darüber beschweren und um mehr Geld betteln können, obwohl andere Menschen, in diesem Fall Dipesh und Dorte, ihr Bestes geben, um ihnen zu helfen. Ich finde es bewundernswert, dass sie trotz all dieser Schwierigkeiten nicht aufgeben und weitermachen. Neben ihrem sozialen Engagement ist Dorte auch sonst eine inspirierende Persönlichkeit. Sie strahlt eine enorme Lebenskraft aus, die sehr ansteckend auf ihre Umgebung wirkt. In Nepal zu wohnen ist nicht immer einfach und man muss häufig auf den gewohnten europäischen Komfort verzichten (vor allem in den kleineren Dörfern auf dem Land). Dies zu tun, um anderen Menschen helfen zu können, ist insbesondere im hohen Alter eine bewundernswerte selbstlose Eigenschaft. Seit diesem Jahr hat Dorte gemeinsam mit einem nepalesischen Pärchen ein Restaurant in Kathmandu eröffnet, das inzwischen auch gut besucht wird. Als ich sie getroffen habe, kam sie gerade nach einigen Monaten zurück nach Nepal und hatte viele neue Ideen für das „Dorfprojekt“ und wie man „das Restaurant“ noch ansprechender und „hipper“ machen könnte. Es war zu sehen wie zufriedenstellend es ist, etwas aufzubauen und den Fortschritt und Erfolg zu sehen. Ich finde es inspirierend, dass man sich auch noch im hohen Alter eine neue Lebensaufgabe sucht und – in ihrem Fall – erfolgreich gefunden hat. Marlene

Kenia

Von Mitte August bis Mitte Oktober war ich in Kenia im Rahmen des f&e Projekts. Meine Famulatur habe ich auf der gynäkologischen Station des staatlichen Krankenhauses in Kilifi absolviert. Die Stadt Kilifi liegt direkt an der Küste, nördlich von Mombasa. Ich hatte Glück und konnte bei einer der Ärztinnen unterkommen, die mir oft geholfen hat, das kenianische Krankensystem zu verstehen und mit der Bürokratie zurechtzukommen. Neben mir waren auch noch einige kenianische Famulanten dort, mit denen ich auch öfter außerhalb des Krankenhauses etwas unternommen habe. Diese Nähe zu den Kenianern hat meinen Aufenthalt sehr bereichert. Nach meiner Famulatur in Kilifi bin ich dann ganz in den Norden von Kenia nach Kakuma ins Missions-Krankenhaus gefahren, was ganz anders war als die Situation in Kilifi. Kakuma beherbergt eines der größten Flüchtlingslager der Welt und trotzdem war das Krankenhaus oft sehr leer, da die Behandlungen so teuer sind, dass viele es sich kaum leisten können. Zudem ist das Röntgengerät defekt, das Labor kann gerade keine Blutbilder machen und die Tuberkulosemedikamente sind seit 2 Monaten nicht geliefert worden. Die Mittel, mit denen hier gearbeitet wird, sind also begrenzt, aber dennoch leisten hier alle jeden Tag ihr Bestes. Da Kakuma in einer wüstenähnlichen Region liegt, können es schon mal deutlich über 40 Grad werden und auch in der Nacht nimmt die Temperatur nur wenig ab. Ich habe hier oft fast 5 Liter Wasser am Tag getrunken. Die andere Hälfte meines sozialen Projekts habe ich im Gender Based Violence Project des Kenyatta National Hospitals in Nairobi absolviert. Nach dem heißen und kargen Kakuma war das fast kalte und hektische Nairobi ein kleiner Schock, aber auch mit all seinen Angeboten ein toller Ausgleich.

