amatom27 – Zeitschrift von und für kritische Medizinstudierende

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amatom27 Herausgegeben von der IPPNW Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung | Ausgabe 2015 | Spende 1 Euro

ein Magazin von kritischen, jungen Medizinern

IPPNW

Medizin als Ware?

Privatisierung und der Zugang zu medizinischer Versorgung

Weitere Themen: Atommüll & Strahlung | TTIP | Drohnenkrieg | IPPNW-Bike Tour Kasachstan | Global Health Summer School | Bridges of Understanding | famulieren & engagieren und vieles mehr …


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Inhalt

Inhalt 1 Editorial 2 Auswirkungen und Nebenwirkungen

Acht Jahre nach der ersten Privatisierung einer Uniklinik in Deutschland

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Mit Geld zum Doktor

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¡Sí, se puede!

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Interessenkonflikte in der Medizin

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Vom Aussterben bedroht

Ein Medizinstudium an der privaten Uni? Wie Proteste Krankenhäuser retten können Ursachen, Einflussnahme und Lösungsmöglichkeiten Versorgungsrealität in der Hebammenhilfe

11 Ärztliche Aus- und Weiterbildung in Zeiten der DRG und Privatisierung 13 Schlechtere Versorgung für chronisch Kranke? Psychiatrie: Neues Entgeltsystem PEPP wird eingeführt

14 Neue Versorgungskonzepte zur Behandlung psychischer Störungen

Integrierte Psychiatrische Versorgung in Niedersachsen, Innovative psychiatrische Versorgungsstrukturen mit ambulantem Schwerpunkt

16 Medizinische Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland Kritische Betrachtung eines Frankfurter Projekts

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Médecine pour le peuple Europa braucht eine mündige Demokratie und keine billiger werdenden Produkte Wenn der Vorhang fällt Der globale Drohnenkrieg und seine Auswirkungen

24 Der Beginn der nuklearen Kette – die Gefahren des Uranbergbaus

Internationale Fachtagung zu den gesundheitlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung beim Uranabbau

26 Stille Freisetzung radioaktiver Materialien in die Umwelt 28 Sichere Rückstellungen für den Atommüll? 30 Stand in Solidarity for Peace – Time to Act 13th World Summit of Nobel Peace Laureates 24.–28. Oktober 2013, Warschau

31 Von Hühnern und Krokodilen

Reflexionen über die IPPNW-Fahrradtour durch die Steppe Kasachstans

33 „From the Power of the Markets to the Health of the People“

IPPNW Global Health Summer School, 14.–19. September 2014: Teilnehmerinnenstimmen

34 Gemeinsam in die Zukunft schauen

Das Friedensprojekt und Balkan-Programm „Bridges of Understanding“

35 Famulieren & Engagieren 2014 38 AnsprechpartnerInnen und Kontaktadressen IPPNW-Lokalgruppen an fast allen Unis

Impressum Redaktion: Ewald Feige (Berlin), Frauke Gundlach (Berlin), Svenja Langenberg (Hannover), Antonia Neuberger (Mainz), Julia Weber (Mainz), Beatrice Wichert (Hamburg). Anschrift: der amatom, c/o IPPNW, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Tel. 030/698 074-0, Fax 030/6938166. Verleger: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung e. V., Körtestraße 10, 10967 Berlin. Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, IBAN DE39100205000002222210, BIC BFSWDE33BER Gestaltung und Satz: Samantha Staudte. Bilder: S. 35, links oben: Mostar, Kashfi Halford, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0; nicht gekennzeichnet: privat oder IPPNW-Archiv. Druck: Clever 24 Druck, Berlin, Circle matt White 100 % Altpapier Auflage: 6.000, erscheint jährlich, für studentische Mitglieder der IPPNW kostenlos. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. V.i.S.d.P.: Ewald Feige


Editorial

Editorial Märchenstunde mit Dr. Amatom

Auch wenn die Gebrüder Grimm schon vor knapp 150 Jahren verstorben sind, werden in unserer Zeit immer noch die schönsten Märchen erzählt. Eine besonders schöne Geschichte betrifft die Verbesserung unseres Gesundheitssystems durch die Unterwerfung unter liberale Marktprinzipien. Ganz abgesehen davon, dass selbst Käpt’n Blaubär wahrscheinlich über die rationale Selbstregulierung des freien Marktes lachen müsste (immerhin basiert ein Markt immer noch auf Menschen, die alles andere als rational sind), sind die Folgen einer derartigen Umgestaltung nach wirtschaftsliberalen Gesichtspunkten für ein öffentliches und (menschen)rechtlich gesichertes Gut wie Gesundheit nicht abzusehen. In der diesjährigen Ausgabe des Amatom haben wir uns dementsprechend verstärkt mit der Thematik befasst und versucht die unübersichtlich erscheinende Dornenhecke der Doktrinen, Halbwahrheiten und Fakten zu entwirren, hinter denen Konzerne ihre Interessen und Ziele zu verbergen suchen. Eine schlafende Prinzessin haben wir schon mal nicht gefunden. Julia Weber hat sich in ihrem Artikel mit der Privatisierung der Uniklinik Marburg/Gießen und ihrem Verkauf an die Rhön AG auseinandergesetzt und Vor- und Nachteile dieser Entwicklung dargelegt. Ob aus dem hässlichen Entlein ein schöner Schwan geworden ist oder ob der Höhenflug vorzeitig abgebrochen werden musste, könnt ihr in dieser Ausgabe nachlesen. Ein weiteres Beispiel aus Nürnberg stellt Notwendigkeit und (Un)Sinn einer privatwirtschaftlich finanzierten Ausbildung in Frage. Eva Kollmannsberger verrät euch, welche Auswirkungen Verträge wie TTIP, CETA und TiSA auf unser Leben haben werden. Hier gilt es, wie bei Rumpelstilzchen, ihrer wahren Natur auf den Grund zu gehen und der Einschränkung demokratischer Werte durch unternehmerische Interessen entgegenzuwirken. Doch nicht jedes Märchen nimmt ein schlimmes Ende. Wir stellen euch eine Initiative aus Belgien vor, die gesellschaftliche Solidarität vor Gewinnmaximierung stellt. Außerdem berichtet euch Beatrice Wichert von einer Welle des Widerstandes aus Madrid, die die Privatisierungspläne der Regierung hinsichtlich mehrerer Krankenhäuser hinweggespült hat. Und nun bleibt es an euch zu entscheiden, ob sich hinter den glänzenden Argumenten für eine verstärkte Privatisierung und Ökonomisierung unserer gesellschaftlichen Werte wirklich Gold verbirgt, oder ob diese Idee nicht doch als Geschichte in einem Märchenbuch besser aufgehoben wäre.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Dr. Amatom

Der Amatom braucht Hilfe! Dir gefällt der Amatom? Du hast vielleicht eine Idee für einen spannenden Artikel, Spaß am Layouten, Editieren oder einfach Lust mitzuhelfen? Dann schreib eine E-Mail an feige [at] ippnw.de und sei beim nächsten Treffen mit dabei! Das Amatom-Team sucht immer Nachwuchs und freut sich über motivierte Neuzugänge – und keine Angst, falls du noch keine Erfahrung hast: dafür sind wir ein Team!

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Privatisierung

Auswirkungen und Nebenwirkungen Acht Jahre nach der ersten Privatisierung einer Uniklinik in Deutschland

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urch den Beschluss im hessischen Landtag am 31.01.2006 mit den Stimmen von CDU (unter der Leitung des damaligen Ministerpräsidenten Roland Koch) und FDP war die erste Privatisierung einer Uniklinik in Deutschland perfekt. Dazu mussten die beiden Universitätskliniken in Gießen und Marburg zuerst fusionieren und anschließend in eine GmbH überführt werden. Ein Anteil von 95 % wurde dann für 112 Millionen Euro an die Rhön-Klinikum Aktiengesellschaft verkauft – der restliche Anteil verblieb beim Land Hessen, das damit faktisch keinen Einfluss auf die Geschäftsführung der Kliniken mehr hatte. Von Julia Weber

Doch warum ist es überhaupt soweit gekommen, dass dieses deutschlandweit einmalige Projekt realisiert wurde? Was waren die Gründe für die Privatisierung? Als Grund für den Verkauf ist vor allem die katastrophale finanzielle Situation zu nennen. Jahrzehntelang waren Investitionen in die Gebäude vernachlässigt worden, was allein am Standort Gießen zu einem Investitionsstau von ca. 200 Millionen Euro geführt hatte. Außerdem war die Spezialisierung der Kliniken und Einrichtung sogenannter „Kompetenzzentren“ zur besseren Krankenversorgung eines der erklärten Ziele, sowie die Vergrößerung der Patientenzahl. Die Rhön AG verpflichtete sich durch den Kauf der Kliniken zur Einhaltung der folgenden Punkte: • Sicherung der Krankenversorgung auf höchstem Niveau • Sicherung von Forschung und Lehre durch einen Zuschuss von zwei Millionen Euro pro Jahr für Projekte der Fachbereiche, unter uneingeschränkter Wahrung der Wissenschaftsfreiheit • Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen bis Ende 2010 und Einrichtung eines Sozialfonds von 30 Millionen Euro (vor allem für Maßnahmen der Umschulung und Weiterbildung) • Bau einer neuen Klinik am Standort Gießen, Bau einer Kopfklinik am Standort Marburg und Sanierung der bestehen-

den Gebäude (insgesamt Kosten von 260 Millionen Euro bis Ende 2010) • Errichtung eines Zentrums für Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und eines Partikeltherapiezentrums in Kooperation mit der Firma Siemens (Investition von 107 Millionen Euro bis 2012). Das waren große Versprechen, zu groß für die Rhön AG, denn sie konnten teilweise nicht eingehalten werden. Dabei geht es vor allem um die nicht rechtzeitige Fertigstellung des Partikeltherapiezentrums in Marburg, das eigentlich bis Ende 2012 hätte eröffnet werden sollen und bei dessen Verzug eine Strafe von 107 Millionen Euro drohte, die die Rhön AG an das Land Hessen hätte zahlen müssen. Doch scheinbar ist das Land Hessen reich genug, denn es verzichtet weiterhin auf die Auszahlung der Strafe, trotz Ablauf einer erneuten Frist, die bis Ende 2013 gewährt wurde. Laut eines Artikels der Frankfurter Rundschau sollen mit der modernen Anlage zur Krebstherapie erst 2015 die ersten Patienten und Patientinnen behandelt werden können.1 Doch die Rhön AG sieht sich rechtlich im Vorteil, denn nach Angaben des Vorstandsvorsitzenden Martin Siebert habe der Konzern mehr Geld als geplant in die Universitätskliniken in Gießen und Marburg investiert (547 Millionen statt 367 Millionen Euro). Das lässt sich schlichtweg als Ausrede interpretieren, da die Mehrinvestitionen ja unabhängig von der vertraglich vereinbarten Vorgabe zur Fertigstellung des Partikeltherapiezentrums sind. Reibungslos ging die gesamte Übernahme durch die Rhön AG sowieso nicht über

die Bühne, es gab enormen Widerstand in der Bevölkerung, der bis heute noch nicht verstummt ist. Natürlich wird dabei auch immer wieder die Frage nach den Auswirkungen auf den Bereich Studium und Lehre sowie auf die Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in einem börsennotierten Unternehmen aufgeworfen. Der Spiegel nannte die Fusion und anschließende Privatisierung in einem Artikel vom Juli 2005 „Zwangsheirat mit Risiko“.2 Und Prof. Dr. Bernhard Maisch3 schrieb in einem Artikel in der Zeitschrift „Herz“, dass eine Privatisierung eine „potenzielle Bedrohung für die verfassungsrechtlich zu gewährleistende Freiheit von Forschung und Lehre“4 sei und dass „ein privater Betreiber […] durch die Unterstützung oder Unterlassung von gemeinsamen Investitionen Forschung unzweifelhaft beeinflussen“5 werde. Eine strikte „Trennung von Forschung und Lehre einerseits und der Krankenversorgung, andererseits bei der Personalpolitik, der Mehrwertsteuerproblematik sowie den Raum-, Flächen- und Liegenschaftsfragen“6 sei absurd. In diesen Aussagen spiegeln sich schon die potenziellen Nebenwirkungen einer Privatisierung auf den Bereich Forschung und Lehre wider, der laut Vertrag davon überhaupt nicht betroffen sein sollte. Das ist aber wegen der engen Verzahnung von Krankenversorgung und Ausbildungsbetrieb in einer Uniklinik nicht zu gewährleisten. Kritik wird auch acht Jahre nach der Privatisierung weiterhin laut durch die 2009 gegründete Bürgerinitiative „Notruf 113“. Mitglieder sind niedergelassene und angestellte ÄrztInnen, Pflegekräfte, interessierte BürgerInnen und JuristInnen, die sich der Ökonomisierung des Gesundheitswesens widersetzen. Sie treten dafür ein, dass die Gesundheit und optimale Betreuung kranker Menschen in den Mittelpunkt gestellt werden und nicht Kosteneinsparung und Gewinnmaximierung. Laut der Initiative und nach Mitteilungen des Betriebsrates wurden über 200 Stellen abgebaut, trotz der Vorgabe, dass dies bis Ende 2010 nicht hätte möglich sein sollen. Dies hat zu einer immer stärkeren Arbeitsverdichtung und damit zu einer höheren Belastung des Personals und größeren Unzu-


Privatisierung

Uniklinikum Marburg

friedenheit der Patientinnen und Patienten geführt. Allein im Zeitraum von September 2013 bis Januar 2014 sind im Uniklinikum Gießen 90 Überlastungsanzeigen eingegangen. Weitere Kritikpunkte betreffen die Tatsache, dass die Rhön AG als börsennotiertes Unternehmen auch den Aktionären verpflichtet ist und sich deshalb nach Möglichkeit auf „gewinnbringende Patientengruppen“ konzentriere (sogenannte „Cash Cows“)7 sowie die Verschlechterung der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses, die unter der Gewinnorientierung leide. Ein vernichtendes Urteil fällt auch die Arbeitsgemeinschaft Hochschulmedizin.8 In einer Resolution vom Juli 2013 schreibt das Bündnis: „Die Erfahrungen am Klinikum Gießen/Marburg haben gezeigt, dass die von dem privaten Unternehmen geforderten Renditeerwartungen mit den Aufgabenfeldern eines Universitätsklinikums nicht in Einklang zu bringen sind.“9 Die Ausbildung von Studierenden und die Weiterbildung junger ÄrztInnen stünden „in einem natürlichen Spannungsverhältnis zur Erwirtschaftung einer möglichst hohen Rendite“10. Die Liste der Kritikpunkte an der Privatisierung der beiden Universitätskliniken ist also lang und ließe sich noch weiter fortsetzen. Dabei sind dies keineswegs Probleme, die nur diese beiden Kliniken betreffen, im Gegenteil: Auch auf europäischer Ebene sind vermehrt kritische Stimmen zu hören. Das sogenannte „Europäische Manifest gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens“11 wurde bis Anfang 2013 von 19 Initiativen aus sieben verschiedenen europäischen Ländern unterzeichnet. Darin wird davor gewarnt, Krankheit als Ware zu sehen und die Krankenversorgung ökonomischen Kriterien unterzuordnen. Gefordert wird ein freier Zugang zum Gesundheitssystem für alle Menschen, ohne Ansehen der Person, sowie eine solidarische und gerechte Finanzierung des Gesundheits-

Uniklinikum Gießen

wesens und ausreichend gut ausgebildetes und entsprechend entlohntes Personal. Die Privatisierung des Gesundheitswesens birgt insgesamt viele Gefahren, denen wir uns schon als Medizinstudierende bewusst sein sollten. Nur so können wir später unsere Unabhängigkeit als ÄrztInnen wahren, um die medizinische Versorgung unserer PatientInnen nicht ökonomischen Gesichtspunkten anzupassen, sondern nach bestem Wissen und Gewissen für das Wohlergehen derer zu handeln, die sich uns anvertrauen. Ein Privatkonzern sollte dabei keinen Einfluss auf unser Handeln als zukünftige ÄrztInnen haben, denn dadurch wird die Gesundheit der Menschen als Ware angesehen, als ein Produkt, mit dem sich schwarze Zahlen schreiben lassen. Die Bedeutung von Gesundheit als immaterieller Wert wird in den Hintergrund gestellt und stattdessen zählen Gewinnmaximierung und Profit der Aktionäre. Dies ist sehr gefährlich, da so den PatientInnen nicht mehr die bestmögliche Behandlung, sondern die kostengünstigste Lösung zuteil wird. Wie oben geschildert ist außerdem die Freiheit von Forschung und Lehre in einer privatisierten Klinik nicht mehr gewährleistet. Somit nimmt die Privatisierung auch Einfluss auf die studentische Ausbildung und das oftmals als unbemerkte Nebenwirkung.

Leiter von Kliniken, Instituten und Abteilungen der Universitäten und Hochschulen Deutschlands, Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e. V., Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht, Deutscher Hochschulverband, Marburger Bund und MFT Medizinischer Fakultätentag. 9 „Privatisierung der Hochschulmedizin gescheitert – Hochschulmedizin muss Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sein und bleiben“, Arbeitsgemeinschaft Hochschulmedizin, Bonn, Juli 2013 10 „Privatisierung der Hochschulmedizin gescheitert – Hochschulmedizin muss Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sein und bleiben“, Arbeitsgemeinschaft Hochschulmedizin, Bonn, Juli 2013 11 V.i.S.d.P.: Dr. Nadja Rakowitz, Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, 13.10.2012 Quellen & Literatur: 1. Arbeitsgemeinschaft Hochschulmedizin. Privatisierung der Hochschulmedizin gescheitert – Hochschulmedizin muss Teil der öffentlichen Daseinsfürsorge sein und bleiben. Bonn, Juli 2013. 2. Bebenburg, von P. Hessen lässt Rhön weiter Zeit. Frankfurter Rundschau 30.04.2014. 3. Flintrop, J. Universitätsklinikum Giessen/Marburg: Abschreckendes Beispiel. Deutsches Ärzteblatt, 05.08.2013. 4. Görg, Dr. med., Abteilung für Hämatologie und Onkologie Universitätsklinikum Marburg. Klinikärzte im Spannungsfeld zwischen Profit und Patientenwohl. Rede vom 01.10.2012. 5. Hackenbroch, V. Zwangsheirat mit Risiko. Der Spiegel, 07/2005. 6. Hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst, Redaktion Rudolf Kächler. Privatisierung des Universitätsklinikums Marburg und Gießen. Nr. 2/2006. 7. Maisch, Prof. Dr. B. Paradigmenwechsel in der universitären Medizin? – Zur Fusion und Privatisierung von Universitätskliniken am Beispiel von Marburg und Gießen. Herz 30, S. 153-158, 2005, Nr. 2, ©Urban und Vogel. 8. Notruf 113, Gesundheit in Gefahr. Die unendliche Geschichte des Marburger Partikelzentrums. http://notruf113.blog.de/ [Stand: 30.06.2014] 9. Notruf 113, Gesundheit in Gefahr. http://notruf113.org/index.html [Stand: 30.06.2014] 10. Rhön Klinikum Aktiengesellschaft. www.rhoenklinikum-ag.com/rka/cms/rka_2/deu/index.html [Stand: 30.06.2014] 11. Rippegather, J. Uniklinik als „Mühlstein“. Frankfurter Rundschau, 18.07.2013. 12. Rippegather, J. Rhön geht gegen Kritiker vor. Frankfurter Rundschau, 26.03.2014. 13. Sorge, P. Krankenhaus im Ausverkauf. Cicero Magazin für politische Kultur, 05.11.2012. www.cicero. de/kapital/krankenhaus-im-ausverkauf/52424 [Stand: 12.09.2014] 14. Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Europäisches Manifest gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens – Health Professionals erheben ihre Stimme. V.i.S.d.P.: Dr. Nadja Rakowitz, 13.10.2012.

Fußnoten: 1 „Hessen lässt Rhön weiter Zeit“, Pitt von Bebenburg, Frankfurter Rundschau, 30.04.2014 2 „Zwangsheirat mit Risiko“, Veronika Hackenbroch, Der Spiegel, 07/2005 3 Abteilung Innere Medizin, Kardiologie Marburg sowie damaliger Dekan des Fachbereichs Medizin 4 Herz 30, S. 153-158, 2005, Nr. 2, Prof. Dr. Bernhard Maisch, ©Urban und Vogel 5 Herz 30, S. 153-158, 2005, Nr. 2, Prof. Dr. Bernhard Maisch, ©Urban und Vogel 6 Herz 30, S. 153-158, 2005, Nr. 2, Prof. Dr. Bernhard Maisch, ©Urban und Vogel 7 „Cash Cows“, also „Kühe, die man melken kann“ ist ein Begriff aus dem amerikanischen Gesundheitssystem und wird im Gegensatz zu den „Poor Dogs“ für PatientInnen mit Krankheiten verwendet, durch die ein Krankenhaus Gewinne erzielen kann. 8 Zusammengesetzt aus: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, Bundesärztekammer, Bundesvereinigung der Landeskonferenzen ärztlicher und zahnärztlicher

Julia Weber 9. Semester, Mainz

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Privatisierung

Mit Geld zum Doktor Ein Medizinstudium an der privaten Uni?

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eit August 2014 kann man am Nürnberger Nordklinikum, Teil des größten kommunalen Klinikums Europas, an einer privaten Uni Medizin studieren – vorausgesetzt, man kann die Studiengebühren von jährlich 13.500 Euro berappen. Von Anna-Maria Lehner

In Zusammenarbeit mit der österreichischen Paracelsus Medizinischen Privatuniversität (PMU) wurde eine völlig neue Hochschule geschaffen. Gelehrt wird nach dem österreichischen Lehrplan, und sehr praxisorientiert. Das ermöglicht eine Verkürzung der Studiendauer auf 5 Jahre und beinhaltet aber eben auch, nach österreichischem Standard, automatisch den „Dr. Med. Univ.“ bei erfolgreichem Abschluss. Das Studium findet allerdings in nächster Nähe zu der Friedrich-Alexander-Universität, an der auch eine medizinische Fakultät existiert, nur wenige Freunde. Dekan Jürgen Schüttler von der Medizinfakultät der Uni Erlangen-Nürnberg findet es unerträglich, „dass auf deutschem Boden eine Ausbildung stattfindet, die sich außerhalb der Kontrolle der deutschen Behörden bewegt“. Das Studium sei „quasi auf Fachhochschulebene“ abgewickelt, ein „Medizinstudium Light“. Denn die naturwissenschaftlichen Grundlagenfächer werden von Dozenten der (FH) Georg-Simon-OhmHochschule Nürnberg unterrichtet. Die fehlenden Standards an der Privatuni könnten nun auch Grundlage eines Rechtsstreits werden: Ein von der Deutschen Hochschulmedizin in Auftrag gegebenes Rechtsgutachten hält es für möglich, dass bei den Franchise-Modellen – wie dem Nürnberger Beispiel – EU-rechtliche Standards bei der Medizinerausbildung nicht voll eingehalten werden. Denn was dem Studium Anna-Maria Lehner in Nürnberg nach Exper10. Semester, Erlangen tenmeinung vor allem fehlt, ist die forschungsbasierte Grundlage. Dies sei an einem städtischen

Haus, wie es das Nürnberger Klinikum ist, nicht möglich, es fehlten hauptberuflich tätige Professoren. Die PMU selbst wehrt sich gegen die Vorwürfe und spricht auf ihrer Homepage von einer „ersprießlichen, interaktiven theoretisch-praktischen Ausbildung“. Sollten diese Fragen jedoch geklärt werden, stünde den 50 Studierenden pro Jahr nichts mehr im Wege. Und diese können sich freuen, dass sie ohne die (durch das NC-Verfahren bedingte) lange Wartezeit das Studium beginnen können, vorausgesetzt sie bestehen das Bewerbungsverfahren. Und haben genug Geld. Denn: Bereits die Bearbeitungsgebühr für das Anmeldeformular beträgt 130 Euro. Meldet man sich erst kurz vor Bewerbungsschluss an, sind es sogar 240 Euro. Allerdings, so stellt das Klinikum klar, sollen pro Jahr bis zu 13 Stipendien vergeben sowie kostengünstige Darlehen ermöglicht werden. Die Linke im Stadtrat Nürnberg spricht entsprechend auch von der „Gründung einer Eliteuniversität“. Und verweist auf die bayernweiten Studiengebühren, die erst vor kurzem in dem Bundesland auf Grund eines Volksbegehrens abgeschafft worden sind. Dabei muss auch einiges in die Privatuniversität investiert werden. So stehen der Uni nach ersten Berechnungen am Ende mit fünf Jahrgängen und insgesamt 250 Studenten jährliche Betriebskosten von 5,3 Millionen Euro ins Haus, die neben den Studiengebühren vor allem auch durch Drittmittel aus der Forschung refinanziert werden sollen. Es wird jedoch immer wieder betont, dass diese Gelder völlig gesondert von den Finanzmitteln des Klinikums laufen und dass weiterhin der Patient im Mittelpunkt des Denkens im Klinikum stehen wird. Aber lassen sich 5,3 Millionen Euro pro Jahr in einem Klinikum nicht irgendwie schlauer verwenden, als 50 neue Ärzte im Jahr zu schaffen, ganze 20 km entfernt von

Erlangen, wo pro Jahr ca. 200 Studenten ihr Examen ablegen? Und die leiden gleich mit unter dem Streit: Das Klinikum Nürnberg Nord war bisher sehr begehrt für das PJ, weil sich im Haus der Maximalversorgung im Gegensatz zur Universitätsklinik Zeit für die Studierenden genommen wurde und eine gute Atmosphäre herrschte. Nun ist es kein Lehrkrankenhaus der Friedrich-Alexander-Universität mehr und ein PJ in Nürnberg nicht mehr möglich. Quellen: 1 www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/ausbildung/article/856369/nuernberg-umstrittenes-medizinstudium-angebot-privatuni.html?sh=2&h=1423662230 2 www.aerztezeitung.de/praxis_wirtschaft/ausbildung/article/856452/medizinstudium-hochschulmediziner-fuerchten-arzt-light.html?sh=1&h=1423662230 3 http://derstandard.at/1392687740044/Salzburger-Wissenschaftsdiscounter-in-Bayern 4 www.pmu.ac.at/studium/humanmedizin/studienaufbau.html 5 http://news.doccheck.com/de/44877/nuernbergmedical-school-wer-ohne-mittel-ohne-titel/


Privatisierung

¡Sí, se puede! Wie Proteste Krankenhäuser retten können

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mmer wieder gibt es neue Schlagzeilen über die Auswirkungen der Austeritätspolitik – sie betreffen Banken, Umsätze – vor allem aber treffen sie Menschen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis anlässlich immer neuer Kürzungen auch dem Gesundheitssektor in Spanien zu Leibe gerückt wurde – von 2010 bis 2013 mit Einsparungen von insgesamt 7 Milliarden Euro – das entspricht 10  % des gesamten spanischen Gesundheitsbudgets. Von Beatrice Wichert

Im Namen der Krise sollte daher auch in Madrid ein Testballon für die Privatisierung staatlicher Gesundheitsversorgung in Ballungsgebieten gestartet werden. Investoren auf der ganzen Welt beobachteten die Vorgänge mit Neugier. Der Gesundheitssektor ist als sichere Einkommensquelle entdeckt worden, denn krank werden wir immer sein und älter werden wir auch. Die europaweit zunehmende Privatisierung ehemals staatlicher Krankenhäuser bis hin zur Umstrukturierung ganzer Gesundheitssysteme zeigt das marktwirtschaftliche Interesse am elementaren Recht auf Gesundheit.

passte zu gut in die Reihe von politischen Skandalen, Wechseln von Politikern oder ihren Angehörigen in das private Gesundheitssektor-Management, Korruptionsvorwürfen und Nepotismus, die sich die spanische Bevölkerung in letzter Zeit hatte bieten lassen müssen. Eine Welle der Empörung staute sich auf, die Ärzte krempelten die Ärmel ihrer Kittel hoch und im November 2012 war die Marea Blanca – Weiße Flut – geboren. Ärzte, Pflegepersonal, Krankenhausangestellte und Patienten kämpften Seite an Seite gegen die geplante Privatisierung ihrer Gesundheitsversorgung.

