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das magazin der ippnw nr145 märz2016 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
Foto: © Arkadiusz Podniesinszki
- Syrien: Lokale Waffenstillstände - Krieg gegen die Kurden - Sonderbeilage zum Tod von Andreas Buro
5 Jahre Leben mit Fukushima – 30 Jahre Leben mit Tschernobyl
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EDITORIAL Ewald Feige arbeitet in der IPPNWGeschäftsstelle und ist im Arbeitskreis Atomenergie aktiv.
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or 30 Jahren, am 26. April 1986, fand die Mär von der „sicheren Atomkraft“ mit dem Super-GAU von Tschernobyl ein abruptes Ende. Millionen Menschen wurden zu Opfern radioaktiver Verstrahlung. Auch das Reaktorunglück von Fukushima jährt sich zum fünften Mal. In diesem Heft stellen wir die Ergebnisse des IPPNW-Reports zu den gesundheitlichen Folgen dieser Atomkatastrophen vor. Die neu erschienene Studie von Dr. Angelika Claußen und Dr. Alex Rosen fasst die medizinischen Konsequenzen der Unfälle zusammen. Die medizinisch-biologische Bewertung der Strahlenfolgen des Tschernobyl-Unglücks ist bis heute eine kontroverse Angelegenheit, da die Atomlobby jegliche atomkritische Erkenntnisse negiert und die Deutungshoheit über die Gefahren beansprucht. Angelika Claußen widmet sich daher der Darstellung über die umfangreiche aktuelle internationale Studienlage, die sich mit den gesundheitlichen Folgen des Unfalls in Tschernobyl befassen. Wie verheerend auch die sozialen Folgen des Unglücks für die Menschen in der Region sind, macht die weißrussische Ärztin Valentina Smolnikova aus Gomel in ihrem Beitrag klar. Alex Rosen fasst die ersten Ergebnisse medizinischer Untersuchungen in Japan zusammen. Die Folgen der Katastrophe erstreckten sich weit über die Grenzen der Präfektur Fukushima hinaus. Millionen von Menschen wurden erhöhten Strahlendosen ausgesetzt – vor allem in den Regionen mit stärkerem radioaktivem Niederschlag, aber auch in weniger belasteten Teilen des Landes. Die japanische Journalistin Mako Oshidori hat vor Ort investigative Recherchen zum Super-GAU, zur Verstrahlung der Umwelt und zur Situation der KraftwerksarbeiterInnen durchgeführt. Die Fotos zu diesem Schwerpunkt stammen von dem polnischen Fotografen Arkadiusz Podniesinky, der regelmäßig in der Region Tschernobyl recherchiert hat und im Frühjahr 2016 seine zweite journalistische Reise nach Japan unternimmt. Er hat unter anderem evakuierte Bewohner der „orangenen“ und „roten“ Zone begleitet, die nicht dauerhaft in ihre Häuser zurückkehren können. Ewald Feige 3
INHALT Der IS schießt deutsch: Waffen von Heckler & Koch morden in aller Welt
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THEMEN Der Islamische Staat schießt deutsch.......................................................8 Syrien: Lokale Waffenstillstände...............................................................10 Krieg gegen die Kurden................................................................................. 12 Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen.......................................14 Der Kongress „Medizin und Gewissen“: Ein Interview.................16 Büchel ist überall – atomwaffenfrei.jetzt............................................ 18
SCHWERPUNKT Lokale Waffenstillstände: Hoffen auf Frieden in Syrien:
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In der roten Zone: Das Schicksal der Evakuierten........................ 20 Fukushima: Die gesundheitlichen Folgen .......................................... 22 Fukushima: Der Super-GAU geht weiter...............................................24
Foto: Joseph Bashoura, Aleppo
30 Jahre Leben mit Tschernobyl.............................................................. 26 Das leise Tschernobyl...................................................................................... 28
WELT Die Wahrheit aufdecken: „Nuclearisation of Africa“.................... 30
RUBRIKEN Schwerpunkt: 5 Jahre Fukushima – 30 Jahre Tschernobyl
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Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6
Foto: © Arkadiusz Podniesinski
Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33
MEINUNG
Günter Burkhardt ist Geschäftsführer von Pro Asyl.