Ich habe hier viel die Sozialarbeiter des Projekts bei Schulungen oder Patientengesprächen begleitet. Die Lebensgeschichten sind oft sehr bewegend, und ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich das allgemeine Akzeptieren der Ungerechtigkeiten nicht verstehen kann. Ich sehne mich nach dieser Zeit vor a­ llem nach einer ordentlichen Dusche und freue mich, dass ich in Deutschland nicht jeden Tag Heiratsanträge bekomme, die die Männer oft sehr offensiv und ehrgeizig verfolgen, was für mich manchmal sehr unangenehm war. Eva

Serbien »Belgrade does not like having its picture taken. It hates to pose. It will not keep still. It does not do well in photographs – it always looks like some place else […] There are few things in Belgrade that I have not seen elsewhere. Perhaps only three: its rivers, its sky and its people. Of these three ancient elements the unique spirit of Belgrade is born.« Momo Kapor – A Guide to the Serbian Mentality Mir fällt es nicht schwer, den Worten von Momo Kapor, einem serbischen Schriftsteller, zuzustimmen. Und insbesondere mit den Menschen hat er Recht behalten. So waren es in den zwei Monaten in Belgrad vor allem die Begegnungen mit den verschiedensten Menschen im Alltag, die mich beeindruckt haben, vielmehr noch als die Begegnung mit einer einzelnen Person. Eines hatten sie dabei alle gemeinsam: Sie waren von einer unglaublichen Herzlichkeit, Offenheit und Gastfreundschaft geprägt. Begonnen beim Neurologie Professor im Krankenhaus in Serbien, eine absolute Koryphäe auf seinem Gebiet, der für mich die Morgenbesprechung auf Englisch hielt. Ein Ranger im Nationalpark, der es sich nicht nehmen ließ, mich während meiner Wanderung ein Stückchen mit dem Auto mitzuneh-


Famulieren & engagieren

men und anschließend zu Essen und Rakija einzuladen. Serbinnen und Serben, die ich während meiner Arbeit im Refugee Aid Center traf, die sich in ihrer Freizeit, nach der Arbeit oder in den Semesterferien, in der Flüchtlingshilfe engagieren. Studierende aus der IPPNW-Gruppe in Belgrad, die mir mehr als einmal bei Kaffee oder Popcorn ihre Stadt zeigten, meinen Blickwinkel veränderten und mich die Politik und Geschichte des Landes besser verstehen ließen. Flüchtlinge, die mir, obwohl sie oft selbst nur ein Paar Schuhe besaßen, mir ebendiese an einem Regentag anboten, nachdem sie gesehen hatten, dass ich in Flip Flops unterwegs war. Oder auch die Familie einer Freundin, die mich, wenngleich sich die Kommunikation auf Englisch ein wenig schwierig gestaltete, für ein Wochenende als Gast in ihrem Haus willkommen hieß. Momente, die meine Zeit in Serbien so unvergesslich machen und an die ich mich gerne erinnere, jetzt, wo der Alltag in Deutschland so langsam schon wieder Einzug gehalten hat. Lea

Palästina Eine meiner besonderen Begegnungen in Bethlehem war die, mit einer Krankenschwester, die in der Notaufnahme im öffentlichen Al Hussein Krankenhaus arbeitet. Temperamentvoll, laut und selbstbewusst wuselt sie durch die Flure, legt Zugänge, nimmt Blut ab und futtert ihren Lunch zwischen Tür und Angel. Direkt am ersten Tag lädt sie mich zu sich nach Hause ein. Dankend nehm ich die Einladung an und lasse mich in ein kleines abgelegenes wunderschönes Dorf fahren, Battir. Zu Hause begegnen mir ihre fünf Töchter. Die Familie ist muslimisch, aber wie ihre Mutter trägt keine der Frauen oder Mädchen eine Hijab, ein Kopftuch. Als die älteste Tochter aber die Wohnung mit ihrem Mann verlässt ,sehe ich noch, wie sie ihr Kopftuch anzieht. Das erstaunt mich, da ihre Mutter ja keines trägt und auch der Vater nicht den Eindruck