Was geschah in Madrid?

Fünfzehn Monate lang wurde aufs Intensivste gegen die Pläne des Madrider Gesundheitsministers Javier FernándezLasquetty und seiner Partido Popular (auch Spaniens derzeitige Regierungspartei) protestiert. Tausende gingen jeden dritten Sonntag auf die Straßen. Die Proteste weiteten sich von Madrid bis nach Barcelona und Valencia aus. Und während auf den Straßen marschiert wurde und einige Kran-

Was in Madrid im Juli 2012 begann, war jedoch ein Projekt besonderen Ausmaßes. Die Regierung schrieb das Management von gleich sechs staatlichen Krankenhäusern – Vallecas, San Sebastián de los Reyes, Parla, Coslada, Arganda del Rey und Aranjuez – und 27 lokalen Gesundheitszentren aus. Drei private Management-Firmen, davon zwei spanische (BupaSanitas und Ribera Salud) und eine puerto-ricanische (Hima San Pablo), erhielten den Zuschlag für die Krankenhäuser. Die offizielle Begründung der Regierung war natürlich die notwendige Verminderung von Kosten in Zeiten der Krise. Bis zu 710 Millionen Euro pro Jahr erhoffte sich Madrids Regierung durch die Abgabe ihres öffentlichen Versorgungsauftrages für zunächst 10 Jahre, einzusparen. Dass ebendiese Krankenhäuser während des Immobilien-Booms zwischen 2004 und 2011 gerade erst mit Steuergeldern gebaut und als Prestigeprojekte eröffnet worden waren, ließ den Privatisierungsplänen einen besonders bitteren Geschmack zukommen. Es

kenhausmitarbeiter sogar zeitweise in den Hungerstreik traten, wurde parallel versucht die geplante Privatisierung auf dem Klageweg über Madrids Gerichte zu verhindern. Die Klagekosten wurde neben Spenden auch auf kreative Weise finanziert: Die Protestanhänger haben Tage im Namen des Streikes gearbeitet und ihren Lohn gesammelt – so kamen insgesamt 200.000 Euro zusammen! Für den Erfolg und die Beständigkeit, mit der die weißen Protestwellen immer wieder über die Stadt hinwegrollten, war sicherlich die Solidarität innerhalb der Madrider Bevölkerung mit dem Krankenhauspersonal verantwortlich. 400.000 von ihnen unterschrieben eine Petition gegen die Privatisierungsvorhaben und viele gingen mit den 75.000 Angestellten des öffentlichen Gesundheitssystems (85 % aller Mitarbeiter), die in den Streik getreten waren, auf die Straßen, vor die Krankenhäuser, in Schulen etc. um zu erklären und zu lernen, welche Gefahren eine schleichende Privatisierung der öffentlichen Gesundheitssysteme bergen kann. Auch wenn während der Generalstreiks die medizinische Versorgung Madrids auf ein Minimum heruntergefahren worden ist, hatten die meisten Patienten Verständnis für die Protestbewegung.

Die Marea Blanca spült die Pri­ vatisierungspläne davon Im September 2013 zeichnete sich dann ein erster Erfolg ab – Madrids Oberster Ge-

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Privatisierung

richtshof arretierte mit einer einstweiligen Verfügung das Fortschreiten der Pläne, bevor es zu einer tatsächlichen Vertragsunterschreibung kommen konnte. Da Kosten und Nutzen einer Krankenhausprivatisierung, besonders in einem derart weitreichenden Stil, noch nicht abzuschätzen waren, wollte das Gericht sich vor Genehmigung der Verträge ein genaueres Bild machen. Die Risiken einer möglichen Fehlentscheidung waren zu groß, als dass das Gericht sie verantworten wollte. Patricia Alonso von AFEMS, einer der führenden NGOs im Streik, kommentierte den Sieg der Marea Blanca so: „Wir haben gezeigt, dass man eine Reform, die weder ökonomisch noch wissenschaftlich überzeugt, stoppen kann – und dass man es auf sehr ehrliche Art und Weise tun kann. Allein mit legalen, professionellen und gesundheitlichen Beatrice Wichert Argumenten konnten wir 10. Semester, Hamburg eine Grenze ziehen.“

Frau Alonso beruft sich dabei z. B. auf Studien, die zeigen, dass auf längere Sicht ein Bett in einem privaten Krankenhaus höhere Kosten verursacht als in einem öffentlichen Haus. Hinzu kommt, dass Privatkrankenhäuser Mittel und Wege finden, künstlich ihre Kosten zu beschönigen, indem z. B. die wirklich schwierigen, kosten- und pflegeintensiven Patienten in öffentliche Universitätskrankenhäuser überwiesen werden. Als im Januar 2014 der richterliche Entschluss noch einmal bestätigt wurde, strich die Madrider Regierung bis auf Weiteres ihre Privatisierungspläne für die sechs Krankenhäuser. Der Druck durch die konstanten Proteste, der offene Unmut in der Bevölkerung, aber schließlich vor allem die besseren juristischen Argumente, ließen ihr keine andere Wahl. Gesundheitsminister Fernández-Lasquetty musste zurücktreten. Sein Nachfolger steht nun vor der schwierigen, aber notwendigen Aufgabe durch sinnvolle, alternative Reformen dem z. T. aufgeblähten Gesundheitsapparat eine verträgliche Schlankkur zu verpassen – in öffentlicher Hand. Madrids Mediziner sind wachsam, dass es dabei nicht dennoch zu einer schleichenden Privatisierung kommt,

die sich z. B. durch Änderungen der Krankenversicherung für Immigranten und Langzeitarbeitslose bereits an anderer Stelle abzeichnet. Auch wenn sich das Protestmeer für den Moment beruhigt hat – die nächste Flut wird sicherlich kommen. Bis dahin ist dieser gelungene Privatisierungsstopp ein großer Erfolg für Verfechter einer öffentlichen Gesundheitsversorgung in ganz Europa – was Madrid vorgemacht hat, kann als Beispiel und Mutmacher dienen!

Interessenkonflikte in der Medizin Ursachen, Einflussnahme und Lösungsmöglichkeiten

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in Report des „Institute of Medicine“ (IOM) von 2009 benennt folgendes Konzept von Interessenkonflikten: „Interessenkonflikte sind definiert als Gegebenheiten, die ein Risiko dafür schaffen, dass professionelles Urteilsvermögen oder Handeln, welche sich auf ein primäres Interesse beziehen, durch ein sekundäres Interesse unangemessen beeinflusst werden.“ Von Julia Weber

Der Begriff „Interessenkonflikt“ ist dabei primär wertneutral und nicht mit „Bestechlichkeit“ oder „Korruption“ gleichzusetzen. Unter dem primären Interesse versteht man den Wunsch der ÄrztInnen nach der bestmöglichen Behandlung der PatientInnen und den der WissenschaftlerInnen nach der

Weiterentwicklung des medizinischen Fortschritts. Sekundäre Interessen können materiell (Annahme von Geschenken, Vergünstigungen oder von Vortragshonoraren) oder immateriell (Wunsch nach Anerkennung oder Begünstigung der beruflichen Karriere) sein.

Ausreichende Auseinander­ setzung mit dem Thema Interessenkonflikte im Medizinstudium? Im achten Semester meines Medizinstudiums wurde ich in einer Vorlesung zum ersten und bisher einzigen Mal von universitärer Seite aus mit dem Thema „Interessenkonflikte in der Medizin“ konfrontiert. Dabei tummeln sich doch mehrmals im Semester VertreterInnen unterschiedlicher Firmen vor den Hörsälen und auch während der Pflegepraktika und Famulaturen kommen wir in Kontakt mit PharmavertreterInnen, die die ÄrztInnen besuchen und ihnen ihre neuesten Errungenschaften und Erkenntnisse vorstellen. Nicht selten mit kleinen Geschenken oder der Einladung zu einer gesponserten Fortbildung im Gepäck, die


Privatisierung

oftmals an die Studierenden weitergegeben werden. In einer Befragung von Lieb und Koch, die 2013 im Deutschen Ärzteblatt erschien, wurden die Einstellungen und Kontakte von Medizinstudierenden zur pharmazeutischen Industrie untersucht. Die Ergebnisse waren erstaunlich und decken sich in etwa mit denen, die aus internationalen Studien bekannt sind: Etwa 65 % der Studierenden hatten schon einmal oder öfter ein kleines Geschenk durch PharmavertreterInnen erhalten. Und etwa ein Viertel hatte bereits an einer gesponserten Veranstaltung teilgenommen. Dagegen hatten nur etwa 12 % der Studierenden noch nie ein Geschenk oder eine Einladung zu einer gesponserten Veranstaltung angenommen. Ein weiteres interessantes Ergebnis der Befragung bezieht sich auf den sogenannten „blinden Fleck“ („blind spots“): Wie sich ein anderes Auto beim Autofahren von uns unbemerkt im toten Winkel aufhalten kann, können Interessenkonflikte unser Urteilsvermögen und unser Handeln unbewusst beeinflussen. Dabei halten wir die anderen immer für stärker beeinflussbar als uns selbst. Eine weitere potenzielle Gefahr von Interessenkonflikten ist also die verzerrte Wahrnehmung der eigenen Beeinflussbarkeit und des eigenen Handelns. Aber auch durch strukturelle Gegebenheiten, wie z. B. durch Vergütungssysteme für ärztliche Leistungen, wird Raum für Interessenkonflikte geschaffen, indem nämlich bestimmte diagnostische oder therapeutische Maßnahmen mehr Gewinn bringen als andere und es außerdem von Bedeutung ist, ob unsere PatientInnen einer privaten oder einer gesetzlichen Krankenversicherung angehören. Und das Arzneimittelgesetz, das infolge des Contergan-Skandals am 1. Januar 1978 in Kraft trat, schreibt u. a. vor, dass die Herstellerfirma die Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutische Qualität eines Arzneimittels vor dessen Einführung nachweisen muss. Dieses Vorgehen kann einen großen Einfluss auf Studienergebnisse haben. So gibt es Hinweise darauf, dass Studienprotokolle zugunsten der finanzierenden Firma beeinflusst, negative Ergebnisse nicht veröffentlicht, positive Ergebnisse mehrfach publiziert, nur einzelne Daten öffentlich gemacht oder Informationen über wichtige Nebenwirkungen eines Medikaments zurückgehalten werden. Eine Entscheidung für die ein oder andere Vorgehensweise kann finanzielle Auswirkungen im zweistelligen Milliardenbereich haben.

Daran werden die Dimensionen deutlich, die Interessenkonflikte annehmen können.

Wie können wir als Studieren­ de und junge ÄrztInnen ange­ sichts derartiger Dimensionen Interessenkonflikte vermei­ den? In der Vorlesung wurde uns dazu ein schrittweises Vorgehen erläutert: Zuerst ein Problembewusstsein für das Thema schaffen, Interessenkonflikte dann umfassend und konsequent offenlegen, sie und ihre Auswirkungen auf Dritte bewerten und adäquate Regeln für den Umgang mit Interessenkonflikten formulieren. Für die größeren Dimensionen steht die Deklaration von Helsinki der World Medical Association von 1964, die sich u. a. für die Offenlegung von Interessenkonflikten gegenüber den an der medizinischen Forschung beteiligten Parteien ausspricht. Zwei wichtige Auszüge (aus Paragraf 22 und 27) sind hier zu nennen: „Bei jeder Forschung am Menschen muss jede Versuchsperson ausreichend über die Ziele, Methoden, Geldquellen, eventuelle Interessenkonflikte, institutionelle Verbindungen des Forschers, erwarteten Nutzen und Risiken des Versuchs sowie über möglicherweise damit verbundene Störungen des Wohlbefindens unterrichtet werden. […]

Der Forscher ist bei der Veröffentlichung der Forschungsergebnisse verpflichtet, die Ergebnisse genau wiederzugeben. Positive, aber auch negative Ergebnisse müssen veröffentlicht oder der Öffentlichkeit anderweitig zugänglich gemacht werden. In der Veröffentlichung müssen die Finanzierungsquellen, institutionelle Verbindungen und eventuelle Interessenkonflikte dargelegt werden.“ Weitreichendere Empfehlungen zur Interessenkonfliktregulierung, die nicht nur den Bereich Forschung betreffen, formulierte das Institute of Medicine (IOM) 2009 in einem Report mit dem Titel „Conflict of Interest in Medical Research, Education, and Practice“. Es handelt sich hierbei um insgesamt 16 Empfehlungen zur Regulierung von Interessenkonflikten in den folgenden sechs Bereichen: Forschung, Aus-, Fort- und Weiterbildung, Versorgung, Leitlinienentwicklung, Institutionen des Gesundheitssystems und unterstützende Organisationen. Für uns als Studierende besonders interessant sind die Empfehlungen, die den Bereich „Medical Education“ betreffen: In allen Ausbildungsstätten, akademisch-medizinischen Zentren und Universitätskliniken sollte die Annahme von Geschenken, der Besuch von Fortbildungsmaßnahmen, die durch die Industrie finanziert werden, der Zugang von Handelsvertretern (außer in bestimmten Situationen) und der Einsatz von Medikamentenmustern verboten werden. Außerdem sollte Mitarbeitern, Auszubildenden und Studierenden die

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Privatisierung

Vermeidung und die Steuerung von Interessenkonflikten gelehrt werden und es sollte ein neues System der Finanzierung von akkreditierter medizinischer Weiterbildung entwickelt werden, das frei vom Industrieeinfluss ist. In den USA ist die Auseinandersetzung mit dem Thema „Interessenkonflikte“ schon deutlich weiter fortgeschritten als in Deutschland. Seit 2009 stellt der sogenannte „Sunshine Act“ (Physicians Payments Sunshine Act) eine verbindliche Rechtsgrundlage dar, die für mehr Transparenz in den Beziehungen zwischen der Pharmaindustrie einerseits und ÄrztInnen bzw. Lehrkrankenhäusern andererseits sorgen soll. Finanzielle Zuwendungen an ÄrztInnen müssen ab einem Wert von 10 US $ in einer frei zugänglichen OnJulia Weber line-Datenbank öffentlich 9. Semester, Mainz gemacht werden. Seit 2013 existiert in Deutschland der Transparenzkodex des FSA

(Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e. V.). Die Mitglieder des FSA verpflichten sich darin zur Offenlegung all ihrer Kontakte und Zusammenarbeit mit ÄrztInnen und Angehörigen anderer Heilberufe. Außerdem existiert ein sogenannter „Transparenzkalender“ des „Forums zur Beobachtung der Biowissenschaften und ihrer Technologien e. V.“ (BIOSKOP). Darin wird aufgelistet, wie viel Geld die Pharmaindustrie in welche Fortbildung für ÄrztInnen, ApothekerInnen und Angehörige anderer Heilberufe investiert. Ich habe im bisherigen Verlauf meines Medizinstudiums den Eindruck bekommen, dass wir trotz all dieser Forderungen und Selbstverpflichtungen von einer adäquaten Regulierung von Interessenkonflikten in Deutschland noch weit entfernt sind. Die Verzahnung von Industrie einerseits und Forschung bzw. Lehre andererseits ist noch immer viel zu eng. Dabei kann es leicht passieren, dass das primäre Interesse einer bestmöglichen PatientInnenversorgung von Sekundärinteressen überlagert wird. Aufgrund des hohen Expositionsgrades wäre eine stärkere Auseinandersetzung mit dem Thema „Interessenkonflikte“ im Studium enorm wichtig – nicht nur um dem ärztlichen Berufsethos gerecht zu werden, sondern

vor allem im Sinne unserer zukünftigen PatientInnen. Quellen: 1. Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. (2011). Interessenkonfliktregulierung: Internationale Entwicklungen und offene Fragen. Ein Diskussionspapier. 2. FSA (Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e.V.). Transparenzkodex. www. fs-arzneimittelindustrie.de/verhaltenskodex/transparenzkodex/ [Stand: 23.09.2014] 3. FSA (Freiwillige Selbstkontrolle für die Arzneimittelindustrie e.V.). Kodex zur Transparenz bei der Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Fachkreise und medizinischen Einrichtungen. Bekanntmachung im Bundesanzeiger vom 18.06.2014. Download unter: www.pharma-transparenz.de [Stand: 23.09.2014] 4. Keller, Martina. Kleine Geschenke – Interessenkonflikte in der Medizin. Deutschlandfunk, Wissenschaft im Brennpunkt, 21.09.2014, 16.30 Uhr. 5. Lieb, K. Interessenkonflikte in der Medizin − Risiken und Lösungsmöglichkeiten. Vorlesung der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Mainz, Sommersemester 2014. 6. Lieb, K. et al (2011). Interessenkonflikte in der Medizin. Berlin/Heidelberg: Springer. 7. Lieb, K. und Brandtönies, S. (2010). Eine Befragung niedergelassener Fachärzte zum Umgang mit Pharmavertretern. Dtsch Arztebl Int 2010; 107(22): 392–8 DOI: 10.3238/arztebl.2010.0392. 8. Lieb K, Koch C: Medical students’ attitudes to and contact with the pharmaceutical industry—a survey at eight German university hospitals. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(35−36): 584−90. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0584. 9. Wikipedia. Arzneimittelgesetz (Deutschland). http://de.wikipedia.org/wiki/Arzneimittelgesetz_ (Deutschland) [Stand: 13.09.2014]

Vom Aussterben bedroht Versorgungsrealität in der Hebammenhilfe

H

ebammen hören oft, dass sie den schönsten Beruf der Welt hätten, ganz als ob sie in einem immer währendem Endorphinsturm durch ihren Berufsalltag taumeln. Das könnte nicht weiter von der Realität entfernt sein. Von Ute Ropeter

Die seit Jahren desolaten Berufsbedingungen und nicht zuletzt die steigenden Versicherungsbeiträge stellen für viele Hebammen, insbesondere freiberufliche, eine existenzielle Bedrohung da. Genaue Zahlen wie viele der Kolleginnen bereits mit der Hausgeburtshilfe oder den Beleggeburten aufgehört haben oder wie viele Geburtshäuser geschlossen haben, gibt es nicht. Aber es werden immer mehr! Selbst Hebammen, die „nur“ Wochenbettbetreuung (in der die Hebamme die Wöchnerin und das Neugeborene bis zu 8 Wochen

nach der Geburt und während der gesamten Stillzeit zu Hause betreut) anbieten, finden sich in vielen Regionen nicht mehr. Dabei ist die Wochenbettbetreuung wichtiger denn je, da Frauen nach der Geburt im Schnitt nur 3–4 Tage in der Klinik verbringen und die Hebamme in der Zeit danach die wichtigste Ansprechpartnerin ist.

Warum geben die Hebammen auf? Der durchschnittliche Jahresumsatz einer freiberuflichen Hebamme beträgt 24.000

Euro brutto, wobei allein 5.091 Euro für die Deckung der Haftpflichtversicherung vorgesehen sind. Bei einem Stundenlohn von umgerechnet 7,50 Euro netto entspricht dies einem Aufwand von 690 Stunden oder knapp zweieinhalb Monate mit 60-Stunden-Wochen, nur um die Versicherung zu bezahlen, was absolut unrentabel ist. Hebammenarbeit ist kein Ehrenamt! Insbesondere Kolleginnen, die nur wenige Geburten betreuen, sind von dieser Regelung negativ betroffen, da die versprochene Ausgleichszahlung durch die Krankenkassen in erster Linie Hebammen mit vielen Geburten zu Gute kommt. Außen vor bleiben zudem die Beleghebammen und Kolleginnen, die ausschließlich in der Vorund Nachsorge tätig sind.


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Wenn selbst der seit Jahren bestehende Usus 50–60 Stunden lang und 7 Tage die Woche zu arbeiten, einen halbwegs normalen Lebensstandard nicht mehr gewährleisten kann, sondern die dringende Gefahr besteht, in Armut oder Schulden abzurutschen, kann es so nicht weitergehen. Wir machen diesen Beruf meistens mit vollem Einsatz und tragen eine große Verantwortung, die uns bei Fehlern die Berufserlaubnis kosten oder sogar ins Gefängnis führen kann. Alles Gründe, die es immer schwieriger machen, junge Kolleginnen zu finden, die freiberuflich arbeiten und z. B. Beleggeburten betreuen wollen. Doch nicht nur der freiberufliche Sektor ist betroffen, vielmehr besteht ein allgemeiner Nachwuchsmangel, denn auch die Hebammenschulen haben immer weniger Bewerbungen. Es gab 2012 ca. 650.000 Geburten in Deutschland, von denen ein Viertel von freiberuflichen Hebammen betreut wird. Das sind 162.500 Geburten pro Jahr, von denen nur ein kleiner Teil zu Hause oder in Geburtshäusern stattfindet, das Gros dieser Kinder wird in kleineren Kliniken im Belegsystem geboren, die meisten davon sind in Süddeutschland. Ungefähr 3.000 Beleghebammen arbeiten dort in einem Schichtsystem, das 12 bis 24 Stunden umfasst, ähnlich einem Angestelltenverhältnis. Sie wurden von ihren Arbeitgebern meist unfreiwillig in die Freiberuflichkeit überführt, damit diese die jährlichen Sozialabgaben in Höhe von mehreren tausend Euro nicht mehr bezahlen müssen. Viele dieser Kliniken bezahlen die Berufshaftpflichtkosten der Beleghebammen ganz oder teilweise, da sich diese Vorgehensweise für die Kliniken rechnet (vgl. Ott-Gmelch DHZ 6/2014 S. 73). Die Alternative wäre nämlich, dass die Hebammen kündigen, da sie fast gar nichts mehr verdienen würden und das Haus die Abteilung schließen müsste. Hebammen sind eine der Berufsgruppen, die auch in der Selbstständigkeit rentenversicherungspflichtig sind, somit wird die Altersvorsorge durch die Freiberuflichkeit der Geburtshelferinnen/Hebammen ausgelagert. An dieser Stelle sei die weibliche Dimension der Problematik hervorzuheben. Frauen, die im freiberuflichen Dienstleistungssektor tätig sind, verdienen 34 % weniger als ihre männlichen Kollegen, im Gesundheitssektor sind es 25 % – beides liegt über dem durchschnittlichen Verdienstunterschied von 22 %. Hinzu kommt noch

der Verdienstausfall durch Schwangerschaft und Kinderbetreuung, weswegen viele Kolleginnen auch nur in Teilzeit arbeiten. Der Weg in die Altersarmut ist dadurch vorprogrammiert, da wir meistens nur Mindestrente erhalten werden. Dies ist ein weiteres großes und nicht diskutiertes Problem im Hebammenalltag! Warum arbeiten denn nicht alle Hebamme an Kliniken, dann wäre zumindest das Problem der Haftpflichtversicherung doch gelöst? Es gibt Hebammen die in der 1:1 Betreuung Hausgeburten, Beleggeburten und Geburtshausgeburten anbieten und es gibt Frauen/Eltern, die genau so ihre Kinder zur Welt bringen möchten. Die freie Wahl des Geburtsortes ist ein im SGB V verankertes Recht einer jeden Frau und jedes werdenFolgende Vergütungen pro Geburt werden freiberuflichen Hebammen aktuell vom GKV-Spitzenverband zugestanden: » Beleg-Hebamme im Krankenhaus: 276,22 Euro » Beleg-Hebamme im Krankenhaus in 1:1-Betreuung: 292,97 Euro (hier ist noch wichtig zu bedenken, dass auch das Krankenhaus den Krankenkassen eine Geburtspauschale in Rechnung stellt) » Vollendete Geburt mit Hebamme im Geburtshaus: 563,25 Euro » Vollendete Geburt mit Hebamme bei Hausgeburt: 707,33 Euro (beide Positionen werden drastisch gekürzt, wenn die Geburten nicht außerklinisch beendet werden)

den Elternpaares. Dieses Recht ist aber zunehmend bedroht, wenn sie einfach keine Hebamme finden, die sie betreut. Statt auf Almosen der Krankenhäuser oder Zuschüsse von Krankenkassen zu setzen, sollte die Ausgestaltung einer tragfähigen und langfristigen Lösung unserer Misere angegangen werden. Kleinere Krankenhäuser, die geburtshilfliche Abteilungen haben, werden seit Jahren immer häufiger geschlossen, da sie nicht den Sicherheitsstandards der Level 1 oder Level 2 Häuser (mit Kinderklinik und/oder Frühgeborenenstation) entsprechen. Auch die oft nicht gewährleistete Rentabilität ist ein Faktor, da eine Geburtshilfe im Haus immer bedeutet, dass eine anästhetische Betreuung bereitgestellt werden muss, was

zusätzliche Kosten verursacht. Stattdessen werden diese Häuser entweder ganz geschlossen oder zu Spezialkliniken, z. B. der Geriatrie, oder zu Altenheimen umgebaut, denn beides ist zurzeit einfach profitabler.

Was bedeutet das für Schwan­ gere, die nicht in Ballungsräu­ men leben? Sie haben, wenn der Geburtsprozess schon eingesetzt hat, immer häufiger lange Wege zu den großen Kliniken zurückzulegen, was in vielen Fällen dazu führt, dass manche Frauen schon Tage vor dem Entbindungstermin in einem Gästehaus in der Nähe der ihr zugewiesenen Klinik untergebracht werden, und so manches Kind kommt einfach im Auto zur Welt. Ohne Hebammen! Ohne Level 1 Haus! Ohne CTG! Die Ohne-Liste ist lang!