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Bereits im November 2015 legte die Bundesregierung einen ersten Gesetzentwurf zum Asylpaket II vor. Inzwischen wurde er sogar verschärft und soll jetzt im Eiltempo durch den Bundestag gejagt werden.
as Gesetz soll Asylverfahren beschleunigen. Doch was die Bundesregierung damit eigentlich beschleunigt, ist die Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien. In Schnellverfahren sollen bestimmte Flüchtlingsgruppen innerhalb einer Woche ein Asylverfahren durchlaufen und dann innerhalb von drei Wochen abgeschoben werden können – fernab der Ballungsgebiete, ohne adäquaten Zugang zu unabhängiger Rechtsberatung und effektiver anwaltlicher Vertretung. Anders als die Bundesregierung suggeriert, betreffen die geplanten Schnellverfahren nicht nur einen kleinen Teil der Asylsuchenden. Die Kriterien, wer das Schnellverfahren durchlaufen muss, können so angelegt werden, dass sie nahezu jeden Flüchtling betreffen. Auch Folgeanträge sollen im Schnellverfahren abgewickelt werden. In der Praxis kann dies Menschen treffen, die nach jahrelanger Integration in Deutschland in die Aufnahmezentren verbracht werden, um dort erneut einen Asylantrag zu stellen, weil sich die Situation in ihren Herkunftsländern verändert hat. Der Aufenthalt in diesen Zentren ist während des Schnellverfahrens Pflicht. Wer in dieser Zeit beispielsweise seine Freunde oder Bekannten in der nächsten Ortschaft besucht, riskiert die Einstellung seines Asylverfahrens – eine völlig unverhältnismäßige Sanktion.
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as Asylpaket macht auch vor Familien nicht halt. Der Anspruch auf Familienzusammenführung wird für subsidiär Geschützte zwei Jahre ausgesetzt. Das sind all jene Flüchtlinge, die nicht individuell verfolgt werden, aber in ihrer Heimat Folter, Todesstrafe oder unmenschliche Behandlung befürchten müssen. In der Praxis können Familien so bis zu vier oder fünf Jahren auseinandergerissen werden. In dieser Zeit sind sie in den Verfolgerstaaten weiterhin Gefahren ausgesetzt. Viele Familienangehörige, auch Kinder, werden die Lebensgefahr der Flucht über die Ägäis und die Balkan-Route auf sich nehmen. Schon jetzt sind laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR rund zwei Drittel der Ankommenden auf den griechischen Inseln Frauen und Kinder.
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N ACHRICHTEN
Body Count im Menschenrechtsausschuss
US-Regierung testet neue Atomwaffe
Krieg gegen die Kurden beenden
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enn das Recht auf Leben das wichtigste Menschenrecht ist, stellt der sogenannte „Krieg gegen den Terror“ ein massives Menschenrechtsproblem dar und muss beendet werden. Das war die Botschaft, die eine Delegation von IPPNW-Ärzten und Dr. Hans-Christian Graf von Sponeck, ehemaliger UN-Koordinator für den Irak, dem Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages überbrachten. Der Aussschuss-Vorsitzende Michal Brand (CDU) hatte Mitte Januar 2016 zu einem Gespräch über die erschreckende Zahl von weit mehr als einer Million Todesopfern dieses inzwischen über 14 Jahre andauernden Krieges eingeladen. Die IPPNW-Studie „Body Count – Opferzahlen nach 10 Jahren „Krieg gegen den Terror“ – Afghanistan, Pakistan, Irak“ ist die weltweit erste Metaanalyse, die die wichtigsten diesbezüglichen Erhebungen evaluiert und ihre Ergebnisse zusammenführt. Dr. Jens Wagner (IPPNW) überreichte den Abgeordneten aus mehreren Fraktionen Druckexemplare der im September 2015 auch auf Deutsch erschienenen internationalen Ausgabe der Studie, die von der deutschen, kanadischen und US-Sektion gemeinsam herausgegeben wurde. Laut Dr. Helmut Lohrer, International Councillor, muss westliche Interessenpolitik angesichts dieser Ergebnisse jetzt auch in Syrien in den Hintergrund treten. „Die Weiterführung des ‚War on Terror‘ und weitere Bombardierungen vergrößern nur den immensen Schaden“, so Lohrer.
aut der New York Times vom 12. Januar 2016 hat die amerikanische Regierung in Nevada einen Flugtest mit einer modernisierten Atomwaffe durchgeführt. Die Nuklearwaffe B61-12 verfügt über eine präzisere Zielerfassung und kann in ihrer Sprengkraft gesteuert werden. Der Flugtest wird auch als Reaktion auf den von Nordkorea am 6. Januar 2016 durchgeführten Atomtest gedeutet. Sowohl zivile Organisationen als auch ehemalige Mitglieder der Regierung von Präsident Obama haben die Entwicklung der B61-12 scharf kritisiert. General James E. Cartwright, ein langjähriger hochrangiger Militärberater, befürchtet, dass eine zielgenaue Atomwaffe mit „geringerer“ Sprengkraft im Falle eines militärischen Konflikts mit größerer Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich eingesetzt werden könne. Ein ehemaliger Vorsitzender des Nuclear Weapons Council bezeichnete die Anschaffung modernisierter Waffen des Typs B61-12 als „unnötig und unbezahlbar“. Die Weiterentwicklung von Atomwaffen unter Präsident Obama widerspricht unterdessen dem bereits 2009 geäußertem Versprechen, sich national und international für die atomare Abrüstung einzusetzen. Dass Russland den jüngsten Flugtest als „offene Provokation“ bezeichnet hat, spricht zudem dafür, dass ein solcher Test ein Hindernis auf dem Weg zu Abrüstungsverhandlungen zwischen den Atommächten darstellt.