machte, als erwarte er das. Ich frage mich, ob sie das aus religiöser oder gesellschaftlicher Motivation tut. Die kleine Tochter der Ältesten ist vielleicht drei Jahre alt und fragt mich, wie ich heiße. Dann fragt sie mich, wie mein Vater heißt und wie meine Mutter heißt. Das ist sehr üblich dort, um zu erfahren von welcher Familie man kommt. Der Familienname sagt in Palästina viel über einen Menschen aus, zum Beispiel ob man christlichen oder muslimischen Ursprungs ist. Religiöse Identität wird sehr groß geschrieben dort. Zwei der Töchter haben angefangen zu kochen, während wir anderen Saft und Eis verzehren und ich meine Arabischkenntnisse ausweite, die jungen Mädchen nutzen die Gelegenheit und bringen ihr Schulenglisch auf den Tisch. Dann gibt es Maklouba, Reis mit Fleisch und gebratenemen Gemüse. Köstlich. Später spaziere ich noch mit den Mädels durch Battir. Als mich die nette Krankenschwester nach Hause fährt, schauen wir noch kurz bei einer Hochzeit vorbei, eine muslimische. Wir zwei sind fast die einzigen, die kein Kopftuch tragen, in dem großen Saal voller Frauen. Ich werde der Braut vorgestellt und liefere noch einen Tanz mit ihr ab, bevor wir gehen. Am Ende des Tages bin ich mal wieder überwältigt von der Offenheit, Gastfreundschaft und Liebe, die mir von Menschen begegnet wird, die ich zum ersten Mal sehe. Anna

Israel Soweit ich zurück denken kann, ist es unmöglich, die Worte „Israel“ oder „Palästina“ zu hören und dabei nicht unmittelbar an die Worte „Konflikt“, „Besatzung“ oder „Eskalation“ zu denken. Ich verbrachte diesen Sommer zwei unvergessliche Monate in meinem Projektland Israel, in Tel Aviv. Hier durfte ich eine unglaubliche Offenheit und zwischenmenschliche Wärme erfahren, wodurch sehr persönliche Kontakte entstanden sind und ich neue Freunde gefunden habe.

Im Anschluss an diesen Aufenthalt schloss ich mich der „Israel/Palästina-Begegnungsreise“ der IPPNW an, die uns für eine Woche in die Westbank führte und uns durch zahlreiche Treffen mit sehr mutigen palästinensischen Menschenrechtsorganisationen die Dimension der systematischen Unterdrückung der palästinensischen Zivilbevölkerung durch die israelische Besatzung erahnen ließ. Für mich war es schwierig dieses Bild von Israel mit dem überein zu bringen, das ich in meiner Zeit in Israel entwickelt habe. Ich hatte mit Ambivalenz gerechnet, jedoch war ich von ihrer emotionalen Wucht überwältigt. Nun soll es in diesem Artikel nicht um mich gehen, meine Person dient lediglich als Modell, die Polarisierung dieses Konfliktes zu veranschaulichen, der sich niemand, auch nicht als vermeintlich Neutraler, entziehen kann. In meiner Zeit in Israel und Palästina durfte ich die Organisation des „parents circle“ kennen lernen, zum einen über die Dokumentation „Within The Eye Of The Storm“ als – zu meiner Freude – auch persönlich mit der IPPNW in Bethlehem. Dies ist ein Zusammenschluss aus 600 israelischen und palästinensischen Familien, die das unmenschliche Leid teilen, ihr Kind in diesem Konflikt verloren zu haben und die gemeinsam eine Stimme bilden, die eine Beilegung des Konfliktes bzw. Frieden fordert. Ich denke, es ist uns kaum möglich, sich das Leid vorzustellen, das hervorgerufen wird, wenn ein solcher Konflikt das Leben des eigenen Kindes fordert. Aber ich weiß mit Sicherheit, dass es eine unglaubliche persönliche Stärke und einen tiefen, unerschütterlichen Glauben an den Menschen erfordert, sich in einem solchen Moment mit Menschen der anderen Seite des Konfliktes zu verbünden, mit Menschen, deren Volksmänner doch vermeintlich die Schuld am Tod des eigenen Kindes tragen. Entgegen der stetig zunehmenden Polarisierung des Konfliktes und der wachsenden Überzeugung der Bevölkerung in beiden Ländern, dass dieser Konflikt kaum zu lösen ist, verkörpert diese Organisation ein Beispiel, dass die scheinbar unüberbrückbare Mauer, die der Verlust des eigenen Kindes aufbaut, doch überbrückbar ist und eine Verbrüderung zwischen Palästinensern und Israelis möglich ist. Diesen Menschen gegenüber empfinde ich eine tiefe Hochachtung.