Warum ist die Haftpflicht überhaupt so ein großes Pro­ blem für uns? Hebammen in der Freiberuflichkeit sind ebenfalls gesetzlich verpflichtet sich in der Berufshaftpflicht zu versichern. Bereits seit Jahren kämpfen wir für eine stabile Versicherungssituation, bei der die Beiträge in einem angemessenen Verhältnis zum Einkommen der Hebammen stehen. Doch durch die gewinnorientierte Ausrichtung der Versicherungsgesellschaften, die die Interessen ihrer Aktionäre bedienen muss, gilt unser Berufsstand als unrentabel, da wir zu wenige Versicherte sind um die hohen Schadenssummen durch unsere Beiträge zu decken. Im Februar 2014 hatte die Nürnberger Versicherung angekündigt, sich ab Juli 2015 aus dem Markt der Hebammenberufshaftpflicht zurückzuziehen, was einem Berufsverbot gleichkommt! An diesem Punkt sind dann wieder alle freiberuflichen Hebammen betroffen. Angestellte Hebammen sind bei großen Schä-

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Medizin als Ware

den meistens nur über den Arbeitgeber versichert, wobei die Deckungssumme der Klinikhaftpflicht oft nicht ausreichend ist. Hebammen, die einen Schadensfall haben, können fristlos aus der Versicherung entlassen werden und haften dann mit dem Privatvermögen. Zum Teil werden sie nicht mehr weiterversichert, oder müssen entsprechend mehr in die Berufshaftpflicht einzahlen. Doch auch ohne Vorschäden sind die Haftpflichtversicherungsbeiträge in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Gründe für diese Entwicklung sieht der deutsche Hebammenverband zum einen in den steigenden Regressforderungen der Sozialversicherungsträger – so habe zwar die absolute Zahl der Behandlungsfälle abgenommen, aber relativ seien die Kosten gestiegen. Das liegt auch daran, dass die Möglichkeiten medizinischer Versorgung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen kontinuierlich ausgebaut und verbessert werden, was zu der durchaus positiven Entwicklung einer steigenden Lebenserwartung und -qualität, aber auch zu steigenden Schadensersatzforderungen führt. Zum anderen habe auch die Klagebereitschaft der Eltern zugenommen und nicht zuletzt kann bis zu 30 Jahren nach der Geburt wegen Folgeschäden auf Schadenersatz geklagt werden. Versicherungstechnisch wird so gerechnet: Es gibt ca. 12 Großschadensfälle pro Jahr, dies mit sinkender Tendenz, was einem prozentualen Anteil von 0,00018 % aller Geburten entspricht. Diese kosten durchschnittlich ca. 2,6–2,9 Mio Euro pro Fall. Das sind jährlich 31,2–35 Mio Euro. Würde man diese Summe durch die 650000 Geburten pro Jahr teilen, so erhält man einen Betrag von ca. 48 bis 54 Euro pro Geburt, der, wenn man ihn auf die Geburtspauschalen rechnet, zu einer Sozialisierung der Schadensumme führen würde (vgl. B. Uhlmann Hebammeninfo 4/2014, S.9). Manche Autoren fordern das System der Berufshaftpflicht und der finanziellen Entschädigung bzw. der Freistellung für Mittel für Geschädigte ganz unabhängig von finanziellen Interessen zu organisieren. Dies würde die Gesamtsituation sehr entlasten, sowohl für die Hebamme als auch für die Geschädigten, die viel Kraft und Geld dabei lassen, die benötigten Hilfen zu bekommen. Nicht zuletzt eine rege Öffentlichkeitsarbeit über Petitionen bei Change.org, die

Arbeit der Hebammenverbände (DHV und BfHD), die Organisation „Hebammen für Deutschland“ sowie vieler einzelner Hebammen, die Infotage und Demonstrationen und Kundgebungen veranstalteten, die zu einer großen Präsenz in der Presse führten, ließen dann Taten folgen. Nach zähen Verhandlungen zwischen den Hebammenverbänden, Krankenkassen, Versicherern und Politik kam es am 22.8.2014 dazu, dass die Hebammenverbände das Angebot des GKV-Spitzenverbandes zum Ausgleich der Haftpflichtprämie angenommen haben. Rückwirkend zum 1.7.2014 beteiligen sich nun die Krankenkassen an der Berufshaftpflichtversicherung (die praktisch im gleichen Atemzug und ebenfalls zum 1.7.2014 um 20 % erhöht wurde!). Sie zahlen pro vollendeter Hausgeburt 132 Euro, pro Beleggeburt in 1:1-Betreuung 30 Euro und Beleghebamme am Krankenhaus in Schichtdienst 8,81 Euro und die Geburtshaushebammen bekommen pro vollendeter Geburt 68 Euro dazu. Die Zuschläge, wenn die Geburt abgebrochen und verlegt wird, bewegen sich zwischen 10 und 17 Euro. Rechnen wir mal: Bei 30 Hausgeburten pro Jahr kommen 3960 Euro zusammen, die noch als Einnahme versteuert werden müssen, den aktuellen Haftpflichtprämienbeitrag von 5091 Euro (ohne Vorschäden) aber nicht decken. Die neuen Vereinbarungen gelten allerdings nur bis zum 30.6.2015. Der vom Bundestag beschlossene Sicherstellungszuschlag, der ab Juli 2015 gilt, soll die Erhöhung der Haftpflichtprämien für einen Teil der in der Geburtshilfe tätigen Hebammen abfangen. Doch nicht nur ist dessen Ausge-

staltung noch unklar, sondern ist dies nur ein kurzfristig wirkendes und nicht weit genug reichende Trostpflaster. Gibt es jedoch langfristig keine neuen politischen Lösungen für die Berufshaftpflichtproblematik, stehen wir wieder vor der Frage, wer uns wie und zu welchem Preis versichert. Das Karussell der zähen Verhandlungen, des Bangens, der vielen unbezahlten Arbeitsstunden wird sich dann wieder für uns drehen. Das Thema ist gesellschaftlich noch lange nicht ausdiskutiert. Es geht uns alle an! Alle wurden wir einmal geboren, haben schon selbst geboren oder wollen noch Kinder bekommen. Eine breite gesamtgesellschaftliche Diskussion, viele neue Ideen, vielleicht ein ganz neues System, ein echter politischer und humaner Wille für das „Geboren werden“ in unserer Gesellschaft, das nicht nur unter rein versicherungstechnischen und monetären Gesichtspunkten weiter gedacht wird, wäre uns allen zu wünschen. Lasst uns anfangen! Quellen: • Landkarte der Hebammenunterversorgung: www. hebammenverband.de/landkarte/?no_cache=1#c6772 • www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/VerdiensteArbeitskosten/VerdiensteVerdienstunterschiede/Tabellen/GPG_Unternehmen.html • PM zu Haftpflichterhöhung des DHV: www. hebammenverband.de/aktuell/pressemitteilungen/ pressemitteilung-detail/datum/2014/06/30/artikel/haftpflichterhoehung-fuer-hebammen-ab-juli-2014/ • Gutachten zur Versorgungs- und Vergütungssituation in der außerklinischen Hebammenhilfe, Mai 2012: www.iges.de/presse07/pressearchiv/pressemeldungen_2012/hebammenhilfe/index_ger.htm

Ute Ropeter, Hebamme


Medizin als Ware

Ärztliche Aus- und Weiterbildung in Zeiten der DRG und Privatisierung

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ine gute Weiterbildung braucht Zeit. Zeit zum Lernen, Zeit zur Supervision und Zeit für die Vermittlung von ethisch-menschlichem Handeln. Um dies zu gewährleisten, benötigt ein System ausreichend qualifiziertes Fachpersonal, welches zeitlich und personell im Stande ist, diese Aufgaben zu leisten. Weiterbildung ist ressourcenintensiv und refinanziert sich nicht in dem gleichen Jahr, in dem die Lehr- und Lernleistungen erbracht werden. Von Frauke Gundlach

Durch die DRGs wird die erbrachte Leistung, Behandlung des Kranken, vergütet. Investitionen über die direkte Krankenversorgung hinaus, wie die ärztliche Weiterbildung, sind hier nicht enthalten. Das Finanzierungssystem DRG: Diagnosis Related Groups (kurz DRG, deutsch Diagnose bezogene Fallgruppen) bezeichnen ein ökonomisch-medizinisches Klassifikationssystem, bei dem Patienten anhand ihrer Diagnosen und der durchgeführten Behandlungen in Fallgruppen klassifiziert werden, die nach dem für die Behandlung erforderlichen ökonomischen Aufwand unterteilt und bewertet sind. DRGs werden in verschiedenen Ländern zur Finanzierung von Krankenhausbehandlungen verwendet. Während in den meisten Ländern die DRGs krankenhausbezogen zur Verteilung staatlicher oder versicherungsbezogener Budgets verwendet werden, wurde in Deutschland das 2003 eingeführte DRG-System zu einem Fallpauschalensystem weiterentwickelt und wird seither zur Vergütung der einzelnen Krankenhausfälle verwendet.

Nun besteht die Gefahr, dass, aufgrund des rationalen und ressourcenorientierten Einsatzes von Personal, die Weiterbildung eingeschränkt erfolgt. Gerade bei Klinikträgern, welche vor allem gewinnbringend ausgerichtet sind, ist zu befürchten, dass hier aus Kostengründen nicht oder nur noch eingeschränkt ärztliche Weiterbildung stattfindet und ausschließlich Fachärzte oder Ärzte ab dem 3. und 4. Weiterbildungsjahr eingestellt werden.

zung während des Studiums. Andere haben sogar ganze Curricula für „ihre“ Studierenden entworfen. Ärzte werden zur begehrten Ware und heiß umworben. Diese Konzerne scheuen die Kosten der Ausbildungsunterstützung während des Studiums nicht, um die angehenden Ärzte schon frühzeitig an sich zu binden. Ausbildung und Weiterbildung dient hier als Werbungsmittel, welches die Krankenhäuser als Bonus anbieten. Was aber bedeutet es, wenn die ärztliche Aus- und Weiterbildung nicht als eigenständige zu vergütende Wertschöpfung gesehen wird, sondern zum Werbe- und Nebenprodukt verkommt? Wie sieht es in Zeiten einer Ärzteschwemme oder bei einem gesättigten Arbeitsmarkt aus? Müssen die Ärzte in Weiterbildung dann selber für ihre Ausbildung aufkommen? Oder entwickeln sich Zustände wie in Slowenien, wo die jungen Ärzte in Weiterbildung ihr erstes Berufsjahr nach dem Studium ohne Bezahlung arbeiten müssen, um Anspruch auf eine Weiterbildung zu erhalten? Wenn die Aus- und Weiterbildung keine gesamtgesellschaftliche Aufgabe mehr ist und nicht nach medizinischem Bedarf ausgebildet wird, geben wir dieses kostbare Gut ab und private Träger bilden nach eigenem wirtschaftlichen Bedarf aus. Werden dann weniger rentable Fachbereiche genauso mit Nachwuchs ver-

Werbung eines Klinikkonzerns um Famulaten und PJler: Wir bieten Ihnen mehr! • • • • • •

Engagierte Betreuer Unterbringung und Verpflegung (nach Absprache mit der Klinik) Nutzung von MediScript zur gezielten Prüfungsvorbereitung Zugang zu den digitalen Angeboten der Klink Akademie Aufwandspauschale von 100 Euro pro Monat* Welcome Package

*Die Aufwandspauschale wird an alle Famulanten gezahlt, die in Kliniken tätig sind, die in den Geltungsbereich des TV fallen.

sorgt wie gewinnbringende Disziplinen und wie sehr werden die angehenden Ärzte von Konzerntreue und nach dem Leitbild des privaten Ausbilders geprägt? Die ärztliche Weiterbildung wird dann zum Spielball der Wirtschaftlichkeit und Effizienz. Was also passiert mit unserer ärztlichen Weiterbildung zu Zeiten der DRG, wenn

Einige private Krankenhausträger nehmen sich der Ausbildung ihrer zukünftigen Ärzte an und unterstützen diese durch Ausbildungsangebote und finanzielle Unterstüt-

Foto: Katrin Morenz, creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

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Medizin als Ware

Entwickeln Sie Ihre Kompetenzen mit uns vom Krankenpflegepraktikum bis hin zum MedTrainee Programm parallel zum Studium weiter. So könnte Ihre strukturierte Qualifizierung aussehen:

Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass das DRG-System ggf. Krankenhäuser benachteiligt, die ärztliche Weiterbildungsstellen anbieten. Inwiefern private Krankenhausträger aus ökonomischer Motivation die Anstellung von Fachärzten bzw. Weiterbildungsassistenten ab dem 3./4. Weiterbildungsjahr anstreben, bedarf weiterer Untersuchungen. Fehlende Weiterbildungskapazitäten können in ausgewählten Fachgebieten den bereits bestehenden Ärztemangel noch verstärken. Für den Arzt kann dies eine Einschränkung bei der Erfüllung seines subjektiven Fortbildungsbedürfnisses bedeuten. Der Arzt muss auch weiterhin in der Wahl der Art seiner Fortbildung frei bleiben (vgl. Musterfortbildungsordnung).

Abbildung 1: Private Ausbildung vom Krankenpflegepraktikum bis hin zum Med-Trainee Programm parallel zum Studium

diese nicht in die Gesundheitskosten mit eingerechnet sind und die Kliniken – unsere Weiterbildungsstätten – sparen müssen? Kommt es zu einer Privatisierung der Weiterbildung? Zu was werden wir unter dem Kostendruck und Sparzwang des DRGSystems ausgebildet? Ist hier noch Raum sich zu einem selbstständigen, ethisch handelnden Arzt zu entwickeln oder unterwerfen wir uns eines Tages dem Leitbild Krankheit als Ware zu betrachten in einem System, welches planbare Kranke mit rentablen Fallpauschalen bevorzugt? Ebenso gilt es auf die Gefährdung der „weichen Faktoren“, wie z. B. kommunikative Leistung, Zuwendung, Begegnung etc., hinzuweisen. Die aktuellen Vergütungssysteme ermöglichen keine spezifischen Regelungen für eine adäquate Abbildung der Betreuung sterbender Patienten oder aber sich verabschiedender Angehöriger. Dennoch bleibt Frauke Gundlach diese Form der Zuwendung Ärztin in Weiterbildung insbesondere aus ethischer Eberswalde Sicht mehr denn je unverzichtbar.

Auch die Unabhängigkeit ärztlicher Entscheidungen und Indikationsstellungen im Sinne der Wahrung der Therapiefreiheit könnte gefährdet sein. Auch unter den Finanzierungsbedingungen des DRGSystems muss sichergestellt sein, dass „verlustbringende“ Patienten weiterhin aufgenommen und nach dem neuesten Stand des medizinischen Wissens betreut werden. Eine ökonomisch bedingte Selektion von Patienten (insbesondere im Bereich der Notfallversorgung) bleibt ethisch inakzeptabel und wurde bis auf Weiteres von der Ärzteschaft zurückgewiesen. Insbesondere bei Patienten, die aus ökonomischer Sicht potenzielle „Extremkostenausreißer“ werden könnten, muss das Primat der medizinischen Indikation gewährleistet bleiben. Die mit der Privatisierung verbundene Spezialisierung der Kliniken wird die Möglichkeiten zur ärztlichen Weiterbildung (absolute Zahl der Weiterbildungsstellen, neues Weiterbildungsspektrum in einer Klinik) begrenzen. Die Rotation während der Weiterbildung als Garant der für den Erwerb einer Facharztbezeichnung notwendigen Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten darf durch die Privatisierung nicht eingeschränkt werden.

Denkbar ist auch folgendes Szenario: Die Ausgaben für Personal stellen den „Kostenfaktor Nummer eins“ im Krankenhaus dar. Inhalt der Weiterbildung im Krankenhaus ist das praktische Handeln unter Aufsicht von Fachärzten, denen es gleichzeitig obliegt, ihr Erfahrungswissen weiterzugeben. Wenn es nun aus „Kostengründen“ zum Sparen an Fachärzten kommt, folgt eine Verschlechterung der Weiterbildung. Die Betroffenen verfügen über niemanden, von deren Erfahrung sie profitieren können. Gleichzeitig müssen sie ohne fachärztlichen Rückhalt Arbeiten erledigen, für die sie noch nicht genügend Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt haben. Das bedeutet eine Verschlechterung der Qualität ärztlicher Arbeit. Diese wird, so kann befürchtet werden, noch fortgepflanzt. Wer schlecht weitergebildet wurde, wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht besser weiterbilden können. Eine weitere Privatisierung, so lässt sich folgern, wird mit dem Abbau ärztlicher Stellen als auch mit der Verschlechterung der Weiterbildung, zu einer Verschlechterung der Gesundheitsversorgung führen.


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Schlechtere Versorgung für chronisch Kranke? Psychiatrie: Neues Entgeltsystem PEPP wird eingeführt

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ie Ärzte Zeitung betitelte sie jüngst als „Großreform“: Das neue Pauschalisierende Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) steht in Deutschland in den Startlöchern. Es war eine seiner letzten Amtshandlungen als Gesundheitsminister, als Daniel Bahr (FDP) die verpflichtende Einführung von PEPP durch die Abstimmung im Bundestag boxte. Von Lea Peplau

Da sich in der Folge die kritischen Stimmen häuften, wurde der Zeitplan im Frühjahr 2014 neu verhandelt: Zwar können Kliniken bereits seit 2013 PEPP freiwillig einführen, erst ab Januar 2017 soll es nun aber tatsächlich für Psychiatrie und Psychosomatik verbindlich werden.

Was ist PEPP?

Kurz zusammengefasst bedeutet PEPP eine auf die Diagnose bezogene degressive Tagesvergütung. Um den unterschiedlichen Verläufen psychiatrischer Erkrankungen gerecht zu werden, wird im Gegensatz zum DRG-System auf den Einsatz von Fallpauschalen verzichtet. PEPP beinhaltet 26 Entgeltklassen mit je bis zu drei Vergütungsstufen, in die die Patienten über Haupt- und Nebendiagnosen sowie das Alter eingeteilt werden. Entwickelt wurde PEPP vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK), das bereits das DRG-System entwickelt hat. InEK bekam zu diesem Zweck Daten aus sich freiwillig beteiligenden Krankenhäusern und ermittelte daraus „kostenhomogene“ Patientengruppen, das heißt Patientengruppen, die annähernd den gleichen Behandlungsaufwand erfordern. Durch den Vergleich der Patientengruppen miteinander entstanden „Relativgewichte“: Einem theoretischen Durchschnittsfall wird das Relativgewicht 1 zugeordnet. Patientengruppen mit höherem Behandlungsaufwand

erhalten einen Wert >1, weniger aufwendige Gruppen einen Wert <1. Multipliziert man das Relativgewicht mit dem „Basisfallpreis“, erhält man im Ergebnis den von der Kasse zu zahlenden Tagessatz.

Chancen und Risiken

Bisher scheint PEPP in den Kliniken vorwiegend auf Ablehnung zu stoßen: Von bundesweit ca. 570–580 psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken und Fachabteilungen beteiligten sich Anfang Mai 2014 weniger als 80 freiwillig am neuen Entgeltsystem. Zudem sammelte die Bundestagspetition „Weg mit PEPP“ Anfang 2014 über 43.000 Stimmen, um die Einführung zu stoppen bzw. den Einführungszeitraum zu verlängern. Die Kritik wurde unter anderem mitgetragen von verdi, psychiatrischen Fachverbänden, Kliniken, Patienten und der IPPNW. Eine entscheidende Befürchtung war dabei, dass durch die verweildauerabhängige degressive Vergütung die Fehler des DRG-Systems (immer kürzere Verweildauern und „blutige Entlassungen“) wiederholt werden. Um dieser Befürchtung entgegen zu treten, wurden in der jüngeren Vergangenheit bereits mehrere Verbesserungen von PEPP beschlossen. So ist es inzwischen zum Beispiel möglich, kostenintensive Einzelelemente wie eine Eins-zu-eins-Betreuung zusätzlich zu vergüten oder Nebendiagnosen besser zu berücksichtigen. Die Degres-

Ehem. Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) Foto: Techniker Krankenkasse

sionskurve wurde abgemildert. Die Kritik bleibt dennoch bestehen. Die Fachverbände beklagen zudem, in der Entwicklungsphase übergangen worden zu sein, so dass keine erforderliche multidisziplinäre Expertenkommission entstehen konnte. Auch die Ausrichtung der Vergütung an den Diagnosen wird immer wieder heftig kritisiert: Nach PEPP würde zum Beispiel ein Patient in einem hoch akuten Schizophrenie-Schub für die Klinik höher vergütet als ein Patient mit einer diskreten Schizophrenie, obwohl diese in der Regel einen höheren therapeutischen Aufwand erfordert. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind zudem die sozialen Umstände oftmals für den Verlauf entscheidender als die Diagnose. Sowieso lassen sich die Bedürfnisse psychisch Erkrankter nicht anhand von Diagnosen pauschalisieren. PEPP ist ausschließlich auf die stationäre Versorgung ausgerichtet. Gerade bei komplizierten Krankheitsverläufen ist ein flexibles, sektorenübergreifendes Behandlungssetting jedoch von erheblicher Bedeutung. Fachleute befürchten, dass innovative, ambulant orientierte und multiprofessionelle Versorgungsprojekte durch PEPP ausgebremst werden könnten. Die Abrechnung mit PEPP erfordert für die Kliniken zudem einen erheblichen Aufwand, aus dem sogar die Entwicklung einer eigenen Berufsgruppe „Kodierfachkraft“ hervorgehen könnte. Neben all der Kritik findet PEPP auch Befürworter. Insbesondere die Bundespsychotherapeutenkammer, der GKV-Spitzenverband und psychosomatische Fachverbände sehen in den Neuerungen auch Chancen. So scheint es möglich, mittels PEPP gerade die personalintensivere Patientenversorgung (Beispiel Eins-zu-eins-Betreuung) genauer zu erfassen und somit fairer zu vergüten. Es wird zudem argumentiert, dass die Degression der Tagesentgelte ver-

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Medizin als Ware

hältnismäßig sanft verlaufe und der Realität der betreuungsintensiveren ersten Behandlungsphase entspreche.

Neue Personalver­ ordnung?

Lea Peplau Dipl.-Psychologin/Psychol. Psychotherapeutin, Stadthagen/Hannover

Gleichzeitig mit der Einführung von PEPP wurde der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) damit beauftragt, neue Strukturempfehlungen zur Personalausstattung zu entwickeln. Die bisher gültige Personalverordnung (Psych PV) ist bereits seit vielen Jahren nicht mehr in der Lage, alle psychiatrischen und psychosomatischen Behandlungsbereiche adäquat abzubilden.

Mit der Ablösung der Psych-PV ergibt sich somit gleichzeitig eine wichtige Chance für eine stärker psychotherapeutisch ausgerichtete Versorgung in Krankenhäusern. Fraglich bleibt bisher jedoch, wie verbindlich die neuen Empfehlungen des GBA für die Kliniken sein werden.

Zusammenfassung

Das Pauschalisierende Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) wird ab 2017 trotz bedeutsamer Kritik verbindlich eingeführt. In einigen Punkten erscheint es differenzierter und gerechter als das DRGSystem, es bleiben jedoch auch wichtige Fragen offen. Von den Entwicklern wurde PEPP als „lernendes System“ präsentiert, dass sich auch in Zukunft immer weiter ausdifferenzieren lasse. Dadurch könnte die Möglichkeit bestehen, Schwächen von PEPP noch vor dessen Start 2017 zu beheben. Das ist sicher wünschenswert.

Quellen: • Bördlein, I.: Notbremse für PEPP-System ist notwendig. In: Ärzte Zeitung, Springer Medizin, 25.04.2014 • Bühring, P.: Psychiatrie – Entgeltsystem. Kleine Korrekturen genügen nicht. In: Deutsches Ärzteblatt PP, Heft 6, Juni 2014 • Bundespsychotherapeutenkammer: BPtK – Spezial: Pauschalisierendes Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik: Konzept, Zeitplan, Chancen • Bundespsychotherapeutenkammer: Optionsphase verlängert – Degression korrigiert. PEPP erweist sich als lernendes System. www.bptk.de, 07.05.2014 • Bundespsychotherapeutenkammer: PEPP 2014 – Erster Schritt zu einer leistungsgerechteren Vergütung. www.bptk.de, 09.09.2013 • Deutscher Bundestag. Petition 46537: Vergütung für medizinische Leistungen – Neues Entgeltsystem für psychiatrische und psychosomatische Krankenhäuser frühestens 2017, 25.10.2013 • Staeck, F.: Entgeltsystem PEPP – Akzeptanz sieht anders an. In: Ärzte Zeitung, Springer Medizin, 06.05.2014 • Von Hardenberg, N.: Schablonen für die Depression. In: sueddeutsche.de, 08.11.2012 • Wolff-Menzler, C. & Große, C.: Leistungs- und tagesbezogene pauschale Vergütung in der stationären psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung – Eine Analyse der Anreizwirkungen des PEPPSystems. In: Das Gesundheitswesen, Georg Thieme Verlag eFirst, Publikation 06/2014

Neue Versorgungskonzepte zur Behandlung psychischer Störungen Integrierte Psychiatrische Versorgung in Niedersachsen, Innovative psychiatrische Versorgungsstrukturen mit ambulantem Schwerpunkt

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ie Behandlung von schwer psychisch erkrankten Menschen in Deutschland krankt an den besonderen Umständen einer sektorisierten Versorgung im Gesundheitssystem. Vielen Erkrankten kann kein adäquates Angebot einer gemeindenahen Behandlung nach den anerkannten wissenschaftlichen Behandlungsstandards gemacht werden. Insbesondere in Krisensituationen müssen Patienten vergleichsweise oft in hochschwellige Einrichtungen wie Krankenhäuser, obwohl ambulante Behandlungsoptionen dies wirksam verhindern könnten. Von Dr. Matthias Walle

Dies liegt daran, dass in einem sektorisierten Gesundheitssystem Ressourcen starr verteilt sind. Werden z. B. im ambulanten Sektor mehr Leistungen erbracht, damit sie im stationären Sektor nicht erbracht werden müssen, gibt es dafür keinen Finanzierungsfluss. Die „Finanz-Töpfe“ sind undurchlässig, was immer die Gefahr einer Erstarrung des Versorgungssystems in sich trägt. Versorgung folgt dadurch eher institutionellen Interessen als Patienteninteressen. Die Folgen der Sektorisierung zeigen sich bei allen Beteiligten: Der behandelnde Psy-

chiater, der in Deutschland je nach Bundesland durchschnittlich ca. 50–75 € pro Patient pro Quartal erhält, kann vor diesem Hintergrund Patienten ambulant nicht intensiv betreuen. Das ambulante Versorgungssystem bleibt weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. Das gesamte Versorgungssystem wird teuer, da oftmals nicht zwingend erforderliche stationäre Behandlungen erfolgen. Und nicht zuletzt erhält der Patient nicht die bestmögliche Behandlung, die ihm auch und gerade in der Krise eine stationäre Behandlung ersparen könnte.