Mehr Infos: kurzlink.de/body-count 6
ie türkische Regierung hat eine zweimonatige Militäraktion in der Stadt Cizre für beendet erklärt. Die Ausgangssperre bleibt allerdings bis auf Weiteres in Kraft. In Cizre hatten sich Soldaten und Polizisten seit Dezember 2015 Häuserkämpfe mit PKK-Anhängern geliefert. Dabei wurden auch schwere Waffen eingesetzt und ganze Straßenzüge zerstört. Die BewohnerInnen waren wochenlang von der Versorgung mit Wasser und Strom abgeschnitten. Die Kurdenpartei HDP wirft der Regierung vor, in Cizre ein Massaker an rund 60 Menschen verübt zu haben, die in einem Keller Schutz vor den Kämpfen suchten. Nach übereinstimmenden Aussagen mehrerer Menschenrechtsgruppen, darunter die Türkische Menschenrechtsstiftung, konnten mehr als zwanzig zum Teil schwer verletzte Personen und einige Tote in einem Keller in Cizre wegen des schweren Granatbeschusses der türkischen Sicherheitskräfte nicht geborgen und ins Krankenhaus gebracht werden. Die IPPNW hatte in einem Brief an Bundesregierung und Bundesärztekammer gefordert, dass die elementaren Regeln des Kriegsrechts auch im Bürgerkrieg im Südosten der Türkei von allen Seiten eingehalten und verwundete Zivilisten und Kombattanten medizinisch versorgt werden müssen. Nach Armeeangaben wurden bei den Gefechten in Cizre, Sur und Silopi mehr als 850 PKK-Kämpfer getötet. Laut HDP kamen mindestens 277 Menschen ums Leben, die bisher nicht als Kämpfer identifiziert wurden.
N ACHRICHTEN
NORDKOREA
Vernachlässigtes Thema Nr. 1: Finanzierung von Atomwaffen
Podiumsdiskussion: „Wer Waffen sät, wird Flüchtlinge ernten“
IPPNW verurteilt erneuten Atomtest Nordkoreas
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eutschlandfunk und die Initiative Nachrichtenaufklärung haben Mitte Februar 2016 die Top Ten der Themen präsentiert, über die 2015 in den Medien nicht ausreichend berichtet wurde. Die Finanzierung von Atomwaffen belegte dabei den ersten Platz: Zwar investieren deutsche Finanzinstitute immer noch im großen Stil in Konzerne, die in die Herstellung, Entwicklung und Instandhaltung von Atomwaffen verwickelt sind. Trotzdem taucht dieses Thema in den Nachrichten so gut wie gar nicht auf. Dies macht es den betreffenden Akteuren umso leichter, weiterhin auf Kosten der Sicherheit von Mensch und Umwelt Profite zu machen. Die Initiative Nachrichtenaufklärung hatte für ihre Recherche Alex Rosen und Xanthe Hall sowie Martin Hinrichs von ICAN Deutschland interviewt.
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Laut der Studie „Don’t Bank on the Bomb“ aus dem letzten Jahr profitieren die deutschen Finanzinstitute von der nuklearen Aufrüstung, die in den Atomwaffenstaaten betrieben wird. So investierten deutsche Institute etwa 25 Millionen US-Dollar in die Firma Boeing, die unter anderem für die Herstellung von amerikanischen Langstreckenraketen verantwortlich ist. Außerdem baut Boeing das Heckteil der neuen B-61-12-Atombomben, die voraussichtlich ab 2020 in Deutschland stationiert werden sollen und damit die bereits gelagerten Bomben ersetzen werden.
Auf dem Podium saßen zudem Flüchtlingsvertreter aus Syrien und Nigeria. Der Flüchtling und Friedensaktivist aus Nigeria erklärte unter großem Applaus: „Wir sind hier, weil europäische Politik die Fluchtursachen wie Bewaffnung und Umweltzerstörung selbst mitgeschaffen hat. Die Geflüchteten berichteten einerseits vom Weg ihrer Flucht und mahnten andererseits an, dass aus ihrer Sicht die Industrienationen, anstatt in die Bewaffnung von Konfliktparteien, in humanitäre Hilfe und gelingende Integration investieren sollten.
