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das magazin der ippnw nr143 sept2015 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
- 20 Jahre Brücken der Verständigung - Junge Flüchtlinge schützen! - Die Lüge vom Raketenabwehrschild gegen Iran
DieWaffen nieder! Zivile Konfliktbearbeitung
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EDITORIAL Susanne Grabenhorst ist Vorsitzende der deutschen Sektion der IPPNW.
F
riedens-, Entwicklungs- und Bürgerrechtsorganisationen entwickeln seit langem alternative Konzepte ziviler oder gewaltfreier Konfliktbearbeitung und wenden sie in Krisenregionen an. Mit den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien in den 1990er Jahren fanden solche Konzepte auch Eingang in die deutsche Politik. Die Schaffung des Zivilen Friedensdienstes, des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze oder der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung sind Ausdruck davon. Allerdings wird zivile Krisenprävention in der Politik bisher nur als Ergänzung, nicht als Alternative zu dem gleichzeitig verstärkten deutschen militärischen Engagement in aller Welt gesehen. Das Verhältnis der Ausgaben zeigt dabei die Gewichtung: Für den Aktionsplan Zivile Konfliktbearbeitung stehen jährlich 35 Millionen Euro zur Verfügung, für den „Verteidigungshaushalt“ das Tausendfache, nämlich 35 Milliarden. Diese tausendfache Übermacht zeigt sich in den Reaktionen auf Konflikte: Da wird sofort die angebliche Ultima ratio der Gewalt ins Spiel gebracht. Panzer statt Prävention. Die Krise in der Ukraine und in den internationalen Beziehungen ist auch eine Folge der sträflichen Vernachlässigung von ziviler Konfliktbearbeitung. Eine bewundernswerte, viel Zivilcourage erfordernde Maßnahme ist zum Beispiel die Kriegsdienstverweigerung. Der Artikel von Bernhard Clasen macht deutlich, wie schwierig die Bedingungen für zivilen Widerstand angesichts der eskalierenden Gewalt in der Ukraine sind. Eine wichtige Untersuchung zur Wirksamkeit gewaltfreier Aktion haben Erica Chenoweth und Maria J. Stephan in ihrem Buch „Why Civil Resistance Works. The Strategic Logic of Nonviolent Conflict“ vorgelegt. In ihrem Artikel stellen sie die Ergebnisse vor. Die Autorin Susanne Luithlen schreibt über die Schwierigkeit von ziviler Konfliktbearbeitung angesichts des Vormarschs des Islamischen Staates und Andreas Grüneisen berichtet über EAPPI, das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel. Ich wünsche Ihnen eine interessante Lektüre dieses Forums. Susanne Grabenhorst 3
INHALT Berliner Erklärung: Grundrechte und Hilfebedarf minderjähriger Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellen
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THEMEN 20 Jahre Brücken der Verständigung........................................................8 Die Lüge vom Raketenabwehrschild gegen Iran..............................10 Junge Flüchtlinge schützen......................................................................... 12 Die Berliner Erklärung.................................................................................... 13
Foto: Montecruz Foto / CC-BY-SA 2.0
Humanitäre Krise in Griechenland...........................................................14 Eskalation der Gewalt in der Türkei........................................................16 Langzeitfolgen von Atomexplosionen.................................................... 18
SERIE Die Nukleare Kette: Alamogordo...............................................................17
Zivile Konfliktbearbeitung: Konfliktvermittlung in Kaduna, Nigeria
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SCHWERPUNKT Konfliktvermittler in Kaduna...................................................................... 20 Die Waffen nieder! Wann ziviler Widerstand funktioniert......... 22 Abstimmung mit den Füßen: Die Kriegsmobilisierung in der Ukraine scheitert...........................24 Dämonisierung ist keine Politik: Zivile Konfliktbearbeitung in eskalierten Gewaltkonflikten
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Foto: © Uli Reinhardt
Es ist gut, dass Ihr da seid: EAPPI, das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel............................................... 28
WELT K-Project for Peace: Notizen vom Kilimandscharo
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K-Project for Peace: Notizen vom Kilimandscharo....................... 30
RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31
Foto: Jonathan Happ
Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33
MEINUNG
Alex Rosen ist stellvertrender Vorsitzender der deutschen IPPNW.
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Der Nahe und Mittlere Osten ist ein Pulverfass, nicht erst seit den gewaltsamen Folgen des Arabischen Frühlings oder dem Aufkommen des „Islamischen Staates“.
n einer solch explosiven Region möchte man sich keine Atomwaffen vorstellen. Das Konzept einer atomwaffenfreien Zone im Nahen und Mittleren Osten ist daher zu Recht seit vielen Jahren immer wieder Diskussionsgegenstand internationaler Konferenzen und eine wichtige Forderung zahlreicher Staaten und Friedensorganisationen. Das Atomabkommen mit dem Iran ist als ein wichtiger Baustein einer solchen atomwaffenfreien Zone zu sehen. Durch seine Unterschrift schwört der Iran nicht nur dem Streben nach Atomwaffen offiziell ab, sondern lässt auch zahlreiche Einschnitte in seine Souveränität zu, um den Vertragspartnern die Sicherheit zu geben, dass der Griff nach der Atombombe in immer weitere Ferne rückt. Ein wichtiger Schritt für den Frieden in der Region, zweifelsohne.
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och in der Diskussion um das iranische Atomprogramm ging allgemein unter, dass auch andere Staaten in der Region das Potential haben, Atomwaffen zu entwickeln. Saudi-Arabien lanciert immer wieder, dass es im Fall einer iranischen Atombombe mit pakistanischer Hilfe ein eigenes militärisches Atomprogramm etablieren würde. Auch in der Türkei und in Ägypten wird derzeit an einem Ausbau des zivilen Atomprogramms gearbeitet, ohne dass überzeugende wirtschaftliche Gründe zu erkennen sind. Und Israel bleibt als einziger Atomwaffenstaat in der Region weiterhin bei seiner Politik der „nuklearen Ambiguität“: „Wir erklären uns nicht offen zum Atomwaffenstaat, aber wir streiten auch nicht ab, Atomwaffen zu besitzen“. Mit dieser Haltung torpediert das Land weiterhin jeden Versuch, eine atomwaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten zu etablieren. Nun hat die Israelische Bewegung gegen Atomwaffen die Regierung Netanyahu in einem offenen Brief dazu aufgefordert, das israelische Atomprogramm gesetzlich zu mandatieren und zu regulieren. Die israelische Atomenergiekommission ist zwar fast so alt wie der Staat Israel selbst, aber das israelische Parlament hat sich nie mit ihr befasst. Der Ruf nach demokratischer Kontrolle des israelischen Atomprogramms ist ein wichtiger Schritt und sollte auch von Deutschland aus unterstützt werden. 5
N ACHRICHTEN
Wellcome Trust investiert weiterhin in fossile Energien
IPPNW-Ko-Präsidenten appellieren an Putin und Obama
Netanjahu zur Einrichtung einer Atomaufsicht aufgefordert
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er Wellcome Trust ist eine der wichtigsten philantrophischen Institutionen weltweit. Seine Arbeit hat Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlergehen vieler Millionen Menschen. Insbesondere hat der Wellcome Trust maßgeblich zur Erforschung des Klimawandels und seiner Folgen beigetragen. Umso enttäuschender die Nachricht, dass er auch in den nächsten fünf Jahren in den Industriebereich fossiler Energien investieren will. 80 führende Gesundheitsexperten, darunter Fiona Godlee und Richard Horton, die Herausgeber des British Medical Journal bzw. des Lancet, sowie die beiden Vorsitzenden der internationalen Lancet Commission on Health and Climate Change und David McCoy, der Direktor und Klimaexperte der britischen IPPNW (Medact) haben den Wellcome Trust in einem offenen Brief aufgefordert, Investitionen in den fossilen Energieerzeugungssektor zu beenden. Begründet wurde der Aufruf mit den verheerenden Klimafolgen, die der Abbau fossiler Energien nach sich zieht. Wie vom Trust höchstselbst bestätigt, muss ein Großteil der fossilen Kohlereserven im Boden verbleiben, um eine durchschnittliche globale Erderwärmung von zwei Grad und die daraus resultierenden katastrophalen Gesundheitsfolgen abzuwenden. Demnach muss eine Transformation des gesamten Energiesektors vollzogen werden. Infos zur Medact-Kampagne (Englisch): www.medact.org/campaign
n einem Brief an Barack Obama und Wladimir Putin äußerten sich die IPPNW-Ko-Präsidenten Ira Helfand (USA) und Vladimir Garkavenko (Russland) Anfang August 2015 besorgt über den möglichen Einsatz von Atomwaffen im Ukrainekonflikt. Sie fordern die Politiker auf, die gefährliche Situation zu entschärfen. Beide Staaten müssten klar stellen, dass der Konflikt eine Anwendung von Atomwaffen nicht rechtfertige. Sowohl die USA als auch Russland haben Atomwaffen in der Region stationiert. Beide Staaten planen Manöver in der Region, die atomare Systeme miteinbeziehen. Die Bereitstellung und der potentielle Einsatz dieser Waffen seien eine Gefahr für den Weltfrieden. Militärische Unterstützung von außen mache diesen Konflikt nur gefährlicher. Nur durch diplomatische Bemühungen könne noch eine Lösung erzielt werden, betonen Helfand und Garkavenko. Seit dem Ende der Hochphase des Kalten Krieges sei die Welt der Schwelle zum Atomkrieg nicht mehr so nahe gekommen. Helfand und Garkavenko fordern Obama und Putin auf, von Drohungen und Aktionen, die Atomwaffen einbeziehen, abzusehen und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Die Anerkennung des INF-Vertrags, der NATO-Russland-Akte und des KSE-Vertrags seien wichtige Schritte, um die Sicherheit der Region zu gewährleisten und dem Ziel des Weltfriedens näherzukommen. Weitere Informationen finden Sie unter kurzlink.de/welt-am-abgrund
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ie Israelische Bewegung gegen Atomwaffen hat die Regierung Netanyahu in einem offenen Brief dazu aufgefordert, das israelische Atomprogramm gesetzlich zu mandatieren und zu regulieren. Sharon Dolev von der Israelischen Abrüstungsbewegung, der ehemalige Knesset-Abgeordnete Mossi Ras, der Menschenrechtsanwalt Itai Mack und der Friedensforscher Prof. Avner Cohen fordern in dem Schreiben, dass die Organisationsstruktur, Weisungsbefugnisse und Zuständigkeiten der israelischen Atomenergiekommission in Form eines Gesetzes klar geregelt und öffentlich gemacht werden sollen. Ebenso fordern sie die Einrichtung einer legislativen Aufsicht, die die Aktivitäten der Kommission überwacht. Die israelische Atomenergiekommission gibt es seit 1952, das Parlament hat sich aber nie mit ihr befasst. Stattdessen wird die Kommission durch geheime Entscheidungen der Regierung gesteuert. Dieses demokratische Defizit soll durch ein neues Gesetz behoben werden. Die AutorInnen des offenen Briefes erhoffen sich dadurch zwar noch kein Ende der „nuklearen Ambiguität“, aber zumindest eine größere legislative Kontrolle über die Aktivitäten der Kommission. „Wir sind der Meinung, dass die aktuelle Situation den Grundsätzen einer Demokratie nachhaltig schadet,“ so der ehemalige Knesset-Abgeordnete Mossi Raz. Sharon Dolev fügt hinzu, es gehe auch um die öffentliche Sicherheit und Gesundheit, sowie den Schutz der Umwelt: „Das sind Themen, die jeden von uns angehen – dennoch wissen wir nichts über die Aktivitäten der Atomenergiekommission und es gibt keine demokratische Aufsicht.“
N ACHRICHTEN
Nachfolgekonzept für die Milleniums-Entwicklungsziele
Trauer um den Versöhnungspolitiker Egon Bahr
Neue Empfehlungen zu Strahlenhöchstwerten bei Arbeitern
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ie im Jahr 2001 verabschiedeten Milleniums-Entwicklungsziele (MDG) hatten die Halbierung der Armut weltweit bis zum Jahr 2015 zum Ziel. Für die Zeit nach 2015 entwirft ein von UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon einberufenes Gremium mit 27 VertreterInnen aus Politik, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und Wirtschaft aus allen Teilen der Welt ein Nachfolgekonzept, über das im Dezember 2015 abgestimmt werden soll. Konzentrierten sich die 2001 festgelegten Milleniums-Entwicklungsziele hauptsächlich auf Themen wie die Bekämpfung von Hunger und Armut in Nehmerländern durch die reicheren Geberländer, stellt die Post-2015Agenda den Versuch dar, ein universelleres System zu schaffen, das für Entwicklungs-, Schwellen- und Industrieländer gleichermaßen gültig ist und nachhaltige Entwicklung in allen Ländern in den Fokus rückt. Auch friedenspolitische Ziele finden in der neuen Agenda Platz: Frieden und nachhaltige Entwicklung könnten nur zusammen existieren, wird formuliert. Die Entwicklungsziele der Agenda umfassen unter anderem die Themen Armutsreduzierung, Chancengleichheit, Gleichstellung der Geschlechter, Bildung, Gesundheit, Klimawandel, Umweltschutz, Wachstum und Beschäftigung, Beseitigung von Hunger und Mangelernährung, demographische Entwicklung, Migration, Stadtentwicklung, nachhaltiges Wirtschaften, Frieden und Menschenrechte. Ausführlicher Bericht unter: kurzlink.de/Post21
ie IPPNW trauert um Egon Bahr. Der langjährige Berater und Chefunterhändler von Willy Brandt war der Ärzteorganisation ein Freund und Ratgeber. „Er wirkte auf einer Reihe von IPPNW-Kongressen und Diskussionen mit und kam über mehrere Jahre mit Horst-Eberhard Richter, Richard von Weizsäcker und anderen namhaften Politikern zu Wochenendbesprechungen über friedenspolitische Fragen zusammen“, schreiben Prof. Ulrich Gottstein und Prof. Dr. Götz Neuneck in einem Nachruf. Bahrs Name ist eng verbunden mit dem Abschluss der Ostverträge und der Versöhnung mit Polen sowie mit seiner Maxime „Wandel durch Annäherung“. Auf dem ersten IPPNW-Kongress „Kultur des Friedens“ im Jahr 2000 diskutierte Egon Bahr mit dem Friedensforscher ErnstOtto Czempiel sowie Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker über die aktuellen Gefahren für den Weltfrieden. Um ihn war er ständig besorgt, zuletzt besonders über die Ursachen und den Verlauf der Ukrainekrise und den Zusammenbruch des in den Jahren zuvor geschaffenen Vertrauensverhältnisses mit Russland. Noch am 21. Juli 2015 rief er nach Gesprächen mit Gorbatschow zur pragmatischen Wiederannäherung an Russland auf und forderte eine schnellstmögliche Beendigung der Sanktionen, die nicht friedensfördernd seien. Er warnte davor, dass durch die gegenseitigen Militärübungen von Russland und der NATO bzw. der ukrainischen Armee die Ukraine-Krise außer Kontrolle geraten könne. Vollständige Erklärung unter: kurzlink.de/trauer-um-egon-bahr 7
ie japanische Atomaufsichtsbehörde NRA und das japanische Gesundheitsministerium haben vorgeschlagen, die maximale Strahlenbelastung für Nukleararbeiter für eine Notfall-Situation von 100 Millisievert (mSv) auf 250 mSv anzuheben. Mit ihrer neuen Empfehlung passen sich die Behörden offenbar den Realitäten an, da die Strahlenbelastung von Arbeitern auf dem Gelände des havarierten Atomkraftwerks Fukushima Dai-Ichi in Einzelfällen 250 mSv erreicht habe. Inzwischen liege die Belastung im Bereich von 100 mSv. Auch jenseits von Katastrophensituationen sollen Nukleararbeiter einer höheren Strahlenbelastung ausgesetzt werden dürfen. In fünf Jahren soll eine kumulierte Strahlenbelastung von 100 mSv zulässig werden. Gerade Leih- und Hilfsarbeiter, die in mehreren Atomanlagen tätig sind und deren genaue Strahlendosen oftmals nicht adäquat dokumentiert werden, können so im Laufe der Zeit erheblichen Strahlendosen ausgesetzt werden. Ähnlich wie in Italien spielt in Japan die örtliche Mafia, die Yakuza, eine große Rolle in der Vermittlung ungelernter Arbeiter für Risikotätigkeiten, die sonst niemand zu erledigen bereit ist. Korruption, Vertuschung und offener Betrug bei der Registrierung von Arbeitern und Dosismessungen sind in der japanischen Atomindustrie an der Tagesordnung. Weitere Informationen finden Sie unter www.fukushima-disaster.de
FRIEDEN
BRÜCKEN DER VERSTÄNDIGUNG: TREFFEN IN SPLIT 2014
20 Jahre Brücken der Verständigung Über 100 Studierende kamen im Rahmen des Projektes nach Würzburg
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überschritten, im Blauhelm-Auto mit Medikamentenschachteln auf dem Schoß war er unter Beschuss gekommen. Wir Würzburger IPPNW-ÄrztInnen, eine kleine Gruppe von nicht einmal zehn Personen, beschlossen, ihm zu helfen und organisierten finanzielle Ersthilfe für die Gesundheitsversorgung im Krisengebiet.
ie Fernsehbilder aus dem Kriegswinter 1993/94 habe ich noch immer nicht vergessen: Im Schneetreiben liefen die Menschen um ihr Leben. Scharfschützen schossen mitten in die Stadt. In den Häusern der verzweifelte Versuch, ein bisschen Normalität zu leben, während die Detonationen der einschlagenden Geschosse zu hören sind. Kein Gas, kein Strom, kaum etwas zu Essen. Kälte, die bis in die Knochen zieht, die ehemals stolzen Alleen von Sarajevo bereits verheizt. Menschen in Angst, eingesperrt in einer Stadt, die einmal Toleranz als Markenzeichen getragen hatte: Die Moschee neben der orthodoxen Kirche, unweit davon die katholische Kirche. Menschen aus verschiedenen Volksgruppen, die friedlich zusammenlebten und untereinander heirateten. Und nun das: Krankenhäuser zerstört, Versorgung von Schwerverletzten in dunklen und kalten Kellern, Operationen im dürftigen Schein einer Taschenlampe, das Fehlen von essentiellen Medikamenten, und das alles mitten in Europa! Die historische Brücke über die Neretwa in Mostar wurde getroffen und zerbröckelte in das Flussbett. Noch viel mehr Brücken zwischen den Menschen wurden durch Hass und Nationalismus zerstört. Es war wie ein Dorn im Fleisch, der uns nicht ruhen ließ.