Mareike

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IPPNW bundesweit

Aktivitäten der IPPNW-Studigruppen Spanien, Serbien, Schweiz, Israel/Palästina, Ukraine – in all diesen Ländern waren deutsche Studis dieses Jahr unterwegs. Sie fuhren auf Konferenzen, zum europäischen Studierendentreffen oder auf Begegnungsreise. Dazu kommen noch zahlreiche weitere Länder, die etwa 20 Studis im Rahmen des Projektes »famulieren+engagieren« näher kennen lernen konnten. Auch innerhalb Deutschlands gab es einige Reiseziele. In Berlin fand der Tschernobyl-Fukushima-Kongress anlässlich des 30. bzw. 5. Jahrestages der Atomkatastrophen statt. Viele Studis halfen vor Ort bei der Organisation und bereiteten eine Abschlussaktion mit den 300 Teilnehmern vor. Im Frühjahr trafen sich auf der »Nukipedia Spring Academy« von ICAN 20 Studierende unter dem Motto „ein Workshop-Wochenende, das dir hilft Atomwaffen loszuwerden“. Auch die jährliche Summer School, organisiert von der Charité und der IPPNW, fand wieder in Berlin statt.

Würzburg

31 Teilnehmer*innen aus zehn Ländern und fünf Kontinenten beschäftigten sich eine Woche lang mit dem Thema „Beyond Trauma – Political Violence, Refugees, Empowerment and Health“. Mönchengladbach war der Ort der diesjährigen Mitgliederversammlung, an deren Organisation vor allem die Düsseldorfer Studis beteiligt waren. Der Inhaltliche Schwerpunkt dieses Wochenendes lag bei dem Thema „Krieg als Fluchtursache“. Auch Büchel war das Ziel einiger Studis. Hier sind bis heute US-Atomwaffen stationiert. Die IPPNW beteiligte sich an den Protesten »20 Wochen gegen 20 Atombomben«. In den Regionalgruppen wurden wieder sehr unterschiedliche, vielfältige Schwerpunkte gelegt. Die Würzburger beispielsweise engagierten sich wieder für das Projekt »Bridges of Understanding« in dessen Rahmen Studierende verschiedener Balkanländer zum Dialog eingeladen werden. Die Düsseldorfer*innen beteiligten

sich an unterschiedlichen überregionalen Aktivitäten wie der Organisation der Mitgliederversammlung und den Protesten in Büchel. Bei den Hannoveranern spielten vor allem medizinethische Themen wie „Migration und Medizin“ und „Antiziganismus im Krankenhaus“ eine Rolle. Viele Gruppen beschäftigten sich mit den neuen Medical Peace Work-Fällen oder setzten sich für eine bessere medizinische Versorgung von Geflohenen ein – ganz aktiv vor Ort, aber auch durch Podiumsdiskussionen, Wahlfächer uvm. Im Jahr 2017 warten weitere spannende Reiseziele auf uns. Es wird wieder ein europäisches Studierendentreffen geben und darüber hinaus findet in York (UK) der IPPNW-Weltkongress statt. Seid herzlich eingeladen zu allen Aktionen, Konferenzen und überregionalen Projekten!

Lübeck

Claudia Böhm, September 2016

Düsseldorf

Regensburg

Leipzig

Hannover


Kontakt

Ansprechpartner*innen und Kontaktadressen IPPNW-Lokalgruppen an fast allen Unis

A

n vielen Unis gibt es lokale IPPNW-Studierenden­ gruppen. Wenn Du Interesse hast, wende Dich einfach an die Geschäftsstelle oder direkt an die entsprechende Ansprechpartner*in. Auch die Arbeitskreise der IPPNW freuen sich immer über studentische Mitarbeit.