Mehr unter: www.atombombengeschaeft.de
in breites Bündnis von Friedens- und Hilfsorganisationen wie „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“ – darunter auch die IPPNW – organisierte am 27. Januar 2016 eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Rüstungsexport und Waffenhandel: „Wer Waffen sät, erntet Flüchtlinge“. Christine Hoffmann, pax christi, diskutierte mit Prof. Heinz-Jochen Zenker, Vorsitzender von „Ärzte der Welt“, Prof. Peter Grottian, „Legt den Leo an die Kette“, BITS-Geschäftsführer Otfried Nassauer, Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Ute Finckh-Krämer, SPD sowie dem evangelischen Flüchtlingspfarrer Bernhard Fricke aus Potsdam über die Unfähigkeit der deutschen Regierung, einen mutigen politischen Alleingang zu wagen im Hinblick auf eine Beendigung der Waffenexporte.
Ausführlicher Blogbericht unter: blog.ippnw.de/?p=1858
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m 6. Januar 2016 hat Nordkoreas Regierung nach eigenen Angaben eine Atomwaffe getestet. Dies wurde durch die Wiener Organisation für den Atomteststoppvertrag CTBTO bestätigt. Welcher Typ nuklearer Waffen getestet wurde, ist unklar, wobei die Regierung Nordkoreas behauptet, es habe sich um eine Wasserstoffbombe gehandelt. Nordkorea führt als einziges Land noch Atomtests durch und hat in den letzten zehn Jahren mehrmals nukleare Waffen getestet. Die IPPNW hat den nordkoreanischen Atomtest scharf verurteilt. Jeder Atomtest stelle „eine schwere radioaktive Belastung für die Umwelt und eine Gefährdung des Weltfriedens“ dar. Der vor 20 Jahren abgeschlossene Atomteststoppvertrag, der Staaten verpflichtet, auf Tests atomarer Waffen zu verzichten, ist noch immer von vielen Staaten nicht unterschrieben oder nicht ratifiziert worden. Die IPPNW hat alle Staaten erneut zur Ratifizierung des Vertrags aufgerufen, so dass er international bindend in Kraft treten kann. Für Xanthe Hall, Atomwaffenexpertin der deutschen IPPNW, ist dieser Vertrag ein Schritt auf dem Weg zu einem weltweiten Verbot von Atomwafffen. Hall mahnte zusätzlich an, die diplomatischen Gespräche mit Nordkorea wieder aufzunehmen. Das Land dürfe nicht länger „die ganze Welt für seine Forderungen in Geiselhaft“ nehmen, indem es die atomare Karte ausspiele.
FRIEDEN
Der Islamische Staat schießt deutsch Warum Terrororganisationen rund um den Globus vieltausendfach mit Heckler&Koch-Waffen morden Foto: Angelikakönnen Claußen / IPPNW
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ufgrund ihrer Treffgenauigkeit und Kadenz, Reichweite und Robustheit schätzen Terroristinnen und Terroristen in aller Welt die handlichen Kriegswaffen von Heckler & Koch (H & K). Dabei waren und sind es primär nicht die legal erfolgten Direktexporte Hunderttausender von Sturm-, Maschinenund Scharfschützengewehren sowie Maschinenpistolen des Oberndorfer Kleinwaffenproduzenten und -exporteurs, die den Weltwaffenmarkt überflutet und Terrormilizen, Guerilla- und staatlichen Armeeeinheiten den massenhaften Zugang zu den H&K-Waffen ermöglicht haben.
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nter dem Bruch der Endverbleibserklärungen (Enduser Certificates), die die Lizenznehmer den jeweils genehmigenden Bundesregierungen gegenüber unterzeichnet haben, lieferten Staaten wie Saudi-Arabien oder die Türkei widerrechtlich G3 oder MP5 in unbekannter Stückzahl an „befreundete Staaten“. Illegalerweise tauchten in saudischer Lizenz bei der Firma MIC gefertigte G3-Schnellfeuergewehre tausendfach in den Bürgerkriegsländern Sudan und Somalia auf. Türkische MP5-Maschinenpistolen wurden – widerrechtlich – in Länder des Mittleren Ostens und nach Indonesien exportiert.
Vielmehr haben sich die in den 60er, 70er und 80er Jahren erfolgten mindestens 15 Lizenzvergaben für das H&K-Schnellfeuergewehr G3 und mindestens sieben Lizenzvergaben für die H & K-Maschinenpistole MP5 in vielfacher Hinsicht dramatisch ausgewirkt. In aller Welt wurden Waffenfabriken zum Nachbau der H&K-Waffen errichtet.