Kann man den Frieden gewinnen?
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b ein Krieg „gewonnen“ werden kann, war uns mit dem Blick auf Bosnien mehr als fraglich – aber: „Kann man den Frieden gewinnen?“ Für unsere kleine Gruppe war klar, dass wir das versuchen wollten. Wie konnten wir dazu beitragen, dass verfeindete Volksgruppen, die praktisch die gleiche Sprache sprechen, wieder miteinander reden und eine gemeinsame Zukunft suchen? Was konnten wir als Würzburger ÄrztInnen dazu beitragen? Mit dem Abkommen von Dayton im Jahr 1995 schwiegen zumindest die Waffen in Bosnien. Da hatten wir eine Idee: Wie wäre es, wenn wir junge Mediziner dieser verfeindeten Gruppen, Serben, Kroaten, Bosnier aller drei Volksgruppen, Mazedonier und Albaner zum Dialog nach Würzburg einladen würden, um hier, auf neutralem Boden, miteinander zu sprechen und Vorurteile zu überwinden? Wie wäre es, wenn wir genau das unter dem Banner der medizinischen Ausbildung an einer modernen Klinik mit westlichem Standard tun würden?
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ch war damals ein junger Arzt in seinen ersten Berufsjahren mit einer kleinen Familie in Deutschland, seit Jahren Mitglied in einer internationalen Ärzte-Organisation, die sich den Frieden als Ziel gesetzt hat. Und nun war der Krieg quasi vor unserer Haustür. Wir Würzburger Kolleginnen und Kollegen telefonierten uns zusammen – alle hatten diese Bilder im Kopf – was sollten wir tun? Wir luden Prof. Dr. Gottstein zu uns nach Würzburg ein. Im vollbesetzten Hörsaal der Universität schockierte er uns mit Bildern von seinen Erlebnissen aus erster Hand: Er hatte bosnische Ärzte im Krieg bei ihrer Arbeit in dunklen Kellern unterstützt, Frontlinien
Der Weg zeigt sich, wenn man ihn nur fest entschlossen geht. Prof. Gottstein war mit seinen vielfältigen Kontakten zu Medizinern aus allen früheren Jugoslawischen Republiken der ideale Partner. In praktisch allen Hauptstädten, in Belgrad, Zagreb, Skopje, Pristina, Sarajevo und Mostar besorgte er uns Kontakte zu Ärzten und Hochschullehrern, die uns engagierte und idealistische Medizinstudenten schickten. Die Missionsärztliche Klinik stellte uns dank 8
BELGRAD: VON DER NATO 1999 BOMBARDIERTES GEBÄUDE DES EHEMALIGEN GENERALSTABS Foto: Christof Autengruber / cc-by-sa 2.0
und Vorurteile überwinden musste. Fern der Heimat, im Betrieb der Klinik auf neutralem Boden fiel es leichter, die Erfahrungen der „Gegenseite“ zu hören und zu verstehen zu versuchen. Genau diese Erfahrungen aus dem Krieg waren das Hauptthema in den ersten Jahren, erst danach kamen medizinische Themen. Es entwickelten sich Freundschaften zwischen jungen Medizinerinnen und Medizinern, über verfeindete Ethnien und Ländergrenzen hinweg, die sich bis heute gehalten haben. In den 20 Jahren sind es über 100 Studenten aus Ex-Jugoslawien gewesen, die nach Würzburg gekommen sind. Nicht nur die Brücke über die Neretwa in Mostar ist wieder aufgebaut worden, sondern es sind auch Brücken der Verständigung von Mensch zu Mensch geschlagen worden. Es hat sich ein feines informelles pan-jugoslawisches Geflecht an Beziehungen und Kontakten entwickelt, das jährlich im Frühjahr bei einem Treffen in einem der Balkan-Länder aufgefrischt wird. In einigen Ländern wurden sogar offizielle IPPNW-Gruppen gegründet.
des unermüdlichen Einsatzes der Missio-Ärzte Renate Geiser und Bernd und Paevi Köhler Famulaturplätze für vier Wochen zur Verfügung. Das Missionsärztliche Institut stellte Wohnmöglichkeiten im Gästehaus bereit, einige Studenten kamen bei Würzburger Kollegen in der Familie unter. Die IPPNW half bei Fahrtkosten.
Medizinstudierende in einer völlig anderen Welt Die ersten Medizin-StudentInnen aus Ex-Jugoslawien, je ein bis zwei aus jedem Land, kamen im September 1995 nach Würzburg, aus oft weitgehend verschlossenen Ex-Republiken mit schwerbewachten Grenzen. Während NATO-Bomben in Belgrad die Donaubrücken sprengten und das Land von der internationalen Gemeinschaft abgeschnitten war, war es ein bürokratisches Abenteuer, ein Deutschland-Visum für einen Belgrader Studenten zu organisieren, und ihn dann noch über die Grenzen nach Würzburg zu bekommen. Wolfram Braun, Anke Zierl und die Familie Stürmer, aber auch Prof. Vuk Stambolovic in Belgrad halfen nach Kräften: Mit Garantieerklärungen an Gemeindeverwaltungen, unzählige Faxe und Telefonate durch brüchige internationale Telefonleitungen im Vor-E-Mail-Zeitalter.
„Kann man den Frieden gewinnen?“ Nach 20 Jahren dieses Projektes würde ich sagen: „Ja, es zu versuchen ist zutiefst sinnvoll und bringt viele neue Freundschaften!“
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eute, 20 Jahre später, wo die Visumpflicht für die Balkanländer schon seit einigen Jahre gefallen ist, ist es kaum noch vorstellbar, in welch „andere“ Welt die Studenten aus Belgrad, Mostar, Sarajevo, Skopje und Pristina kamen. Bereits am Montag nach ihrer Ankunft standen sie im weißen Kittel in einer modernen deutschen Klinik. Man redete Englisch mit ihnen, manche Studenten konnten sogar ein wenig Deutsch, es waren deutsche Famulanten und PJ-ler um sie herum – aber untereinander kommunizierten sie in Serbokroatisch. Das fiel am Anfang nicht jedem leicht, nicht wegen einer Sprachbarriere (die nicht existierte), sondern weil jeder Prägungen
Dr. Joachim Gross ist Arzt für Arbeitsmedizin und lebt in Koper (Slowenien). 9
FRIEDEN
Die Lüge vom Raketenabwehrschild gegen Iran Eine Münchhausengeschichte von Otmar Steinbicker
Nach der Grundsatzeinigung, die den Streit um das iranische Atomprogramm beigelegt hat, kommt die Frage auf: Wird jetzt auch das groß angelegte Raketenabwehrsystem der NATO begraben, das angeblich gegen iranische Atomraketen gerichtet war? Die Antwort lautet Nein. Die Behauptung, dass die geplante Raketenabwehr gegen Angriffe aus Iran und Nordkorea entwickelt wurde, ist schlicht eine Lüge.
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m 13. Dezember 2001 kündigte US-Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag aus dem Jahr 1972, der die Raketenabwehr der USA und der UdSSR drastisch begrenzt hatte, mit den lakonischen Worten auf: „Heute habe ich Russland dem Vertrag entsprechend formell mitgeteilt, dass die USA sich aus diesem fast 30 Jahre alten Vertrag zurückziehen.“ Von einem Begründungszusammenhang mit Iran war da keine Rede. Medien wie die gut informierte Frankfurter Allgemeine Zeitung wirkten damals eher ratlos. Die FAZ konstatierte am 14. Dezember 2001: „Der ABM-Vertrag von 1972 verkörperte die epochale Einsicht, dass es gegen die Kombination von Wasserstoffbombe und Interkontinentalrakete keinen Schutz geben könne, dass im Gegenteil Sicherheit nur aus der wechselseitigen Verwundbarkeit (‚mutual assured destruction‘, MAD) erwachse. Mit der im ABM-Vertrag vereinbarten Beschränkung, ja, Ächtung von Verteidigungsmaßnahmen zog jene Ruhe in das Verhältnis der damaligen Supermächte ein, die es ihnen ermöglichte, die nukleare Rüstung zu begrenzen und später sogar zu reduzieren.“ Aber warum dann einen solch wichtigen Eckstein internationaler Rüstungskontrolle aufgeben? Da stellte sich die FAZ zwar die Frage, „wie dringend es ist, sich gegen neue, in ‚Schurkenstaaten‘ entstehende Gefahren zu wappnen“, sah aber die Motivation eher grundsätzlicher:
Die Amerikaner fanden sich, obwohl sie MAD erfunden und die Russen von seiner Logik überzeugt hatten, nie damit ab, dass die Existenz ihrer Nation von der Vernunft anderer abhängen sollte. Am 11. September haben sie auf furchtbare Weise erfahren, dass es neue Bedrohungen gibt, gegen welche die Abschreckungsstrategie des Kalten Krieges machtlos ist. Ob es den Europäern (insbesondere den MiniNuklearmächten unter ihnen), den Russen und den Chinesen gefällt oder nicht: Die Amerikaner werden ein Raketenabwehrsystem bauen, wenn es denn technisch und finanziell möglich ist. Denn sich selbst aus eigener Kraft verteidigen zu können ist Teil des Traums, der in jedem amerikanischen Geschichtsbuch vorkommt.
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inen sehr viel konkreteren „Traum“ im Hinblick auf eine Raketenabwehr hatten im Sommer 1980 Colin S. Gray und Keith Payne in der angesehenen, in den USA erscheinenden außenpolitischen Fachzeitschrift „Foreign Policy“ formuliert. Die Überschrift Ihres Artikels lautete: „Victory is possible“, und gemeint war ein Sieg im Atomkrieg. Wörtlich hieß es in dem Beitrag: „Sowjetische Führer werden erst durch eine glaubwürdige amerikanische Siegesstrategie beeindruckt sein. Eine solche Lehre müsste den Tod des Sowjetstaates ins Auge fassen. Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der die Wiedergene10
sung der USA nicht verhindert. Washington sollte Kriegsziele verfolgen, die letzten Endes die Zerstörung der sowjetischen politischen Autorität anstreben sowie die Entstehung einer Weltordnung, die mit westlichen Wertvorstellungen vereinbar ist.“ Nein, das war kein Horrorszenario von ScienceFiction-Autoren. Colin S. Gray wurde Berater der Reagan-Administration und prägte deren Nuklearstrategie einschließlich des weltraumgestützten Raketenabwehrsystems SDI mit.
Die Frage, die für jeden Beobachter nach der Ankündigung von George W. Bush im Dezember 2001 im Raum stehen musste, lautete: War da eine Neuauflage des Traums von „Victory is possible“ geplant oder ging es um etwas völlig Neues?
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ls der US-Präsident ein Jahr später den Aufbau einer Raketenabwehr in Fort Greeley (Alaska) bekannt gab, die bis zum Jahr 2004 einsatzbereit sein sollte, dämmerte der traditionell CDU-nahen Düsseldorfer „Rheinischen Post“ einiges. In ihrer Ausgabe vom 17. Dezember 2002 notierte sie einige Gedanken, die es verdienen, ausführlicher zitiert zu werden: „Kommt das endgültige grüne Licht für die Stationierung nicht überraschend, so hat der Präsident den Zeitpunkt des offiziellen ‚Startschusses‘ klug gewählt. … Als wäre es mit Blick auf den Bush-Beschluss zur Raketenabwehr inszeniert, hatte es die US-Regierung in den vergangenen Tagen gleich mit allen drei Ländern zu tun, die sie zur ‚Achse des Bösen‘ zählt. Ist der Irak ‚Dauerbrenner‘, rückten auch Nordkorea und Iran ins Blickfeld.“
Als es darum ging, auch in Europa Elemente des USRaketenabwehrsystems zu errichten, war der Irak als möglicher „Bösewicht“ bereits ausgeschaltet. Jetzt erst musste der nächste der üblichen Verdächtigen herhalten und so hieß die Meldung im August 2006: „Raketenschild: Bush will Europa vor dem Iran schützen“.
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m Text hieß es weiter: „Die USA wollen in den kommenden Monaten Standorte für Abfangraketen in Europa vorschlagen, mit denen mögliche iranische Angriffe verhindert werden sollen. Die USA planen, bis 2011 zehn Abfangraketen in Europa zu stationieren.“ Am 2. Juni 2007 meldete dann Radio Prag: „US-Präsident Bush hält Tschechien und Polen für den Aufbau des geplanten Raketenabwehrsystems am besten geeignet, da das System dort am effektivsten eingesetzt werden könnte (…)“ Der amerikanische Präsident wiederholte, dass sich das Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland richten werde. Russland lehnt den Aufbau des Systems ab. Bush verteidigte die Pläne zum Aufbau der Raketenabwehr mit der Bedrohung aus dem Iran. Bush sagte, er habe große Befürchtungen, dass der Iran Raketen mit Atomsprengköpfen bauen könnte.“
Militärexperten waren schlicht verwundert, wie Iran seine bis dahin (und bis heute) nicht vorhandenen Langstreckenraketen auf seltsame Umwege schicken sollte, damit sie ausgerechnet über Polen und Tschechien abgeschossen werden könnten.
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och das focht die Propagandisten der iranischen Bedrohung nicht im Geringsten an. Beim G-8-Gipfel Anfang Juni 2007 in Heiligendamm legte dann Russlands Präsident den Finger genau in diese Wunde. In „Spiegel Online“ hieß es süffisant: „Wladimir Putin erwischte US-Präsident George W. Bush kalt … Putin schlug Bush beim bilateralen Treffen am Rande des G8-Gipfels in Heiligendamm vor, bei einem Abwehrsystem gegen eine mögliche Bedrohung aus Nordkorea und Iran auf dem Boden des iranischen Nachbarlandes Aserbaidschan zusammenzuarbeiten. Damit könne ganz Europa vor einer Bedrohung geschützt werden, sagte Putin.“ Ginge es um eine militärische Bedrohung mit Atomraketen aus dem Iran, hätte Putins Vorschlag womöglich Sinn gemacht. Solche Raketen gleich in der Startphase mit Abwehrsystemen aus dem Nachbarland unschädlich zu machen, klang allemal logischer, als ihnen in Polen und Tschechien aufzulauern, wo sie kaum erreichbar wären. Putins Vorschlag hatte obendrein eine weitere Logik: Ginge es bei dem US-Raketenschild nicht 11
wie vorgegeben um eine Abwehr iranischer Raketen, sondern um die Verhinderung eines russischen Zweitschlags, dann würde die Stationierung von US-Abwehrraketen in Aserbaidschan keinen Sinn machen, weil dort russische Raketen in Richtung Europa oder USA so wenig erreichbar wären, wie iranische über Tschechien und Polen. Dass die Lüge von der Bedrohung durch iranische Raketen dennoch immer wieder gerne aufgewärmt und kolportiert wird, darf allerdings nicht verwundern. Diese und weitere Münchhausengeschichten finden Sie unter www.aixpaix.de
Otmar Steinbicker ist Redakteur der Zeitschrift Friedensforum und Mitglied des Beirates der Deutschen Initiative für den Nahen Osten.