Integrierte Versorgungskon­ zeption

Abhilfe schaffen integrierte Versorgungssysteme, die Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsreserven durch fachliche und wirtschaftliche Integration der verschiedenen Sektoren erschließen. Nur über diesen Weg ist derzeit eine finanzielle Integration der unterschiedlichen Sektoren im deutschen Gesundheitssystem möglich. Die Versorgungskonzeption des „niedersächsischen Weges“ ist ausgerichtet an der Behebung der Defizite der Regelversorgung


Zugang zu medizinischer Versorgung

Abbildung 1: Durchlässigkeit der Sektoren

und greift die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Effizienz von Versorgungsmodulen auf. Kern ist die Schaffung einer Durchlässigkeit von ambulantem und stationärem Sektor, so dass Geld der Leistung folgen kann (siehe Abb.1). Die durch Einsparung in der stationären Versorgung frei gesetzten Ressourcen werden in der ambulanten Versorgung mit spezifischen Anreizsystemen eingesetzt, so dass dieses insgesamt leistungsfähiger wird, wodurch die Vorrangigkeit ambulanter vor stationärer Behandlung erst ermöglicht wird. Zur Umsetzung der Versorgung werden in den Regionen geeignete Netzwerkpartner vertraglich eingebunden. In den Verträgen werden die berufsspezifischen Leistungsinhalte und die Netzwerkregeln festgelegt, zu denen sich jeder Netzwerkpartner verpflichten muss. Anders als im Kollektivvertrag werden in der Integrierten Versorgung Ärzte und andere Leistungspartner selektiv eingebunden. Die Inhalte und die Finanzierung sind frei verhandelbar. Basis der Versorgung sind die bestehenden und anerkannten wissenschaftlichen Standards der S3-Leitlinie psychosozialer Therapien bei schweren psychischen Störungen und der S3-Leitlinien Schizophrenie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN). Die Leitlinie ist die Grundlage für den so genannten Behandlungspfad, der regelt, welcher Leistungspartner welche Leistung zu welcher Zeit erbringt und wer entscheidet, wer was wann macht. Dabei wird der Grundsatz ambulant vor stationär berücksichtigt. Zur Sicherung eines niedrigschwelligen Zugangs für die Patienten in das Versorgungssystem erfolgt die Steuerung vorrangig ambulant aus dem Lebensumfeld der Patienten – entsprechend den lange

bestehenden Forderungen der Psychiatrie-Enquete der 1970er Jahre. Die Versorgungssteuerung und die medizinische Verantwortung für den Behandlungsplan liegen beim Facharzt. Die Umsetzung erfolgt durch Bezugstherapeuten aus der ambulanten psychiatrischen Pflege. Basis der Behandlung ist ein langfristiger Gesamtbehandlungsplan mit Versorgungsverantwortung über alle Erkrankungsabschnitte hinweg. Durch regelmäßige Behandlungskonferenzen wird ein fachlicher Austausch zwischen der beteiligten Behandlern sichergestellt (siehe Abb. 2). In der Integrierten Versorgung entscheidet der Patient selbst bzw. sein gesetzlicher Vertreter, ob er teilnehmen möchte. Geeignet sind vor allem Patienten, die einen komplexen Behandlungsbedarf haben und oftmals in unterschiedlichen Versorgungssektoren behandelt werden müssen. Dies trifft regelhaft insbesondere auf die schweren psychischen Störungen wie Schizophrenie oder affektive und Persönlichkeitsstörung zu. Integrierte Versorgung nach dem dargestellten Modell wurde auf mehreren Ebenen wissenschaftlich evaluiert (siehe Quellen). Die Ergebnisse zeigen, dass es gerade durch den Grundsatz ambulant vor stationär zu einer eindrücklichen Verbesserung der

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Versorgungsqualität kommt. Patienten, die innerhalb der Integrierten Psychiatrischen Versorgung behandelt werden, haben subjektiv sehr stark die Sicherheit, dass es Hilfe außerhalb des Krankenhauses gibt. Patienten innerhalb der Regelversorgung sehen dagegen einen Krankenhausaufenthalt als unausweichlich in der Krise an. Auch nehmen die integriert behandelten Patienten einen flexibleren Einsatz von Behandlungsleistungen wahr, der im Gegensatz zur Regelversorgung nicht von Genehmigungsprozessen oder starren Kontingenten abhängig ist. Versorgung in diesem Sinne ist nicht kostenintensiver. Unterschiedliche Studien zeigen eine zum Teil deutliche Kosteneinsparung gerade bei Patienten mit schweren Erkrankungsverläufen und mit der Diagnose Schizophrenie. In keiner der vorliegenden Studien wurden die Versorgungskosten höher. Alles in allem ist der dargestellte Weg der Integrierten Versorgung eine wirksame Möglichkeit, Versorgung zu verbessern, ohne dass hierfür höhere Kosten aufgewendet werden müssen. Quellen: • „Dass man also frei bleibt, aber immer das Gefühl hat: Da ist die Haltestange, die ich brauch“. Integrierte Versorgung aus Sicht von Patienten mit einer schizophrenen Erkrankung und ihrer Angehörigen. Jürgensen M et al, Psychiatrische Praxis 2014. • Kostenevaluation eines Modells der Integrierten Versorgung für schwer psychisch Kranke. Fischer et al, Gesundheitswesen 2014; 76:86-95 • Roick et al., AOK-Bundesverband, Matched-Pair-Vergleich zur Integrierten Versorgung am Ostebogen, unveröffentlichte Ergebnisse 2009

Dr. Matthias Walle Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Hemmoor

Abbildung 2: Patientenzentrierte Versorgung stellt den Patienten in den Mittelpunkt des Behandlungsprozesses (PET = psychoedukatives Training)


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Zugang zu medizinischer Versorgung

Medizinische Versorgung für Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland Ein Frankfurter Projekt und seine Vor- und Nachteile

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as Menschenrecht auf Gesundheit wird in Deutschland missachtet. Am 16.12.1966 wurde der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) beschlossen. Zehn Jahre später trat er völkerrechtlich in Kraft. Von Julia Weber

In Artikel 12 ist das Recht auf Gesundheit festgelegt: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf das für ihn erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit an. Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die erforderlichen Maßnahmen […] zur Schaffung der Voraussetzungen, die für jedermann im Krankheitsfall den Genuss medizinischer Einrichtungen und ärztlicher Betreuung sicherstellen.“ Soweit die Theorie, doch auch fast 40 Jahre später besteht für viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland immer noch eingeschränkter oder gar kein Zugang zum Gesundheitssystem. Vor allem Menschen ohne Papiere müssen bei Inanspruchnahme von Leistungen eine Meldung durch das Sozialamt an die Ausländerbehörde und eine darauffolgende Abschiebung befürchten (§87 AufenthG) und gehen deshalb im Krankheitsfall oftmals nicht zum Arzt. Akute Erkrankungen können sich so verschlimmern oder sogar chronifizieren, Infektionskrankheiten können sich ungehindert weiter ausbreiten. Es besteht deshalb bedauerlicherweise immer noch die Notwendigkeit des (ehrenamtlichen) Engagements vieler Menschen, um unabhängig vom Regelsystem die medizinische Versorgung für alle Menschen in Deutschland sicherzustellen. Studentische Poliklinik – ein selbstloses Projekt oder ein fauler KomproJulia Weber miss? Im Juni dieses 9. Semester, Mainz Jahres wurde eine neue ehrenamtliche Versorgungsstruktur in Frankfurt

am Main geschaffen – die erste studentische Poliklinik (StuPoli) in Deutschland. Die Studierenden der Humanmedizin der Goethe-Universität Frankfurt bieten eine wöchentliche Sprechstunde zur Basisversorgung nicht krankenversicherter Menschen an, nach dem Vorbild der US-amerikanischen „Student-Run Free Clinics“, die bereits seit über 20 Jahren bestehen. Unterstützt wird das Projekt von Prof. Dr. Dr. Dr. Robert Sader, Studiendekan der medizinischen Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt, Ärztinnen und Ärzten, Studierenden, dem Gesundheitsamt und vielen anderen. Finanziell ist die StuPoli auf Spendengelder angewiesen, die Startfinanzierung wurde jedoch durch Lehrverbesserungsmittel des Fachbereichs Medizin der Goethe-Universität und die „Wilhelm und Maria Kirmser Stiftung“ sichergestellt. An dem studentischen Projekt lassen sich allerdings mehrere Punkte kritisch hinterfragen: 1. Fördert die studentische Poliklinik eine Mehrklassenmedizin? Bei der StuPoli handelt es sich um ein studentisches Projekt und somit um eine parallele medizinische Versorgungsstruktur. Es ist also eindeutig, dass hier nicht der freie Zugang aller Menschen zum allgemeinen Gesundheitssystem gefördert, sondern ein alternatives Angebot der medizinischen Versorgung durch nicht fertig ausgebildete MedizinerInnen geschaffen wird. Um unter diesen Umständen dennoch eine möglichst gute medizinische Versorgung zu gewährleisten, wurden Mechanismen der Qualitätssicherung etabliert: Beim Ablauf der Sprechstunde orientieren sich die Studierenden am Partnerprojekt der Harvard University (Chrimson Care Collabo-

rative), wo sie letzten Sommer hospitieren durften. Die Erstanamnese und -untersuchung erfolgen durch ein Team aus einem Junior (erstes bis drittes klinisches Semester) und einem Senior (viertes klinisches Semester bis praktisches Jahr). Anschließend erfolgt eine Nachuntersuchung der PatientInnen durch für die Supervision der Studierenden zuständige ÄrztInnen. Zur weiteren Qualitätssicherung müssen alle Juniors vor ihrem Einsatz in der Sprechstunde vier Semesterwochenstunden ein Wahlpflichtfach belegen. Die TeilnehmerInnen erlernen hier Untersuchungstechniken in einem 16-stündigen Kurs. Außerdem erlernen sie Techniken der Gesprächsführung und erhalten einen Überblick über die häufigsten Beratungsanlässe einer allgemeinmedizinischen Praxis. Das Wahlfach wurde ebenfalls von der StuPoli in Kooperation mit dem Institut für Allgemeinmedizin konzipiert. 2. Wird die Hilfsbedürftigkeit von Menschen ohne Papiere oder ohne Krankenversicherung zu Lehrzwecken ausgenutzt? Der oben geschilderte Ablauf in der StuPoli ist genau entgegengesetzt zu dem, der Menschen mit Krankenversicherung in Deutschland erwartet: Normalerweise erfolgt zuerst eine Untersuchung durch ausgebildete ÄrztInnen und dann ggf. eine Nachuntersuchung durch Studierende zu Lehrzwecken. Auch durch die Angliederung an die Frankfurter Uniklinik und das neu entwickelte Wahlfach dient dieses Projekt eindeutig Lehrzwecken und erfüllt somit ein gewisses Eigeninteresse der Studierenden, die dadurch ihre Fertigkeiten im Umgang mit PatientInnen erproben können. 3. Bewirkt ein Ausbau der Parallelstrukturen der medizinischen Versorgung, dass sich die Politik weniger in der Verantwortung sieht und die Umsetzung des UNPaktes weiterhin nicht fortschreitet? Meiner Meinung nach ist diese Frage eindeutig mit „ja“ zu beantworten. Natürlich bewirkt der Ausbau von Parallelstrukturen zur medizinischen Versorgung von Menschen ohne Papiere oder ohne Krankenversicherung eine Entlastung des Regelsystems und


Zugang zu medizinischer Versorgung

Arbeit stellen müssen und deshalb für das Ziel eintreten, sich eines Tages überflüssig zu machen. Es wäre wünschenswert, dass sich die Studierenden der Frankfurter StuPoli auch mit diesen Fragen auseinandersetzen, um auf die bestehenden Missstände in der Gesundheitsversorgung aufmerksam zu machen und nicht einer Politik der Ungleichbehandlung den Rücken zu stärken. Quellen:

führt dazu, dass PolitikerInnen das soziale Engagement loben, es u. U. mit Preisen bedenken, aber nicht bereit sind, grundsätzlich etwas zu ändern. Und die USA als Vorbild eines solchen Projekts zu nehmen, ein Land, in dem es immer noch keine gesetzliche Krankenversicherung für alle BürgerInnen gibt, ist sicherlich auch kritisch zu betrachten. Allerdings wird durch ehrenamtliche Projekte wenigstens eine Basisver-

sorgung für Menschen gewährleistet, denen sonst überhaupt kein Zugang zu medizinischer Versorgung möglich wäre. Aus diesem Grund gründete sich schon 1996 das erste Medibüro in Hamburg mit dem Ziel, anonym und kostenlos medizinische Hilfe zu vermitteln. Mittlerweile gibt es bundesweit mehr als 30 solcher Initiativen, die sich auch immer wieder die Frage einer fortschreitenden Institutionalisierung ihrer ehrenamtlichen

1) www.institut-fuer-menschenrechte.de/menschenrechtsinstrumente/ vereinte-nationen/menschenrechtsabkommen/sozialpakt-icescr.html [Stand: 26.06.2014] 2) „Das Recht auf Gesundheit“, Milli Schröder/Nicola Timpe, Hamburger Ärzteblatt 07-08/2009, S. 10 3) https://sites.google.com/site/anmeldungstupoli/ was-ist-die-stupoli [Stand: 29.06.2014] 4) http://medibueros.m-bient.com/startseite.html [Stand: 06.07.2014] 5) http://de.wikipedia.org/wiki/Medinetz [Stand: 06.07.2014] 6) Presseinformation StuPoli, Frankfurt am Mainz, 13.06.2014

Médecine pour le peuple

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édecine pour le peuple nennt sich die belgische Gesundheitsinitiative, welche Gesundheitsversorgung mit einem präventiven sozialmedizinischen Ansatz anbietet. Die Übersetzung des Namens bereitet Schwierigkeiten: Das Wort „peuple“ ist im Deutschen nach 1933 nicht mehr einfach mit „Volk“ zu übersetzen. Von Nadja Rakowitz & Frauke Gundlach

„Medizin für das Volk“ geht nicht; aber auch „Medizin für die Bevölkerung“ oder „die Leute“ transportiert nicht das, was im französischen (wie in vielen anderen Sprachen auch) bei „le peuple“ mitschwingt: bürgerliche Freiheit und Gleichheit und möglicherweise auch diese überwindende Volkssouveränität. Die Médecine pour le peuple (MPLP) sehen sich im Kontext der 68er Bewegung und ihrer Folgen und sind auf Initiative der kleinen belgischen Parti du Travail de Belgique (www.ptb.be) bzw. einer ihrer Vorläufer gegründet worden.1 Die erste der heute elf Praxen wurde 1971 von Kris Merckx in Hoboken geöffnet. Rita Vanobberghen arbeitet als Ärztin in der CLÉ (= Centre pour la Lutte Égalité) genannten Praxis in Schaarbeek, einem multikulturellen und eher armen Stadtteil Brüssels. Sie berichtet über das

belgische Gesundheitswesen, ihre Kritik daran und die Ursprünge und Ziele von Médecine pour le peuple. In dem Netzwerk aus elf Praxen in verschiedenen Industriestädten Belgiens sind 75 GesundheitsarbeiterInnen (Allgemeinärzte und Therapeuten) und ca. 60 Verwaltungsangestellte beschäftigt, unterstützt von über hundert Ehrenamtlichen, wie z. B. Medizinstudierende, die dort ein Praktikum machen.2 Eine Hauptkritik des Netzwerks sind die hohen Zuzahlungen, die alle Patienten in Belgien leisten müssen: für Medikamente, Blutentnahmen, aber auch pro Konsultation. So sind bei jedem Arztbesuch 20 Euro „Praxisgebühr“ zu entrichten, von denen man dann 15 Euro wieder von der Kasse erstattet bekommt – es bleiben netto fünf Euro pro Konsultation. In den Praxen der MPLP müssen die PatientInnen nichts bezahlen!

Das haben die MPLP mit den Krankenkassen aushandeln können: Sie erhalten einen Festbetrag pro Patient pro Quartal, mit welchem sie auskommen müssen. Die Patienten verpflichten sich hingegen, dass sie, für die Zeit in welcher sie in der Praxis der MPLP eingeschrieben sind, keinen anderen Hausarzt aufsuchen. Sollte ein Krankenhausaufenthalt oder die Konsultation eines Facharztes notwendig sein, ist dies natürlich möglich und von der Limitation ausgenommen. Im Netzwerk sind insgesamt 30.000 PatientInnen (mit 53 verschiedenen Nationalitäten) eingeschrieben. In Schaarbeek versorgen sieben Ärzte und eine Krankenschwester 3.000 eingeschriebene PatientInnen und dazu noch einmal 250 Familien ohne Papiere, die nicht eingeschrieben sind. Nur diese „Mitglieder“, mit Ausnahme illegalisierter Menschen, können sich in den Praxen behandeln lassen, da zum einen nur so das ausgehandelte Konzept funktioniert. Die Ärzte nehmen sich aber auch bewusst für jeden Patienten 20 Minuten Zeit. Ohne Begrenzung der Patientenzahl wäre dies wahrscheinlich nicht machbar. Während, so Rita Vanobberghen, die profitgesteuerte Logik im Gesundheitswesen so sei, dass PatientInnen möglichst oft zum Arzt gehen, gehe es ihnen bei MPLP darum,

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Zugang zu medizinischer Versorgung

dass die PatientInnen möglichst wenig zum Arzt gehen müssen.

Gesundheitspolitische und polit­ökonomische Verände­ rungen Laut der MPLP3 ist zwischen 1997 und 2005 der Anteil an privaten Zuzahlungen, den die PatientInnen in Belgien bezahlen müssen, von 23 auf 28 Prozent gestiegen. Inzwischen zögern 14 Prozent der Belgier den Besuch beim Arzt hinaus, weil die Kosten zu hoch sind. 1997 waren es noch acht Prozent. Für 35 Prozent der Familien stellen die hohen Kosten für medizinische Versorgung ein finanzielles Problem dar. MPLP erklären dies im Zusammenhang des Vertrags von Maastricht von 1991, gemäß dessen Kriterien die Staaten der EU sich gezwungen haben, ihre Verschuldung nicht höher als 60 Prozent des BIP wachsen zu lassen. Belgien hatte zu Beginn der 1990er Jahre eine Verschuldung von mehr als 130 Prozent des BIP (und noch bei Eintritt in die Eurozone 122,2 Prozent!4). Da die Politik in der ganzen EU ähnlich neoliberal war wie auch in Deutschland, und die Ausgaben der Sozialversicherungen zum Staatshaushalt gezählt werden, wurden auch im belgischen Gesundheitswesen Kosten auf die PatientInnen verlagert. MPLP verweisen auf eine Dr. Nadja Rakowitz Verein demokratischer Studie einer belgischen KranÄrztinnen und Ärzte kenversicherung unter ihren 6.000 Mitgliedern, die zeigte, dass eine von acht Familien Probleme mit den Kosten für die Gesundheitsausgaben hatte – unter chronisch Kranken gar ein Drittel. Trotz obligatorischer solidarischer Krankenversicherung hätten sieben Millionen Belgier eine private Zusatzversicherung für die Krankenhausbehandlung, deren Prämien aber immer weiter steigen. Menschen über 80 Jahre bekämen eine solche VersiFrauke Gundlach cherung oft schon gar nicht Ärztin in Weiterbildung mehr. Die Ausgaben für GeEberswalde sundheit bzw. medizinische Versorgung seien inzwischen einer der wichtigsten

Gründe für die Verschuldung von Familien. Das belgische Gesundheitsnetzwerk warnt eindrücklich mit den bekannten Argumenten vor Markt- und Profitlogik im Gesundheitswesen, die auch von belgischen PolitikerInnen als Reformoption favorisiert werden.

Was machen MPLP praktisch? Zunächst einmal zahlen sie von dem Geld, das sie pro Patient von der Krankenversicherung bekommen, jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin das gleiche – gemessen an den Einkommen deutscher niedergelassener ÄrztInnen nicht gerade üppige – Gehalt. Es wird kollektiv gearbeitet und alle relevanten Entscheidungen bei der wöchentlichen Teambesprechung diskutiert.

Eines der größten Probleme unseres Gesundheitssystems ist, dass alle Akteure an der Krankheit verdienen – nicht an der Gesundheit. Das re­ gionale Psychiatriebudget ändert diese grundsätzliche Schieflage. Auch die gemeinsamen Fallbesprechungen sind ein wichtiges Element. Das bei diesen Teambesprechungen auch die Reinigungskraft mit am Tisch sitzt, gehört zum Konzept. Zentral ist ein präventiver sozialmedizinischer Ansatz. Die Leute sollen gesund sein und erst gar nicht zu ihrer Praxis kommen müssen. Dazu gehört natürlich auch sozialpolitisches Engagement im Kiez. So haben die Mitarbeiter von MPLP in Genk z. B. eine Untersuchung der sozialen Determinanten von Gesundheit im Stadtteil Sledderlo gemacht, wo die Praxis ihren Sitz hat und festgestellt, dass es dort überproportional viele Atemwegserkrankungen gab, die mit der schweren Umweltverschmutzung durch eine Fabrik dort zusammenhingen. Gemeinsam mit den Einwohnern konnte erreicht werden, dass zumindest die Grundschule aus der unmittelbaren Nähe der Fabrik weg gezogen ist. Eine andere berühmte Auseinandersetzung gab es wegen des Anstiegs von Bleivergiftungen – ebenfalls verursacht durch eine Fabrik. In der Versorgung setzen sich MPLP für kostengünstige Medikamente ein. In der Kampagne für Generika „Modell Kiwi“ setz-

ten sie sich für kostengünstige Medikamente ein und zeigten, dass diese in Neuseeland nur einen Bruchteil dessen kosten, was man in Belgien dafür zahlen muss. Außerdem setzen sie sich für ein öffentliches Gesundheitswesen, für die Ausweitung der Solidarität in der Krankenversicherung und gegen die Privatisierung des Gesundheitswesens ein. Eines der größten Probleme unseres Gesundheitssystems ist, dass alle Akteure an der Krankheit verdienen – nicht an der Gesundheit. Das regionale Psychiatriebudget ändert diese grundsätzliche Schieflage. Oder: Wie kann der Anspruch einer qualitativ hochwertigen Versorgung und der gleichzeitigen Befolgung des Wirtschaftlichkeitsgebots gemäß Sozialgesetzbuch (SGB V) erfüllt werden? Welches Finanzierungsmodell bietet eine Lösung, welche die Behandlungsmöglichkeiten flexibilisiert, das Prinzip „ambulant vor stationär“ berücksichtigt, die Prävention stärkt, die Kosten begrenzt und den „Drehtür-Effekt“ reduziert?

Das regionale Psychiatriebud­ get Nach einem ähnlichen Konzept wie „Medicine pour le peuple“ arbeiten sieben psychiatrische Fachkliniken in Norddeutschland. Dabei handelt es sich um ein innovatives und in Deutschland bisher nur an wenigen Kliniken eingeführtes Finanzierungssystem, das die Versorgung im gesamten Behandlungsspektrum der Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik abdeckt (Modellprojekt nach §64b SGB V). Initiiert wurde das Konzept im Kreis Steinburg am Klinikum Itzehoe. Nach einer Testphase, welche wissenschaftlich begleitet wurde und in der gezeigt werden konnte, dass dieses Konzept zu keiner schlechteren Versorgung der Bevölkerung führt, sondern die Patienten teilweise sogar besser behandelt sind, wurde das Konzept ab 2007 auch im Landkreis Dithmarschen am Westküstenklinikum etabliert. In der Heider Klinik ist das Konzept zum Heider Modell weiterentwickelt worden und auch ein sozialpsychiatrischer Dienst ist mittlerweile an der Abteilung angesiedelt. So werden die Patienten niederschwellig ambulant und stationär behandelt. Die Grenzen zwischen den Sektoren sind fließend. Wann ein Patient in der Tagesklinik, stationär oder


Zugang zu medizinischer Versorgung

ambulant behandelt wird, entscheidet sich hier nicht nach der Auslastung der Betten. Diese Finanzierungsform wurde im Rahmen eines Modellprojektes zwischen den Krankenkassenverbänden in SchleswigHolstein und dem Klinikum Itzehoe vereinbart.

Wie funktioniert dieses Mo­ dell? Eine definierte Region übernimmt die Versorgungsverpflichtung und erhält dafür ein festgelegtes Budget über einen begrenzten Zeitraum. In Steinburg stellt die gesetzliche Krankenversicherung rund sieben Millio-

nen Euro jährlich für fünf Jahre bereit. Alle Kassen bezahlen für die komplette Behandlung eines Patienten und nicht für einzelne Leistungen. Die Kliniken vermeiden jetzt unnötige Kosten und können sich ganz auf den tatsächlichen Bedarf des Patienten konzentrieren. Gleichzeitig sorgt die neue Vereinbarung für eine höhere Qualität in der medizinischen Versorgung, weil Patienten zielgerichteter behandelt und professionell durch die einzelnen Versorgungsbereiche geleitet werden können. Krankenhausärzte können ihre Patienten stationär, teilstationär und auch ambulant behandeln. Im Fokus ist dabei das frühzeitige Eingreifen bei ersten Symptomen und das Abstimmen medizinischer Leistungen. Damit werden

Krankheitsverläufe gemildert und Rückfälle vermieden. Der Patient kann meist im gewohnten Umfeld bleiben und ist trotzdem bestens versorgt – das spart auch die erhöhten Kosten eines stationären Aufenthalts. Ebenfalls entfallen die aufwendigen Kontrollen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen und damit die Kosten für diesen, weil aus der Sicht der beteiligten Leistungserbringer und Kostenträger kein Anreiz zur Vergütung überflüssiger Leistung mehr besteht. Mit dem Gesamtbudget rückt der Mensch mit seinem Gesundheitsziel in den Vordergrund und nicht der Fall mit seinen diversen Abrechnungsoptionen.