Köln: Anna Schaupp anna.schaupp@posteo.de Leipzig: Lerato Arthur Maleka Lerato.arthur.maleka@@gmail.com Lübeck: Claudia Böhm, boehm@ippnw.de

IPPNW-Geschäftsstelle

Studierendengruppen

Mainz: Karla Kerber, karla@kerber-hd.de

Körtestr. 10, 10967 Berlin Tel: 030-698074-0 | Fax: 030-6938166 E-Mail: ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de

Aktuelle Kontakte auch unter: https://www.ippnw.de/der-verein/studierende.html oder über die Geschäftsstelle.

Regensburg: Sophie Flemmer ippnw.regensburg@gmx.de, www.regensburg.ippnw.de

Ansprechpartner für Studierende in der Geschäftsstelle ist Ewald Feige: Tel: 030-698074-11, feige@ippnw.de

Berlin: Kilian Runte runte@ippnw.de

Rostock: Johanna Matthews johanna.matthews@uni-rostock.de, ippnw-HRO@web.de

Zuständig für das Programm famulieren&engagieren ist Anne Jurema, jurema@ippnw Studierende im Vorstand der IPPNW Der Vorstand der IPPNW wird alle zwei ­Jahre vom höchsten Gremium unseres Vereins, der Mitgliederversammlung, gewählt. Ihm gehören acht Personen sowie der International Councillor an. Als StudentIn im Vorstand vertritt man/frau die Interessen der Studierenden, setzt sich ein für Studierendenarbeit und informiert die Studierenden in der IPPNW über das, was sich im Verein so alles bewegt. Diese Aufgabe übernimmt derzeit Frederik Holz: 0163/7930164, holz@ippnw.de Studierendensprecher*innen der IPPNW Jedes Jahr werden im Wintersemester beim bundesweiten Studierendentreffen zwei Studierende gewählt, die die Funktion der Sprecher*innen übernehmen. Zur Zeit sind es Vincent Gaertner, ­gaertner@ippnw.de (bis November 2016) und Claudia Böhm, boehm@ippnw.de Aktuelle Infos unter: www.ippnw.de/der-verein/studierende.html Mailingliste: ippnw-studies@ippnw-lists.de Anmeldung unter https://listi.jpberlin.de/ mailman/listinfo/ippnw-studies oder per Email an feige@ippnw.de Facebook-Seite: https://www.facebook.com/ippnwstudies/ die internationale IPPNW-Studierendenhomepage: www.ippnw-students.org

Bochum: Martin Korte martin.korte@ruhr-uni-bochum.de Dresden: Franziska Pilz pilzfranzi@googlemail.de.de Düsseldorf: Max Arslan max.arslan@gmx.de , duesseldorf@ippnw.de

Tübingen: Angelina Gresser studigruppe-tuebingen@ippnw.de Würzburg: Simon Lopez simonlopez@gmx.de

Arbeitskreise

Duisburg/Essen: Raphael Seufert raphael.seufert@gmail.com

AK Atomenergie: Henrik Paulitz, paulitz@ippnw.de

Erlangen: Anna Maria Lehner Anna-Maria.Lehner@gmx.de

AK Flüchtlinge & Asyl: Anne Jurema, jurema@ippnw.de

Gießen: Ines Dudzic ines.dudzic@yahoo.de

AK ICAN: Dr. Inga Blum, ingablum@gmx.de

Göttingen: Lara Weibezahl L.Weibezahl@gmx.net

AK Medical Peace Work: Dr. Eva-Maria Schwienhorst-Stich eva.schwienhorst@googlemail.com

Hannover: Birte Vogel ippnw@mhh-asta.de Heidelberg/Mannheim: Katharina Wahedi katharinawahedi@googlemail.com Jena: Kara Wullenkord kara.wullenkord@posteo.de, ippnwjena@listserv.uni-jena.de

AK Medizin & Gewissen: Dr. Caroline Wolf medizinundgewissen@ippnw.de AK Süd-Nord: Hermann Schweiger Schweiger.feu@t-online.de

Der Amatom braucht Hilfe! Dir gefällt der Amatom? Du hast vielleicht eine Idee für einen spannenden Artikel, Spaß am Layouten, Editieren oder einfach Lust mitzuhelfen? Dann schreib eine E-Mail an feige@ippnw.de und sei beim nächsten Treffen mit dabei! Das Amatom-Team sucht immer Nachwuchs und freut sich über motivierte Neuzugänge – und keine Angst, falls du noch keine Erfahrung hast: dafür sind wir ein Team!