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Junge Flüchtlinge schützen Die Konferenz „Best Practice for Young Refugees“ in Berlin
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ür Mohammed, Alhassane, Shoaib, Donya, Mushtagh und Abdullahi war die Antwort eindeutig: Geflohen vor Krieg, Verfolgung, Bedrohung, Armut, Lebensgefahr und unter Verlust ihres familiären Zusammenhalts warben sie um Vertrauen und Gleichbehandlung. Sie wünschten sich ein Ende der Altersschätzung, dass man mit ihnen spricht und nicht über sie, dass man sie über ihre Rechte informiert und für die Aufnahmegespräche ein Dolmetscher ihrer Muttersprache zur Verfügung steht. Diesen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen war die internationale Fachkonferenz „Best Practice for Young Refugees“ gewidmet, zu der die Deutsche Sektion der IPPNW, die Akademie für Kinder- und Jugendmedizin und die CharitéKliniken für Kinder- und Jugendmedizin am 6. und 7. Juni eingeladen hatten. Der Hörsaal der Charité-Kinderklinik war bis zum letzten Platz gefüllt mit Fachleuten und Interessierten aus den Bereichen Medizin, Psychologie, Jura, Sozialpädagogik und Soziale Arbeit. Sie diskutierten Fragen zur Einschätzung des Alters, Entwicklungsstandes und Hilfebedarfs von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
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ir haben uns sehr gefreut, dass sechs junge Flüchtlinge unserer Einladung gefolgt sind. So konnten den Referaten von Gutachtern – allen voran der Sekretär der Arbeitsgemeinschaft für forensische Altersdiagnostik (AGFAD), Prof. Andreas Schmeling aus Münster – Aussagen der Begutachteten gegenübergestellt werden. Dabei wurde deutlich, dass die jungen Flüchtlinge einem erheblichen Druck ausgesetzt sind und die Tragweite der Untersuchung nicht immer verstehen. Der junge Afghane Shoaib Abdul Ahmad berichtete, dass er sich trotz fünfmaliger Aufforderung von Prof. Andreas Schmeling weigerte, sich im Genitalbereich untersuchen zu lassen. Er wurde für volljährig erklärt und musste
daraufhin seine Schule in Bielefeld abbrechen. Engagierte Sozialarbeiterinnen unterstützen ihn jetzt. Der 16-jährige Alhassane Djallo aus Guinea wurde an der Berliner Charité ganzkörperuntersucht und -fotografiert und ins MRT geschickt, ohne dass ihm dieses Verfahren angemessen erklärt wurde. Eindrucksvoll auch die Schilderungen junger Flüchtlinge aus Belgien über die psychischen Folgen der Altersdiagnostik, von denen die Sozialpädagogin Ilse Derluyn berichtete, und aus Schweden, das gleich mit drei ehemaligen „UMF“ vertreten war. Auch belgische und schwedische Gutachter kamen zu Wort. Der Sozialpädiater Anders Hjern vom Stockholmer Karolinska-Institut stellte ein ganzheitliches Konzept vor, das die Behörden nach kurzer Zeit ablehnten, weil ihnen die Kinderärzte keine Einzelbefunde, sondern nur eine Gesamteinschätzung übermittelten, überwiegend mit dem Ergebnis, dass eine Minderjährigkeit wahrscheinlich sei. Die Pädiater hielten sich strikt an die Empfehlung des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, wonach „im Falle verbleibender Zweifel (…), wann immer die Möglichkeit besteht, dass es sich um ein Kind handeln könnte, er oder sie als solches zu behandeln ist“. Auch die Rechtsmediziner nahmen für sich in Anspruch, nach diesem Grundsatz zu handeln. Guy Willems, Professor für forensische Odontologie in Leuven, erklärte sein belgisches Modell eines „Tripel-Tests“ – wie bei der AGFAD bestehend aus Zahn- und Handröntgen und CT der Sternoclavikulargelenke. Spricht nur einer der Befunde für Minderjährigkeit, so wird diese attestiert. Das wird von deutschen RechtsmedizinerInnen leider meist anders gehandhabt.
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ingewiesen auf Widersprüche in einer seiner Kasuistiken, bei dem trotz „erwachsenem“ Zahnstatus und Schlüsselbeinbefund das Handröntgen klar für Minderjährigkeit sprach, die Beweiskraft der Zahnaufnahme also anzuzweifeln sei, rief Willems: „Aber das ist eine absolute Ausnahme! Wenn wir so etwas mitberücksichtigen, können wir die Untersuchung gleich 12
lassen!“ Besser hätten auch die Veranstalter ihre Kritik an der Röntgendiagnostik nicht ausdrücken können…
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och niemand sprach so virtuos und humorvoll über die trockene Statistik wie Tim Cole vom Institute of Child Health, London. Sein Vortrag machte deutlich, dass die Beurteilung der Weisheitszähne trotz ihrer relativ hohen Vorhersagekraft nicht der Weisheit letzter Schluss ist: Je nach Ethnie sind sechs bis zehn Prozent der Menschen mit voll ausgereiftem Befund unter 18 Jahren. Handröntgenbefunde sind völlig ungeeignet, die Frage nach Volljährigkeit zu beantworten, während unreife Pubertätsmerkmale immerhin die Minderjährigkeit beweisen können. Dass Röntgenverfahren nicht nur ungenau, sondern insgesamt risikoreich sind, zeigte Brigitte Stöver, die viele Jahre die Kinderradiologie an der Charité geleitet hatte. Sie betonte, dass ohne medizinischen Grund nicht geröntgt werden solle. Die Indikation für das CT der Schlüsselbeine sei auf Grund der hohen Organdosen besonders streng zu stellen. Auch Claudia Wiesemann vom Göttinger Institut für Ethik und Geschichte der Medizin ging speziell auf diese Methode ein, deren Validität in den Referenzstudien nicht ausreichend belegt sei. Ihr Fazit: „Die biologische Altersschätzung in der derzeitigen Form ist ethisch nicht zu rechtfertigen.“ Den Weg aus dem Streit um Strahlendosen und Konfidenzintervalle zeigte Annette Grüters-Kießlich, als Direktorin der Charité-Kliniken für Kinder- und Jugendmedizin auch Gastgeberin der Veranstaltung. Sie fasste zusammen: Eine exakte Bestimmung des Lebensalters ist weder auf medizinischem, psychologischem noch auf anderem Weg möglich. Nötig ist eine umfassende altersspezifische medizinische Betreuung. Grüters-Kießlich plädierte für eine Willkommenskultur, die nicht fragwürdige und ungenaue Tests zum chronologischen Alter, sondern den Hilfebedarf der jungen Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellt. Thomas Nowotny und Frank Uhe
Wir danken der Zeitschrift „Kinder- und Jugendarzt“ für die Abdruckgenehmigung.
SOZIALE VERANTWORTUNG
Die Berliner Erklärung Grundrechte und Hilfebedarf minderjähriger Flüchtlinge in den Mittelpunkt stellen!
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ach der „Internationalen Fachkonferenz zur Einschätzung des Alters, Entwicklungsstandes und Hilfebedarfs von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen“ in Berlin am 6. und 7. Juni 2015 erklären die Unterzeichnenden: Mit der UN-Konvention für die Rechte des Kindes erkennen alle Unterzeichnerstaaten einen besonderen Schutzbedarf von Minderjährigen an. Bei allen sie betreffenden Maßnahmen ist das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen (Artikel 3). Zu den Grundrechten zählen die medizinische Versorgung, die Bildung sowie in besonderem Maße Menschenwürde und körperliche Unversehrtheit. Die Fürsorgepflicht für Minderjährige gilt unabhängig von deren Staatsangehörigkeit. Minderjährige, die ohne ihre Eltern vor Kriegshandlungen, körperlicher und sexueller Gewalt oder extremer Armut fliehen mussten, haben einen besonders großen Schutzbedarf aufgrund von Traumatisierung und lebensgefährlicher Flucht. Oft können sie ihr Alter nicht durch Dokumente nachweisen. Dann müssen sie sich einer Alterseinschätzung unterziehen, die in den EU-Staaten, aber auch in den deutschen Bundesländern unterschiedlich gestaltet wird. Die Verfahren reichen von Interviews und psychosozialem Clearing bis hin zu aufwändigen medizinischen Altersgutachten. Dazu werden eine körperliche Untersuchung einschließlich der äußeren Geschlechtsorgane, Röntgenuntersuchungen der Hand und des Gebisses sowie eine Computertomographie der Schlüsselbeine eingesetzt. Die Tests werden von Kinderärzten, Rechtsmedizinern, Zahnärzten oder Radiologen durchgeführt.
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urch diese medizinischen Untersuchungen kann lediglich die biologische Reife (Pubertätsstadien, Knochen- und Zahnalter) eingeschätzt werden, nicht jedoch das chronologische Alter. Dieses wird im Gutachten angegeben als wahrscheinliches Alter (teilweise mit Konfidenzintervall), als Mindestalter oder als Wahrscheinlichkeit, minderjäh-
rig zu sein. Alle diese Angaben sind jedoch mit einer hohen Ungenauigkeit behaftet, die selten offengelegt wird. Darüber hinaus ist es ethisch sehr problematisch, dass junge Flüchtlinge ohne medizinische Indikation Röntgenstrahlen oder einer Untersuchung intimer Körperteile ausgesetzt werden, selbst wenn sie dem formal zugestimmt haben. Oft unterschreiben die Betroffenen unter Druck und in Unkenntnis der Tragweite und Bedeutung der Untersuchungen. Dies ist keine wirksame Einwilligung.
Die Unterzeichnenden möchten eine Willkommenskultur für die jungen Flüchtlinge erreichen, die nicht auf eine ungenaue Schätzung ihres Alters fokussiert ist, sondern ihren Hilfebedarf in den Mittelpunkt stellt:
»» Sie betonen, dass alle jungen Flüchtlinge so untergebracht und betreut werden sollen, dass ihre spezifischen Bedürfnisse berücksichtigt sind, einschließlich eines raschen Zugangs zu unserem Bildungssystem.
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iele dieser Forderungen sind im “Position Paper on Age Assessment in the Context of Separated Children in Europe“ der gemeinsamen Initiative des UNHCR und verschiedener Nichtregierungsorganisationen enthalten. Dieses Handbuch wird als Basis der „Best Practice” für minderjährige Flüchtlinge in Deutschland und den anderen europäischen Ländern empfohlen.
»» Sie fordern, bei allen Untersuchungen die körperliche und psychische Unversehrtheit und die Menschenwürde der jungen Flüchtlinge zu wahren. »» Sie lehnen die Anwendung ionisierender Strahlen außerhalb einer medizinischen Indikation ab. »» Sie verurteilen die ethisch inakzeptable Durchführung von Untersuchungen ohne wirksame Einwilligung. »» Sie stellen fest, dass die biologische Reife (Pubertätsstadium, Knochen- und Zahnalter) im Vergleich zum chronologischen Alter eine hohe Schwankungsbreite aufweist, so dass Altersschätzungen auf ihrer Basis sehr ungenau sind und häufig falsch interpretiert werden. »» Sie fordern – statt aufwändiger, teurer und ungenauer Altersdiagnostik ohne Nutzen für die Betroffenen – die bundesweite Einführung einer Jugendvorsorgeuntersuchung für alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Diese erfasst Entwicklungsstand und medizinischen wie psychologischen Hilfebedarf und unterstützt eine ganzheitliche Einschätzung der Reife. 13
Foto: Montecruz Foto / CC-BY-SA 2.0
ErstunterzeichnerInnen: Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer e.V. (BAfW) – Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin e.V. – Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DAKJ) – Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. – Deutsche Sektion der IPPNW, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. – Pro Asyl Weitere Infos und Online-Unterzeichnung unter: kurzlink.de/young-refugees IPPNW-Erklärung gegen Ausländerfeindlichkeit: kurzlink.de/Uvjxaxb8c
SOZIALE VERANTWORTUNG
Humanitäre Krise in Griechenland Die Gründung solidarischer Kliniken und anderer Selbsthilfeeinrichtungen
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ie Krise Griechenlands mit unfassbaren Milliarden Schulden und Forderungen der Kreditgeber nach weiteren Einschnitten in die Sozialsysteme hat in den letzten Wochen die Nachrichten beherrscht. Aber wie wirkt sich die von den Geldgebern eingeforderte Sparpolitik ganz unten, bei den Menschen aus? Um sich dieser Frage anzunähern, hat der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (Vdää) im Juni 2015 eine Delegationsreise mit 25 Mitgliedern des Vdää und der IPPNW nach Athen unternommen. Ziel der Reise war, sich vor Ort ein Bild von den Auswirkungen der europäischen Austeritätspolitik auf die Menschen zu verschaffen und bestehende Kontakte und Partnerschaften mit griechischen Aktivistinnen und Aktivisten zu intensivieren.
Die TeilnehmerInnen waren über das Ausmaß der humanitären Krise schockiert. Die 25 Mitglieder des Vdää und der IPPNW waren bei ihrem Griechenlandbesuch über das Ausmaß der humanitären Krise schockiert. Wir konnten in Athen verschiedene Krankenhausabteilungen besuchen, mehrere Polikliniken der Bewegung „Solidarity for All“, wir sprachen mit prominenten Vertretern von Syriza, den Parlamentsabgeordneten für Gesundheit und für Wirtschafts- und Sozialpolitik. Wir sprachen mit VertreterInnen der Obadachlosenbewegung und der Solidaritätskliniken sowie mit FlüchtlingsvertreterInnen.
Die drastische Sparpolitik, die den griechischen Regierungen seit 2010 von der Troika aufgezwungen wurde, hat Wirtschaft und Bevölkerung tief ins Tal der Not geführt: Die Kaufkraft der Privathaushalte schrumpfte zwischen 2009 und 2013 um 25 %, die Ausgaben für Gesundheit wurden im gleichen Zeitraum um 28 % gekürzt, die für Bildung um 15 %.
Was ist die Bilanz für die Bevölkerung? Drei Millionen Griechen leben ohne Krankenversicherung – bei einer Gesamtbevölkerung von elf Millionen. 25 % der griechischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, 25 % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter sind arbeitslos, in der Altersgruppe bis 25 Jahre sind es sogar über 50 % Die Arbeitslosigkeit ist im Vergleich zu 2009 um 9,5 % gestiegen, und die Renten sind um 40 % gekürzt worden. Die Lohneinkommen wurden um 38 % gekürzt, die Renteneinkommen um 45 %.
Was sind die bisher sichtbaren medizinischen Folgen der Sparpolitik? Im Gesundheitswesen herrscht ein eklatanter Personalmangel, da aufgrund der Austeritätspolitik kein Fachpersonal eingestellt werden kann. Die absurden Folgen des Sparzwangs waren bei unserem Besuch des Allgemeinen Krankenhauses „Georgios Gennimatas“ nicht zu übersehen: 14
PatientInnen mit unterschiedlichsten psychiatrischen Diagnosen mussten auf dem Flur nächtigen, während das neue Stockwerk direkt über der überfüllten Station leer steht. Die Möblierung könne nicht bezahlt und das zur Versorgung der PatientInnen notwendige Personal nicht eingestellt werden, so Dr. Diallina, die Chefärztin der Abteilung.
Für die mehr als drei Millionen Menschen in Griechenland ohne Krankenversicherung sind lebensnotwendige Medikamente wie Insulin oder Krebsmittel nicht mehr erschwinglich.
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pidemiologische Untersuchungen weisen eine steigende Säuglingssterblichkeit nach, steigende Zahlen von HIV, Tuberkulose, erste Malariafälle und einen drastischen Anstieg schwerer Depressionen als Folge. Wegen der gestiegenen Arbeitslosigkeit und der Armut werden immer mehr Menschen obdachlos. Doch es gibt Widerstand gegen die Sparpolitik, die in der Gründung von verschiedensten Selbsthilfeeinrichtungen besteht und die zum Teil regional, zum Teil landesweit organisiert sind: solidarische Kliniken, Suppenküchen, ObdachlosenSelbsthilfeorganisationen, Direktvermarktung von landwirtschaftlichen Produkten. Unter anderem besuchten wir die Solidaritätsklinik Elliniko, die Nichtversicherten, Arbeitslosen und Hilfsbedürftigen freie medizinische Versorgung und Medi-
WANDBILD IN DER INNENSTADT VON ATHEN
kamentenversorgung anbietet. Es werden auch Migranten und Flüchtlinge versorgt. Mittlerweile gibt es 40 solidarische Kliniken in ganz Griechenland, 16 davon im Großraum Athen.