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eit den G3-Lizenzvergaben an menschenrechtsverletzende bzw. kriegsführende Staaten wie den Iran, SaudiArabien, die Türkei, Pakistan oder Mexiko boomt der Handel mit den Heckler&KochWaffen. Laut Schätzungen – evaluierbare Zahlen liegen nicht vor – ist das G3-Gewehr (nach der Kalaschnikow) das weltweit zweitmeist verbreitete Gewehr. Rund 15 Millionen dieser H&K-Sturmgewehre befinden sich zur Bewachung und Bedrohung, Abschreckung und Erschießung im Einsatz in Kriegen und Bürgerkriegen.
aus Beständen der Bundeswehr mit sechs Millionen Schuss Munition, 40 MG3-Maschinengewehre mit einer Million Schuss Munition, 8.000 P1-Pistolen mit einer Million Schuss Munition, 30 Panzerabwehrwaffen MILAN mit 500 Lenkflugkörpern, 200 Panzerfäuste-3 mit 2.500 Patronen, 40 Schwere Panzerfäuste mit 1.000 Patronen, 100 Signalpistolen mit 4.000 Patronen sowie 10.000 Handgranaten in das Bürgerkriegsland Irak auszuliefern. Empfänger dieser Kriegswaffen waren die Peschmerga, Einheiten irakischer Kurden im Kampf gegen den IS. Begründet wurden die wider das Waffenembargo der Vereinten Nationen erfolgenden Lieferungen mit dem vorbildlichen Einsatz der Peschmerga bei der Rettung von Jesidinnen und Jesiden. Realiter hatten diese Aufgabe kämpfende Einheiten der türkischen PKK geleistet, doch diese standen und stehen auf der Terrorliste Deutschlands und der USA. Bereits damals warnte ich nachdrücklich davor, dass es eine Frage der Zeit sei, bis die ersten der Bundeswehrwaffen in die Hände des IS gelangen und eingesetzt werden würden.
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Im August 2014 entschieden Bundeskanzlerin Merkel und vier MinisterInnen von CDU/CSU und SPD in interner Runde, 16.000 G3- und G36-Sturmgewehre 8
nd längst ist offenbar: Der IS schießt und mordet deutsch: mit G3- und G36Sturmgewehren, entwickelt von Heckler & Koch, mit MG3-Maschinengewehren von Rheinmetall, mit Walther-P99Pistolen und Walther-KKF-Gewehren von Carl Walther, mit MILAN-Raketen des deutsch-französischen Waffenproduzenten MBDA und mit besagten HOT-Lenkflugkörpern der heutigen Airbus-Gruppe.
SAUDISCHE SOLDATEN BEI BEI EINER PARADE – MIT DABEI: DAS G36 VON HECKLER UND KOCH Foto: Al Jazeera English / Omar Chatriwala, CC BY-SA 2.0
Waffen wie diese, so der Vorwurf von Amnesty International, würden die zahlreichen Gräueltaten des IS erst ermöglichen. In erheblichem Maße waren Waffen bei der Eroberung der Stadt Mossul im Sommer 2014 in die Hände des IS gefallen. Desgleichen erbrachten auch die Eroberungen von Armee- und Polizeistützpunkten in Falludscha, Ramadi und Tikrit Beutewaffen in großem Umfang.
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in Rechercheteam des NDR und des WDR wies im Januar 2016 nach, dass Sturmgewehre und Pistolen aus Beständen der Bundeswehr, die die Bundesregierung an die kurdische Autonomieregierung im Norden des Irak transferiert hatte, mittlerweile auf Waffenmärkten feilgeboten werden. Auf dem Waffenmarkt von Erbil präsentierte ein Händler Sturmgewehre von Heckler & Koch. Unter der Typenbezeichnung G3, der Seriennummer und dem Herstellerkürzel von „HK“ war auch das Kürzel „Bw“ für Bundeswehr erkennbar. Kaum ein Streitgespräch, in dem nicht ein Vertreter der Bundesregierung oder des für die Waffenexportkontrolle zuständigen Bundeswirtschaftsministeriums gebetsmühlenartig die Behauptung ins Feld führt, Deutschland beliefere ausschließlich „die Guten“ mit Kriegswaffen. Diese verbale Vorgabe ist schlichtweg unhaltbar. Denn Waffen wandern. Diese Erkenntnis ist so alt wie die Rüstungsexportpolitik selbst.