Europa braucht eine mündige Demokratie und keine billiger werdenden Produkte

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TIP – Noch vor einem dreiviertel Jahr vermochte kaum jemand etwas mit diesen vier großen Lettern anzufangen. Seit einigen Monaten leisten jedoch zahlreiche Medien sowie verschiedenste Verbände und NGOs, ob politisch oder religiös motiviert, konsequente Öffentlichkeitsarbeit. Das Abstraktum TTIP ist dadurch mehr Menschen ein Begriff geworden, jedoch nicht unbedingt weniger mysteriös, undurchsichtig und in seiner Dynamik besser abschätzbar. Von Eva Kollmannsberger

Seit nun bereits über einem Jahr verhandelt die EU-Kommission im Geheimen mit den USA, um einen positiven Abschluss des sog. Transatlantic Trade and Investment Partnership (kurz: TTIP) voranzutreiben. TTIP soll die größte Freihandelszone der Welt schaffen und auf diese Weise ein Gegengewicht zum Asiatischen Raum kreieren, um im Welthandel „zukunftsfähig“ zu bleiben. Geopolitische und industrielle Machtinteressen scheinen dabei im Zentrum zu stehen auf Kosten der Lebensbereiche der europäischen und amerikanischen Bürgerinnen und Bürger. Verhandlungsinhalte sind der Öffentlichkeit lediglich durch die Veröffentlichung unautorisierter interner Positionspapiere

von europäischen Verhandlungsführern aufgrund von Informationsleaks bekannt. Offiziell bleiben die ausgehandelten Vertragsbedingungen geheim. Selbst nationale Parlamente, zukünftige Mitgliedstaaten und das europäische Parlament erfahren keinerlei Verhandlungsdetails. Doch innerhalb der Bevölkerung verbreitet sich zunehmend Sorge und formiert sich aktiver Widerstand. Die deutsche Medienlandschaft hat ihren Fokus zu Beginn ihrer Berichterstattung besonders auf die Ängste vor sinkenden Verbraucherschutzstandards innerhalb der Nahrungsmittelindustrie gesetzt. Bilder vom amerikanischen Chlorhühnchen, mit Hormonen und Antibiotika belastetem Fleisch sowie von gentechnisch

veränderten Nahrungsmitteln werden von einer breiten Öffentlichkeit noch immer stark mit dem Kürzel TTIP assoziiert. Die Folgen eines Freihandelsabkommens beschränken sich jedoch nicht nur auf die Lebensmittelindustrie, sondern sind in ihrer Dynamik kaum abschätzbar. Aufgrund allgemein gehaltener Formulierungen der bereits bekannten Passagen kann praktisch jeder Lebensbereich der Bürger betroffen sein. Die Politik scheint auf Vorbehalte zu reagieren, indem sie versucht, bestimmte Bereiche wie Kultur, auszuschließen. Unbeachtet bleiben innerhalb einer solchen Negativliste künftige Entwicklungen mit teils erheblichen Risiken für die Bevölkerung, da diese gegenwärtig im Vertragstext nicht ausgeschlossen werden können. Das von Umweltministern angestrebte Frackingverbot wäre nach einem bereits abgeschlossenen Freihandelsabkommen vermutlich nicht mehr ohne horrende Entschädigungszahlungen an Großkonzerne möglich. Eine Positivliste würde hingegen den inhaltlichen Rahmen des Freihandelsabkommens beschränken. Solche Streitigkeiten sollen vor privaten Schiedsgerichten verhandelt werden, wenn Multikonzerne ihre Investitionen oder Profite durch nationale Gesetzgebung verschmä-

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Zugang zu medizinischer Versorgung

weiter Teile der Bevölkerung, die diese durch ihre lange Unterschriftenliste gegen das geplante TTIP zum Ausdruck bringen, bleibt zunächst aus. Die designierte EU-Handelskommissarin Malström spricht sich zwar gegen die bisherige Linie ihres noch amtierenden Vorgängers aus, jedoch nicht gegen die Foto: Christian Mang/Campact, creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0 Investitionsschutzklausel im CETA. Die EU-Kommission hat schließlich Ende lert sehen und vom Staate Schadensersatz September die seit fünf Jahren andauernaufgrund „indirekter Enteignung“ fordern. den Verhandlungen mit Kanada zur EinfühDie Grundlage für diese supranationale Gerung von CETA (Comprehensive Economic richtsbarkeit soll ein sog. Investitionsschutzand Trade Agreement) für beendet erklärt. abkommen innerhalb des TTIP bilden. Der Investorenschutz ist darin verankert, Diese Gerichte setzen sich aus drei Wirttrotz massiver kritischer Stimmen und meschaftsanwälten privater Anwaltskanzleien dialer Berichterstattung bezüglich dieser zusammen, wobei einer dieser SchiedsThematik. Unternehmen könnten somit über richter von der beklagten Regierung, einer Tochterunternehmen auf kanadischem Bovom klagenden Unternehmen und einer als den die Investitionsschutzklausel nutzen, Präsident von beiden Parteien gemeinsam um ihre Interessen über Schiedsgerichte ernannt wird. Das unter Ausschluss der Öfeinzuklagen. fentlichkeit gebildete Urteil erhebt sich über nationales, demokratisch legitimiertes Recht Zahlreiche aktuelle und vergangene sowie über Beschlüsse des EU-Parlaments. Klagen vor dem „Internationalen Zentrum Es entsteht ein undurchsichtiges, parallezur Beilegung von Investitionsstreitigkeiles Rechtssystem. Mit der Zustimmung zu ten“ (ICSID) zeugen von der Profitgier der einem Freihandelsabkommen würden sich Märkte und dem Willen, die Autonomie der die Parlamente nicht nur gegen einen GroßMärkte unabhängig von nationalem Gesetz teil der Bevölkerung wenden, sondern auch durchzusetzen. Der prominenteste Fall ist eigenen demokratischen Gestaltungsspielwohl die Klage des schwedischen Enerraum verlieren. giekonzerns Vattenfall gegen Deutschland aufgrund dessen Politik der Energiewende. Mühsam erkämpfte Arbeitnehmerrechte Aber auch der Schweizer Tabakkonzern sowie Gesundheits-, Verbraucher-, DatenPhilip Morris verklagt Uruguay vor einem und UmweltschutzstanSchiedsgericht auf Schadenersatz in Mildards geraten in Gefahr lionenhöhe, da das aktuelle Gesundheitsund werden mit einer Zugesetz eventuelle Absätze schmälert. Die stimmung zu einem FreiWHO hat sich bereits offiziell auf die Seite handelsabkommen – ob des südamerikanischen Staates gestellt. mit CETA, TTIP oder TiSA Auch von Australien hat der Tabakkonzern – mit Füßen getreten. Fragbereits Schadensersatz gefordert. Mit der lich bleibt, ob da wirklich, Unterzeichnung von TTIP, welches von wie vom noch amtierenden Lobbyseiten sicherlich kaum ohne InvestoEU-Handelskommissar de renschutz attraktiv wäre, würde der Schutz Gucht behauptet, Politik der Gesundheit der Bevölkerung somit geEva Kollmannsberger stellvertretend für über 500 ringere Priorität genießen als der Schutz der 7. Semester, Regensburg Millionen Bürgerinnen und Märkte. Investoren werden außerordentBürger betrieben wird. Ein liche Privilegien gewährt. Am Absurdesten Eingehen auf die Sorge

klingt wohl die Klage des französischen Unternehmens Veolia gegen Ägypten, da dieser Konzern durch die Erhöhung des Mindestlohnes seinen persönlichen Profit geschmälert sah. Doch der Blick in die Geschichte sog. Investitionsschutzabkommen zeigt, dass Deutschland selbst das erste dieser Form abgeschlossen hat, nämlich mit Pakistan im Jahre 1959, und maßgeblich an der Ausarbeitung dieses Systems beteiligt gewesen ist. Aktuell sind über 130 Abkommen zwischen der Bundesrepublik und diversen anderen Staaten, besonders jedoch Schwellen- und Entwicklungsländern, in Kraft. Dass die öffentliche Debatte über die Ungerechtigkeit solcher bilateraler Freihandelsabkommen erst jetzt in dieser Intensität geführt wird, liegt wohl schlicht und einfach daran, dass Deutschland als der stärkere Industriepartner bislang davon profitiert hat. Mit Amerika als Vertragspartner scheint ein solches System plötzlich vielen Europäern zu heikel. Für die privaten Anwaltskanzleien ist der Markt der Schiedsgerichte jedoch ein lukratives Geschäft, angesiedelt vor allem im nordamerikanischen und europäischen Raum. So etablieren sich zunehmend juristische Einrichtungen, welche darauf bedacht sind, konkrete Anlässe zu finden, um Staaten zu verklagen. Solche Spezialisten für Investorenschutz versuchen für ihre Klienten im Kampf gegen angebliche „Enteignungen“ gewinnversprechend vorzugehen, sollten beispielsweise durch neu eingeführte Umweltgesetze bisher gefertigte Produkte verboten werden. Die Politik verliert ihr demokratisches Fundament und schafft sich eigentlich selbst ab. Sozial-, verbraucherund umweltpolitische Errungenschaften, für welche sich Bürgerinnen und Bürger jahrzehntelang leidenschaftlich eingesetzt haben, werden konsequent ignoriert und außer Kraft gesetzt. Der Gesetzgeber beschneidet sich mit einer Zustimmung zu TTIP oder dem Dienstleistungsabkommen TiSA (Trade in Services Agreement) seiner eigenen Kompetenz. Im bislang im öffentlichen Diskurs weniger beachteten TiSA soll die sog. Ratchet Clause als Sperre fungieren und eine Rekommunalisierung, also die Rücknahme der Privatisierung beispielsweise von Energie- und Wasserunternehmen, unmöglich zu machen. Die Auswirkungen dieses Dienstleistungsabkommens auf die


Frieden

Gesundheits-, Wasser- und Energieversorgung, die Bildung oder den Finanzsektor wurden bislang kaum öffentlich diskutiert und sind für Außenstehende nicht abschätzund beurteilbar. Deren Ziel, sämtliche Branchen, darunter das Gesundheitssystem und den Dienstleistungssektor vollständig zu deregulieren und internationaler Konkurrenz auszusetzen, gibt Anlass zur Sorge und intensiver Auseinandersetzung. Eine Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP ist bereits abgelehnt worden, doch kritische und mutige NGO-Aktivisten aus über 230 Initiativen europaweit lassen sich nicht den Wind aus den Segeln nehmen und organisieren eine europaweite Unterschriftenaktion. Sie setzen ein Zeichen für eine mündige und starke europäische Demokratie. Vermutlich werden eine Million Unterschriften benötigt, damit die EU-Kom-

mission verpflichtet ist, ihren Forderungen Gehör zu schenken.

beitragende, strenger formulierte Wirtschaftsordnung.

Doch vielleicht scheitern TTIP, TiSA oder CETA an den nationalen Parlamenten. Strittig ist bislang, ob es sich um gemischte Abkommen handelt und sie über die reinen Handelskompetenzen hinausgehen. Dies würde nämlich die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfordern, welches eine Ratifizierung unwahrscheinlicher erscheinen lassen würde. Abzuwarten bleibt, wie sich die Dinge entwickeln, ob die Demokratie der Bürger oder simple Machtinteressen siegen.

Letztendlich gilt es für jeden zu beantworten, wie er leben will, was ihm Handel wert ist und was mehr wiegt.

Letztendlich prallen in der gesamten Diskussion verschiedene Philosophien aufeinander, die nicht unterschiedlicher sein können. Es stellt sich die alte Frage, nach möglichst geringer Beeinflussung des Wirtschaftshandels durch die Regierung oder eine, zu einem Interessensgleichgewicht

Es gilt endlich eine konstruktive, ehrliche und kritische Debatte über Inhalte zu führen – abseits von populistischen Aussagen beider Seiten, ob Befürworter oder Gegner – denn es geht schlicht und einfach um unseren zukünftigen demokratischen Gestaltungsspielraum und die Lebensbedingungen der Menschen. Quellen: • sueddeutsche.de • zeit.de • monde-diplomatique.de • fr-online.de

Wenn der Vorhang fällt Der globale Drohnenkrieg und seine Auswirkungen

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in Dorf in Waziristan im Norden Pakistans. Eine Frau sammelt auf einem Feld Okra für das muslimische Fest Eid al Adha. Begleitet wird sie von ihren sechs Enkeln, den Kindern ihrer Söhne und Töchter. Es liegt ein Summen in der Luft, ein Anzeichen vermehrter Drohnenaktivität. Alltag in Waziristan. Von Antonia Neuberger

Am Ende des Tages ist die Frau gestorben, ihren zerstörten Körper fand man erst eine Stunde nach der Attacke in einem benachbarten Feld. Die Kinder wurden ebenfalls verletzt und mussten im nahe gelegenen Krankenhaus versorgt werden. Der Name der Frau war Bibi Manama, Großmutter und Hebamme und eine wichtige Stütze der Dorfgemeinde. Ihre Familienangehörigen waren die ersten Opfer eines Drohnenangriffes, die vor einem Untersuchungsausschuss des US Congress in Washington D.C. gehört wurden. Das war im November 2013, zwölf Jahre nach dem ersten Einsatz einer bewaffneten Drohne in Afghanistan im November 2001.1

American Psycho – Der „War on Terror“ der USA Wer erinnert sich nicht an das traumatischste Ereignis der jüngeren amerikanischen Geschichte? Der Terror war mit dem 11. September 2001 für die Amerikaner sehr real, sehr nah geworden und in den Nachbeben dieses Ereignisses wurden die Grundlagen für einen Kriegszustand geschaffen, der bis heute andauert und größtenteils im Verborgenen abläuft. Eine „Joint Resolution“ (Authorization for Use of Military Force), die US-Kongress und Senat drei Tage nach den Terroranschlägen beschlossen, bevollmächtigt den Präsidenten der USA gegen Nationen, Organisationen oder Personen vorzugehen, die bei der Planung,

Durchführung, Autorisierung oder Unterstützung der Anschläge beteiligt gewesen waren.2 Eine spätere Erweiterung dieser Resolution bezieht „assoziierte Kräfte“ mit ein, welche mit Al Qaida sympathisieren oder an Feindseligkeiten gegenüber den USA und ihren Koalitionspartnern Anteil haben. Diese Resolution dient als Grundlage des „War on Terror“ der USA – auch wenn sie in vielen Begriffen schwammig und juristisch ungenau bleibt. Die völkerrechtliche Legitimation eines bewaffneten Konfliktes zwischen USA und Al Qaida sowie assoziierten Kräften ist nicht unumstritten, insbesondere weil es keine geografische Eingrenzung gibt. Die Organisation des Drohnenkrieges innerhalb der US-Behörden, insbesondere die genaue Rolle der mit der Durchführung der Drohnenangriffe beauftragten CIA und der militärischen Spezialeinheit JSOC (Joint Special Operation Command), ist nicht in allen Einzelheiten bekannt, auch weil das Programm größtmöglicher Geheimhaltung unterliegt. Präsident Obama benutzte erstmals in seiner Rede vom 23. Mai 2013 explizit den Begriff „Drohne“. Und das, obwohl unter seiner Hand die Anzahl der

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Foto: Charles McCain, Creative Commons

Drohnenangriffe bereits in den Jahren zuvor signifikant gestiegen ist.3 Einen Tag zuvor unterzeichnete er eine „Presidential Policy Guidance“, eine Art Handbuch für den Drohnenkrieg außerhalb offizieller Kriegsschauplätze (wie z. B. Afghanistan). Das Ziel solcher Maßnahmen ist insbesondere eine durch Leitlinien untermauerte Rechtfertigung des „gerechten Krieges“ der USA, wobei der Einsatz von Drohnen damit begründet wird, dass eine Tötung durch Drohnen als letzte Option für die Beendigung einer „fortdauernden, unmittelbaren Bedrohung“ der amerikanischen Bevölkerung diene. Ein Angriff erfolge nur unter Umständen, die einen Schaden an Zivilisten oder Nichtkombattanten mit hoher Zuversicht ausschließen würden – doch die Bedeutung dieser Leitlinien und Begrifflichkeiten wird praktisch im Sinne amerikanischer Interessen weiter ausgelegt.

Death proofed – Die ethische Problematik der Drohneneinsätze Grob gesehen ergeben sich aus der Art und Weise der USA Drohnen einzusetzen zwei grundsätzliche Probleme: Die Geheimhaltung, welche die Gerichtsbarkeit der Verantwortlichen erschwert und der Antonia Neuberger allein stehende Einsatz 8. Semester, Mainz von Drohnen außerhalb offizieller militärischer Of-

fensiven, welches weitreichende Folgen für die Zivilbevölkerung haben kann, die nur schwer zu überwachen sind. Die Richtlinien der Genfer Erklärung und im Internationalen Humanitären Recht zu dem Gebrauch von militärischer Gewalt fordern einen adäquat zu den Risiken der zivilen Opfer entstehenden militärischen Vorteil und eine Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kämpfern. Aus dieser Perspektive heraus ist ein oft genutztes Argument für den Einsatz von Drohnen ihre Zielgenauigkeit. Amerikanische Behörden sprechen von einer verschwindend geringen Anzahl von zivilen Todesopfern, doch ist diese Zahl höchstwahrscheinlich auf eine sehr enge Definition von „Zivilist“ zurückzuführen und in der Annahme begründet, dass jede in einer Drohnenattacke getötete Person, sofern nicht anders nachgewiesen, militant war. In einem kriegerischen Konflikt übersteigt die Zahl der Verletzungen die der Tötungen um ein Drei- bis Neunfaches. Aus Daten, die in Pakistan gesammelt wurden, lässt sich herauslesen, dass im Falle einer Drohnenattacke etwa doppelt so viele Menschen getötet wie verwundet werden. Auch wenn viele Verletzungen wahrscheinlich einfach nicht erfasst wurden, lässt dies Rückschlüsse auf die Tödlichkeit von Drohnen zu. Doch wie sorgfältig geht die USA mit dem Einsatz dieser tödlichen Technologie um? Die Herangehensweise der USA bei der Auswahl von Zielpersonen ist es sogenannte „Tötungslisten“ zu erstellen, die keiner demokratischen Legitimation

bedürfen und deren Kriterien und Handlungsspielräume der Öffentlichkeit oft nicht bekannt sind. Daneben gibt es noch die Praxis der „signature strikes“, welche eine Form der Attacke darstellen, bei der die genaue Identität der Zielperson nicht bekannt ist. Vielmehr entspricht ihr Verhalten einem bestimmten Muster („signature“), das von den U.S. Behörden als im Zusammenhang mit terroristischer Aktivität verdächtig eingestuft wird. Das Internationale Menschenrechtsgesetz besagt, dass niemand wahllos seines Lebens beraubt werden kann. Es behält seine Gültigkeit auch in Ländern, die sich in Kriegszuständen befinden, ohne dass dies offiziell erklärt wurde (wie z. B. Jemen, Somalia und Pakistan – alles Länder, in denen die USA Kampfdrohnen einsetzen). Die Vorgehensweise der USA stellt eine eklatante Beeinträchtigung dieser Rechte dar. Zudem ist die völkerrechtliche Grundlage der amerikanischen Drohneneinsätze strittig. Auch wenn die Einsätze wie z. B. in Pakistan unter Duldung der dortigen Regierung stattfinden, sind diese Eingriffe in die Souveränität eines Staates ohne entsprechendes UN-Mandat kritisch zu sehen. Nicht zuletzt kann die Zusammenarbeit mit dem pakistanischen Geheimdienst zu einer irreführenden Informationsgrundlage für die Auswahl von Angriffszielen führen. Andere systematische Fehler, die bei der Beschaffung und Bewertung von Informationen auftreten können, sind beispielsweise interkulturelle Missverständnisse, variierende Signalstärke und Probleme und Grenzen der


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Videoüberwachung. Diese können auch bei einer konventionellen Militäroffensive auftreten, werden hier allerdings durch einen definierten regulatorischen Rahmen begrenzt. Ein weiterer Aspekt ist die Unerreichbarkeit der Angreifer. Drohnenpiloten müssen nicht fürchten, von gegnerischen Kräften angegriffen zu werden, auch die Folgen eigener Angriffe präsentieren sich ihnen als irreale Bilder auf einem Schirm. Welche Folgen hat es auf die Psyche der Piloten wenn Krieg für sie nur ein Spiel an einem Computer ist, wenn sie keine psychischen und physischen Herausforderungen des konventionellen Kriegs durchleben müssen? Wenn sie versuchen müssen, ihr tägliches Tötungshandwerk mit dem alltäglichen Leben in ihren Häusern in Einklang zu bringen, von dem sie, im Gegensatz zu Soldaten im realen Kriegseinsatz, nur eine kurze Wegstrecke entfernt sind? Wenn ihre Gegner durch die Abwesenheit realer Begegnung nur schwer fassbar bleiben und die Soldaten daher vom Schicksal ihrer Opfer emotional nicht berührt werden? Diese Zusammenhänge sollten besser erfasst und erforscht werden.

Oh Brother, where art thou? – Das Leben unter der Bedro­ hung „Their danger was the dark side of a moon of shining progress – something imaginable but out of view.“ Die Drohneneinsätze haben weitläufige Auswirkungen auf die soziale und ökonomische Situation in den betroffenen Regionen und auf die mentale Konstitution der Zivilbevölkerung. Familienstrukturen in Pakistan, im Jemen und Somalia sind, auch wenn innerhalb dieser Länder Unterschiede bestehen, oft sehr groß und der Zusammenhalt ist nicht nur in der Kernfamilie wichtig. Familien teilen sich des Öfteren ein Haus, das eine wichtige finanzielle Sicherheit darstellt. Umso stärker kann es diese weit vernetzten Strukturen betreffen, wenn eine oder mehrere Personen bei einem Angriff ums Leben kommt oder ein Haus zerstört wird. Insbesondere Frauen und Kinder sind durch ihre schwächere soziale Position von der sozioökonomischen Problematik betroffen. Oft verfügen die Hinterbliebenen nicht über Versicherungen und Ersparnisse und darüber hinaus sind die Waisen gezwungen zum Unterhalt ihrer Familie beizutragen, statt in die Schule zu gehen. Nicht nur haben die Opfer mit

ihrem Verlust zu kämpfen, oft geraten sie unverdient in den Verdacht mit terroristischen Organisationen sympathisiert zu haben – so ein Angriff passiere ja nicht willkürlich. Gerade weil es eben vielmals keine ersichtliche Begründung für einen Anschlag gibt, wird das Gefühl der Machtlosigkeit für die Betroffenen nur verstärkt. Die Hinterbliebenen haben keine Möglichkeit, jemanden zur Verantwortung zu ziehen und fühlen sich auch von ihrer eigenen Regierung, die die Angriffe teilweise stillschweigend duldet oder mit den USA kooperiert, verraten und im Stich gelassen. Das erschwert es ihnen, mental mit dem Verlust und der Trauer abzuschließen. Zudem stellt die ständige Überwachung durch Drohnen und die konstante Angst einem Angriff ausgesetzt zu sein eine Erosion der mentalen Gesundheit einer ganzen Gemeinschaft dar. Zivilisten leiden unter Schlaflosigkeit, Depressionen und leben in ständiger Angst und Trauer. Teilweise müssen die Opfer ihre gewohnte Umgebung verlassen, da sich dort keine ökonomische Perspektive ergibt und versuchen an anderer Stelle ein neues Leben aufzubauen, was zusätzlichen psychologischen Stress darstellt. Auch die Vergeltungsschläge militanter Gruppen können die Zivilbevölkerung hart treffen und oftmals sind sie Folter ausgesetzt, sollten sie in den Verdacht geraten, für die USA zu spionieren. All diese Folgen des verdeckten Drohnenkrieges erschweren maßgeblich das erklärte langfristige Ziel der USA in den erwähnten Ländern zu der Entwicklung eines sicheren und stabilen Staates beizutragen. Nicht zuletzt ist der Einsatz von Drohnen dahin gehend kritisch zu beurteilen, ob er gängige Maßnahmen zum Schutze der Zivilbevölkerung achtet oder diese eher untergräbt. Diese Frage wird insbesondere in der Zukunft eine Rolle spielen, sollten Drohnenangriffe zur Norm werden und konventionellere Taktiken ersetzen, die im Vergleich zu Drohnenangriffen weniger weitreichende und negative Auswirkungen für das Leben von Zivilisten haben.

Quo vadis Deutschland? – Die Rolle von Deutschland im Drohnenkrieg Nach Aussage des ehemaligen Drohnenpiloten Brandon Bryant spielt der USStützwaffenpunkt in Ramstein, RheinlandPfalz, eine wichtige Rolle im Drohnenkrieg – er geht sogar so weit zu behaupten, ohne Deutschland wäre dieser nicht möglich, da

Ramstein eine wichtige Relais- und Auswertungsstelle für die Signale der Drohnen darstellt.4 Und auch wenn die deutsche Regierung auf diplomatischen Wegen wenig unternimmt, um die Steuerung der Kampfdrohnen aus Deutschland zu unterbinden (rechtliche Komplikationen ergeben sich zusätzlich durch die fehlende deutsche Gerichtsbarkeit über US-Militärs in Ramstein), so hat die Bundeswehr selbst bis jetzt nur Aufklärungsdrohnen eingesetzt. Doch auch das könnte sich ändern, da Militärs schon seit Jahren auf den Ausbau der Drohnentechnik und ihres Einsatzes in Richtung offensiverer Operationen drängen. Anfang Juli 2014 gab Verteidigungsministerin von der Leyen der Süddeutschen ein Interview, in dem sie sich hinter den Plan der europäischen Rüstungsindustrie, eine Drohne mit Aufklärungs- und Kampftechnologie zu entwickeln, stellt und den Einsatz derselben mit parlamentarischem Mandat befürwortet. Diese Entwicklung ist durchaus kritisch zu sehen, da das Beispiel der USA zeigt, dass die juristische Reglementierung der Drohnentechnologie und die öffentliche Diskussion ihrer sozioökonomischen und moralischen Implikationen ihrem steigendem Einsatz weit hinterherhinkt. Fußnoten: 1) www.thebureauinvestigates.com/namingthedead/ people/nd526/?lang=en „Will I be next? – US Drone strikes in Pakistan“, Amnesty international 2013 2) https://www.govtrack.us/congress/bills/107/ sjres23 3) www.thebureauinvestigates.com/2014/01/23/ more-than-2400-dead-as-obamas-drone-campaignmarks-five-years/ 4) www.sueddeutsche.de/politik/us-drohnenkriegimmer-fliessen-die-daten-ueber-ramstein-1.1929160 www.sueddeutsche.de/politik/bundeswehr-von-derleyen-bereit-fuer-kampfdrohnen-1.2026116 Quellen & Literatur: • „Drones – the physical and psychological implications of a global theatre of war“, medact, 2012 www. medact.org • „Präsident Obamas Drohnenkrieg“, Peter Rudolf, SPW-Aktuell 37, Stiftung Wissenschaft und Politik, Juni 2013 • „Dirty Wars“ (2013), Dokumentation von US-Journalist Jeremy Scahill • „The Civilian Impact of Drones – Unexamined Costs, unanswered questions“, Center for Civilians in Conflicts and Columbia Law school, 2012 • http://civiliansinconflict.org/ • http://dronewars.net/ • www.livingunderdrones.org/

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Der Beginn der nuklearen Kette – die Gefahren des Uranbergbaus Internationale Fachtagung zu den gesundheitlichen Auswirkungen ionisierender Strahlung beim Uranabbau

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ie Argumente, die gegen die Nutzung von Atomenergie sprechen, sind vielfältig: Risiken beim Transport radioaktiven Materials, beim Betrieb von Atomanlagen, die ungeklärte Endlagerproblematik. Häufig übersehen wurden: die gesundheitlichen Folgen des Uranabbaus für Beschäftigte und Bevölkerung. Sie rücken erst seit wenigen Jahren stärker ins Licht der Öffentlichkeit. Dabei hat Deutschland eine Vergangenheit als weltweit drittgrößter Uranproduzent. Von Ulf Schulze-Sturm

Uranabbau in Deutschland Ronneburg, Thüringen. Hier oben, von der sogenannten „Schmirchauer Höhe“, kann man bei guter Fernsicht bis nach Leipzig sehen. Unten im Tal sieht man von hier auch den Gessenbach, der sich mitten durch das Gelände der Bundesgartenschau von 2007 schlängelt. Größere mediale Aufmerksamkeit hat der Fluss zuletzt im Jahr 2011 aufgrund erheblicher Salz- und Schwermetallbelastung erfahren, insbesondere durch Nickel, Kadmium, Blei und Uran. Er ist Teil der „Neuen Landschaft Ronneburg“ – ein Gebiet, welches in den letzten 20 Jahren hier entstanden ist. Dort, wo man heute das Plateau der Schmirchauer Höhe erklimmen kann, war bis vor wenigen Jahren noch ein riesiges Tagebauloch, das seit Anfang der neunziger Jahre mit etwa 125 Millionen Kubikmeter Haldenmaterial aufgefüllt worden ist. Der Tagebau in Ronneburg war bis 1990 Teil der sowjetisch-deutschen Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut. Hier wurde Uran für das Atom(waffen)programm der Sowjetunion abgebaut, und das Haldenmaterial, aus dem auch die Schmirchauer Höhe heute zum größten Teil besteht, ist radioaktiv belastet.