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ie Klinik Helleniko wurde 2011 von dem Kardiologe Georgios Vichas zusammen mit sechs anderen Ärzten, Pflegekräften und anderen Freiwilligen in der Folge einer großen Demonstration gegen Sozialabbau gegründet. In kurzer Zeit kam es zu einem Anwachsen auf 60 Personen, davon 40 ÄrztInnen. Die Organisation: Im klassischen Sinn handelt es sich um eine Poliklinik, das heißt es gibt keine stationäre Versorgung. Es gibt keinen Vorsitzenden oder Präsidenten, die Generalversammlung, in der auch Nicht-MedizinerInnen eine Stimme haben, entscheidet. Elf Personen sitzen im Leitungsgremium. Insgesamt gibt es etwas mehr als 200 Freiwillige, Ärzte, Psychologen, Krankenschwestern, Logopäden und andere Therapeuten. Alle MitarbeiterInnen der Klinik arbeiten unentgeltlich in ihrer Freizeit. Die Öffnungszeiten: Montag bis Freitag von 10 bis 20 Uhr und samstags von 10-14 Uhr. Die Klinik arbeitet in insgesamt 16 Schichten (so viele sind notwendig, weil ja alle Mitarbeiter freiwillig neben ihrem Beruf dort arbeiten). Die Klinik betrachtet sich nicht als NGO, wie z.B. Ärzte der Welt, die auch eine große Ambulanz unterhalten. Die Kliniken sind untereinander gut vernetzt. Im Großraum von Athen versorgen
16 Kliniken etwa 70.000 Patienten im Jahr. Sie werden inzwischen vom Gesundheitsministerium unterstützt. Die solidarischen Kliniken werden von der Ärztekammer bekämpft, die sie auf Druck der Privatärzte für illegal erklärt. Auch die Praxisräume seien illegal.
Die Klinik hat sich drei Regeln gesetzt: Keine Geldspenden, keine Werbung für den Spender und keine Behandlung von Privatpatienten.
Der französische Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Gabriel Colletis schlägt vor, dass die als nicht zurückzahlbar geltenden Schulden in Investitionsprojekte verwandelt werden können, zum Beispiel bezüglich der Energiewende oder von nachhaltiger industrieller Erzeugung, und wie das für ganz Europa nützlich sein könnte.
Das Recht auf gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht, das alle Menschen einschließt. Dass die Troika die schwere Krise des Gesundheits- und Sozialsystems völlig ausblendet, können wir Ärztinnen und Ärzte nur als menschenverachtend bewerten.
Welche Lösungen sind möglich? Hier möchte ich zwei Wirtschaftswissenschaftler zu Wort kommen lassen, die langfristig wirksame Vorschläge für die Lösung der Schuldenkrise in Griechenland machen: Thomas Piketty fordert eine europäische Schuldenkonferenz und weist darauf hin, dass Deutschland die Hälfte seiner Schulden von 30 Milliarden DM 1953 auf der Londoner Schuldenkonferenz erlassen wurde. Zudem verzichteten die Gläubigerstaaten auf die noch ausstehenden Zinsen von 20 Milliarden DM. 15
Angelika Claußen ist Europäische Präsidentin der IPPNW.
FRIEDEN
22. JULI 2015 IN ISTANBUL: TRAUERZUG FÜR DIE OPFER DES ANSCHLAGS VON SURUÇ
Foto: Metronauten, creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0
Eskalation der Gewalt in der Türkei Seit der IPPNW-Delegationsreise hat sich die Situation dramatisch verschlechtert
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eit der IPPNW-Delegationsreise in die Türkei im März dieses Jahres hat sich die dortige Situation erschreckend und bedrohlich entwickelt. Ein weiteres Land im Nahen Osten droht in Gewalt und Chaos zu versinken. Mit der Wahl am 7. Juni 2015 ist die pro-kurdische Partei HDP mit 13 % erstmals ins Parlament gewählt worden. Die regierende AKP von Staatspräsident Erdogan hat ihre absolute Mehrheit damit verloren. Ministerpräsident Davutoglu ist keine Regierungsbildung gelungen. Am 9. November soll es Neuwahlen geben. Viele Kommentatoren glauben, dass das Attentat von Suruc, bei dem 32 junge Menschen getötet wurden, die beim Wiederaufbau von Kobane helfen wollten, der Startschuss für die Eskalation der Gewalt von türkischem Militär und PKK war. Nach offizieller Lesart hat ein Selbstmordattentäter des IS dieses Attentat begangen. Präsident Erdogan hat offiziell dem IS den Kampf angesagt und Ziele in Nordsyrien bombardieren lassen. Den USA hat er die Benutzung des Militärstützpunkts Incirlik für Luftangriffe auf Stellungen des IS erlaubt.
Wir haben auf unseren Reisen immer wieder erlebt, wie sehr sich die Menschen besonders im Südosten nach Frieden sehnen. Die Hoffnung ist, dass sie sich nicht wieder in einen Bürgerkrieg hineinziehen lassen. Die Menschen in der Türkei brauchen dabei jede Unterstützung. Die IPPNW forderte in einer Pressemitteilung vom 5. August 2015, dass sowohl die Waffen der PKK als auch des türkischen Militärs schweigen und Anschläge und Polizeirazzien enden müssten. Die Kontaktsperre zu Abdullah Öcalan müsse aufgehoben werden. Vermittler wie die HDP, die den Friedensprozess zwischen Regierung und Geheimdienst einerseits und Öcalan und der PKK andererseits ermöglicht haben, dürften nicht kriminalisiert werden. Die deutsche Regierung solle sich für eine Streichung der PKK von der internationalen Terrorliste einsetzen und ihr Verbot in Deutschland aufheben, um die nicht-militanten Kräfte in der PKK zu stärken.
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ls IPPNW lehnen wir Gewalt als Mittel der Politik entschieden ab. Wir sprechen uns gegen Waffenexporte aus, gegen die Unterstützung von NATO-Staaten für die türkischen Militäraktionen, gegen die Stationierung der Patriot-Raketeneinheiten in der Türkei und gegen den deutschen Einsatz von AWACS-Aufklärung. Stattdessen fordern wir die Bundesregierung und die Regierungen der EU auf, sich für diplomatische Initiativen stark zu machen, um die Konflikte in der Region unter Einbindung Russlands politisch zu klären. Der Aufbau einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO) unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen ohne Vorbedingungen könnte eine friedliche Perspektive für die ganze Region ermöglichen.
Mit deutlich mehr Flugzeugen und Bomben hat er die Stellungen der PKK in den Kandilbergen im Nordirak sowie Stellungen der kurdischen Selbstverteidigungskräfte YPG in Syrien angegriffen. Der Friedensprozess ist beendet, die PKK hat den Kampf wieder aufgenommen. Täglich sterben wieder türkische Soldaten und Polizisten und kurdische PKK-KämpferInnen. Viele Menschen in der ganzen Türkei protestieren gegen die Eskalation der Gewalt. Die Polizei geht dagegen mit brutaler Härte vor. Im ganzen Land gibt es Razzien und Verhaftungen. Die gewählten PolitikerInnen der HDP werden bedroht und angeklagt. Abdullah Öcalan, der eine wichtige Stimme für den Frieden im Land ist, wird seit Monaten auf der Gefängnisinsel isoliert.
Akzente Türkei/Kurdistan: 40 Seiten A4, Preis: 5 Euro pro Heft. Zu bestellen im IPPNW-Shop unter: kurzlink.de/kurdistan.
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elmut Käß (IPPNW) hat den Politologen Eddi Ekrem Güzeldere gefragt, was wir aus Deutschland zur Lösung beitragen können. Die Antwort ist wenig ermutigend: „Leider nicht viel, da die türkische Regierung und Präsident Erdogan für Rat von außen nicht zugänglich sind und sich um ihr Ansehen in der Welt nicht scheren. Es sieht so aus, dass diese Gewaltspirale so lange weitergeht, bis Erdogan das Wahlergebnis bekommt, das er möchte, eine absolute Mehrheit für die AKP. An der Eskalation der Situation ist aber auch die PKK (HPG) beteiligt, die mit ihren gezielten Tötungen von Polizisten und Soldaten der oft Gründe für Verhaftungen und Formen von Ausnahmezustand liefert.“
Dr. Gisela Penteker ist Türkeibeauftragte der IPPNW und leitet seit vielen Jahren die Kurdistan-Delegationsreise. 16
SERIE: DIE NUKLEARE KETTE
Vor 70 Jahren: Alamogordo Die weltweit erste Atombombe wurde im Juli 1945 nahe der US-amerikanischen Kleinstadt getestet
Hintergrund
Folgen für Umwelt und Gesundheit
Bei Alamogordo (New Mexico) detonierte in der Wüste „Jornada del Muerto“ die erste Atombombe der Geschichte. Der „Trinity Test“ war Teil des „Manhattan Projekts“, des 1939 begonnenen Atomwaffenforschungsprogramms der USA. Nach mehrjährigen Vorbereitungen wurde am 14. Juli 1945 die erste Atomwaffe der Welt, eine Plutonium-Implosionsbombe auf ein 30 m hohes Gerüst gehievt. Die Konstruktion entsprach der Bombe „Fat Man“, die nur wenige Wochen später über Nagasaki abgeworfen werden sollte. Wissenschaftler und Militärangehörige beobachteten die erste Atomexplosion aus einer Entfernung von 10 bis 32 Kilometern. Am 16. Juli 1945 wurde um 5:29 Uhr die Bombe mit einer Sprengkraft von 20 Kt gezündet. Nach einem grellen Lichtblitz schoss eine pilzförmige Wolke zwölf Kilometer in die Höhe. Die Druckwelle der Detonation war noch in 250 Kilometer Entfernung zu spüren. „Nun bin ich zum Tod geworden, zum Zerstörer von Welten“, waren die berühmten Worte des Atomwissenschaftlers J. R. Oppenheimer, als er die Explosion sah. Trinity war der erste von mehr als 2.000 Atomtests.
Die Explosion der Bombe, deren spaltbares Inventar aus ca. 6 kg Plutonium bestand, verursachte eine radioaktive Wolke, die mit etwa 16 km/h nordostwärts zog und ein Gebiet von ca. 160 mal 50 Kilometer mit mehlartigem radioaktivem Niederschlag überzog. Weil der Trinity-Test als Militärgeheimnis behandelt wurde, fand weder eine Evakuierung noch eine Information der Bevölkerung statt. Fünf Messtrupps zeichneten nach der Detonation das Ausmaß der Strahlung in der Region auf. In Wohngebieten wurden mit primitiven Messgeräten, die lediglich Gamma-Strahlung erfassen konnten, Strahlendosen von bis zu 20 Röntgen pro Stunde gemessen, was in etwa 175 mSv pro Stunde entspricht, also mehr als dem 600.000-fachen der natürlichen Hintergrundstrahlung oder dem Strahlenäquivalent von mehr als 8.700 Röntgenuntersuchungen pro Stunde. Zusätzlich zur äußerlichen Verstrahlung wurden ca. 4,8 kg Plutonium in Bodenproben, Pflanzen und Tieren des Umlands gefunden. Plutonium ist sowohl wegen seines toxikologischen Profils als Schwermetall wie auch aufgrund der emittierten Alpha-Strahlung nach Aufnahme mit der Nahrung oder Einatmung ein gefährliches Zellgift. Im Jahr 2010 veröffentlichte das „Los Alamos Document and Assessment Project“ seinen abschließenden Bericht über die radioaktive Exposition durch den Trinity-Test. Die Wissenschaftler stellten fest, dass die Menschen in der Umgebung von Alamogordo in den ersten zwei Wochen nach der Explosion einer externen Strahlendosis von bis zu 1.000 mSv ausgesetzt wurden, also dem 10.000-fachen der üblichen Hintergrundstrahlung. Von der USRegierung wurden keinerlei epidemiologische Studien in Auftrag gegeben, um den Zusammenhang zwischen radioaktivem Niederschlag und den immer wieder berichteten hohen Krebsraten und Häufungen autoimmunologischer Erkrankungen zu untersuchen.
Ausblick Den Anwohnern um Alamogordo wird jeder Schadensersatz verweigert. Organisationen wie das „Tularosa Basin Downwinders Consortium“ versuchen, auf das erhöhte Auftreten von Krebs und Autoimmunerkrankungen in der Region aufmerksam zu machen und arbeiten daran, dass die Downwinder, also die Menschen, die in Windrichtung der Atomexplosion lebten, in die Kompensationsprogramme der Regierung einbezogen werden. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de
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„OPÉRATION LICORNE“ AUF FANGATAUFA 1970: GRÖSSTER FRANZÖSISCHER ATOMTEST AUF DEM ATOLL MIT EINER 914-KILOTONNEN-WASSERSTOFFBOMBE.
Langzeitfolgen von Atomexplosionen Durch die systemischen Mängel von Studien wird unser Blick auf die Folgen verzerrt
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lag die Leukämierate etwa 15-fach, für die in Nagasaki etwa siebenfach höher als in der japanischen Durchschnittsbevölkerung. Bis heute ist die Leukämierate in Hiroshima leicht erhöht. Später fand man auch erhöhte Raten solider Tumoren: zunächst Schilddrüsenkrebs, später auch Krebserkrankungen von Brust, Lungen, Magen, Darm, Gallengängen, Harntrakt, Haut, Leber, Gebärmutter und Eierstöcken. Insgesamt wird davon ausgegangen, dass die Mitglieder der Studienkohorte ein etwa 1,5-faches Risiko für die Entwicklung solider Tumoren haben.
ieses Jahr jähren sich die Atombombenangriffe auf Hiroshima und Nagasaki zum 70. Mal. Damals starben mehr als 200.000 Menschen an den akuten Folgen der Atomexplosionen. Die Überlebenden der Angriffe werden im japanischen als „Hibakusha“ (Explosionsopfer) bezeichnet. Für sie sind die Folgen der Atomexplosionen bis heute zu spüren. Immer noch erkranken viele von ihnen jedes Jahr an Krebs und anderen strahlenbedingten Erkrankungen. Anlässlich des 70. Jahrestages möchten wir an dieser Stelle einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung geben und die Ergebnisse kritisch analysieren.
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ber auch andere Erkrankungen können durch erhöhte Strahlenexposition verursacht werden. So zeigen die Studien aus Hiroshima und Nagasaki unter anderem auch dosisabhängig erhöhte Raten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Katarakten, Immunschwäche und hormonellen Störungen. Bei Kindern, die der Strahlung zum Zeitpunkt der Atombombenexplosionen im Mutterbauch ausgesetzt wurden, fand man neben höheren Krebsraten auch eine dosisabhängige Inzidenz neurologischer Probleme. Bis heute werden bei den Überlebenden zudem erhöhte Raten chromosomaler Schädigungen gefunden. Dabei gilt es zu bedenken, dass junge Menschen besonders empfindlich gegenüber ionisierender Strahlung sind und Strahlenschäden ihr Leben lang mit sich tragen, bis es dann im fortgeschrittenen Alter zum Ausbruch strahlenassoziierter Erkrankungen kommen kann. So werden viele Erkrankungen mit langer Latenzzeit erst heute sichtbar. Die Kinder der Überlebenden, die ebenfalls untersucht werden, haben das krankheitsanfällige Lebensalter häufig noch gar nicht erreicht.
Ein Großteil der Erkenntnisse über die Langzeitfolgen von Atombombenexplosionen beruht auf den Ergebnissen epidemiologischer Studien. Seit 1950 werden mehr als 120.000 Überlebende im Rahmen einer groß angelegten prospektiven Lebenszeitstudie (Life Span Study oder LSS) regelmäßig untersucht. Die Studie wird durch die Radiation Effects Research Foundation (RERF) durchgeführt, eine Kooperation der US-amerikanischen National Academy of Sciences und japanischer Behörden. Nach 65 Jahren Forschung lautet die wichtigste Aussage der Lebenszeitstudie: Eine ungefährliche Dosis von Radioaktivität gibt es nicht – jede noch so geringe Strahlenmenge erhöht nachweislich das Krebsrisiko. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit neuesten epidemiologischen Studien, die die Auswirkungen niedrigdosierter ionisierender Strahlung auf Menschen untersuchen. Die IPPNW hat zu diesem Thema erst letztes Jahr eine umfassende Analyse veröffentlicht, die online abgerufen werden kann: kurzlink.de/Ulmer-Papier.
Die Studien der Atombombenüberlebenden spielen in der Strahlenforschung eine besondere Rolle und werden bis heute von Institutionen wie der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) als Referenz für die Einschätzung von Strahlenfolgen herangezogen. Durch die systemischen Mängel dieser Studien wird jedoch unser Bild der Folgen ionisierender Strahlung verzerrt.
Die ersten strahlenbedingten Krankheitsfälle bei den Überlebenden der Atombombenabwürfe waren Leukämien. Die Inzidenz dieser Erkrankungen stieg in der Studienkohorte bereits Anfang der 1950er Jahre signifikant an. Für die Menschen in Hiroshima 18
Foto: Französische Armee
ATOMWAFFEN
ATOMWAFFEN
Eine systemische Unterschätzung von Strahleneffekten ist die Folge. Im Folgenden sollen die wesentlichen Kritikpunkte an der Hibakusha-Lebenszeitstudie kurz angerissen werden:
schen fast alle radioaktivem Niederschlag ausgesetzt und durch verseuchte Nahrung und Trinkwasser verstrahlt. Wie oben bereits beschrieben, werden die Effekte durch diese Strahlenquellen jedoch bis heute ignoriert. Der Vergleich mit der strahlenexponierten Kontrollgruppe führt zu einer systematischen Unterschätzung des Strahlenrisikos der Studienkohorte.