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inzu kommt die Jahrzehnte währende gezielte Kooperation wechselnder Bundesregierungen bei anfangs legalen
Waffentransfers mit befreundeten Staaten, wie beispielsweise Pakistan oder SaudiArabien. Deren Sicherheitsdienste und Streitkräfte unterhalten ihrerseits enge Kontakte mit politisch oder religiös nahestehenden Terrororganisationen. Dramatisch sind auch die Folgen der 2008 von der christlich-sozialdemokratischen Bundesregierung unter der Ägide von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesaußenminister Franz-Walter Steinmeier genehmigten Lizenzvergabe für das neue H&K-Sturmgewehr G36 an Saudi-Arabien. Die Prognose ist wenig gewagt: Wieder werden über lange Jahre hinweg H&KSturmgewehre unter Bruch des Enduser Certificate illegal in andere Länder reexportiert. Der Anfang ist gemacht: Jüngst wurden kistenweise H & K-Sturmgewehre von der saudischen Luftwaffe über dem Jemen abgeworfen. Zur Unterstützung jemenitischer Rebellen, die sich – mit Rückendeckung aus Riad – im Krieg mit der jemenitischen Regierung befinden. -
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Wer Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete exportiert, nimmt deren – zumeist illegalen – Re-Export an menschenrechtsverletzende Regimes und Terroristen zumindest billigend in Kauf. Endverbleibserklärungen sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt werden, eine unangekündigte VorOrt-Kontrolle fand und findet bislang nicht statt. De facto helfen nur strikt eingehaltene und überwachte Rüstungsexportverbote und Waffenembargos.
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mmerhin zeichnet sich zurzeit ein bedeutender Lichtblick bei der juristischen Sanktionierung illegalen Waffenhandels ab: Die erste meiner Strafanzeigen gegen Heckler & Koch-Beschäftigte vom April 2010 führte im November 2015 endlich zur Anklageerhebung seitens der Staatsanwaltschaft Stuttgart gegenüber sechs früheren H & K-Mitarbeitern. Unter ihnen befinden sich auch zwei vormalige Geschäftsführer. Die öffentlichen Prozesse sollen im Frühjahr am Landgericht Stuttgart stattfinden. Friedensbewegte Prozessbeobachterinnen und -beobachter sind herzlich willkommen. -
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ie wenig die Bundesregierung aus den dramatischen Fehlentwicklungen gelernt hat, belegen die bis heute fort- Die Langfassung dieses Artikels mit dauernden Waffenexportgenehmigungen Quellenangaben finden Sie unter: an menschenrechtsverletzende Staaten. kurzlink.de/IS-schiesst-deutsch Folgenschwer waren die – pars pro toto zu erwähnenden – Transfers von mindestens 8.000 (bzw. bis zu 19.000) G36-GeJürgen Grässlin wehren nach Mexiko zwischen 2005 und ist Sprecher 2009. Rund die Hälfte davon gelangte mit der Kampagne Wissen führender H & K-MitarbeiterInnen „Aktion Aufschrei widerrechtlich in verbotene Unruhepro- – Stoppt den Waffenhandel!“ und vinzen wie Chiapas, Chiahuahua, Guerrero Bundessprecher der DFG-VK. und Jalisco. -
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Lokale Waffenstillstände Die Menschen in Syrien hoffen auf ein Ende des Krieges
Fotos Al Waer: Karin Leukeefeld
FRIEDEN
AL WAER: LIEFERUNG VON SCHULBÜCHERN
Die innersyrischen Gespräche in Genf haben mit Startschwierigkeiten zu kämpfen, weil die regionalen und internationalen Akteure in Syrien sich über die Teilnehmenden nicht einig sind. In Syrien schaffen die SyrerInnen derweil immer mehr lokale Waffenstillstände, die den zivilen Alltag erleichtern. Um Aleppo tobt ein heftiger Kampf.