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IPPNW: Frieden durch Gesundheit

Medizinstudierende für Gerechtigkeit und Frieden in einer Welt ohne atomare Bedrohung Was ist die IPPNW? IPPNW steht für Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. In Deutschland heißt die IPPNW zudem „Ärzte in Sozialer Verantwortung“. Die IPPNW wurde 1980 zur Zeit des Kalten Krieges gegründet. Heute arbeitet sie in 80 Ländern für eine menschliche Medizin und eine friedliche Welt ohne atomare Bedrohung.

Was macht die IPPNW?

Die IPPNW • forscht: z. B. in Studien über die Gesundheitsfolgen von Uranmunition und ionisierender Strahlung • setzt sich für Benachteiligte ein: z. B. bei direkten Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern für eine gute Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen in Deutschland • klärt auf: zum Beispiel mit Info-Ständen und Publikationen über die Risiken von Atomwaffen und der Nuklearen Kette.

Anmeldung

Nur Atomkrieg und sonst nichts?

Ist die IPPNW eine Hilfsorganisation?

Nein, längst arbeitet die IPPNW zu vielen Themen wie Ethik in der Medizin, Global Health, Flüchtlingsfragen, medizinische Friedensarbeit oder Atomenergie. Die IPPNW hat mehrere bundesweite Arbeitskreise und veranstaltet Kongresse.

Nein, aber… die IPPNW arbeitet vor allem präventiv. So sollen Konflikte gar nicht erst entstehen. Durch die internationalen Kontakte der IPPNW entstehen aber oft konkrete Hilfsaktionen, wie die Kinderhilfe Irak.

Nur was für Ärzt*innen?

Alle Aktivitäten sind offen für Interessierte. Das Besondere: Die IPPNW gibt lokalen Gruppen sehr viele Freiheiten und volle Unterstützung bei den Aktivitäten.

Im Gegenteil! In Deutschland allein gibt es 1.000 studentische Vollmitglieder. Studierende arbeiten oft lokal in Studierendengruppen. Jedes Jahr finden ein bundesweites und ein europäisches Studierendentreffen statt.

Was kann ich machen?

Mehr Informationen? www.ippnw.de

Mit dem IPPNW-Programm famulieren & engagieren können Studierende weltweit in Partnerprojekten Erfahrungen sammeln und sich einbringen. bitte ausschneiden und einsenden oder faxen an die IPPNW 030–693 8166 Für Studierende kostet das im Jahr 32 Euro | Für Ärztinnen und Ärzte 120 Euro

Ja, ich werde Mitglied und unterstütze die Ziele der IPPNW.

Studierende Mitglieder erhalten das Magazin „IPPNWforum“ und den „amatom“ kostenlos. SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige / wir ermächtigen IPPNW e.V., Zahlungen von meinem (unserem) Konto mittels Lastschrift ­einzuziehen. Zugleich weise ich mein (weisen wir) unser Kreditinstitut an, die vom IPPNW e.V. auf mein (unser) Konto gezogenen Lastschriften ein­ zulösen. Hinweis: Ich kann (wir können) innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die ­Erstattung des belasteten Betrages ­verlangen. Es gelten dabei die mit ­meinem (unserem) Kreditinstitut ­vereinbarten Bedingungen.

Vorname und Name des/der KontoinhaberIn

E-Mail

Straße und Hausnummer Postleitzahl und Ort bei Kreditinstitut BIC IBAN Unterschrift

Gläubiger-Identifikationsnummer: DE16IPP00000010836 Mandatsreferenz: wird im Zuge der Bestätigung mitgeteilt

Vor dem ersten Einzug einer SEPA-Lastschrift wird mich (uns) der Verein IPPNW e.V. über den Einzug in dieser Verfahrensart unterrichten.


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