Die fehlenden Jahre 1945-1950: Da die Langzeitstudie erst 1950 begonnen wurde, ist über die meisten Opfer und deren Todesursache nur wenig bekannt. In den ersten Jahren führten vor allem schwere Verbrennungen, Verletzungen, Akute Strahlenkrankheit und der Ausfall der medizinischen Infrastruktur zu vielen Todesfällen. Durch die Strahlenexposition kam es jedoch auch zu zahlreichen Fehl- und Totgeburten, Missbildungen und strahlenbedingten Erkrankungen, die weitere Todesopfer forderten – vor allem bei kleinen Kindern, da diese empfindlicher für Strahlung sind als Erwachsene. Über diese Fälle wurde keine Statistik geführt. Die Toten wurden anfangs nur selten untersucht, da Personal und Infrastruktur fehlten und Leichen wegen der Seuchengefahr schnell verbrannt wurden. Somit fehlt in der Langzeitstudie die Erfassung von teratogenen und genetischen Effekten sowie strahleninduzierten Krankheiten mit geringer Latenzzeit.
Selektionseffekte: Aufgrund der Katastrophensituation nach den Atombombenabwürfen muss man annehmen, dass die verbliebenen Überlebenden eine selektierte Gruppe der besonders widerstandsfähigen Menschen darstellen. Die untersuchte Population ist daher nicht repräsentativ. Aus dieser Selektion resultiert laut einer Studie von Alice Stewart und George Kneale aus dem Jahr 2000 eine Unterschätzung des Strahlenrisikos um etwa 30 %. Ausklammerung genetischer Schäden: Die international in mehreren Studien gezeigten genetischen Effekte in nachfolgenden Generationen werden von den japanischen Behörden weiterhin geleugnet, wohl um sich vor Leistungsansprüchen von HibakushaNachkommen zu schützen. Bei Kindern von Strahlenexponierten aus dem sowjetischen Atomwaffentestareal Semipalatinsk und anderen Populationen mit erhöhten Strahlendosen sind durchaus relevante genetische Folgen bekannt, wie auch aus zahlreichen tierexperimentellen Studien. So ist auch bei den Nachkommen der Hibakusha von genetischen Folgen auszugehen.
Mangelnde Dosisabschätzung: An der Abschätzung der individuellen Strahlendosis gab es schon immer berechtigte Zweifel. Da die Menschen in Hiroshima und Nagasaki im August 1945 keine Strahlenmessgeräte trugen, musste ihre Strahlendosis durch komplexe Berechnungen mit vielen unbekannten Variablen abgeschätzt werden. Die Entfernung zum Hypozentrum und die Strahlenabschirmung durch Bebauung oder Kleidung waren oft nur lückenhaft zu erheben. Die Rolle von Neutronenaktivierung wurde erst seit dem Jahr 2004 in der Dosimetrie berücksichtigt, während die gesundheitlichen Effekte durch radioaktiven Niederschlag, verseuchte Nahrung oder Trinkwasser bis heute als „vernachlässigbar“ bezeichnet und bei der Berechnung der Strahlendosis ignoriert werden. Dies spielt insbesondere in der Kontrollgruppe eine wesentliche Rolle. Bei den meisten Überlebenden ist von einer systematischen Unterschätzung der tatsächlichen Strahlendosis auszugehen. Dabei erkennt mittlerweile auch die RERF an, dass es keine untere Schwellendosis gibt, also jede noch so geringe Strahlendosis gesundheitliche Effekte haben kann.
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Jahre nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki leiden die Überlebenden immer noch an den Folgen. Ihre Schicksale führen der Welt bis heute vor Augen, wie unmenschlich jeglicher Einsatz von Atomwaffen ist. Die Erforschung der Auswirkungen der Atombombenabwürfe spiegelt die sich wandelnde US-amerikanische und japanische Interessenlage wieder. Fielen die Folgen der Atombombenabwürfe in den ersten Jahren noch unter US-amerikanisches Militärgeheimnis, war später das Interesse vor allem der japanischen Regierung groß, die gesundheitlichen Folgen umfassend zu analysieren. Gleichzeitig besteht bis heute die Sorge, dass Hibakusha und ihre Nachkommen Schadensersatzklagen oder finanzielle Kompensation anstreben könnten. Die Forschung der RERF, wie auch die Kritikpunkte vieler Hibakusha an den Studien sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Die Lebenszeitstudien müssen kritisch hinterfragt werden, um die Risiken ionisierender Strahlung durch die systemischen Fehler dieser Studien nicht zu unterschätzen.
Fragwürdigkeit von Befragungsergebnissen: Die Hibakusha, die Überlebenden der Atombombenabwürfe, waren lange Zeit eine gesellschaftlich geächtete Gruppe. Es kam daher oft vor, dass in offiziellen Erhebungen keine ehrlichen Angaben über Herkunft und Krankheiten der Nachkommen gemacht wurden, um beispielsweise deren Heiratschancen und gesellschaftliche Eingliederung nicht zu gefährden. Zudem kam es häufig zu Fehlangaben von Todesursachen, um den Angehörigen wenigstens die „Schande zu ersparen, Hibakusha in der Familie zu haben“. All diese Faktoren relativieren die Schlussfolgerungen aus den Umfragen und Untersuchungen der Lebenszeitstudie und führen zu einer systemischen Unterschätzung der tatsächlichen Strahlenfolgen – auch der Folgegenerationen.
Inga Blum und Alex Rosen sind Mitglieder im Vorstand der deutschen IPPNW.
Inadäquate Kontrollgruppe: Menschen, die im Zehn-KilometerUmkreis der beiden Städte lebten, wurden als Kontrollpersonen für die Lebenszeitstudie herangezogen. Dabei waren diese Men19
ZIVILE KONFLIKTBEARBEITUNG
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uslime und Christen in Nigeria versuchen mittels ziviler Konfliktlösung gemeinsame Wege zu finden. Soziale Ressourcenkämpfe mündeten hier in gewalttätige Zusammenstöße, bei denen im Laufe der Jahre zehntausende von Menschen getötet wurden.
Die Fotos von Uli Reinhardt finden Sie online auf zeitenspiegel.de Mehr Friedensreportagen unter peace-counts.org
Friedensmacher in Kaduna Ein Pastor und ein Imam vermitteln im Norden Nigerias zwischen den Konfessionen Pastor James Wuye und Imam Ashafa waren einst Anführer verfeindeter Milizen. Beiden bereitete der Krieg schwere persönliche Verluste: Der eine verlor seinen rechten Arm, den anderen kostete der Konflikt Freunde und nahe Familienmitglieder. Mitte der neunziger Jahre begannen sie zusammenzuarbeiten und Brücken zwischen den verfeindeten Gemeinschaften zu bauen. Zu ihrem Engagement gehört auch der Kampf für eine bessere Gesundheitsversorgung und um schulische Bildung. 2001 gründeten Ashafa und Wuye das Interfaith Mediation Center, das mit unterschiedlichen Mitteln ziviler Konfliktlösung arbeitet, um die Konfessionen miteinander zu versöhnen. Unter anderem werden Frühwarngruppen ausgebildet, die Konflikte an verschiedenen Orten frühzeitig registrieren. Das Beispiel macht Schule: Die beiden Mittler wurden in viele andere afrikanische Staaten eingeladen, wo mittlerweile mit ähnlichen Modellen gearbeitet wird.
Fotos: © Uli Reinhardt
Die Bilder auf dieser Doppelseite zeigen eine Debatte mit der Frühwarngruppe der Stadt Jos (unten), Angehörige von James Wuyes Gemeinde beim Gottesdienst (links) und den Bau einer Schule durch Imam Ashafa und seine Unterstützer.
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ZIVILE KONFLIKTBEARBEITUNG
„Ziviler Widerstand ist erfolgreich, weil er im Gegensatz zum bewaffneten Widerstand in der Lage ist, eine größere und vielfältigere Menge an TeilnehmerInnen zu mobilisieren und einer Regierung unhaltbare Kosten aufzuerlegen.“
Die Waffen nieder! Wann und warum ziviler Widerstand funktioniert
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Kiew Aufruhr und Furcht andauern, gibt es viele Gründe, den Erfolgsaussichten zivilen Widerstands optimistisch gegenüberzustehen.
m Laufe der letzten drei Jahre wurde die Welt Zeuge einer Zunahme gewaltfreier Widerstandsbewegungen. Bilder riesiger Demonstrationen auf öffentlichen Plätzen wurden zu einem festen Bestandteil internationaler Nachrichtensendungen. Diese Bewegungen unterscheiden sich jedoch stark von einander hinsichtlich ihrer Dauer, ihrem Erfolg, ihrer Fähigkeit, gewaltfrei zu bleiben und ihrer Kosten in Bezug auf Menschenleben.
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iviler Widerstand ist erfolgreich, weil er im Gegensatz zum bewaffneten Widerstand in der Lage ist, eine größere und vielfältigere Menge an TeilnehmerInnen zu mobilisieren und einer Regierung unhaltbare Kosten aufzuerlegen. Keine Kampagne zivilen Widerstands ist wie die andere, dennoch haben alle erfolgreichen drei Dinge gemeinsam: Sie erfreuen sich der Teilnahme der Massen, sie produzieren ein Überlaufen von Regimeunterstützern zur Gegenseite und wenden flexible Taktiken an. Historisch gesehen kann man sagen: Je größer und facettenreicher eine Bewegung ist, desto höher ihre Erfolgschancen. Mohammad Reza Pahlavi, der letzte Schah des Iran, hatte wenig Schwierigkeiten, die islamistischen und marxistischen Guerillagruppen auszuschalten, die in den 1960ern und frühen 1970ern seine Herrschaft bedrohten. Als sich aber Ölarbeiter, Marktverkäufer und Studenten in einem Akt kollektiven, gewaltfreien Widerstands zusammentaten, der Arbeitsniederlegungen, Boykotte und Proteste umfasste, überdehnte der repressive Regierungsapparat und die Wirtschaft erlitt Schiffbruch. Von da an dauerte es nicht mehr lange, bis der Schah floh.
Die Entwicklung dieser jüngsten Bewegungen führte zu Skepsis im Hinblick auf die Erfolge zivilen Widerstands im 21. Jahrhundert. Zweifel dieser Art sind nachvollziehbar, aber deplaziert. Um das wahre Potenzial gewaltfreien Widerstands zu begreifen, ist ein Blick zurück gefragt. Das wird aus den von uns zusammengestellten Daten von 323 Kampagnen des 20. Jahrhunderts ersichtlich – von der indischen Unabhängigkeitsbewegung Mahatma Gandhis bis zu den Protesten, die den thailändischen Premierminister Thaksin Shinawatra 2006 aus dem Amt trieben. Diese Datensammlung umfasst alle bekannten gewaltfreien und bewaffneten Kampagnen zwischen 1900 und 2006, an denen sich mehr als 1.000 TeilnehmerInnen beteiligt haben, die sich für Selbstbestimmung, die Absetzung eines amtierenden Regenten oder gegen eine militärische Okkupation einsetzten. Sie wurde aus unterschiedlichsten Quellen über Protest und zivilen Ungehorsam, Expertenberichten und Umfragen sowie bestehenden Aufzeichnungen über gewaltsame Aufstände zusammengetragen.
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reitgefächerte Unterstützung für eine Widerstandsbewegung kann die Loyalität ökonomischer Eliten, religiöser Autoritäten und Mitglieder der Staatsmedien, die die Regierung unterstützen, schwächen. Breite Bewegungen genießen auch einen taktischen Vorzug: Bunt gemischte, gewaltfreie Kampagnen, die Frauen, Berufstätige, religiöse Führer und Beamte miteinbeziehen, reduzieren das Risiko eines brutalen Eingreifens durch die Sicherheitskräfte. Und selbst wenn sich Regierungen entschieden haben, Widerstandsbewegungen gewaltsam zu unterdrücken, haben alle von uns untersuchten Fälle gezeigt, dass die Hälfte aller gewaltfreier Kampagnen erfolgreich ist, während nur 20 % der gewalttätigen Bewegungen ihre Ziele erreichten.
Zwischen 1900 und 2006 waren Kampagnen gewaltfreien Widerstands gegen autoritäre Regierungen doppelt so erfolgreich wie bewaffnete Bewegungen. Gewaltfreier Widerstand erhöhte außerdem die Chancen auf Frieden und demokratische Regierungsführung nach dem Sturz eines Diktators. Entgegen herkömmlicher Auffassungen konnten weder soziale noch ökonomische oder politische Strukturen die Entstehung oder den Erfolg gewaltfreier Kampagnen verhindern. Von Streiks über Proteste zu Sit-ins und Boykotten – im Angesicht von Unterdrückung bleibt ziviler Widerstand die beste Strategie für politischen und sozialen Wandel. Bewegungen, die auf Gewalt setzen, entfachen häufig kurz- und langfristig furchtbare Zerstörung und Blutvergießen, meistens ohne ihre Ziele zu verwirklichen. Obwohl zwischen Kairo und
Doch ziviler Widerstand benötigt auch Planung und Taktik. Erfolgreiche gewaltfreie Kampagnen sind selten spontan, und der scheinbar schnelle Kollaps der Regime Ben Alis und Mubaraks 22
GEWALTFREIES TRAINING DES CENTER FOR NONVIOLENT ACTION IN BELGRAD FOTO: CNA SARAJEVO | BELGRAD
gegen den Kommunismus in Osteuropa bis hin zu dem Kampf gegen die Apartheid in Südafrika. Obama mahnte Regierungen und Nicht-Regierungsorganisationen, innovativere und effektivere Mechanismen zur Unterstützung von Gruppen und AktivistInnen anzuwenden, die gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung kämpfen.
darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Revolutionen Arbeiter- und Oppositionsbewegungen entsprangen, die schon seit zehn Jahren aktiv waren. Die durchschnittliche gewaltfreie Kampagne dauerte ungefähr drei Jahre. Gene Sharp aus den USA hat 198 verschiedene Taktiken identifiziert, die gewaltfreie Widerstandsbewegungen anwenden. Diese beziehen die unterschiedlichsten Methoden von Protest, Überzeugung bis hin zur Verweigerung der Zusammenarbeit ein, was Sharp „gewaltfreie Intervention“ nennt. Technik-affine Wissenschaftler wie Patrick Meier und Mary Joyce haben Sharps Liste erweitert – um Taktiken wie die Benutzung von sozialen Netzwerken, um über repressive Taktiken in Echtzeit berichten zu können oder sogar die Verwendung kleiner Drohnen, um Polizeibewegungen zu verfolgen.
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as wirft allerdings die Frage auf, welche Formen von äußerer Unterstützung gewaltfreien bürgerlichen Gruppierungen helfen, und welche nicht. Die Idee des „Füge niemandem Schaden zu“ bleibt eines der Grundprinzipien dafür, wie ausländische Regierungen und Institutionen Demokratie fördern und zivilgesellschaftliche Gruppen in anderen Ländern unterstützen sollten. Internationale Unterstützung solcher Bewegungen kann viele Formen annehmen, wie zum Beispiel die Beobachtung von Prozessen gegen politische Gefangene, das Engagement in Solidaritätsbewegungen, um das Recht der friedlichen Versammlung zu stärken, alternative Kanäle für Nachrichten und Informationen bereitzustellen, Warnungen an Sicherheitsoffiziere zu richten, die der Versuchung ausgesetzt sind, tödliche Gewalt gegen Protestierende zu richten und die Unterstützung genereller Kapazitätsbildungsmaßnahmen für zivilgesellschaftliche Gruppierungen und unabhängige Medien. Lokale Akteure sind immer in der besten Position einzuschätzen, welche Art der Unterstützung angemessen ist und ob die damit verbundenen Risiken nicht zu hoch sind.
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ergleicht man die Beispiele aus der Geschichte, so kristallisieren sich einige Hauptpunkte für gewaltfreie Kampagnen heraus: Erstens ziehen gewaltfreie Kampagnen eine weitaus buntere Beteiligung an als bewaffnete, was die Chance erhöht, dass aus den Reihen der Sicherheitskräfte oder anderer Regimeeliten Personen überlaufen. Dies gelingt insbesondere dann, wenn die Protestler einen Querschnitt der Bevölkerung repräsentieren. Zweitens griffen die erfolgreichen gewaltfreien Bewegungen auf eine Vielzahl an Taktiken zurück. Drittens waren die Protestbewegungen des Arabischen Frühlings keineswegs gleich, wenn auch voneinander inspiriert. Tatsächlich unterstreichen die unterschiedlichen Ergebnisse, warum gewaltfreie Gruppen der Versuchung widerstehen müssen, eine Massenbewegung in einem anderen Land ohne eigene Strategie zu kopieren. Viertens macht der bewaffnete Widerstand Rebellengruppen, abgesehen von der Tatsache, dass unbewaffnete ZivilistInnen getötet werden, gefährlich abhängig von der Unterstützung von außen.