Uranbedarf trotz Atomausstieg? 2011 wurde mit dem „13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes“ der schrittweise Verzicht auf Strom aus deutschen Atomkraftwerken beschlossen – der sogenannte Atomausstieg. Dr. Ulf Schulze-Sturm Doch noch sind neun ReKinderarzt, Berlin aktoren in Deutschland am Netz, der letzte soll

planmäßig erst im Jahr 2022 abgeschaltet werden. Und für deren Betrieb werden weiterhin jedes Jahr erhebliche Mengen Uran gebraucht. Zudem wird in Gronau in Nordrhein-Westfalen eine Urananreicherungsanlage weiterbetrieben, die vom Atomausstieg nicht betroffen ist, und angereichertes Uran für den Betrieb von 30 bis 35 Atomkraftwerken liefert.

Gesundheitliche Auswirkungen des Uranabbaus Uranabbau verursacht unter anderem eine erhöhte Uran- und Radiumbelastung in Gewässern und Sedimenten und kann so ins Trinkwasser und die Nahrungskette gelangen. Radioaktiver Staub und Radongas gefährden Arbeiterinnen und Arbeiter in den Uranminen sowie die Bevölkerung in deren Umgebung. „Die gesundheitlichen Auswirkungen des Uranbergbaus“ war daher das Thema einer internationalen Fachtagung vom 19.–22. Juni 2014 im ehemaligen Uranabbaugebiet in Ronneburg. Dabei kamen verschiedene Gruppen zusammen: Betroffene des Uranbergbaus, Umweltschützer und Aktive aus der Anti-Atombewegung, Physikerinnen und Physiker sowie Ärztinnen und Ärzte. Die Tagungsteilnehmer kamen aus Australien, Deutschland, Österreich, Niger, aus der Schweiz und aus Südafrika. Organisiert wurde die Tagung von der IPPNW in Deutschland und der Schweiz in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für Strahlenschutz und dem Kirchlichen Umweltkreis Ronneburg.

Uran – radioaktiv und toxisch Uran ist ein Schwermetall und bereits in geringen Konzentrationen im menschlichen Körper nierenschädigend. Außerdem ist Uran radioaktiv und zerfällt kontinuierlich in seine Folgeprodukte. Dazu gehören unter anderem Thorium, Radium, Radon, Polonium, Bismuth, die selbst wiederum radioaktiv sind. Gemeinsam haben diese, dass sie durch ionisierende Strahlung Zellen schädigen und genetische Veränderungen hervorrufen können.

Auswirkungen auf die Be­ schäftigten in den Minen Bergleute im Uranbergbau erkranken häufig an Lungenkrebs. Als Hauptursache hierfür gilt das geruchs-, geschmacks- und farblose (alphastrahlende) Edelgas Radon – eines der radioaktiven Zerfallsprodukte von Uran. Es führt nach dem Einatmen vorwiegend zu einer Strahlenbelastung der Lunge, wird allerdings auch zu Teilen im Blut gelöst und in andere Körpergewebe transportiert, wo es weiter zerfällt. Die Uranbergleute sind zusätzlich erhöhter Gammastrahlung ausgesetzt. Außerdem atmen sie bei der Arbeit Staub ein, in dem sich neben Uran auch alle seine Folgeprodukte befinden. Den größten Anteil der Strahlendosis bilden dabei die langlebigen alphastrahlenden Feststoffe. Diese können, je nach Löslichkeit in der Lunge, ebenfalls über das Blut in andere Organe transportiert werden, wo sie langjährige Depots bilden. Neben Lungenkrebs und Krebserkrankungen im Nasen-Rachen-Raum sind bei Uranbergarbeitern durch diese Mechanismen zahlreiche Tumorerkrankungen außer-


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halb des Atemtrakts nachgewiesen. Dazu gehören Magen-, Darm- und Leberkrebs, Krebs der Gallenblase und extrahepatischen Gallenwege, Nierenkrebs, Hautkrebs, chronische lymphatische Leukämie, Plasmozytome sowie verschiedene gutartige Tumore. Außerdem kann es zur Entwicklung einer Lungenfibrose kommen. Diese ist eine typische Berufserkrankung von Bergleuten auch ohne zusätzliche Strahlenbelastung; die sogenannte Quarzstaublunge (Silikose) kennt man bei Bergleuten im Kohlenbergbau oder im Steinbruch seit Jahrhunderten. Lungenfibrosen können aber auch durch ionisierende Strahlung allein erzeugt werden. Beim Uranabbau kommt es zur Kombination aus Strahlung und Staub.

Auswirkungen auf die Bevöl­ kerung Auch die Menschen, die in der Umgebung von Uranminen leben, sind durch die Kontamination mit radioaktivem Material direkt gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. Sie sind einerseits der erhöhten Strahlung durch den uranhaltigen Untergrund sowie Radonausgasungen ausgesetzt. Die Radonbelastung in Wohnhäusern ist in Gegenden mit Uranlagerstätten auch ohne Bergbau häufig erhöht. Erhöhte Raten von Lungenkrebs und Leukämie sind die Folge. Durch den Uranerzabbau werden diese Belastungen verstärkt, radioaktive Stäube treten hinzu. Zusätzlich gelangen radioaktive Stoffe ins Grundwasser und können über Trinkwasser und belastete Pflanzen in die menschliche Nahrung gelangen. Ionisierende Strahlung führt außerdem zu Chromosomenschädigungen und hat teratogene Auswirkungen, was dazu führt, dass in urankontaminierten Gebieten häufiger Kinder mit Fehlbildungen geboren werden.

Deutschland als Vorbild?

Heute gilt Deutschland international als Vorreiter im Hinblick auf Sanierung und Rekultivierung von Uranabbauflächen. Bislang wurden in den letzten 20 Jahren mehr als sechs Milliarden Euro dafür ausgegeben. Noch mindestens weitere 20 Jahre sind von der heutigen Wismut GmbH für die langfristige Wasseraufbereitung eingeplant. Das kann einerseits als vorbildlich wahrgenommen werden. Andererseits macht es sehr nachdenklich, wie wohl mit den entstehenden und bereits entstandenen Umweltzerstörungen in Ländern wie Niger,

Namibia, Malawi, oder Südafrika umgegangen werden kann und wird. Dort wird der radioaktiv und chemisch verseuchte Abraum, sogenannte Tailings, der noch etwa 80–85 Prozent der ursprünglichen Radioaktivität enthält, weiterhin ohne Schutz vor Erosion auf Halden gelagert oder in riesigen Absetzbecken durch Dämme zurückgehalten. Auch diese Dämme unterliegen der Erosion, werden undicht und können brechen. Ob allerdings das Aufschütten radioaktiven Mülls in dicht besiedeltem Gebiet und die Abdeckung mit einer knapp zwei Meter dicken Erdschicht, wie es in der „Neuen Landschaft Ronneburg“ praktiziert wurde, eine langfristig akzeptable Lösung sein kann, wird sich erst noch zeigen müssen. Abgesehen davon sind viele kontaminierte Gebiete überhaupt nicht im Sanierungskonzept der Wismut GmbH enthalten. Und die Menschen? Noch immer erkranken ehemalige Wismut-Bergleute an den Folgen ihrer Arbeit. Doch selbst Lungenkrebs wird bei ihnen nur dann als Berufskrankheit anerkannt, wenn eine sehr hohe Radonexposition auch offiziell festgestellt wurde. Bergleute mit Krebserkrankungen außerhalb des Atemtrakts haben weiterhin praktisch keine Chance auf eine Entschädigung. Gleiches gilt für die Lungenfibrose. Der volle Umfang der mittlerweile vielfach dokumentierten Gesundheitsschäden durch den Uranbergbau wird in Deutschland nicht anerkannt. Das ist tragisch für die Betroffenen und für ihre Hinterbliebenen.

Und die Zukunft?

Unabhängige Berichte wie der World Nuclear Industry Report machen deutlich, dass

die Bedeutung der Atomenergie seit einigen Jahren weltweit abnimmt. Dennoch versuchen die Nuclear Energy Agency (NEA) zusammen mit der International Atomic Energy Agency (IAEA) ein ganz anderes Bild zu zeichnen. Zusammen prognostizieren sie einen langfristig weiter steigenden Uranbedarf, und damit einen steigenden Uranpreis auf dem Weltmarkt. Dies hat zur Folge, dass auch weiterhin Lagerstätten gesucht, exploriert und erschlossen werden. Eines der Hauptargumente für den Abbau in den betroffenen Regionen, nämlich das Argument, diesen Regionen langfristig zu wirtschaftlichem Erfolg zu verhelfen, wird dadurch weiter aufrechterhalten. Die Organisation „Federation for a Sustainable Environment“ aus Südafrika, bei der Tagung in Ronneburg ebenfalls vertreten, fordert daher von ihrer Regierung unter anderem, dass vor jeder Abbaugenehmigung sowohl die Folgekosten, die durch gesundheitliche Schädigung von Beschäftigten im Uranbergbau und der Bevölkerung hervorgerufen werden, als auch die Kosten der Renaturierung von vornherein in die Kalkulationen von Regierungen und Konzernen einbezogen werden müssten. Weitere Informationen: • www.uranrisiko.de • www.ippnw.org/ican/uranium-mining.html • „Yellow Cake: Die Lüge von der sauberen Energie“, Dokumentation (2010) • Die Wismut, Dokumentation (1993)

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Stille Freisetzung radioaktiver Materialien in die Umwelt

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as Augenmerk des öffentlichen Interesses ist bisher allein auf die Sorge um den Verbleib hochaktiven Atommülls gerichtet. Nach dem „Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle (Standortauswahlgesetz – StandAG)“ vom 23. Juli 2013 wurde zur Vorbereitung eines Standortauswahlverfahrens eine „Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ gebildet, die sich speziell mit dieser Sorte Atommüll befassen soll. Von Thomas Dersee

Der macht jedoch lediglich fünf Prozent der Materialien aus dem Abriss der stillgelegten Atomkraftwerke aus. Aus dem Rückbau von Atomkraftwerken fallen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten aber auch noch viele Millionen Tonnen „geringer aktiver“, das heißt nicht wärmeentwickelnder Atommüll an. Dieser wird von den Anlagenbetreibern „freigemessen“ und den Behörden freigegeben. Unerkannt und unbemerkt von der Öffentlichkeit und praktisch nicht mehr rückholbar landet er auf Bauschutt- und Hausmülldeponien, in Müllverbrennungsanlagen, im Straßenbau, bei der Betonherstellung sowie in Hochöfen, Metallrecyclinganlagen und Gießereien. Das führt zu einer flächendeckenden Erhöhung des Strahlenrisikos für die Bevölkerung. Mit der Neufassung der Strahlenschutzverordnung im Jahr 2001 wurde diese für die AKW-Betreiber billige Form der Atommüll„Entsorgung“ stark vereinfacht und 2011 erweitert geregelt – ohne vorherige öffentliche Diskussion. Um eine Vorstellung von den Mengen zu geben: Zum Beispiel sind bereits seit 1996 bis Mitte 2010 auf der Deponie Ihlenberg bei Schönberg, östlich von Lübeck, rund 14.530 Tonnen freigemessene radioaktive Abfälle aus dem stillgelegten Atomkraftwerk Lubmin bei Greifswald abgelagert worden. [1] Nach Darstellung der Energiewerke Nord GmbH (EWN) fallen allein aus dem Kernkraftwerk Greifswald insgesamt 1,8 Millionen Tonnen Abrissmaterialien an. Davon werden circa 1,7 Millionen Tonnen, nämlich 1,2 Millionen Tonnen radiologisch restriktionsfreie Materialien (die bisher schon nicht den Kontrollvorschriften des Atomgesetzes unterstanden) und circa 500.000 Tonnen freizumessende Reststoffe in den Wirtschaftskreislauf beziehungsweise zur

Deponierung als gewöhnliche Abfälle gegeben. Das sind rund 95 Prozent der Abfallmengen. Nur circa 5 Prozent, nämlich 100.000 Tonnen radioaktive Reststoffe müssen später als radioaktive Abfälle zwischenbeziehungsweise endgelagert werden. [2] Beim Atomkraftwerk Stade sind es 93,6 Prozent von insgesamt 123.000 Tonnen und beim Atomkraftwerk Würgassen 97 Prozent von 255.000 Tonnen der Abbaumassen, die in den Wirtschaftskreislauf oder für die Ablagerung auf normalen Deponien freigegeben werden. [3] Die geschätzte Gesamtaktivität von Eisen-55, Cobalt-60, Nickel-63 und Cäsium-137 in den Greifswalder Abfällen habe 6,9 Milliarden Becquerel und die „relevante Nuklidmasse“ ungefähr 1 Milligramm betragen, erklärte das Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Mecklenburg-Vorpommern. Nur diese vier Radionuklide wurden als Indikatoren einer radioaktiven Belastung betrachtet, andere werden ignoriert. [1] Die Strahlenschutzverordnung definiert dagegen mehr als 300 Radionuklide unterhalb dort genannter Aktivitätskonzentrationen für die Freigabe als nicht mehr radioaktiv und entlässt sie aus der Überwachung. Für die Freigabe von Atommüll heißt es dazu als Forderung oder Bedingung in Paragraf 29 (2) der Strahlenschutzverordnung: „… wenn für Einzelpersonen der Bevölkerung nur eine effektive Dosis im Bereich von 10 Mikrosievert im Kalenderjahr auftreten kann.“ Für die Freigabe von „natürlich vorkommenden radioaktiven Stoffen“, also in der Praxis für die Hinterlassenschaften des Uranbergbaus in Sachsen und Thüringen, heißt es dagegen in Paragraf 97 (1) der

Strahlenschutzverordnung: … wenn „für Einzelpersonen der Bevölkerung der Richtwert der effektiven Dosis von 1 Millisievert im Kalenderjahr überschritten werden kann, …“, seien Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu ergreifen. Auffällig ist zunächst die Diskrepanz: 1 Millisievert ist das Hundertfache von 10 Mikrosievert. Der Bevölkerung in Sachsen und Thüringen wird eine hundertfach höhere Strahlenbelastung aus den Altlasten des Atomzeitalters zugemutet. Die unterschiedlichen Werte wurden im Rahmen der Beschlussfassung über die Strahlenschutzverordnung von der Bundesregierung und den Länderregierungen im Bundesrat deklariert, ohne dass ein Parlament damit befasst war. [4] „Deklarationen“ etablieren institutionelle Fakten, die es zuvor nicht gab. Sie beschreiben die Welt und verändern die Welt und erreichen dies, indem sie die Welt so beschreiben, als ob die beabsichtigte Veränderung bereits eine Tatsache wäre, erklärt die USamerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff [5]. „Deklarationen sind in dem Maße erfolgreich, in dem andere sie akzeptieren. Manchmal geschieht dies durch direkte Einigung oder durch Autorität, die auf Sachkenntnis oder politisches Verständnis beruht. Manchmal ist Überredung nötig, um Akzeptanz zu erzielen. Manchmal wird die Einigung mit einer Art quid pro quo erkauft. Wenn all das scheitert, kann Gewalt oder ein ähnliches Mittel angewandt werden, um jede andere Möglichkeit auszuschließen. Aber Leute akzeptieren oftmals institutionelle Fakten auch bloß deswegen, weil sie deren Bedeutung nicht verstehen. Sie akzeptieren einfach, dass die Deklarationen die natürliche und notwendige Ordnung der Dinge darstellt.“


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Deshalb ist es notwendig, drei kritische Formulierungen näher zu beleuchten:

„… für Einzelpersonen der Be­ völkerung …“ Diese Formulierung tauchte 2001 neu in der Strahlenschutzverordnung auf. Mit dem Hinweis, die Stilllegung alter Atomkraftwerke werde immer teurer, veröffentlichte 1998 der damalige Vorsitzende der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) Roger H. Clarke sein neues Konzept der „Controllable Dose“, der „kontrollierbaren Dosis“, mit dem Grundsatz: Ist das Schadensrisiko für die Gesundheit des am stärksten exponierten Individuums insignifikant (trivial), so sei das Gesamtrisiko insignifikant, unabhängig davon, wie viele Menschen exponiert sind. [7] Zuvor benutzte die ICRP gesellschaftsbezogene (societal) Kriterien, indem sie mittels des Begriffs der Kollektivdosis die Summen über alle Populationen und alle Zeiten bildete, um den entstehenden Gesamtschaden und seine Kosten gegen die Kosten für die Aufwendungen zum Strahlenschutz gegenzurechnen. Das Konzept der „kontrollierbaren Dosis“ ist schlicht falsch. Denn nicht die Schwere einer Erkrankung, nur die Zahl der Erkrankungen wird durch die Dosis bestimmt. Wer erkrankt, erleidet die Krankheit in ihrer vollen Ausprägung. Und: Auch die kleinste Strahlendosis kann eine Erkrankung auslösen. Anders ausgedrückt: Wenn jemand mit hohem Einsatz nicht in der Lotterie gewinnt, so kann trotzdem jemand gewinnen, der weniger einsetzt. Wir haben es mit „stochastischen“ Strahlenschäden zu tun. Die skandinavischen Strahlenschützer urteilten deshalb damals bereits: Die „kontrollierbare Dosis“ entspricht lediglich der Politik der langen Schornsteine, sie ändert nichts an der Gesamtbelastung und am Gesamtschaden, sie macht ihn nur weniger übersichtlich. Beim Wirtschaftsverband Kernbrennstoff-Kreislauf und Kerntechnik e. V. (WKK) ist man dagegen stolz darauf, den deutschen Behörden und Politikern die Verwendung der Kollektivdosis ausgeredet zu haben. Und mit der Novellierung der Strahlenschutzverordnung 2001 wurde deshalb die neue irreführende Formulierung „für Einzelpersonen der Bevölkerung“ eingeführt. [8]

„… eine effektive Dosis …“ Die effektive Dosis wird als Summe der Strahlendosen gebildet, die die einzelnen Organe und Gewebe des Körpers treffen, wobei diese Organdosen mit Wichtungsfaktoren multipliziert werden, die die unterschiedliche Empfindlichkeit der Organe gegenüber Strahlenbelastungen berücksichtigen sollen. Dabei werden bei der Wichtung nur die Todesfälle und genetische Schäden der 1. Generation berücksichtigt. „Effektiv“ heißt in diesem Konzept also im wesentlichen die Konzentration auf Tote und die Nichtberücksichtigung von „nur Erkrankten“. Unberücksichtigt bleiben auch die Nicht-Krebserkrankungen wie HerzKreislauf-Erkrankungen und Stoffwechselstörungen sowie auch die genetischen Veränderungen, für die die Verschiebungen im Geschlechterverhältnis („verlorene Mädchen“; Hagen Scherb) ein Indikator sind. [9]

10 Mikrosievert und 1 Millisie­ vert zulässige effektive Dosis pro Jahr Zusätzlich 1 Millisievert effektive Dosis pro Jahr bedeutet jährlich 5,5 (lt. ICRP 2007) bis 55 Krebstote (lt. diversen anderen Autoren) pro 100.000 Menschen plus nicht tödliche Krebserkrankungen in ähnlicher Größenordnung plus ein Mehrfaches an Nicht-Krebserkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Stoffwechselstörungen.

Zudem: Die Dosis [in Sievert] aus Inhalation und Ingestion wird berechnet aus einem Dosiskoeffizienten [in Sievert pro Becquerel] x Aktivität [in Becquerel]. Weil jedoch in der Strahlenschutzverordnung nur die Einhaltung von Aktivitätskonzentrationen in Becquerel pro Gramm vorgeschrieben ist, kann die Dosis in Sievert daraus erst errechnet werden, wenn auch die Mengen [in Gramm] bekannt sind und in einem Register erfasst werden. Das wird aber in der Verordnung nicht gefordert, weshalb weder die Einhaltung der 1 Millisievert pro Jahr noch der 10 Mikrosievert pro Jahr überprüfbar ist. Zudem müssen beide Werte nicht streng eingehalten werden, wie die Kennzeichnung als „Richtwert“ und die Formulierung „im Bereich von“ ausdrücken. Die zu erwartenden Schäden lassen sich auch erst kalkulieren, wenn man Annahmen über die Größe des betroffenen Kollektivs macht. Letztlich wird man annehmen müssen, dass bei der unkontrollierten Freigabe die gesamte Bevölkerung betroffen sein kann, also ein Kollektiv von circa 80 Millionen Menschen in Deutschland. Dann bedeuten jährlich zusätzlich 10 Mikrosievert effektive Dosis zusätzlich 44 (lt. ICRP 2007) bis 440 Krebstote (lt. diversen anderen Autoren) pro Jahr. Werner Neumann hat zudem gezeigt, dass eine nur zehnfache Erhöhung der ICRP-Schätzungen im Rahmen der Freigabepraxis nicht ausreicht. Die Zahl kann auch 1.000-fach höher sein. [6]

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10 Mikrosievert effektive Dosis jährlich sei im Vergleich zur mittleren natürlichen jährlichen Strahlenbelastung von 2,1 Millisievert vernachlässigbar gering, wird regelmäßig von amtlicher Seite argumentiert und gehofft, dass die vermehrten Erkrankungen statistisch nicht nachweisbar sind. Das kann sich als Täuschung erweisen, zumal Scherb und Kollegen mit dem Indikator der „verlorenen Mädchen“ aufgezeigt haben, dass bereits für kleine zusätzliche Strahlendosen genetische Veränderungen in der Bevölkerung induzierbar sind. [9] Und für die 1 Millisievert in Sachsen und Thüringen Thomas Dersee, lässt sich auch nicht mehr Herausgeber vom behaupten, dies sei ein verStrahlentelex, Berlin, gleichsweise kleiner Wert.

www.strahlentelex.de

Zudem stellt sich die Frage, wer die Zahl der zu akzeptierenden Menschenopfer entsprechend den 1 Milli- oder 10 Mikrosievert pro Jahr überhaupt befugt ist festzulegen. Wissenschaftlich begründbare Kriterien für eine solche Entscheidung gibt es nicht.

1. Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Mecklenburg-Vorpommern, Kai Erichsen, Az 582-00006, Schwerin, 14.09.2010. Hier zitiert nach Th. Dersee: Große Mengen Atommüll vorgeblich „freigemessen“ und wie gewöhnlicher Müll auf Deponie abgelagert, Strahlentelex 570-571 v. 7.10.2010, S. 9-10, www.strahlentelex.de/Stx_10_570_S09-10.pdf 2. Schattke, Herbert, Ministerialdirigent, Dr., Umweltministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Anlage 10 zum Leitfaden zur Freigabe nach § 29 StrlSchV (Stand: 1.8.2007) des Umweltministeriums Baden-Württemberg: Freigabe von radioaktiven Reststoffen, Gebäuden und Gelände, Rechtslage und Verfahren. Hier zitiert nach Th. Dersee: Brunnenvergiftung durch Freigabe von Atommüll in die Umwelt, Strahlentelex 564-565 v. 1.7.2010, S.2-3, www. strahlentelex.de/Stx_10_564_S02-03.pdf 3. M. Bächler (E.ON): „Rückbau der Kernkraftwerke Würgassen und Stade“; Symposium Stilllegung in Deutschland – Herausforderungen und Lösungen, AiNT und TÜV Rheinland, Köln, 18. – 20. Januar 2012. Hier zitiert nach W. Neumann: Stellungnahme zu ausgewählten Aspekten der Freigabe radioaktiver Stoffe in der Bundesrepublik Deutschland, intac GmbH, Hannover, September 2013. 4. Sylvia Kotting-Uhl, Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen am 7. April 2014 im Deutschen Bundestag in Berlin anlässlich des Fachgesprächs „Verlorene Mädchen“ durch Radioaktivität zum Autor dieser Zeilen: „Das soll die Wissenschaft entscheiden.“ Es sei nicht gut, wenn die Parlamentarier sich mit Grenzwertfragen befassen würden, mit denen bisher in Verordnungen anstatt in Gesetzen festgelegt wird, wie viele Menschenopfer für eine Technik akzeptiert werden sollen. 5. Shoshana Zuboff, emeritierte Charles-EdwardWilson-Professorin an der Harvard Business School: Lasst Euch nicht enteignen! Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.9.2014, S. 9. 6. Werner Neumann: Bis zu 1.000-fach höheres Strahlenrisiko bei der Freigabe von Atommüll aus dem Abriss von Atomkraftwerken, Strahlentelex 662-663 v. 7.8.2014, S. 1-8, www.strahlentelex.de/Stx_14_662663_S01-08.pdf

7. Th. Dersee: Die „Kontrollierbare Dosis“ soll den Aufwand im Strahlenschutz verringern, Strahlentelex 308-309 v. 4.11.1999, S. 5-8 8. Th. Dersee: Strahlenschutz ist keine demokratische Veranstaltung, Strahlentelex 546-547 v. 1.10.2009, S. 7-8, www.strahlentelex.de/Stx_09_546_ S07-08.pdf 9. Hagen Scherb, Ralf Kusmierz, Kristina Voigt: Windscale/Sellafield-Folgen: Rückgang der Geburten von Mädchen und Jungen, Strahlentelex 664-665 v. 4.9.2014, S. 7-10, www.strahlentelex.de/Stx_14_664665_S07-10.pdf Hagen Scherb, Kristina Voigt: Fehlbildungsrate in Bayern vor und nach dem Unfall von Tschernobyl. Stratifiziert nach radioaktivem Fallout – Update 2014, Strahlentelex 652-653 v. 6.3.2014, S. 1-5, www. strahlentelex.de/Stx_14_652-653_S01-05.pdf Masao Fukumoto, Kristina Voigt, Ralf Kusmierz, Hagen Scherb: Totgeburten und Säuglingssterblichkeit in Japan, Strahlentelex 650-651 v. 6.2.2014, S. 3-6, www.strahlentelex.de/Stx_14_650-651_S03-06.pdf Ralf Kusmierz: Fehlende Mädchen in Kuba durch Radionuklide in importierter Nahrung. Wie Regierungen und Wirtschaft ihre Bevölkerung radioaktiv verstrahlen, Strahlentelex 640-641 v. 5.9.2013, S. 1-6, www.strahlentelex.de/Stx_13_640-641_S01-06.pdf Ralf Kusmierz, Kristina Voigt, Hagen Scherb: Veränderte geburtliche Geschlechterverteilung in der Umgebung kerntechnischer Anlagen; Geschlechterverteilung in der Umgebung bayerischer Kernkraftwerke, Strahlentelex 574-575 v. 2.12.2010, S.2-5, www. strahlentelex.de/Stx_10_574_S02-05.pdf Hagen Scherb: Verlorene Kinder, Die Geschlechtschance des Menschen bei der Geburt in Europa und in den USA nach den oberirdischen Atomwaffentests und nach Tschernobyl. Strahlentelex 558-559 v. 01.04.2010, S.1-4, www.strahlentelex.de/Stx_10_558_ S01-04.pdf Hagen Scherb: Epidemiologische Tatsachen fordern „gegenwärtigen strahlenbiologischen Kenntnisstand“ heraus, Strahlentelex 524-525 v. 6.11.2008, S. 4-5, www.strahlentelex.de/Stx_08_524_S04-05.pdf

Sichere Rückstellungen für den Atommüll?