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achdem die Genfer Gespräche vertagt wurden, versammelten sich die „Interessensgruppen“ auf Initiative der russischen Regierung am Rande der NATO-Sicherheitskonferenz, um über eine Fortsetzung der Genfer Syrien-Gespräche, die humanitäre Lage in Syrien und einen Waffenstillstand zu sprechen. Dieses Treffen der „Stakeholder“ im „Wiener Format“ zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass kein einziger syrischer Vertreter der Gruppe angehört. Man einigte sich im Prinzip auf die Einhaltung der UN-Sicherheitsratsresolution 2254: Ein von den Syrern geführter politischer Prozess, der im Zuge der Genfer Gespräche ausgehandelt werden soll. Dazu gehören ein Waffenstillstand, die humanitäre Versorgung der Bevölkerung, eine Übergangsregierung, eine neue Verfassung und Neuwahlen. Für die Umsetzung sollten alle versammelten Minister Druck auf die in Syrien kämpfenden Parteien ausüben, auf die sie Einfluss hätten. Eine Arbeitsgruppe sollte kurzfristige humanitäre Hilfslieferungen in belagerte Gebiete vorbereiten. Eine weitere sollte innerhalb einer Woche die Modalitäten ausarbeiten, um „die Feindseligkeiten landesweit einzudämmen“, hieß es im Abschlusskommuniqué (Text unter: http://shuu.de/tAe). Als Orte, die mit Hilfslieferungen versorgt werden sollten, wurden Deir Ezzor (Grenze Irak-Syrien) sowie Kefraya und Fouah in der Provinz Idlib benannt. Auch Mua-
damiya, Madaya und Kafr Batna im Umland von Damaskus sollen mit Hilfsgütern versorgt werden. Wie sehr die humanitäre Lage in Syrien politisch instrumentalisiert wird, zeigt sich daran, dass Hilfslieferungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) und des Syrischen Arabischen Roten Halbmonds (SARC) die genannten Städte in den letzten Wochen bereits wiederholt erreicht hatten. Auch nach Douma, Jobar und in andere Orte im Umland von Damaskus waren Hilfsgüter geliefert worden. Das blieb in westlichen Medien weitgehend unberichtet, obwohl es eine gute Nachricht war.
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öglicherweise wurde diese für den zivilen Alltag wichtige Entwicklung nicht erwähnt, weil sie die konfrontative Rhetorik von NATO-, westlichen und Golfstaaten konterkariert und unglaubwürdig gemacht hätte. Lokale Vereinbarungen unter den SyrerInnen und Waffenstillstände passen nicht in das Berichtsschema der „Interessensgruppen“, die „moderate Rebellen“ in Syrien unterstützen. Doch es gibt diese kleinen Erfolge, die der Bevölkerung Luft zum Atmen und lange vermissten Bewegungsspielraum verschaffen. Zabadani, Qadam, Jarmuk, Haj al Aswat, Tell – die Liste der Namen wird fast täglich länger. Wenn die Waffen schweigen, wird die ganze humanitäre, medizinische und wirtschaftliche Not sichtbar. Für die Menschen ist es ein „erster Schritt“, um ihr Leben neu aufzubauen.
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Die lokalen Waffenstillstände werden von „Versöhnungskomitees“ vorbereitet, die aus LehrerInnenn und ÄrztInnen, Geistlichen und anderen Personen bestehen, denen die lokale Bevölkerung vertraut. Sie nehmen Kontakt zu den Geheimdiensten und der Armee auf staatlicher Seite sowie mit den Kommandeuren von Kampfverbänden auf. Unterstützt werden sie von der UN-Mission in Damaskus und vom syrischen Ministerium für nationale Versöhnung, das von einer Oppositionspartei geleitet wird, der Syrischen Sozialen Nationalistischen Partei (SSNP).
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er Prozess dauert oft Monate oder auch Jahre. Das Ergebnis sieht meist folgendermaßen aus: Junge Syrer, die in den letzten Jahren für den Kampf mit einer Waffe bezahlt wurden, legen die Waffen nieder und unterschreiben, sich nicht wieder bewaffnet gegen den Staat zu erheben. Dafür wird ihnen Amnestie gewährt und sie können zu ihren Familien zurückkehren. Die jungen Kämpfer seien „moralisch verunsichert“, sagt Elia Samman, ein Berater des Ministers für nationale Versöhnung, Ali Haidar. „Sie fühlen sich wie in einer Falle.“ Die Syrer seien moderate Muslime und hätten sich plötzlich an der Seite von Wahhabiten und Salafisten wiedergefunden: „Sie fragen sich, was das eigentlich noch mit ihren ursprünglichen Zielen zu tun hat.“ Der bewaffnete Kampf erhalte nicht mehr genügend Unterstützung. Die syrischen Kämpfer hätten verstanden, dass sie die Regierung militärisch nicht stürzen könnten und suchten nach einem Ausweg. Es seien die ausländischen Kämpfer und die ausländische Einmischung, die solche Vereinbarungen immer wieder torpedierten. Das große Leid, das die HelferInnen und AktivistInnen der lokalen Versöhnungskomitees täglich vor Augen