Dies ist eine stark gekürzte Version des Originalartikels „Drop your Weapons“, den Sie unter folgendem Link finden: kurzlink.de/drop-your-weapons
Erica Chenoweth ist Professorin für Internationale Beziehungen an der Universität Denver. Maria J. Stephan forscht für das United States Institute of Peace.
Während eines Treffens der UN-Generalversammlung letztes Jahr sprach US-Präsident Barack Obama über die essenzielle Rolle, die die Zivilgesellschaft in nahezu jeder größeren politischen und sozialen Transformation im letzten halben Jahrhundert gespielt hat – von der Bürgerrechtsbewegung in den USA über den Kampf 23
ZIVILE KONFLIKTBEARBEITUNG
Abstimmung mit den Füßen Die Kriegsmobilisierung in der Ukraine scheitert
Angesichts der eskalierenden Gewalt hat in der Ukraine kaum jemand den Mut, sich offen gegen den Krieg auszusprechen. Dialoginitiativen stecken in der Krise. Doch große Teile der Bevölkerung entziehen sich dem Wehrdienst mit vielerlei Tricks.
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it einem Fiasko endete am 17. August 2015 die sechste Welle der Mobilisierung für den Krieg im Osten der Ukraine. Anstatt der geplanten 25.000 Personen konnte man gerade einmal 13.000 für die „Antiterroroperation“ mobilisieren. Dies berichtete die ukrainische Tageszeitung „Gazeta.ua“ am 18. August 2015. Grund der mangelnden Mobilisierung, so die Gazeta.ua unter Berufung auf Militärexperten, sei der zunehmend schwindende Patriotismus. Vor einem Jahr sei die ukrainische Gesellschaft noch patriotischer eingestellt gewesen. 5.811 Ordnungs- und 1.500 Strafverfahren habe man gegen Personen eingeleitet, die sich der Mobilisierung entzogen hatten, zitiert die Zeitung Oberst Alexander Prawdiwez, den stellvertretenden Chef der Mobilisierungsabteilung im ukrainischen Generalstab. In einigen Fällen, so der Oberst am 18. August gegenüber der ukrainischen Presse, seien Verweigerer bereits zu Haftstrafen verurteilt worden. Besonders in der Westukraine sind die Mobilisierungspläne weitgehend gescheitert. Im Gebiet Karpaten, zitiert die in Kiew erscheinende „Komsomolskaja Prawda“ den Gouverneur des Gebietes, Gennadij Moskal, seien gerade einmal 27 Prozent des angestrebten Ziels erreicht worden, im Gebiet Iwanow-Frankiwsk sogar nur 25 Prozent. Um die Mobilisierungszahlen in
die Höhe zu treiben, hatte man in den Karpaten zu sehr unkonventionellen Rekrutierungsmaßnahmen gegriffen. So wurden junge Männer an Checkpoints für die Mobilisierung aufgegriffen und Schmuggler sofort nach ihrer Verhaftung in den Krieg geschickt. Die Bereitschaft, sich dem Kriegseinsatz zu entziehen, ist sogar noch größer als die offiziellen Zahlen der ukrainischen Militärs vermuten lassen. Wer sich auf halblegale Weise der Mobilisierung entziehen konnte, ist in dieser Statistik nicht erfasst.
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lleinstehende Mütter mit drei Kindern können sich in den letzten Monaten vor Heiratsanträgen kaum noch retten. Denn laut Gesetz dürfen Väter von mindestens drei minderjährigen Kindern nicht einberufen werden. Andere lassen sich wiederum scheiden und übernehmen das alleinige Sorgerecht. Auch sie sind vom Militärdienst befreit. Wieder andere gehen für die Sommermonate als Service-Personal auf ein Kreuzschiff. Damit verdienen sie nicht nur das Zehnfache der landesüblichen 200 Euro. Sie sind auch für die Wehrbehörden bis zum Herbst nicht erreichbar.
GEDENKEN AN DIE OPFER DES ANSCHLAGS AUF DAS GEWERKSCHAFTSHAUS AM 2. MAI 2014 IN ODESSA
-rainische Militärs weitere Mobilisierungsmaßnahmen in diesem Jahr nicht mehr aus. Ruslan Kotsaba Auch wenn die Bevölkerungsmehrheit den Krieg ablehnt – offen gegen den Krieg hat sich nur ein einziger Bürger der Ukraine ausgesprochen. Im Januar hatte der westukrainische Journalist Ruslan Kotsaba in einem auf Youtube veröffentlichten Video erklärt, dass er den Kriegsdienst verweigern werde. Gleichzeitig forderte er die Bevölkerung auf, ebenfalls zu verweigern. Er habe sich bereits entschieden, sagte Kotsaba in seiner an Präsident Poroschenko gerichteten Videobotschaft: Er werde eher ins Gefängnis gehen als auf seine Landsleute im Osten des Landes schießen. Der Staat wartete nicht lange. Im Februar wurde Kotsaba verhaftet. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft. Ihm droht eine mehrjährige Haftstrafe wegen Vaterlandsverrat und Wehrkraftzersetzung. Am 18. August verlängerte ein Gericht in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk die Untersuchungshaft von Ruslan Kotsaba auf den 16. Oktober 2015. Die Bevölkerung hat Angst
Eigentlich hätte die sechste Mobilisierungswelle die letzte in diesem Jahr sein sollen. Doch angesichts des Misserfolges dieser Mobilisierungswelle schließen führende uk24
Doch der Fall Kotsaba zeigt auch, dass sich kaum jemand traut, sich öffentlich zu artikulieren: „Ich hatte innerhalb weniger
VOR DEM GEWERKSCHAFTSHAUS, 11. MAI 2014
Foto: HOBOPOCC, Wikimedia Commons
Foto: Berhard Clasen
Tage mehrere hunderttausend Klicks auf meiner Youtube-Seite“, berichtete mir Kotsaba wenige Tage vor seiner Verhaftung im Winter dieses Jahres. „Doch nicht ein einziger hat sich offen mit mir solidarisiert“. „Wer weniger als 200 Euro im Monat verdient, und das ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, interessiert sich nicht für die Frage, welchen Status Donezk haben soll. Die Leute sind depressiv, viele verlieren ihre Arbeit. Es wird sehr viel getrunken, viele Narkotika werden konsumiert. Die Depression der Menschen nimmt zu“, beklagt sich ein Aktivist der kleinen Gewerkschaft „Schutz der Arbeit“. „Der Krieg ist für uns alle gleich weit entfernt: vom Sofa zum Fernseher. Und solange sich Krieg für die Bevölkerungsmehrheit nur im Fernsehen abspielt, reden sich viele ein, das alles ginge sie gar nichts an“, so der Gewerkschaftsaktivist. Gewerkschaftsarbeit „Gewerkschaftsarbeit ist indirekt auch AntiKriegs-Arbeit“ berichtet mir ein Aktivist aus Odessa. „Kürzlich rief uns eine Angestellte einer deutschen Firma, die in Odessa eine Niederlassung hat, auf unserer Hotline an. Sie hatte sich beschwert, dass die Firma sie zwingt, jeden Tag neun Stunden an der Kasse zu stehen. Nicht eine Minute dürfe sie sitzen, habe sie sich beschwert. „Wenn sich doch
die Menschen häufiger beschweren würden“ seufzt der Mann von „Schutz der Arbeit“. „Wenn wir als Gewerkschaft ein Faktor wären, am ersten Mai zu Zehntausenden auf die Straße gingen, dann wüsste die Regierung, dass mit der Zivilgesellschaft zu rechnen ist und dann wäre auch der Krieg im Osten des Landes nicht mehr politisch durchsetzbar.“ Das Charkiwer Dialogprojekt Lange schien es im Frühling und Sommer 2014, dass auch die ostukrainische Millionenstadt Charkiw in den Strudel der Gewalt gezogen werde. Am 7. April waren gleichzeitig die „Volksrepubliken“ Donezk und Charkiw ausgerufen worden. Für kurze Zeit hatten prorussische Aktivisten die Bezirksverwaltung von Charkiw besetzt, waren aber aus dieser von einer Sondereinheit der Miliz wieder vertrieben worden. Erneut eskalierte die Stimmung, als Bürger der Stadt, allen voran der „Rechte Sektor“, am 28. September 2014 das Lenin-Denkmal schleiften.
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or dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen gründete sich unter Leitung von Alena Kopina eine Gruppe, die zum Dialog zwischen prorussischen und proeuropäischen BewohnerInnen der Stadt aufrief. Man organisierte Foren und Veranstaltungen, zu denen Vertreter beider Spektren kamen. Doch inzwischen ist es ruhiger geworden um die Gruppe, die selbst immer weniger auf die Stimmung in der Stadt einwirken kann. Es sind vor allem zwei Gründe, die den geschwundenen Einfluss des Dialog-Projektes erklären könnten: Von Anfang an hatten führende Vertreter von Maidan- und Antimaidan-Be25
wegungen ihre Teilnahme an dem Dialogprojekt abgelehnt. Man habe es hier mit einem Konflikt zu tun, der von außen hereingetragen worden sei. Ein Dialog vor Ort sei Augenwischerei, denn er würde den ausländischen Faktor ausblenden.
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aren zu Beginn des Projektes die Anhänger des Euromaidan in der Überzahl, kommen nun kaum noch prorussisch eingestellte Bewohner der Stadt zu den Veranstaltungen des Dialogforums. Bezeichnenderweise saßen auf einer Pressekonferenz des Dialogprojektes Mitte Mai im Charkiwer Kriseninformationszentrum nur Personen auf dem Podium, die stadtbekannte Euromaidan-Aktivisten sind, die einzige Fahne im Raum war eine Fahne des Rechten Sektors. Alena Kopina lässt sich jedoch nicht beirren. Sie glaubt an den langen Atem, den es brauche, um der Gesellschaft begreiflich zu machen, dass Dialog eine Alternative zur Gewalt sei. Mediation, so ihr Credo, sei in der Ukraine nötiger denn je. So hat sie nun ein langfristiges Programm zur Ausbildung von MediatorInnen ins Leben gerufen, das teilweise in Bosnien-Herzegowina stattfinden soll, wo man sich mit MediatorInnen aus dem ehemaligen Jugoslawien austauschen will.
Bernhard Clasen ist freier Journalist und u.a. Korrespondent der taz in Kiew.
ZIVILE KONFLIKTBEARBEITUNG
Dämonisierung ist keine Politik Zivile Konfliktbearbeitung als Handlungsprinzip in eskalierten Gewaltkonflikten
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m Angesicht des Vormarschs des Islamischen Staates (IS) scheint zivile Konfliktbearbeitung an ihre Grenze zu kommen. Ihre Befürworter werden im öffentlichen Diskurs an den Rand gedrängt, mit deutlichen Versuchen, sie der Lächerlichkeit preiszugeben. Sie werden als „Friedensspinner“ bezeichnet oder ihnen wird Verantwortungslosigkeit gegenüber den Opfern des IS vorgeworfen. Allein Gewalt scheint gegen die blindlings mordenden Schergen zu helfen, so dass die Bundesregierung die Gegenseite bewaffnet, um – so ihre Begründung – noch Schlimmeres zu verhüten. Ich bin der Ansicht, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Militärische Gewalt ist in der Region von allen Parteien – inklusive den amerikanischen und anderen ausländischen Truppen – in allen denkbaren legalen, halb-legalen und illegalen Formen angewandt worden, wird weiterhin angewandt, und doch zeigt sich keine Besserung. Im Gegenteil. Zivile Konfliktbearbeitung hingegen mit ihrer weitergehenden, die Ursachen und eigenen Verstrickungen in den Blick nehmenden Perspektive, ihrer Vielzahl an diplomatischen, humanitären und zivilgesellschaftlichen Möglichkeiten wurde bisher noch überhaupt nicht ernsthaft und umfassend versucht.
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nders als es die öffentliche Wahrnehmung nahezulegen scheint, ist der Islamische Staat nicht vom Himmel gefallen. Er ist eine extremistische sunnitische Terrorbewegung, die nach dem Einmarsch
im Irak 2003 entstanden ist. Anders als Al-Qaida hat er sich nicht auf ferne Feinde konzentriert, sondern sich letztlich im sunnitischen Bruderkrieg verstrickt, der ihn so geschwächt hat, dass er 2008 kaum noch handlungsfähig war.
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ine Erklärung für das spektakuläre Comeback des Islamischen Staates lieferte Peter Harling in Le Monde Diplomatique vom 1. September 2014: „Dass die Bewegung wieder im Geschäft ist, ist nur zu einem kleinen Teil ihr Verdienst. Der Weg wurde ihr von ihren Feinden geebnet…“ Dabei zeigte die Bewegung weit mehr Pragmatismus als im Monsterbild der westlichen Öffentlichkeit Platz findet. Sie griff an, wo der Feind schwach war und hielt sich zurück, wo mit nennenswertem Widerstand zu rechnen war. Harling führt im Einzelnen aus, wie die Mächte in der Region – die Türkei, die USA, Russland, Iran, Syriens Präsident Assad, der damalige irakische Regierungschef Maliki und die Golfmonarchien – den Islamischen Staat wieder haben mächtig werden lassen. Dass westliche Länder sich mit Versuchen zur Rettung der Jesiden überbieten, Waffenlieferungen und Bombardierungen von Sunniten eingeschlossen, während Assads Truppen zehntausende sunnitische Zivilisten in den Städten Syriens ermorden, ist Wasser auf die Mühlen des Gefühls der Entrechtung und Erniedrigung vieler Menschen. In dieser Geschichte ist der IS zumindest auch eine abhängige Variable der ver26
leugneten Zusammenhänge internationaler Politik und gravierender Fehler ihrer Akteure. Die Geschichte, die durch die allgegenwärtigen Medienberichte derzeit über den IS transportiert wird, ist eine andere: Plötzlich waren diese Mörder da, die keine Skrupel kennen und furchtlos mordend über alles und jeden herfallen. Der IS selbst trägt mit einer effizienten und sehr erfolgreichen PR- und Propagandamaschinerie das Seine zu dieser Wahrnehmung bei. So entsteht zunehmend ein allgemeines, gleichwohl sehr dynamisches Bild von äußerster Brutalität, blind wütender Gewalt und politischem Fanatismus. Auch wenn der Vergleich von Grausamkeiten grundsätzlich problematisch ist, möchte ich den IS zumindest zu zwei aktuellen Tragödien ins Verhältnis setzen. Nicht mit dem Ziel, ihn zu verharmlosen, sondern um deutlich zu machen, dass wir unsere Motivlage hinterfragen müssen, wenn wir uns mit Waffengewalt auf der Seite der vermeintlich Guten dem vermeintlich fremden Bösen entgegenstellen.
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m Kongo sind in den 90er Jahren mehr als drei Millionen Menschen oft auf brutalste Weise ums Leben gekommen. Es gilt als die größte humanitäre Katastrophe nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings gingen die dortigen Kämpfer ohne internationale PR-Strategie vor, ohne Kommunikation in unserer Richtung und ohne eine weiterführende Ideologie. Im Irak selbst sind, nachzulesen im „Body Count“ der IPPNW von März 2013, in der Folge
KINDERSOLDAT BEIM ISLAMISCHEN STAAT FOTO: FREDERIC TODENHÖFER
des Einmarsches der USA und ihrer Verbündeten zum Sturz Saddam Husseins zwischen 1,2 und 1,8 Millionen Menschen gestorben, die ohne diese Intervention noch leben würden. Weder das massenhafte gewaltsame Sterben im Kongo noch das im Irak hat in der Bundesregierung einen vergleichbaren Positionierungs- oder Handlungsdruck erzeugt. Der IS ist brutal und furchtbar, aber nicht brutaler und furchtbarer als andere Terrormilizen. Doch anders als andere kommuniziert er mit uns, provoziert und verwickelt uns: Er filmt und zeigt die Hinrichtung westlicher JournalistInnen und HelferInnen. Anders als andere Terrorgruppen trägt der Islamische Staat uns – so scheint es – seine Feindschaft in einer perversen Kontaktaufnahme an.