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ie Atomkonzerne E.ON, RWE und EnBW haben mit ihrem Vorschlag an die Bundesregierung eine Bundes-Stiftung solle das Atomgeschäft inklusive Entsorgung des Strahlenmülls übernehmen, eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erreicht. Von Ewald Feige

Dabei liegt der Vorschlag nicht schriftlich vor, daher sind die Einzelheiten nicht im Detail bekannt. Im Kern aber wollen die Konzerne die 36 Mrd. Euro, die sie für den Rückbau der Atommeiler und für die Entsorgung des Atommülls steuerfrei zurückgestellt und auch auf die Strompreise aufgeschlagen haben, an eine Stiftung übertragen. Im Gegenzug hätten die Konzerne dann mit dem Atommüll, den sie gewinnbringend verursacht haben, nichts mehr zu tun. Um diesen Deal noch etwas zu versüßen, würden sie die Schadensersatzklagen gegen den Atomausstiegsbeschluss in Milliardenhöhe zurückstellen.

Ist das für den Steuerzahler ein guter Deal? Nicht zuletzt haben ja auch Umweltverbände gefordert, die Rücklagen sollten in einen öffentlich kontrollierten Fonds übertragen werden, da diesbezüglich derzeit eine völlige Intransparenz herrscht und die Gelder im Ernstfall nicht zur Verfügung stehen würden. Doch Vorsicht! Nach dem geltenden Atomrecht gilt das Verursacherprinzip. Danach haben die Kernkraftwerksbetreiber sämtliche Kosten für Stilllegung und Abbau der Atomkraftwerke und auch für die Entsorgung der radioaktiven Abfälle zu tragen. Dafür haben die

Energiekonzerne eine Rückstellung von derzeit 36 Mrd. Euro gebildet. Allerdings steht dieser Betrag nur in den Bilanzen, er muss nicht irgendwo eingezahlt, sondern kann für Investitionen genutzt werden. Die Rückstellungen stehen demzufolge nicht kurzfristig bereit, sondern sind in Unternehmen oder Kapitalgeschäften gebunden. Nach einer Studie des Instituts „Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft“ (FÖS)1 haben die Konzerne übrigens aus den Rückstellungen im Laufe der gesamten Zeit insgesamt einen Gewinn von 79 Mrd. Euro erzielt. Dieser Betrag kam nicht dem Rückbau zugute, sondern landete in den Taschen der Aktionäre. Im Ernstfall stehen die Rückstellungen also nicht unbedingt zeitgerecht zur Verfügung und sind vor allem auch nicht vor Insolvenzen der Betreiber gesichert. Aber auch ohne Insolvenz gibt es Möglichkeiten, sich der Verantwortung zu entziehen. So hat der schwedische Staatskonzern


Atomkraft

Vattenfall durch eine Umorganisation im Jahr 2012 das deutsche Geschäft abgetrennt und in eine GmbH ausgegliedert. Das heißt mit beschränkter Haftung mit nur 500 Millionen Eigenkapital, der schwedische Konzern haftet nicht mehr. Es gibt zwar aus dem Atomkonsens 2001 eine Verpflichtung, dass die Konzerne gegenseitig für sich und ihre Tochtergesellschaften einstehen müssen, das gilt aber nur bis zum 27. April 2022. Der Atommüll wird uns jedoch mehrere Millionen Jahre erhalten bleiben, ein sogenanntes „Endlager“ geht im günstigsten Fall nicht vor 2050, vielleicht 2080 oder noch später in Betrieb, niemand weiß das so genau. Eine dauerhafte gesetzliche Verpflichtung der Muttergesellschaften für die Verpflichtungen ihrer Töchter einzustehen, besteht also nicht. Es müsste daher sichergestellt werden, dass die oberste Konzernebene stets haftet und die Konzerne auch nicht wesentliche gewinnbringende Teile ihres Geschäftes abtrennen oder verkaufen dürfen, damit der Rest mit den langfristigen Verpflichtungen in die Insolvenz geschickt werden kann. Die Überführung der Rückstellungen in einen Öffentlich-Rechtlichen Fonds hätte den Vorteil, dass dieser Betrag insolvenzsicherer angelegt wäre und der Zuwachs dem Rückbau zugute käme. Natürlich muss es eindeutige Anlageregeln geben, damit das Geld nicht verzockt wird. Ein großer Vor-

teil könnte in einer größeren Transparenz liegen, indem die Pläne offengelegt werden. Bisher ist alles unter Verschluss: Die Konzepte bzw. Prognosen, welche Anlage voraussichtlich welche Kosten verursacht, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, welche Kosten durch Rückbau entstehen, welche durch Mülllagerung etc. Derzeit muss man alles über einen Betrag in den Bilanzen erraten, kontrollieren oder nachrechnen ist so überhaupt nicht möglich. Viele Details müssen geklärt werden, klar ist nur: Die Konzerne dürfen nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, die Gewinne privatisiert und die Kosten dem Steuerzahler überlassen werden. Offensichtlich gehen auch die Konzerne davon aus, dass die Kosten unkalkulierbar sind und vor allem teurer sein werden als bisher angenommen. Daher sehen sie ihren Vorschlag als guten Deal an, weil sie zwar Gelder abgeben, die sie eigentlich ohnehin ausgeben müssen, aber das Risiko für sie völlig wegfällt. Natürlich besteht die reale Gefahr, dass früher oder später der Steuerzahler auf den Kosten sitzen bleiben wird, aber deswegen sollte nicht von vornherein auf eine Nachschusspflicht der Konzerne vollständig verzichtet werden. Genau darauf würde der Stiftungsvorschlag der Energieunternehmen hinauslaufen.

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Je tiefer man in dieses Thema einsteigt, desto mehr stellt sich die Frage, warum die rechtlichen Möglichkeiten so einseitig auf die Konzerninteressen ausgelegt sind? Haben die Politiker geschlafen oder sich kaufen lassen? Auch das mag nicht ausgeschlossen sein, aber wir sollten uns daran erinnern, dass die Stromerzeuger zunächst überhaupt kein Interesse an der Kernenergie hatten. Die deutsche Regierung wollte sich unabhängig von Verträgen zumindest die Option auf die Herstellung von Atomwaffen sichern. Dafür waren Atommeiler unbedingte Voraussetzung. Zudem sollten mit der friedlichen Nutzung der Atomenergie auch die vermeintlichen Vorteile dieser Technik propagandistisch ausgeschlachtet werden. Die Konzerne haben sich damals überreden lassen … Auf die damals im geheimen gemachten Zugeständnisse stoßen wir heute bei diesem Thema in jeder Detailfrage. 1 http://www.bund.net/themen_ und_projekte/atomkraft/atommuell/ folgekosten

Ewald Feige IPPNW-Geschäftsstelle


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Stand in Solidarity for Peace – Time to Act 13th World Summit of Nobel Peace Laureates 24.–28. Oktober 2013, Warschau

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er Friedensnobelpreis ist in den letzten Jahren in Verruf gekommen: Letztes Jahr wurde eine Organisation geehrt, der Syriens Präsident Assad Tage zuvor aus taktischen Gründen beigetreten war (Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons, 2013); 2012 ging der Preis an ein politisches Netzwerk, das für manche Kapitalismus und Aufrüstung repräsentiert (EU, 2012); und unvergessen bleibt der geehrte amerikanische Präsident, unter dem die Zahl der Drohnenangriffe stieg (Obama, 2011). Aber in der Vergangenheit dominierten große Persönlichkeiten, die diese Auszeichnung erhielten. Von Anna-Maria Lehner

Stellvertretend für die vielen Kämpfer für eine gerechtere Welt seien hier nur der Dalai Lama als prominentester Vertreter, aber auch Lech Walesa oder Mohammed Yunus genannt. Und immer wieder geht der Preis auch an Organisationen wie das Internationale Rote Kreuz, Amnesty International oder eben an die IPPNW 1985. 2013 gab es das dreizehnte Treffen der Friedensnobelpreisträger in Warschau. Auch die IPPNW war vertreten und hatte ein Kontingent an Tickets für Studenten. Und so kam ich zu der Gelegenheit, vier Tage in Warschau Vorträge der Preisträger zu besuchen, in Workshops mit diesen Persönlichkeiten zu gehen und letztendlich eine unglaublich inspirierende und beeindruckende Zeit mit anderen Studenten aus der ganzen Welt zu verbringen! Vormittags gab es öffentliche Vorträge und Diskussionen im großen Opernsaal im Kulturpalast, es sprachen viele der Preisträger wie z. B. Mohammed Yunus, Präsident de Klerk und am letzten Tag als Ehrengast sogar der Dalai Lama. Aber auch Vertreter der UN, UNHCR, IRC und anderer Organisationen waren vertreten. Nachmittags waren nur noch die Studenten der Civic Academy zugelassen, etwa 200 Studenten, unter anderem Anna-Maria Lehner wir von der IPPNW. Un10. Semester, Erlangen nötig zu sagen, was für ein genialer Nachmittag das

ist, wenn man mit 20 anderen Studenten mit Ira Helfand, einem ehemaligen Präsidenten der PSR und Vize-Präsident der nordamerikanischen IPPNW, über die Folgen von Atomwaffen diskutiert. In den Kleingruppen wurde sehr konzentriert und tiefgehend an Themen wie dem Millennium-Programm, aber auch zu finanziellen Aspekten und der wirtschaftlichen Organisation einer NGO gearbeitet. Manche Preisträger und geehrte Organisationen stellten ihre Konzepte näher vor und erarbeiteten mit uns neue Projektideen oder ließen sich einfach unsere eigenen Visionen oder schon vorhandenen Arbeitsschwerpunkte vorstellen. Allerdings ließ das Programm auch durchscheinen, was für ein ernst zu nehmender und seriöser „Job“ die Arbeit für den Weltfrieden ist: Es waren Abendessen und Treffen mit den Preisträgern organisiert, bei denen dann auch Abendgarderobe gewünscht war, damit auch das „Networking“ nicht zu kurz käme. Und für mich war es auch ein großes Wiedersehen mit IPPNWStudierenden aus der ganzen Welt, die ich auf anderen Kongressen kennengelernt hatte und immer nur zu solchen Anlässen wiedersehe. Die Preisträger und Redner hatten alle ein paar Gemeinsamkeiten: Sie waren völlig erfüllt von ihrem Streben nach einer gerechten Welt. Und obwohl sie zum Teil schon seit Jahrzehnten dafür kämpfen, haben sie sich nicht entmutigt gezeigt, sondern waren alle davon überzeugt, dass die „Human Family“, wie sie alle sagten, zum friedlichen Zusammenleben in der Lage sei. Und alle Redner

zeigten sich immer wieder glücklich darüber, dass so viele junge Leute da waren und bekräftigten uns, in unserer Arbeit weiter zu machen. Diese Zuversicht und Vertrauen waren sehr ermutigend und mitreißend! Dabei betonten sie alle immer wieder, dass sie sich selbst nur als Glückspilze sahen, da sie in ihren Augen zufällig für den Nobelpreis ausgewählt wurden, während es noch so viele andere Friedensarbeiter gebe, die mehr leisteten, aber unbekannt seien. Außerdem legten sie alle Wert darauf, zu betonen, jede Arbeit am Weltfrieden sei wichtig, sei sie noch so unbeachtet und klein.

In einer abschließenden Pressekonferenz wurde ein Statement der Preisträger verlesen, in dem explizit auf die Bedrohung durch Atomwaffen eingegangen wurde. Gemäß dem Vorbild der Landminen-Ächtung wurde ihr Verbot gefordert. Leider ist das nächste Treffen der Nobelpreisträger 2014 in Südafrika, also ein bisschen schwieriger (und teurer) zu erreichen als Warschau. (Anm. d. Redaktion: Das geplante Treffen in Kapstadt wurde vorerst verschoben, da Südafrika dem Dalai Lama kein Visum gewährt hat.) Aber wenn der Kongress in den nächsten Jahren wieder nach Europa kommen sollte, kann ich jedem nur empfehlen, sich für Tickets zu bewerben! Selten hat man die Chance, so beeindruckende Persönlichkeiten derartig nah und intensiv zu erleben. Ich habe noch nie so bewundernswerte Menschen reden gehört, noch nie habe ich vier Tage als so inspirierend und motivierend erlebt, wie die Tage in Warschau! Danke an dieser Stelle an die IPPNW für dieses Erlebnis!


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Von Hühnern und Krokodilen Reflexionen über die IPPNW-Fahrradtour durch die Steppe Kasachstans

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uf die Frage, welche Vorstellungen ich mir von Kasachstan, dem neuntgrößten Land der Welt mache, hätte ich vor Antritt unserer Reise nicht viel sagen können. Eines dieser Länder in Zentralasien mit -stan: Kirgisistan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und eben Kasachstan. Von Aino Ritva Weyers

Aber die Fahrradtour von IPPNW fand dort aus gutem Grund statt, denn von 1949 bis 1989 testete die Sowjetunion in der kasachischen Steppe nahe Semipalatinsk Atomwaffen. 1991 wurde Kasachstan unabhängig von der Sowjetunion und damit endeten auch endgültig die Atomwaffentests. Welche Erfahrungen machten die Menschen damals? Wie ist ihre heutige Einstellung zu Atomwaffen? Unsere ca. 800 Kilometer lange Fahrradtour begann in Semey (auch bekannt unter dem russischen Namen Semipalatinsk), wo wir uns einige Tage aufhielten bevor wir uns auf die Sättel setzten, um unter anderem das nahe gelegene Testgelände für Atomwaffen zu besuchen. Semipalatinsk ist eine Tragödie, die davon erzählt, wie das Argument der nationalen Sicherheit verwendet wurde, um der Missachtung der Gesundheit der eigenen Bürger und der künftigen Generationen zu rechtfertigen. Sehr erschreckend war für mich die Erfahrung des eigentlichen Testgeländes, mitten in der ruhigen Steppe zu stehen, eine wunderschöne, so scheinbar unschuldige Landschaft und sich dann vorzustellen, dass so schöne Natur vom Menschen genutzt wurde, um Atomwaffen zu testen, sich vorzustellen, dass sich hinter dieser Schönheit eine dunkle Geschichte verbirgt. Vielleicht ist es sogar schlimmer als ein Ort, welcher offensichtlich die dort stattgefundenen Ereignisse bezeugt. Unsere Gastgeber gaben uns genaue Zahlen über die Anzahl der Tests und viele, viele technische Details, mit denen ich persönlich nicht so viel anfangen konnte, da für mich die genaue Zahl der Tests in meiner Empfindung nicht den Unterschied macht, sondern viel mehr die Frage der Bedeutung des Tests und der Konsequenzen für die Menschen. Mit diesen Fragen im Kopf begann die Reise, die uns durch die weite Steppe führ-

te, vorbei an einzigartigen Pinienwäldern, durch kleine Dörfer und immer wieder zum Fluss Irtysch bis zur Hauptstadt Astana im zentralen Norden, wo Ende August der internationale IPPNW-Studierendenkongress und der IPPNW-Weltkongress stattfanden. Unterwegs waren Gerli aus Estland, Michelle und Kami aus den Vereinigten Staaten, Michael aus Österreich, Arashdeep aus Indien, Clement aus Kenia, Bimal aus Nepal, Kamira, Alibek, Simba, Ruslan und Rafael aus Kasachstan und Antonia, Jonathan, Roman, Judith und ich aus Deutschland. Die Kommunikation mit einem großen Teil der Staatsvertreter, die uns begleiteten, den Bürgermeistern, der Bevölkerung und auch innerhalb unserer Gruppe aufgrund von beschränkten Englischkenntnissen war oft nur durch unsere kasachischen Studenten möglich. Sie ließen uns nie spüren, wie abhängig wir eigentlich von ihnen waren und versuchten, die Sprachbarriere so gut wie möglich zu überbrücken. Gelassenheit und Flexibilität stellten sich als durchaus

nützlich heraus, wenn unsere Gastgeber zum wiederholten Mal unseren Zeitplan auf den Kopf stellten. Unsere Reise durch einen Teil Kasachstan hat uns vor allem durch die gewaltige Gastfreundschaft einen einzigartigen Einblick in dessen Kultur ermöglicht. Nationale Tänze, Berge an Essen und jedes Mal zum Abschluss eine Tasse Chai (Tee), die Klänge des zweisaitigen Instruments Dombra und herzliche Begrüßungen, kräftig die Hand drückend oder mit einem Regen aus Schokoladenbonbons in den verschiedenen Dörfern. Unsere Gastgeber waren äußert bemüht, uns das Schönste ihres Landes zu zeigen und ihren Stolz zu teilen. Dies schien manchmal paradox im Angesicht unseres Wunsches von den schrecklichen Erfahrungen der Menschen durch die Atombombentests und die gesundheitlichen Folgen bis in die heutigen Generationen zu erfahren. Der Besuch von internationalen Gästen ist ein besonderes Ereignis für die Menschen und ihnen ist wichtig, dass das Bild, was wir von ihrem Land nach Hause tragen, ein positives ist. Man muss sich auch immer die Frage stellen, inwiefern man sich instrumentalisiert fühlt, instrumentalisiert wird und wie man damit umgeht. Im Fall von Kasachstan kam mir oft der Gedanke, dass wir dafür

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einem fast komplett eingemauerten großen Feld.

genutzt werden, um der Bevölkerung zu demonstrieren, dass sich der Präsident sehr um internationale Beziehungen bemüht. Ich will dem gar nicht widersprechen, aber es schien mir, als ob es immer nur um das Unterstreichen der positiven Handlungen ging, um von allem anderen abzulenken. Bei jeder offiziellen Veranstaltung wurde gelobt, dass er zur Beendigung der Atomwaffentests beitrug. Natürlich ist dies eine sehr positive Handlung, aber zu viel Lob über die Vergangenheit sollte einen nicht vergessen lassen zu fragen was in der Gegenwart passiert. Nicht nur, dass geplant ist Atomenergie in Kasachstan zu nutzen, momentan ist das Land der weltgrößte Exporteur von Uran. Bei dem Mittagessen in Pavlodar saß ich neben einem jungen Mitarbeiter der Bürgermeister und fragte ihn, was er denn von dem geplanten Einstieg in die Atomenergie hielt und er antwortete nur bescheiden, dass die Politik schon wisse, was richtig sei. Würden wir solch eine Aussage jemals in Deutschland hören? Gerade durch das Fehlen eines kritischen öffentlichen Diskurses in KaAino Ritva Weyers, IPPNW sachstan, verfolgten wir International Students das Ziel die Bevölkerung Representative (ISR) von der Arbeit von IPPNW 2014–2016 wissen zu lassen, Bürger-

meister in vielen verschiedenen Städten für „Mayors for Peace“ zu begeistern, für weltweite Abrüstung einzutreten und zu zeigen, dass es viele Menschen gibt, die von der Geschichte Kasachstans lernen und ihre Erfahrung mit anderen teilen wollen, damit es nie wieder so weit kommt. Insbesondere die Unterstützung der kasachischen Studenten war uns wichtig, um auch dort eine starke Studentenbewegung zu initiieren. Im Gegenzug den öffentlichen Rummel zu ertragen, erschien uns nicht zu teuer. Die Radtour war eine sehr interessante Erfahrung, auch wenn mir bis heute viele Dinge sehr absurd erscheinen. Wenn man mir erzählt hätte, dass wir entlang der gesamten Tour von zwei Polizeiwagen und einer Ambulanz begleitet werden würden, hätte ich gelacht. Uns begleiteten so viele Fahrzeuge, dass es umwelttechnisch eine bessere Bilanz ergeben hätte gemeinsam im Bus zu sitzen. Auch war geplant, dass wir nachts unsere Zelte aufschlagen würden, doch im Endeffekt taten wir dies nur einige Male. Größtenteils wurden wir in Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden untergebracht, in denen sie Betten für uns aufgestellt hatten. Unseren Wunsch zu zelten, versuchten die Gastgeber zu stillen, indem sie sich für einen großen Platz entschieden, neben einer Tankstelle und einem Restaurant, der mit Mauern geschützt war. Weite, weite Steppe und wir mit unseren Zelten in

Nach einem der vielen ausgiebigen Mittagessen saßen wir in einer Runde mit den Krankenschwestern und Ärztinnen vor dem medizinischen Zentrum eines Dorfes, die uns die Atombombentests und deren Folgen als Teil ihrer Kindheit und Lebens beschrieben. Öfter hatte ich die Erfahrung gemacht, dass das Thema Atombomben für viele ein eher exotisches, wenig präsentes Thema zu sein scheint, doch dieses Gespräch verlief anders. Die Frauen berichteten davon, wie sie sich unter dem Tisch versteckten und den Atompilz in der Entfernung sahen, ohne zu wissen, was genau passierte. Sie sagten, sie erhielten die Information, dass es sich um Erdbeben handelte, mehr Information kam nie von den Autoritäten, wenn überhaupt. Es gab keine Aufklärung zum Schutz der Bevölkerung. Nach solchen Gesprächen wird einem nur erneut bewusst, wie wenig Zeit eigentlich erst vergangen ist seit die letzten Tests liefen und wie schnell die Vergangenheit in Vergessenheit zu geraten scheint. Mir wurde klar, dass auch mir das Thema Atombomben schwer zu greifen und weit weg vorkommt. Dass direkt Betroffene ihre Erfahrungen mit uns teilten, machte es mir möglich, nachzuvollziehen, was die bestehende Existenz und die Geschichte dieser Waffen bedeutet. Die Nutzung von Atomwaffen ist eine Missachtung der unveräußerlichen Menschenrechte, insbesondere des Rechts auf körperliche Unversehrtheit. Die Verschleierung und Geheimhaltung, standen für den Staat vor dem Schutz der Bevölkerung, die nie über die Risiken informiert wurde, was eine eklatante Missachtung ihrer Rechte und Nöte ist. Diese Erfahrungen waren schockierend, aber stärkten meinen Willen, mich für die nukleare Abrüstung einzusetzen. Nicht zuletzt denke ich oft an meine Mitstreiter. Diese Menschen kennen zu lernen, so unterschiedlich, aber alle mit großer Leidenschaft für ein Engagement für eine atomwaffenfreie Welt, war eine unglaubliche Bereicherung und Motivation sich gemeinsam weiter für dieses Ziel einzusetzen.


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„From the Power of the Markets to the Health of the People“ IPPNW-Summer School, 14.–19. September 2014: TeilnehmerInnenstimmen

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n diesem Jahr fand zum vierten Mal die Global Health Summer School der IPPNW in Zusammenarbeit mit dem Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité statt. TeilnehmerInnen aus aller Welt diskutierten und arbeiteten gemeinsam zum Thema „From the Power of the Markets to the Health of the People“. Interviews geführt von Sara Kolah Ghoutschi, transkribiert von Julia Weber

“I came to the Summer School because I wanted to meet different people from different directions or fields of study to discuss about the topic. I liked that the classes were really well prepared. I am really happy I’ve been here!” (Molly from USA) “I’ve gone to Public Health in medical school, so attending this conference was important for me to be able to understand more what Public Health, Global Health and International Health is. And yeah, I think it

has been very beneficial in terms of knowing more about Global Health. It was a bit different for me because the discussions were mainly focused on the Western World but I think I’ve gathered a lot of ideas and I’m feeling very motivated. I have so many questions like ‘where do I start when I go back home?’ but I really like this whole concept of discussing Global Health issues and I foresee a similar thing happening in Africa and I hope that I’ll be a pioneer of such a thing. Maybe it’s already there but I borrowed a lot of ideas and now I’m motivated to actually study Global Health and see if I can make things better and be in the global world and see what I can do for Africa and for my country.” (Sally from Kenia)

“Hi, I am Renia, I participated in this Summer School because I did a Masters in International Health. I’ve felt that I have a lack of knowledge in Global Health governance and in Global Health field which I’m really interested in and I thought that this summer school could give me more background and literature to read and interesting people to meet to talk about these issues.