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ir stellen der mörderischen Selbstinszenierung des IS nichts entgegen. Im Gegenteil. Wir leisten Schützenhilfe – kein Artikel, keine Rede ohne: „barbarisch“, „bestialisch“ und „Mörderbanden“, deren Vernichtung der amerikanische Präsident als sein erklärtes Ziel verfolgt. Willig folgen wir mit dieser Begrifflichkeit sprachlich dem IS in seine archaische Welt von Gut und Böse, gläubig und ungläubig, rein und unrein – und fallen damit wie dieser der Spaltung anheim. Wie die Ideologen des Islamischen Staates halten auch wir uns für die Guten, die das fremde Böse mit Gewalt bekämpfen müssen. Hier müsste – spätestens – zivile Konfliktbearbeitung bzw. eine am Frieden orientierte Politik einsetzen. Sie
müsste der Suggestionskraft der berichteten Ereignisse widerstehen, heraustreten aus dem Sog der Bilder und Nachrichten und besonnen ebenso wie nüchtern eine breitere Perspektive wählen und ihre Handlungen daran ausrichten. Das würde – um nur einige Beispiele zu nennen – bedeuten, »» viel mehr zu tun, um syrische Flüchtlinge zu unterstützen und aufzunehmen sowie vor Ort humanitäre Hilfe zu leisten; »» den Waffenhandel mit den Golfstaaten zu hinterfragen, bzw. einzustellen; »» auf deren Herrscher einzuwirken, damit sie die Unterstützung und Duldung sunnitischer Extremisten einstellen; »» den Iran einzubinden; »» die Türkei zum einen bei der Versorgung der Flüchtlinge zu unterstützen und zum anderen klar zu machen, dass der Handel mit Dumping-Öl durch den Islamischen Staat unterbunden werden muss;
gen – aktuell nicht erkennbaren – Versuch gäbe, umfassend Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
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ine solche komplexere und selbstkritischere Sicht müsste sich auch in größerer Nüchternheit in der Rede niederschlagen. Das inakzeptable und äußerst brutale Verhalten der IS-Kämpfer muss benannt und abgelehnt werden. Gleichzeitig gilt es anzuerkennen, dass auch die ISKämpfer Menschen sind; vermutlich mit einem übermäßigen Bedürfnis nach Überwindung von Ohnmacht, nach Zugehörigkeit und Anerkennung sowie nach einer klaren Ordnung. Henry Kissinger hat kürzlich gesagt: „Die Dämonisierung Putins ist keine Politik.“ Ich möchte das umformulieren: Die Dämonisierung des Islamischen Staates ist keine Politik. Sie entlastet uns allerdings von den Qualen der Ambivalenz, weil Gut und Böse klar verteilt werden und scheint uns der Verantwortung für unser Handeln in einem weiter gefassten Kontext zu entheben.
»» sich um Kontakt zum IS selbst zu bemühen; »» Angebote zu machen, die es für Kämpfer attraktiv machen, die Extremisten zu verlassen. Wir müssten eingestehen, dass die Lage nicht von außen zu kontrollieren ist. Nach allem, was in der Region in den letzten zweihundert Jahren angerichtet wurde, wären selbst dann keine schnellen Lösungen zu erwarten, wenn es einen aufrichti27
Susanne Luithlen leitet die Akademie für Konflikttransformation im Forum ZFD und ist Kuratoriumsmitglied von Gewaltfrei Handeln e.V.
ZIVILE KONFLIKTBEARBEITUNG
DIE FREIWILLIGEN VON EAPPI SIND AN GRENZÜBERGÄNGEN UND AN ZAUNANLAGEN IN DER LANDWIRTSCHAFT PRÄSENT, UM MÖGLICHE ÜBERGRIFFE ZU REGISTRIEREN
„Es ist gut, dass Ihr da seid“ EAPPI, das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel
Das „Ecumenical Accompaniment Programme in Palestine and Israel (EAPPI)“, so der offizielle Name des internationalen Programms, existiert seit 2002. EAPPI wurde vom Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf auf Bitten der Jerusalemer Kirchenoberhäupter gegründet und entsendet seither bis zu 35 internationale Beobachter aus 25 Ländern. Die Ökumenischen BegleiterInnen (EAs) werden für jeweils drei Monate an verschiedenen Stellen in Jerusalem und der Westbank eingesetzt. Aus Deutschland kommen pro Jahr etwa zehn Freiwillige. Diejenigen, die das Programm entwarfen waren überzeugt, dass die Besetzung der palästinensischen Gebiete nicht nur die palästinensische, sondern auch die Zukunft der israelischen Zivilgesellschaft bedroht.
„Schon lange habe ich gedacht, dass Menschen aus der ganzen Welt zu uns kommen sollten, um unseren Geschichten und Gedanken eine Stimme zu geben“. Das sagt uns ein Palästinenser am Checkpoint zwischen Bethlehem und Jerusalem. Jeden Morgen kommen etwa 6.000 Menschen zum Checkpoint 300. Menschen, die das Glück hatten, eine Arbeitserlaubnis für Israel zu erhalten. Seit vier Uhr morgens stehen auch wir hier und beobachten das Geschehen in der Hoffnung, durch unsere Anwesenheit die Kontrollen ein wenig erleichtern oder beschleunigen zu können. Denn wie schnell oder langsam die Wartenden hier vorankommen, hängt meist von der Einstellung der kontrollierenden Soldaten ab. Und während wir da stehen und schauen, rufen uns manche zu: „Warum steht ihr nur da und schaut? Tut doch etwas, Ihr seht doch, was sie hier mit uns machen!“ Sie hoffen, dass wir die Macht haben, auf die Soldaten und Soldatinnen – wehrpflichtige junge Leute – einzuwirken, so dass sie pünktlich durch den Checkpoint kommen und ihren Arbeitsplatz nicht verlieren.
Die täglich an den Bewohnern der Westbank verübten Schikanen, die nächtlichen Razzien in den Dörfern, die häufigen Ausgangssperren, die verhängt und überwacht werden, all das hinterlässt untilgbare Spuren.
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ür viele Israelis sind die Palästinenser Terroristen, die Angst einflößen und die man jederzeit unter Kontrolle haben muss. Viele Palästinenser sehen Israelis nur als Besatzer, als Unterdrücker, als aggressive Siedler, die sie von ihrem Boden vertreiben, ihnen ihre Rechte und ihren Besitz nehmen, sie zu Menschen zweiter Klasse herabwürdigen. Sie erleben, wie immer neue Siedlungen entstehen auf ihrem eigenen Grund und Boden, wie sie keine Chance haben, sich gegen diese Landnahme zu wehren. Sie müssen hilflos mit ansehen, wie ihre Olivenbäume nachts abgeholzt werden, ihre Ernte gestohlen, ihre Felder angezündet werden – immer von „Unbekannt“ und ohne, dass jemals ein Schuldiger gefunden wird. Moscheen werden geschändet, immer häufiger auch Kirchen. Häuser werden für Tage von der Armee besetzt, ganze Ortschaften zu „militärische Sperrzonen“ erklärt und
A
us Angst davor sind die ersten schon um zwei Uhr nachts vor Ort – und das jeden Morgen, denn man weiß nie, wie lange es heute dauern wird. Dabei sind unsere Möglichkeiten sehr begrenzt – manchmal können wir mit den SoldatInnen direkt sprechen. Oft versuchen wir unser Glück über eine telefonische Hotline der Armee, bei der man Missstände melden kann. Sehr häufig stoßen unsere Bitten und Nachfragen aber auf verschlossene Ohren. Und doch tun die Freiwilligen von EAPPI einen wichtigen Dienst. 28
Fotos: EAPPI
DIE EAS SPRECHEN MIT MÄNNERN, DIE AM CHECKPOINT ABGEWIESEN WURDEN
Wir Freiwilligen hören die Geschichten der Menschen, denen sonst niemand zuhört. Über die Verhaftung ihrer Kinder, Vertreibung aus ihren Dörfern und Gewalt durch Armee und Siedler.
die Familien auf engstem Raum zusammengedrängt oder ganz vertrieben. Und überall Kontrollen, Checkpoints, Straßen „nur für Israelis“. Weggehen sollen sie, egal wohin, in irgendein anderes Land, denn das ganze Land soll zu Israel gehören, so sprechen es sogar manche Regierungsmitglieder offen aus. Und darum wird den Einheimischen der Alltag so bitter wie irgend möglich gemacht und ihnen täglich gezeigt, wer die Kontrolle, wer die Macht hat.
Wir besuchen Familien, deren Häuser durch das Militär zerstört wurden und die nicht wissen, wohin. So sammeln wir das ganze Elend der Besetzung in unseren Herzen. Wenn wir dann in unsere Heimatländer zurückkehren, berichten wir von unseren Erlebnissen in Vorträgen, Interviews, Artikeln und persönlichen Gesprächen. Wir nehmen Kontakt zu unseren politischen und kirchlichen Vertretern auf und versuchen auf diese einzuwirken, tätig zu werden. Nicht nur die PalästinenserInnen, auch kritische Israelis meinen, dass politische Einflussnahme von außen notwendig ist, um die Situation im Land zu verändern. Dabei geben wir uns nicht der Illusion hin, dass durch unsere Arbeit der Konflikt gelöst werden könne. Wir haben aber dennoch die Hoffnung, dass unsere Augenzeugenberichte einen Beitrag zur Stärkung der Kräfte leisten kann, die auf ein Ende der Besatzung und einen gerechten Frieden hinarbeiten. Und das ist auch, was palästinensische und israelische Partner von uns erwarten.
Die EAs arbeiten in den besetzten Gebieten der Westbank an den zahlreichen Checkpoints und an landwirtschaftlichen Toren, die Bauern passieren müssen, um ihr Land zu erreichen.
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ier versuchen sie, durch ihre Präsenz die so häufigen Demütigungen und Einschränkungen zu minimieren. Ebenso begleiten sie Bauern bei der Olivenernte und versuchen, diese durch ihre Anwesenheit vor Übergriffen radikaler Siedler zu schützen. Sie begleiten Kinder auf dem Weg zur Schule, der für diese niemals gefahrlos und dadurch angstbesetzt ist, sei es, dass sie an einem der vielen Kontrollposten ihre Schulmappen den Soldaten öffnen müssen, sei es, dass sie an einer Siedlung vorbeilaufen müssen und von den Siedlerkindern mit Steinen beworfen werden.
U
nd so sagt der Mann am Checkpoint 300 von Bethlehem weiter: „Es ist gut, dass Ihr da seid – an den Tagen, an denen Ihr nicht da seid, ist es immer noch schlimmer!“ Und eine israelische Aktivistin fügt hinzu: „Wir wissen nicht, was diese Arbeit auf lange Sicht bewirken wird. Die Lage scheint sich eher zu verschlechtern als zu verbessern. Aber wir sind Augenzeugen… wir verbreiten die Tatsachen. Es ist eine frustrierende Aufgabe, aber wenigstens tun wir sie gemeinsam.“
EAs nehmen aber auch an gewaltfreien Demonstrationen und anderen kreativen Protestaktionen gegen Landnahme und Trennbarriere teil. Und dabei sind sie nicht allein: Die „Rabbis for Human Rights“ kämpfen für die Rechte der palästinensischen Bauern und Beduinen vor den israelischen Gerichten ebenso wie vor Ort; das israelische Kommitee gegen Hauszerstörung (ICAHD) weist immer wieder auf den Skandal der Vertreibung von Menschen in Jerusalem und der Westbank durch Zwangsumsiedlung und Zerstörungen hin. Und in Sderot, der Stadt, die Gaza am nächsten liegt, hält die Initiative „Other Voice“ trotz Raketenbeschuss und trotz der massiven Anfeindungen in der israelischen Öffentlichkeit bewusst Kontakt mit Menschen aus Gaza, weil sie sagen: Die Bombardierung von Gaza erhöht unsere Sicherheit nicht, dies geschieht nicht in unserem Namen – nur mit Annäherung kann man eine Wende in den Beziehungen herbeiführen. Mit diesen und vielen anderen Gruppen arbeitet EAPPI vor Ort zusammen. Eine Kooperation die auch dabei hilft, die ausweglos erscheinende Situation besser zu ertragen.
Der Internist Dr. Andreas Grüneisen war Oberarzt am Vivantes Klinikum Neukölln. Er war vor fünf Jahren als EA in Palästina, und ist seitdem für EAPPI tätig. 29
WELT
Notizen vom Kilimandscharo Im Rahmen des „K-Project for Peace“ erstiegen 17 AktivistInnen den höchsten Berg Afrikas
Das „K-Project for Peace“ wurde von der tansanischen Umwelt- und Friedensaktivistin Racheal Chagonja ins Leben gerufen, die beschloss zu handeln, als sie die zerstörerischen Folgen des Uranabbaus in afrikanischen Ländern wie Mali und Niger sah. Auf Initiative Chagonjas und der afrikanischen IPPNW startete am 30. Juli 2015 eine Gruppe von 17 AktivistInnen aus fünf Ländern ein ebenso waghalsiges wie bedeutsames Unterfangen: Die Besteigung des Kilimandscharo, des höchsten freistehenden Gipfels der Erde unter dem Motto „Für ein Afrika ohne Uranminen und eine atomwaffenfreie Welt“. Der Filmemacher Jonathan Happ war nicht nur mit der Kamera dabei, sondern berichtete auch in seinem Tagebuch.
Foto: Jonathan Happ
Tag 1:
Los geht es für uns im Regenwald, insgesamt werden wir fünf Klimazonen durchwandern. Wir sehen Affen, Antilopen, exotische Vögel, Wasserfälle. Bäume und Pflanzen in Symbiose. Es ist neblig. Die ersten Zeichen von Erschöpfung machen sich bemerkbar.
Tag 2:
Berg hinaufschleppen, laufen die Träger mit riesigem Gepäck an uns vorbei. Die Begleiter sind entspannt und ermuntern uns Wasser zu trinken („Sip Sip“) und weiterzugehen („G2G?“ – Good to go?) Bei Ankunft am Base Camp beginnt das große Erbrechen. Manche schaffen es noch aus der Hütte, andere erbrechen auf den Tisch oder in den Schlafsaal.
Tag 3: Heute verlassen wir die alpine Moorlandschaft und begeben uns in karge Wüstenlandschaft auf dem Weg zum Base Camp auf 4.720 m Höhe. Während wir uns unter größten Anstrengungen den
Tag 4: Um Mitternacht sammeln wir uns im Dunkeln und arbeiten uns im Zickzack den Berg hinauf. Kälte, Übermüdung, eine nie enden wollende Wand, umfallende Leute, Erbrechen, ein Schritt, ein Atemzug; alles wird schwer und unerträglich. Das Sichtfeld ist eingeschränkt auf die Füße der Person vor dir. Die Angst vorm Einschlafen am Gehstock begleitet einen. Unser Bergführer sagt, der Gipfel sei um die Ecke, nur noch eine Stunde entfernt – das hat er vor zwei Stunden
Der Regenwald wird von Bergwald abgelöst. Wir gehen von unserer ersten Station auf 2.720 m zur Horombo Hut, die auf 3.700 m liegt. Fast alle haben Kopfschmerzen, Ibuprophen wird zu unserem besten Freund. In der Nacht wird der Gipfel, der Kili, zum ersten Mal auf dieser Wanderung sichtbar.
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schon mal gesagt. 7:30 Uhr, 5.895 m Höhe, unter unmenschlichen Anstrengungen kommen wir am Gipfel an. Es herrscht Chaos, wir haben keine Transparente – die sind bei Daniel, der vom Guide aufgefordert wurde, umzukehren, da er zu krank schien. Plötzlich taucht Daniel doch auf. „Willst du dein Leben für diese Banner riskieren?“ „Ja, wenn es sein muss, würde ich für diese Banner sterben!“, seine Antwort. Alle sind erledigt und wollen zügig den Berg runter. Von 17 ursprünglichen Kletterern haben es 12 bis zum Gipfel geschafft. Wir surfen den Berg herunter, dort wo Geröll liegt. Mit dem Abstieg werden die Erinnerungen bereits besser. Wir sind noch immer über den Wolken. Mit zunehmendem Abschied fühlt man sich wieder wie ein Mensch, die Kopfschmerzen gehen weg, das Erbrechen hört auf, die Stimmung wird besser.
Tag 5:
Bei der Ankunft wird uns bewusst, dass wir tatsächlich eine krasse Aktion vollbracht, ein starkes Signal gesendet, vielleicht unser Leben aufs Spiel gesetzt, haben. Den Kilimandscharo in fünf Tagen zu erklettern, ist kein Spaß – es ist eine Tortur, es ist schrecklich, extrem herausfordernd. Aber trotzdem: Jetzt, nach ein wenig Pause, war es eine der großartigsten Aktionen, die wir begleitet haben, um sie zu dokumentieren. Um es mit den Worten eines Aktivisten zusammenzufassen: Wenn Entscheidungsträger weltweit solch einen Ehrgeiz und Entschlossenheit an den Tag legen würden, wie diese Gruppe von ÄrztInnen und AktivistInnen, dann sollte es kein Problem sein, eine Welt ohne Uranabbau, Atomwaffen und Atomenergie zu verwirklichen. Dokumentation und Video unter: ujuzi.de
Foto: ICAN
POSTDAM
Foto: ICAN
AKTION
Zeitzeugenbericht
BERLIN
Foto: Kathleen Sullivan
Die Hibakusha Setsuko Thurlow in Deutschland
BERLIN 31
Setsuko Thurlow, die als Dreizehnjährige den Atombombenabwurf auf Hiroshima erlebte, war auf Einladung von ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) zu Gast in Potsdam und Berlin. In Potsdam nahm sie an einer Veranstaltungsreihe zum 70. Jahrestag des Kriegsendes teil. In Berlin sprach Setsuko unter anderem mit Schülerinnen und Schülern. Sie hörten gebannt zu und zeigten sich von ihrem Vortrag sehr berührt. Im Hörsaal der Berliner Charité hatten sich auf Initiative der Berliner Studierendengruppe etwa 120 junge MedizinerInnen und andere Interessierte versammelt, die an der Geschichte der Hibakusha Anteil nahmen und mit ihr über die Notwendigkeit der atomaren Abrüstung diskutierten.