If I got happy with it? Yes, I think most of the presentations and the discussions were in the right direction and what I thought what it should be about or what it would be about. I think some of them were lacking in, hmm, exactly in the perspective of Global Health. They were maybe too altruistic or too humanitarian without doing a self-critical approach and understanding their role in the Global Health field. I’ve found the people really interesting, nice and kind. I was very happy!” (Renia from Greece)

“This Summer School has been very enriching for me because I am not a medical student but a social science and it is very interesting to get to know different approaches to Global Health through different

disciplines. And the organization has been so good, the professors and, what I liked the most, are the people that have joined the Summer School this year because everyone comes from a different background which makes everything just so amazing, to talk to everyone and to learn just by hearing what the others are thinking.” (Nelly from Mexico)

Die Dokumentation, Fotos und weitere Infos findet Ihr unter: www.health-and-globalisation.org

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Gemeinsam in die Zukunft schauen Das Friedensprojekt und Balkan-Programm „Bridges of Understanding“

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ie zunehmenden internationalen politischen Spannungen und Krisen sind aktuell besorgniserregend. Umso wichtiger ist es deshalb in einer so schwierigen Zeit, Friedensarbeit zu fördern und sich, sofern möglich, selbst aktiv daran zu beteiligen. Von Johannes Riegel

Das Friedensprojekt und Balkan-Programm „Bridges of Understanding“, welches alljährlich von der IPPNW-Regionalgruppe Würzburg organisiert wird, lädt seit dem Jahr 1995 Medizinstudentinnen und -studenten aus den verschiedenen Staaten des ehemaligen Jugoslawiens für einen Monat nach Würzburg ein. Sie lernen die verschiedenen Fachbereiche der Missionsärztlichen Klinik kennen und wohnen gemeinsam im Haus St. Michael in der Nähe des Krankenhauses. Initiiert wurde das Programm „Bridges of Understanding“ im Jahr 1993 durch das IPPNW-Ehren-Vorstands-Mitglied Professor Dr. Ulrich Gottstein. Von ihm stammte die Idee, ein Netzwerk zwischen den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens zu schaffen, um Frieden und Versöhnung in den durch Kriege und Konflikte gespaltenen Ländern zu fördern. Bis heute ist das Bild der Einheimischen untereinander von persönlichen Eindrücken und Erlebnissen in der Vergangenheit und politischen und sozialen Problemen der Gegenwart geprägt. Die Entwicklung der Nationalstaaten und das Aufkommen von Nationalismus in den letzten Jahren haben die Vorurteile nicht aufgelöst, sondern eher gefördert. Umso wichtiger ist es, dass das Programm „Bridges of Understanding“ in dieser Form existiert, um gemeinsame Lösungsansätze zu finden, Verständnis füreinander zu schaffen und die Voreingenommenheit abzubauen. In diesem Jahr wurden sieben Medizinstudentinnen und -studenten der Universitäten von Split Johannes Riegel (Kroatien), Mostar, Sara11. Semester, Würzburg jevo (beide Bosnien-Herzegowina), Belgrad (Ser-

bien), Prishtina (Kosovo), Tetovo und Štip (Mazedonien) vom 17. August bis zum 12. September 2014 nach Würzburg eingeladen. Neben der Hospitation in der Missionsärztlichen Klinik wurde ein krankenhausinternes Seminarprogramm organisiert. Am Nachmittag dozierten Ärzte der Missionsärztlichen Klinik in englischer Sprache über verschiedene medizinische Themen. An zwei Nachmittagen wurde jeweils ein Film über das Problem von Atommüll sowie über den fehlenden allgemeinen Zugang zur Gesundheitsversorgung auf dem Balkan gezeigt und intensiv diskutiert. Es wurde festgestellt, dass die Länder Südosteuropas häufig mit denselben sozialen und wirtschaftlichen Problemen konfrontiert sind. Unterstützt wurde das Programm von Würzburger Medizinstudierenden, die ein vielfältiges Freizeitprogramm organisierten. Die Stadt Würzburg lernten die Studentinnen und Studenten durch viele verschiedene Aktivitäten kennen. Außerdem wurde an einem Wochenende im Rahmen einer Tour nach Nürnberg das Dokumentationszentrum des ehemaligen Reichsparteitags-

geländes besucht. Abgerundet wurde das Programm durch Ausflüge nach Bamberg und Rothenburg ob der Tauber. Zu verschiedenen Programmpunkten kamen spontan Austausch-Medizinstudenten aus Mwanza, Tansania, hinzu, die eine wertvolle Bereicherung darstellten. Am Abschlussabend bedankten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer für die Einladung nach Deutschland und für die unvergesslichen und wertvollen Erfahrungen der letzten Wochen. Sie waren von der Missionsärztlichen Klinik begeistert, das Personal war sehr freundlich und band die Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft in den Alltag mit ein. Darüber hinaus haben die Studierenden untereinander, im Krankenhaus und mit den deutschen Studierenden kostbare Freundschaften schließen können, die sie in den Heimatländern über die Landesgrenzen hinaus weiter pflegen werden. „Das Programm half uns tatsächlich, Brücken untereinander zu bauen und zu verstehen, dass wir uns nicht an der Vergangenheit festklammern, sondern unsere Kräfte für ein bessere und friedliche gemeinsame Zukunft sammeln sollten“, so Flaka Pasha, Teilnehmerin aus dem Kosovo. Lukas Breunig vom studentischen Organisationsteam meint: „Ein derart intensives Zusammentreffen der verschiedenen Bevölkerungsgruppen des Balkans wäre ohne ein solches Programm nie möglich. Es werden


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Freundschaften geknüpft, die sonst niemals zustande gekommen wären. Somit können die oft klischeebeladenen Ansichten über die benachbarten Länder nachhaltig ins Positive verändert werden.“ Schon im nächsten Frühjahr ergibt sich für alle die Möglichkeit, sich wieder zu sehen. Das alljährliche Netzwerk-Treffen auf dem Balkan wird diesmal voraussichtlich in Sarajevo stattfinden. Es wird ein Wochen-

ende lang über von der lokalen IPNNWGruppe vorgeschlagene Themen diskutiert, es werden Freundschaften gepflegt und Kontakte geknüpft. Die ehemaligen und zukünftigen Teilnehmer des Programms sowie die regionalen IPPNW-Mitglieder werden eingeladen, ebenso deutsche Mitglieder der IPPNW und der Regionalgruppe Würzburg. Im Jahr 2015 werden dann wieder Medizinstudierende aus dem Balkan nach Würz-

burg kommen und das langjährige Programm in das 20-jährige Jubiläum führen. Ein großer Dank gilt Dr. Wolfram Braun und Dr. Renate Geiser von der IPPNWRegionalgruppe Würzburg für ihren Einsatz und die Organisation des Programms – ebenso dem Missionsärztlichen Institut, welches das Programm jedes Jahr unterstützt und die Übernachtungsmöglichkeit im Haus St. Michael ermöglicht.

Famulieren & engagieren 2014

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uch dieses Jahr waren wieder 11 Studierende mit dem IPPNW-Programm famulieren & engagieren in aller Welt und drei Studierende aus Kenia, Mazedonien und der Türkei in Deutschland zu Gast. f&e verbindet medizinische Ausbildung mit sozialem Engagement: Die Studierenden gehen nicht nur für vier Wochen ins Ausland um eine Famulatur zu absolvieren; sie bleiben darüber hinaus noch für mehrere Wochen in der Region, um in einem friedens- oder sozialpolitischen Projekt mitzuarbeiten. Mehr Infos und Bewerbung unter: studis.ippnw.de/famulieren-engagieren

Bosnien und Herzegowina Der Mensch im Mittelpunkt, egal welche Religion, Kultur oder Herkunft dahintersteht, der Kriege und Krisen überwindet und gemeinsam mit seinen Mitmenschen an einem Strang zieht – bei der noch jungen Geschichte des Landes ist diese Idee noch nicht allzu verbreitet. Über seine ärztliche Tätigkeit hinaus versucht Sekib Sokolovic seine Mitbürger durch vielerlei Initiativen zu ermutigen, sich von alten Vorbehalten zu lösen, um „nur“ als Mitmenschen unvoreingenommen zusammenzuleben und gemeinsam auf Ziele hinzuarbeiten. Aber auch andere Ärzte beeindruckten mich sehr, wenn sie zum Beispiel wie Elnur Tahirovic weit nach Feierabend, also außerhalb der ohnehin gering bezahlten Arbeitszeit, versuchten eine Lösung für die Kostenübernahme lebensnotwendiger Eingriffe, die sich die Patienten ohne Unterstützung nicht leisten könnten, zu finden. Und zwar nicht für Schmiergeld, sondern weil es ihnen am Herzen liegt.

Andere widersetzen sich der Korruption trotz minimalster Gehälter und kamen sogar an Wochenenden im Arbeitskreis für Aids related diseases zusammen, um Konzepte zur Unterstützung und Entstigmatisierung HIV/Aids-Betroffener zu erarbeiten. Es ist kaum möglich die nötige Anerkennung für so viel Berufsethos und großartige Leistungen mit ein paar Worten auszusprechen. Ich wünsche mir nur, dass mehr Menschen das Glück haben solch wunderbare Ärzte kennenzulernen und zumindest einen kleinen Funken dieser unglaublichen Positivität für sich mitzunehmen und weitertragen. Christin Lorenz

Israel

Ich denke an das wunderschöne Israel … und vermutlich denkt nun (fast) jeder erst mal an den Nahost-Konflikt. Aber wer denkt an nicht-palästinensische Flüchtlinge? Flüchtlinge aus Eritrea, aber auch aus dem Sudan, aus Nigeria, aus Usbekistan …

Neben mir sitzt Dr. Ido Lurie und spricht mit ruhiger Stimme über den tiefsitzenden Rassismus in Israels Gesellschaft, den es zu bekämpfen gilt. Asylsuchende in diesem Land haben extrem geringe Chancen, einen Aufenthaltsstatus zu erlangen. Vielen droht das riesige Abschiebelager Cholot und das Gefängnis Saharonim in der Wüste Negev im Süden Israels. Seit diesem Frühjahr bietet die Gesher Clinic in Jaffa unter der Leitung von Dr. Ido psychiatrische Versorgung für Flüchtlinge und Menschen ohne Versicherung an. Gesher bedeutet sowohl auf arabisch als auch auf hebräisch das Wort „Brücke“. Die Patienten haben Kriege miterlebt, sind häufig Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution oder Vergewaltigung. Dr. Ido Lurie arbeitete jahrelang für die Physicians for Human Rights (PHR) in einer ähnlichen Klinik. Mit der Finanzierung der Gesher Clinic durch das israelische Gesundheitsministerium, UN- und EU-Gelder kann er viel mehr erreichen. Ein Symbol eines Ministeriums auf seinen Arztbriefen, das hat mehr Auswirkung auf die Asylanträge der Flüchtlinge … er lächelt verschmitzt und sagt, er sitze im trojanischen Pferd auf dem Weg zu besseren Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Israel. Therese Jakobs

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IPPNW international

Indien Ich bin in Nagpur, Zentralindien mit so vielen Menschen in Kontakt gekommen und jeder von ihnen bestreitet – oft unter schweren Umständen – seinen Alltag. Gibt nicht jeder Mensch jeden Tag gemäß Bildungsstand und aktueller Ressourcenverteilung im sozio-kulturellen Kontext Indiens sein Bestes? Ich habe viele MedizinerInnen/ KrankenpflegerInnen getroffen, die „sozial verantwortlich“ handeln. Da sind welche, die mit Smartphone ausgestattet zu PeaceConferences jetten. Und da sind welche, die mich im OP nach etwas zu essen fragen, weil sie/ihre Familie hungrig sind. Wie kann ich entscheiden, wer „sozial verantwortlich“ handelt und wer nicht? Ist es sozial verantwortlicher sich um seine Liebsten zu sorgen als Ressourcen verbrauchend um die Welt zu reisen, in der Hoffnung eine neue Agenda gegen Ungleichheit zu verabschieden? Ich weiß es nicht und enthalte mich eines Kommentares mit der Prämisse oft zu denen zu gehören, die sagen, wenn dieser Mensch so handelt, ist das sozial unverantwortlich. Kurz: Wer weiß das schon? Das ist aber kein fatalistisches Porträt, im Gegenteil, es ist all diesen – mir wichtigen und berührenden – Begegnungen gewidmet, die sich – unbewusst und deswegen so authentisch – für andere Menschen, ihre Familie oder schlicht sich selbst (auch das ist wichtig) einsetzen. Jeden Tag aufs Neue. Im Stillen. Danke. Philipp Rumpf

Kenia

Schwester Therese ist Krankenschwester und Hebamme und leitet trotz stolzem Alter von 81 Jahren allein ein kleines Health Dispensary im Westen Kenias. Im umliegenden infrastrukturell schwachen County Bungoma gibt es nur fünf Ärzte, sodass sie oft die einzige Anlaufstelle für Wehwehchen bis zu dramatischen Krankheiten aller Art ist. Zähne ziehen, septische Wunden reinigen, mangelernährte Kinder aufpäppeln und HIVBeratung gehören zu den häufigsten Be-

suchsgründen, aber auch Aufklärungs- und Impfkampagnen stellt Schwester Therese auf die Beine, packt ihre beiden Assistentinnen in ihren Jeep, und brettert mit Karacho über schlaglochgesegnete Landstraßen. Während einem als Beifahrer langsam Angst und bange wird, ist Therese guter Dinge – ein Gebet auf Swahili an den lieben Herrgott macht jede Straße befahrbar. Neben der Patientenversorgung kümmert sich Therese mit Elan um ihr Grundstück: In nur 14 Jahren zauberte sie aus einem kargen Lehmacker eine grüne Tropen-Oase, mit deren Erträgen sie sich selbst und auch ihre Patienten versorgt, um der Mangelernährung tatkräftig zu begegnen. Die Unterstützung ihres deutschen Freundeskreises ermöglichte es ihr über 25 Waisen Schulbesuch und Berufsausbildung zu bezahlen. Viele der Kinder verloren durch immer wieder aufflackernde ethnisch motivierte Kämpfe ihre Angehörigen, und auch Schwester Therese weiß durch Erfahrungen am eigenen Leib ein erschreckendes Lied zu singen. Nachts geht sie schon gar nicht mehr auf die Straße – zu viele Waffen … und dennoch bleibt sie, um ihre Gemeinde nicht im Stich zu lassen. Nicole Lüttich

Kosovo

Viele gehen, Shpresa bleibt. Shpresa, die vor zwei Jahren ihr Medizinstudium beendet hat und hoch motiviert ins Berufsleben starten wollte, steht nun desillusioniert und erniedrigt auf der Straße. Arbeitslos, wie 70 % der unter 25-Jährigen im Land Kosovo. Viele davon verschlägt es daher ins Ausland, doch Shpresa will nicht aufgeben. Für ihren Lebensunterhalt sortiert sie Lebensmittelware in die Regale eines Supermarktes ein. An manchen Tagen wolle sie sich ihrem Kindheitstraum Ärztin näher fühlen, dann streift sie den weißen Kittel über, legt das Stethoskop um den Hals und kommt in die Klinik. Sie fühle sich zwar ausgebremst in ihrer akademischen Karriere, dennoch möchte sie ihrem Land beim „Auferstehen“, 15 Jahre nach dem Krieg, eine Hilfe sein. Als Kind habe der Krieg, die damit verbundenen taghellen Nächte und erlebte Gewalt sie nicht aus der Bahn geworfen, warum sol-

le ihr die momentan aussichtslose Lage den optimistisch gestimmten, hoffnungsvollen Blick nach vorne nehmen? Dass das „Junge Prishtina“ nach vorne blickt und sich in Aufbruch und Wandel befindet, unterstreicht nur zu gut ein signifikantes Monument, das inmitten des Zentrums steht: „NEWBORN“, 7 große Stahllettern, jede 3 Meter hoch. Eine Vision für die Zukunft, an der Shpresa mehrmals die Woche vorbeigeht. Manchmal schließt sie die Augen dabei. Was sie da wohl sieht. Klara Pegels

Mazedonien

Strecke Ohrid – Skopje, Mazedonien. Ist es die überwältigende Schönheit der Umgebung, die über die Wange meiner Sitznachbarin eine kleine Träne kullern lässt? Ich blicke sie an und plötzlich sprudelt es aus ihr heraus. Persönliche Geschichten aus dem albanisch-mazedonischen Konflikt im Jahre 2001. Erzählungen von Personen, die ihre Häuser, ihre Viertel räumen mussten, Flüchtlinge im eigenen Land gewesen sind, alles verloren haben, bei null beginnen mussten. Weitermachen, mit der Erfahrung, dass einem der Boden unter den Füßen über Nacht weggezogen worden ist, während im Hintergrund Schüsse fallen. Im selben Atemzuge verkündet sie mit einem breiten Lächeln auf den Lippen und aufblitzenden warmen, zugleich mit den Tränen kämpfenden Augen, dass man jeder Erfahrung einen positiven Kern abgewinnen könne. Schließlich habe sie eben dies zu dem Menschen werden lassen, der sie jetzt sei. Dass eben materielle Dinge bedeutungslos seien und man die Schönheit des Augenblicks im Leben genießen solle, mit den Menschen, die man liebe. Dass sie dadurch ihre persönliche, soziale Verantwortung gefunden habe, anderen Betroffenen im Rahmen ihrer NGO-Arbeit Gehör zu verschaffen, indem sie ihre Geschichten zu Papier bringt: Von beiden Seiten, albanischer und mazedonischer, deren persönliche Erlebnisse als Buch in beiden Sprachen an die persönlichen Schicksale erinnern. Eva Kollmannsberger


IPPNW international

Palästinensische Autonomiegebiete Wir weigern uns Feinde zu sein – mit diesem Satz im Kopf betrete ich das Grundstück der Familie Nasser, die bei Bethlehem in der Zone C eine Farm und gleichzeitig Bildungs- und Friedensarbeit für die umliegenden Dörfer betreibt. Zone C, das heißt, dass Amal, die nebenberuflich Physiotherapeutin und hauptberuflich Widerständlerin ist, in einer Höhle aufgewachsen ist, da das israelische Militär der Familie keine Bauerlaubnis für ein Wohnhaus gab. Die sich im Mai diesen Jahres vor die Bulldozer stellte, mit denen die Siedler die restlichen der familieneigenen und über Jahre gewachsenen Aprikosen- und Apfelbäume beseitigen wollte, um Platz zu schaffen für ihren eigenen Größenwahn. Die sich nicht einschüchtern lässt, weder von den Gewehren der Soldaten noch von denen der Siedler. Und die vor allem und mit großer Kraft sich weigert, den einfachen Weg zu gehen. Aufzugeben. Feinde zu sein. Antonia Neuberger

Rumänien Hosman, ein kleines Dorf in Siebenbürgen. Idyllische Häuschen reihen sich hier aneinander, doch hinter den bunten Fassaden verbergen sich eine ganze Menge soziale Probleme, die erst beim zweiten Blick ins Auge fallen. Es gibt kaum Arbeit, die Schule brechen viele Kinder vorzeitig ab. Hier lerne ich Ruth kennen. Ruth leitet Elijah, ein Projekt, das es sich zum Ziel gesetzt hat hier ansässigen Roma zu helfen. Ein zentraler Aspekt des Projektes sind ein Sozialzentrum und Musikunterricht für Kinder. Ruths Tatkraft und Einsatz beeindrucken mich. Wenn alle anderen schon Feierabend haben und gemütlich beisammensitzen, kümmert sie sich oft noch bis spätabends um organisatorische Dinge, die mittlerweile einen Großteil ihrer Arbeit einnehmen. Mit ruhiger, gelassener Art geht sie mit Problemen um, was sicherlich von Vorteil ist, da hier manchmal improvisiert werden muss. Ursprünglich kommt Ruth aus Deutschland, jetzt ist sie

schon seit über 20 Jahren in Rumänien tätig, hat hier ihren Lebensmittelpunkt. Bevor sie Elijah gegründet hat, war sie viele Jahre in Bukarest und anderen Städten in Rumänien am Aufbau eines Straßenkinderprojektes beteiligt. Nachdem dieses Projekt gut funktioniert und recht groß geworden ist, hat sie beschlossen, etwas Neues zu starten. Diesen Mut, mit einem neuen Projekt wieder ganz von vorne anzufangen, finde ich bewundernswert. Konstantin Kühn

Türkei

Türkei, oder besser gesagt Izmir, eine Stadt mit vielen Gesichtern, ein ethnischer Schmelztiegel zwischen strengen Traditionen und westlicher Moderne. Die Stadt die voller Leben ist und nie zu schlafen scheint und in der alt und jung, modern und traditionell es schaffen ein „türkisches Miteinander“ zu finden. Ich weiß gar nicht, ob es ein spezieller Mensch ist, der mich hier am meisten beeindruckt oder vielmehr das Leben an sich. Hier trifft man Menschen, wie Dugy, eine sehr liebe aufgeschlossene junge Ärztin, die den Luxus hat ihr Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Sie reist, arbeitet an ihrer Karriere und hat großes Interesse an anderen Menschen und Kulturen. Gleichzeitig stößt sie, wie sie sagt, in ihrem Land immer wieder an nicht greifbare Grenzen, die sie nicht gutheißt, aber trotzdem stets beachtet und einhält. Es beginnt damit, dass sie ihrem Vater niemals einen Mann vorstellen könnte, den sie nicht heiraten will oder eine Reise in den Osten der Türkei ohne Kopftuch und lange Bekleidung auch für Türkinnen ein Spießrutenlauf mit wüsten Beleidigungen oder sogar tätlichen Angriffen sein kann. Es sind viele dieser nicht immer greifbaren Grenzen, die das Leben hier prägen und die einen täglich vor neue Herausforderungen stellen. Manja Unrath

USA

Eine sehr wertvolle Erfahrung durfte ich mit Punyadech Photangtham, genannt Dr. Peter, machen. Als Allgemeinmediziner, der sich zusätzlich auf HIV spezialisiert hat, arbeitet er an drei Orten, die bunter nicht sein könnten: Downtown Manhattan, Queens und Washington Heights. Zum einen sind da die wohlsituierten New Yorker, die nach ihrer x-ten Schönheits-OP auch mal die Gesundheit auf Vordermann bringen wollen, dann Bürger der Mittelschicht, welche zum ersten Mal in ihrem Leben eine Krankenversicherung erhalten und einen Rundumcheck wollen und brauchen. Und dann gibt es die immer noch zahlreichen Patienten, die entweder gar keine Versicherung haben oder sich ihre Behandlung aufgrund horrender Selbstbeteiligung nicht leisten können. Zu dem kommen viele Sprach- und Kulturbarrieren und mannigfaltige Vorstellungen und Erwartungen an die Medizin. Bewundernswerterweise schafft Dr. Peter den Spagat, meistert es insbesondere zahlbare Therapie-Alternativen für seine Patienten anzubieten. Er organisiert günstigere Medikamente aus Thailand, gibt großzügige Discounts für die Bedürftigen und nimmt sich in tiefer Hingabe auch viel Zeit für die soziomedizinischen Herausforderungen. Selbst in einer bitterarmen Familie in Thailand aufgewachsen, hat er sich den amerikanischen Traum erfüllt und sich emporgearbeitet zum exzellenten amerikanischen Arzt. Aber er lässt im Gegensatz zu vielen anderen seine bedürftigen Mitmenschen an seinem Glück Teil haben. Vom Tellerwäscher zum Philanthropen also. Lerato Maleka

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Kontakt

Ansprechpartner und Kontaktadressen IPPNW-Lokalgruppen an fast allen Unis

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n vielen Unis gibt es lokale IPPNW-Studierendengruppen. Wenn du Interesse hast, wende dich einfach an die Geschäftsstelle oder direkt an die entsprechenden Ansprechpartner. Auch die Arbeitskreise der IPPNW freuen sich immer über studentische Mitarbeit.

Regensburg: Sophie Flemmer www.regensburg.ippnw.de Rostock: Laura Förster Witten-Herdecke: Max Walter Würzburg: Eva Lauckner

IPPNW­Geschäftsstelle

Körtestr. 10, 10967 Berlin Tel: 030-698074-0 | Fax: 030-6938166 E-Mail: ippnw [at] ippnw.de | www.ippnw.de

Studierendengruppen

Aktuelle Kontakte auch unter studis.ippnw. de/studierendengruppen.html oder über die Geschäftsstelle.

Ansprechpartner für Studierende in der Geschäftsstelle ist Ewald Feige: Tel: 030-698074-11

Berlin: Frederik Holz

Zuständig für das Programm famulieren&engagieren ist Ulla Gorges

Dresden: Carlotta Conrad

Studierende im Vorstand der IPPNW Der Vorstand der IPPNW wird alle zwei Jahre vom höchsten Organ unseres Vereins, der Mitgliederversammlung, gewählt. Ihm gehören acht Personen sowie der International Councillor an. Als StudentIn im Vorstand vertritt man/frau die Interessen der Studierenden, setzt sich ein für Studierendenarbeit und informiert die Studierenden in der IPPNW über das, was sich im Verein so alles bewegt. Diese Aufgabe übernimmt derzeit Carlotta Conrad.

Bonn: Greta Große

Düsseldorf: Bastian Holzkamp Erlangen: Anna Maria Lehner Frankfurt/Main: Marie-Sophie Keßner, www.mfm-frankfurt.de Freiburg: Anna Hasenmaile Gießen: Thomas Volckmann Göttingen: Clara Dunkel Hamburg: Beatrice Wichert

StudierendensprecherInnen der IPPNW Jedes Jahr werden im Wintersemester beim bundesweiten Studierendentreffen zwei Studierende gewählt, die die Funktion der SprecherInnen übernehmen. Zur Zeit sind es Frederik Holz und Judith Achenbach.

Hannover: Lena Grimm

Aktuelle Infos unter: studis.ippnw.de

Köln: Corinna Fischer

Die internationale IPPNW-Studierendenhomepage: www.ippnw-students.org

Leipzig: Paula Jansen

Heidelberg/Mannheim: Christine Schneider, www.medinetz-rhein-neckar.de Jena: Robert Klunker

Lübeck: Sven Rieper Magdeburg: Maria Buck Mainz: Christina Everts München: Benedict Delf Münster: Annamika Gogia

Arbeitskreise AK Atomenergie: Henrik Paulitz AK Flüchtlinge & Asyl: Frank Uhe AK ICAN: Dr. Inga Blum AK Medical Peace Work: Dr. Eva-Maria Schwienhorst AK Medizin & Gewissen: Dr. Caroline Wolf AK Süd-Nord: Dr. Barbara Bodechtel


IPPNW: Frieden durch Gesundheit

Medizinstudierende für Gerechtigkeit und Frieden in einer Welt ohne atomare Bedrohung Was ist die IPPNW? IPPNW steht für Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges. In Deutschland heißt die IPPNW zudem „Ärzte in Sozialer Verantwortung“. Die IPPNW wurde 1980 zur Zeit des Kalten Krieges gegründet. Heute arbeitet die IPPNW in 80 Ländern für eine menschliche Medizin und eine friedliche Welt ohne atomare Bedrohung.

Was macht die IPPNW?

Die IPPNW • forscht: z. B. in Studien über die Gesundheitsfolgen von Uranmunition und ionisierender Strahlung • setzt sich für Benachteiligte ein: z. B. bei direkten Gesprächen mit politischen Entscheidungsträgern für eine gute Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen in Deutschland • klärt auf: z. B. mit Info-Ständen und Publikationen über die Risiken von Atomwaffen und der Nuklearen Kette.

Nur Atomkrieg und sonst nichts?

Ist die IPPNW eine Hilfsorgani­ sation?

Nein, längst arbeitet die IPPNW zu vielen Themen wie Ethik in der Medizin, Global Health, Flüchtlingsfragen, medizinische Friedensarbeit oder Atomenergie. Die IPPNW hat mehrere bundesweite Arbeitskreise und veranstaltet Kongresse.

Nein, aber …! Die IPPNW arbeitet vor allem präventiv. So sollen Konflikte gar nicht erst entstehen. Durch die internationalen Kontakte der IPPNW entstehen aber oft konkrete Hilfsaktionen, wie die Kinderhilfe Irak.

Nur was für Ärzte?

Alle Aktivitäten sind offen für Interessierte. Das Besondere: Die IPPNW gibt lokalen Gruppen sehr viele Freiheiten und volle Unterstützung bei den Aktivitäten.

Im Gegenteil! In Deutschland allein gibt es 1.000 studentische Vollmitglieder. Studierende arbeiten oft lokal in Studierendengruppen. Jedes Jahr finden ein bundesweites und ein europäisches Studierendentreffen statt. Mit dem IPPNW-Programm famulieren & engagieren können Studierende weltweit in Partnerprojekten Erfahrungen sammeln und sich einbringen.

Anmeldung

Was kann ich machen?

Mehr Informationen? www.ippnw.de

bitte ausschneiden und einsenden oder faxen an die IPPNW 030–6938166 Für Studierende kostet das im Jahr 32 Euro | Für Ärzte und Ärztinnen 120 Euro

Ja, ich werde Mitglied und unterstütze die Ziele der IPPNW. Studierende Mitglieder erhalten die Zeitschrift „IPPNWforum“ und den „amatom“ kostenlos. SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige / wir ermächtigen IPPNW e.V., Zahlungen von meinem (unserem) Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein (weisen wir) unser Kreditinstitut an, die vom IPPNW e.V. auf mein (unser) Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann (wir können) innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrages verlangen. Es gelten dabei die mit meinem (unserem) Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.

Vorname und Name des Kontoinhabers

E-Mail

Straße und Hausnummer

Postleitzahl und Ort

bei Kreditinstitut

BIC

IBAN Unterschrift

Gläubiger-Identifikationsnummer: DE16IPP00000010836 Mandatsreferenz: wird im Zuge der Bestätigung mitgeteilt

Vor dem ersten Einzug einer SEPA-Lastschrift wird mich (uns) der Verein IPPNW e.V. über den Einzug in dieser Verfahrensart unterrichten.


Fotografiert in Hamburg von

European Students Conference Helsinki 2014


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