GELESEN
Foto: SWR / DIWA Film
GESEHEN
Meister des Todes
Wohlstand ohne Wachstum
In einem Spielfilm setzt Daniel Harrich das Thema Rüstungsexporte für eine breite Öffentlichkeit um.
Naomi Klein analysiert die Zusammenhänge von Klimawandel und Wachstumswahn.
it dabei sind viele bekannte Schauspieler, wie etwa Heiner Lauterbach, Udo Wachtveitl oder Veronica Ferres. Bis zur Premiere auf dem Münchner Filmfest Ende Juni 2015 drang wenig über das Projekt nach außen. Abgekürzt als „MdT – romantische Komödie im Schwarzwald“ und unter Verzicht auf alle Förderungen wurde die Idee unter Federführung des Südwestfunks umgesetzt. Heraus kam eine spannende Story, die sich an die Machenschaften von Heckler und Koch (H&K) und die aktuell die Stuttgarter Staatsanwaltschaft beschäftigenden illegalen Waffenexporten nach Mexiko anlehnt. Und genau wie im Fall von H&K geht es um Gewinne, illegale Machenschaften und Aussteiger, die dieses System nicht weiter decken wollen. Die Firma selbst heißt im Film HSW. Die Thematik soll also nicht auf H&K verkürzt gesehen werden, sondern auch SIG SAUER und Walther, die beiden anderen großen Kleinwaffenproduzenten in Deutschland, sind mit einbezogen.
in Buch mit 700 Seiten zu empfehlen, ist wohl eher eine Zumutung. Trotzdem ermutige ich zur Lektüre von Naomi Kleins „Die Entscheidung Kapitalismus vs. Klima“, weil uns das Buch hilft, „die größten und drängendsten Fragen unserer Zeit“ (Arundhati Roy) zu verstehen. Die Analyse erarbeitete ein großes Team von alternativen WissenschaftlerInnen und JournalistInnen. Sie klären über die Zusammenhänge von Klimawandel und Wachstumswahn, Zerstörung der Erde und kapitalistischem Weltbild, Verelendung und Demokratieabbau auf. Klein berichtet über hoffnungsvolle Erfahrungen bei weltweiten Widerständen gegen zerstörerische Ausbeutungen durch die Fossilindustrien – nicht aus akademischer Distanz, sondern mit spannenden und berührenden Begegnungen vor Ort. Ihre persönlichen Eindrücke verbinden sich mit Sachinformationen über Umweltkatastrophen und schleichende Intoxikationen. Eine wesentliche Stütze der globalen Rettungsbewegungen sind die indigenen Völker mit ihren traditionellen Weltbildern, die auf Regeneration und Erneuerung beruhen statt auf Dominanz und Ausbeutung, auf Kooperation statt Hierarchie. Wohlstand ist ohne Wachstum möglich. Auch Erfolge in Deutschland werden angeführt, wie die Kampagne „Energie in Bürgerhand“ zur Rekommunalisierung der Energieversorgung.
M
E
Etwas unvermittelt beginnt der Film mit einer Schießerei auf das Haus des Aussteigers. Wie sich im Laufe des Films herausstellt, hat er mit seiner Entscheidung, Machenschaften der Firma HSW nicht weiter mitzutragen, fast die gesamte Kleinstadt, die von dieser Rüstungsproduktion lebt und sich wie eine große Familie fühlt, gegen sich aufgebracht. Einzig die Frauen des Films stehen für etwas anderes, für das Gute, für Entwicklung und weniger für Geschäfte mit dem Tod. Viele Themen werden angetippt, so etwa die Lizenzproduktion, das Agieren der Lobbyisten, Absprachen mit Behördenvertretern oder der Einsatz lokaler Politiker für die Waffenindustrie. In einer Szene wird der Protest der „Aktion Aufschrei“ vor dem Firmengelände von H&K aufgegriffen, an einer anderen Stelle Teile aus einer früheren Dokumentation über Waffenexporte nach Mexiko eingebaut. So bleibt der Film immer nahe an der Wirklichkeit und verkommt nicht zu einem reinen Spielfilm mit fiktionalem Charakter. Lösungen hält Harrich nicht bereit. So bleibt die Story bis ans Ende spannend und vermag jede Menge Anregungen zu Diskussionen zu geben. Vielleicht kann sie ja auch die anhängigen Verfahren, durch den von ihr erzeugten zusätzlichen öffentlichen Druck beschleunigen. Auf jeden Fall verschafft der Film der Kampagne „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ Rückenwind.
Die verheerenden Folgen der Fracking- und Schieferölindustrie für Gesundheit und Landschaft belegt die Autorin detailliert. Der Emissionshandel, das irrsinnige Geo-Engineering, die globale Vermüllung, die völkerrechtlichen Blockaden der indigenen Rechte erklärt und kritisiert sie. Der Extraktivismus, mit dem potentielle Gifte wie Kohle, Öl, Uran, Kadmium, Quecksilber der Erde entrissen werden, basiere auf einem patriarchalen Denkmodell. Mich beeindruckt besonders, wie Klein die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit, demokratische Wirtschaftsstrukturen und globale Kooperation, also die Systemalternativen mit der Klimakrise und der Bewahrung einer natürlichen Umwelt in Zusammenhang bringt. Der „Genesungsplan für die Erde“ wird konkretisiert: Nur eine neue Weltsicht auf existentielle Rechte wie sauberes Wasser kann die massive Mobilisierung von unten so stärken, dass wir uns von der alles erstickenden Ideologie des freien Marktes verabschieden können. Naomi Klein: Die Entscheidung Kapitalismus vs. Klima. S. Fischer Verlag, 2015, 704 S., 26,99 €, ISBN: 978-3-10-002231-8
Daniel Harrich: Meister des Todes, Spielfilm, 90 Min., D 2015 – läuft am 23. September 2015 um 20:15 Uhr im Ersten.
Manfred Lotze
Martin Pilgram (Pax Christi) 32
GEDRUCKT
TERMINE
IPPNW-Akzente: Krieg in der Ukraine
SEPTEMBER
Frieden in Europa – nur mit ziviler Konfliktbearbeitung
Der Krieg hat nicht nur katastrophale Folgen für die Menschen in der Ukraine, sondern auch für den Frieden in Europa und die internationalen Beziehungen. Die ärztliche Friedensorganisation IPPNW will mit diesem IPPNW-Akzente einen Ausschnitt aus Einschätzungen innerhalb der Friedensbewegung geben und damit zur Diskussion anregen. Diese Debatten können helfen, Handlungsoptionen zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln. Die Textsammlung soll einen Beitrag leisten zu Aktionen für den Frieden in der Ukraine und gegen die Gefahr der weiteren Ausweitung des Krieges. Mit Artikeln von: Susanne Grabenhorst, Xanthe Hall, Andreas Buro, Dieter Deiseroth, Bernd Clasen, Reiner Braun sowie Erklärungen des IPPNW-Vorstands und des IPPNW-Arbeitskreises Süd-Nord. 28 Seiten DIN A4, Preis: 5 Euro pro Heft (inkl. 7 % MWst) Zum Anschauen unter: issuu.com/ippnw – Bestellen unter: shop.ipppnw.de
26.9. Stopp Ramstein: Kein Drohnenkrieg! Demonstration und Kundgebung vor der Airbase Ramstein. www.ramstein-kampagne.eu 24.-30.9 International Uranium Film Festival, Kino Brotfabrik Berlin
OKTOBER 2.-4.10. IPPNW-Kongress: Unser Rezept für Frieden: Prävention, Saalbau Gallus, Frankfurt am Main 07.10.-15.11. Ausstellung „Hibakusha Weltweit“, Gießen 12.-23.10. Hiroshima-Nagasaki-Ausstellung, Hamburg 30.10. Bundesweiter Aktionstag zum Weltspartag: „Spar Dir den Atomkrieg“
NOVEMBER 16.-19.11. Nuklearisierung Afrikas, Symposium in Johannesburg
DEZEMBER
GEPLANT Das nächste Heft erscheint im Dezember 2015. Das Schwerpunktthema ist:
10.12. 30. Jahrestag der Friedensnobelpreisverleihung an die IPPNW
Globalisierung, Flüchtlinge und Gesundheit Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 144/Dezember 2015 ist der 31. Oktober 2015. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de
Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-
kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der
tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-
Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke
wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland
bedürfen der schriftlichen Genehmigung.
Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika
Redaktionsschluss für das nächste Heft:
Wilmen, Regine Ratke Freie Mitarbeit: Ava Matheis
31. Oktober 2015
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Das Forum erscheint viermal im Jahr. Der Be-
Gabriele
zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag
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vat oder IPPNW
Krone-Schmalz;
33
te! Save the Da FEBRUAR 26.–28.02.2016 30 Jahre Tschernobyl 5 Jahre Fukushima: Kongress in Berlin
G EFRAGT
6 Fragen an … Gabriele Krone-Schmalz Historikerin und Politikwissenschaftlerin, freie Journalistin und ehemalige Russlandkorrespondentin der ARD
1
Sie bezeichnen die NATO-Osterweiterung als eklatanten Bruch der damaligen Vereinbarungen. Wie begründen Sie diesen Vorwurf? Am 9. Februar 1990 hat der damalige US-amerikanische Außenminister James Baker gegenüber seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadze und Präsident Gorbatschow von „eisenfesten Garantien“ gesprochen, dass weder die Jurisdiktion noch die Streitkräfte der NATO nach Osten verschoben werden, wenn Moskau mit der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands einverstanden sei. Doch die NATO-Osterweiterung hat stattgefunden und soll weiterhin stattfinden. Auf der Agenda der USA steht das seit 1993.
Wir sind es unseren Kindern schuldig, dass sich unsere politischen Entscheidungen an der Erhaltung des Friedens orientieren und niemals an parteipolitischer Profilierung oder langlebigen Klischees. Diese sind vielmehr zu entlarven, notfalls gegen all das, was als politisch korrekt gilt.
5
Sie treten für das von Gorbatschow propagierte gemeinsame Europäische Haus ein. Genau. Es ist im ureigenen Interesse der EU, Russland als Partner zu haben. Wer diese Chance vertut, riskiert, dass Europa im Machtkampf künftiger Großmächte zerrieben wird. Als Willy Brandt, der zusammen mit Egon Bahr Historisches in der deutschen Ostpolitik geleistet hat, 1989 in Moskau die Ehrendoktorwürde der Lomonossow-Universität zuteil wurde, hat er Michail Gorbatschow gefragt, was er sich in diesen schwierigen Zeiten vom Westen wünsche. Gorbatschows Antwort: Verständnis. Ein solches Verständnis sollte im Gedenken an die 27 Millionen Menschen der Sowjetunion, die durch den deutschen Faschismus ihr Leben verloren haben, eine Selbstverständlichkeit sein.
2
Gibt es Anzeichen dafür, dass sich daran etwas ändert? Nein, ganz im Gegenteil. Im Bewusstsein der Menschen in Russland ist diese Angelegenheit nach wie vor mit einem Wortbruch verbunden. Im Westen ist das mehr oder weniger vergessen. Aber mit der NATO-Osterweiterung hat das mühsam aufgebaute Vertrauen erste Risse bekommen. Das Gebot der Stunde damals wäre der Aufbau einer Sicherheitsarchitektur gewesen, in die Russland einbezogen ist. Das wurde – aus welchen Gründen auch immer – versäumt.
6
Wie war die öffentliche Reaktion auf ihr aktuelles Buch „Russland verstehen. Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens“ ? Überwältigend. Es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung. Die Rezensionen in den Leitmedien sind – dezent formuliert – gemischt, bei manchen spürt man förmlich die Maxime, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Aber die Reaktion der Leser zeigt zweierlei: das enorme Bedürfnis nach differenzierter Berichterstattung, in der politische Statements analysiert und nicht nachgeplappert werden und in der man die Entscheidung den Medienkonsumenten überlässt, wer die Guten und die Bösen sind. Das zweite ist die große Dankbarkeit, dass sich jemand aufrafft, gegen den Strom, gegen den „Mainstream“, zu schwimmen. Mein Buch ist eine belastbare Diskussionsbasis. Es muss ja einen Grund haben, dass es so lange an der Spitze der Bestsellerlisten zu finden ist.
3
Ist die Sowjetunion damals auf die EU zugegangen? Ende der achtziger Jahre öffnete sich die Sowjetunion in ungeahnter Weise und ging vertrauensvoll auf den Westen zu. Ganz besonders auf Deutschland. Dieses Verhalten kann man gar nicht hoch genug einschätzen angesichts der Tatsache, dass Hitler-Deutschland die Sowjetunion überfallen und mit einem beispiellosen Vernichtungskrieg überzogen hat. Statt kollektiver Schuldzuweisung und Unversöhnlichkeit, Verzeihen für ein ganzes Volk, in dem die Täter noch nicht ausgestorben waren. Mir fällt kein anderes Land als die Sowjetunion bzw. Russland ein, wo sich ein vergleichbares Verhalten so ausgeprägt gezeigt hätte.
4
Im Mai haben wir den 70. Jahrestag der Befreiung begangen. Vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts zwischen der NATO und Russland – was ist Ihre Lehre aus dem zweiten Weltkrieg? Die Chance für einen ehrlichen und dauerhaften Frieden wahrzunehmen und zu ergreifen, ist weiterhin – trotz aller derzeitigen Umstände – eine moralisch-historische Verpflichtung.
Prof. Dr. Gabriele Krone Schmalz wird am 2. Oktober 2015 um 19 Uhr den Eröffnungsvortrag auf der IPPNW-Friedenskonferenz in Frankfurt/Main halten – im Anschluss Diskussion mit der Referentin. Infos unter: www.kultur-des-friedens.de 34
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Die beste Zukunftsanlage ist die Erhaltung der Umwelt. Übliche Geldanlagen ziehen ihre Rendite aus der Zerstörung der Umwelt. Im großen Stil werden die Wälder gerodet, die Meere geplündert, die Gewäser verseucht, die Luft verpestet. ProSolidar verzichtet auf Rendite. Und finanziert stattdessen Einsatz für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Frieden sowie für Konzernkritik.
Es gilt das Prinzip: Leben statt Profit. Ja, ich zeiche eine Einlage bei ProSolidar
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� Festeinlage (ab 500 Euro) .................... Euro � Spareinlage (mind. 20 Euro/mtl.) ........... Euro Bitte deutlich schreiben (falls Platz nicht reicht, bitte Extrablatt beifügen)
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Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrages verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen. Gläubiger-ID: DE08PRO00000729847
� Bitte schickt mir kostenlos und unverbindlich weitere Informationen.
Kein Drohnenkrieg! 25.-27. September 2015 Der US-Militärstützpunkt Ramstein ist ein zentrales Drehkreuz für die Vorbereitung und Durchführung völkerrechtswidriger Angriffskriege. Die meisten tödlichen Einsätze US-amerikanischer Kampfdrohnen, unter anderem im Irak, in Afghanistan, Pakistan, Jemen, Syrien und in Afrika, werden über die Satellitenrelaisstation auf der US-Airbase Ramstein durchgeführt. US-Drohnenpiloten auf verschiedensten Militärbasen nutzen Ramstein für die Steuerung der Killerdrohnen in weltweiten und illegalen Kriegseinsätzen. Hier analysieren und aktualisieren ca. 650 MitarbeiterInnen die Überwachungsdaten der vermeintlichen Zielpersonen und leiten diese dann weiter. - Diskussionsveranstaltung: 25.09. 18-21 Uhr,
Pauluskirche Kaiserslautern
- Demonstration & Kundgebung am 26.09.
12 Uhr, Beginn am Mahnmal Ramstein 1988
- Camp Stopp Ramstein: 25.-27.09. in Otterberg - Aktionsberatung: 26.09. ab 17 Uhr in Otterberg
Unterzeichnet den Aufruf! Infos und Aktionen unter: www.ramstein-kampagne.eu
Internationaler IPPNW-Kongress
5 Jahre Fukushima – 30 Jahre Tschernobyl 26. – 28. 02. 2016 | Urania Berlin
Eine aktuelle Bilanz der Folgen für Umwelt und Gesundheit Taking Stock of Ecological and Health Damages tschernobylkongress.de | chernobylcongress.org Fotos: Tschernobyl: Carl Montgomery / CC BY 2.0 – Fukushima: Ian Thomas Ash
IPPNW – Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. Körtestraße 10, 10967 Berlin, Germany
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