haben, werde nur nach einem umfassenden, landesweiten Waffenstillstand gelindert werden können, meint Elia Samman. „Wenn die Waffen schweigen, kann der lange Prozess der Versöhnung beginnen.“
Lokaler Waffenstillstand in Al Waer (Homs) Nach monatelangen Verhandlungen war auch in Homs eine Vereinbarung zwischen dem Gouverneur und 38 bewaffneten Gruppen in Kraft getreten, die sich in dem Vorort Al Waer verschanzt hatten. 270 Kämpfer hatten mit rund 700 Familienangehörigen die Stadt Ende Dezember Richtung Idlib verlassen. Die restlichen, geschätzten 2.000 Kämpfer und deren Familien sollen ebenfalls evakuiert werden. Wer aus Al Waer kommt, muss an der lokalen Bäckerei warten, wo ein Kontrollpunkt der Armee eingerichtet ist. Ein Ehepaar will den Ort verlassen, um in Homs einen Arzt und Verwandte besuchen zu können. Die Abfertigung sei zügig, meint der Mann, der sich als „Abu Mustafa“ vorstellt. Die Vereinbarung seit gut, meint der blasse, ernst blickende Mann. Doch die Angst sei nicht vorbei, da es noch immer bewaffnete Gruppen im Ort gebe. „Sie sind direkt in unserer Nachbarschaft“, meint seine Frau. „Wir bleiben meist im Haus.“ Güter, die für die Händler in Al Waer bestimmt sind, werden wenige hundert Meter entfernt an der Straße nach Misyaf kontrolliert, unweit des Militärkrankenhauses von Homs. Eine Frau mittleren Alters überwacht das Umladen von Schulbüchern. Maysa Khorfa, stellt sie sich vor. Sie sei Lehrerin an der Cordoba-Grundschule in Al Waer, die jetzt mit den Schulbüchern für das nächste Quartal ausgestattet wird. „Diese Ver-
ALEPPO: KRANKENTRANSFER DURCH FREIWILLIGE DES SARC.
einbarung ist das Beste, was uns in den letzten Jahren passiert ist“, sagt sie und hebt ihre Hände gen Himmel. „Dank Allah! Wir haben so lange darauf gewartet.“ Orangen und Kartoffeln, Zucker und Gaszylinder werden von einem Lastwagen auf kleinere Lieferwagen umgeladen, die dann nach Al Waer hineinfahren. Von Seiten der Geschäftsleute aus Al Waer wird das Umladen der Güter von Abdulrahman Aslan überwacht. Er werde für seinen Einsatz bezahlt, berichtet er. Die Geschäftsleute hätten ihn gewählt. Ein Militärbeobachter, der das Umladen von Armeeseite kontrolliert meint, er könne es nicht akzeptieren, dass bewaffnete Personen in einen anderen Teil des Landes gebracht würden. „Entweder Versöhnung oder Kampf“, sagt er. Es könne sein, dass dort, wo die Kämpfer nun hingingen, eine neue Front entstehe.
Helfen diesseits und jenseits der Frontlinien Weitgehend unbeachtet im internationalen Medienkrieg um Syrien helfen die MitarbeiterInnen der syrischer und internationaler ICRC- und SARC-Organisationen. Mehr als 40 SARC-MitarbeiterInnen haben den Einsatz mit dem Leben bezahlt. Nach einer Attacke auf Ambulanzfahrzeuge am 9. Februar 2016 forderte SARC in einer Presseerklärung die Achtung des Rote-Halbmond-Symbols sowie die Sicherheit der MitarbeiterInnen. Wiederholt wurde SARC, aber auch das IKRK, von Seiten syrischer Oppositioneller öffentlich denunziert dafür, dass sie in Syrien und in Kooperation mit der syrischen Regierung arbeiten. Der Respekt territorialer Grenzen und legaler Regierungen sind in den Statuten der Organisation vorgeschrieben. Das IKRK arbeitet seit der israelischen Besetzung der Golan-Höhen 1967 in Syrien. 11
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renzübergreifende Hilfe durch „humanitäre Korridore“ unternehmen IKRK und SARC nicht. Allerdings arbeitet die Organisation „frontübergreifend“ – wie auch die jüngsten Hilfsoperationen beweisen: Hilfspakete und Impfstoffe wurden nach Deir Ezzor geliefert (14. Februar 2016), das teilweise vom „Islamischen Staat“ besetzt gehalten wird. Hilfslieferungen (u.a. Dialysematerial und Babymilch) erreichten die Menschen in Douma im Umland von Damaskus, wo die „Islamische Armee“ das Sagen hat (13. Februar 2016). In Aleppo halfen SARC-MitarbeiterInnen die Unterlagen von Studierenden aus Idlib nach Aleppo zur Universität zu bringen. Ebenfalls in Aleppo werden in acht Großküchen täglich mehr als 2.500 warme Mahlzeiten gekocht, die SARC-MitarbeiterInnen zu Menschen bringen, die in und um Aleppo herum als Inlandsvertriebene in Zelten oder in Bauruinen leben. Hilfspakete wurden auch nach Nubul und Al-Zahraa gebracht (7./8. Februar 2016). Die zwei Dörfer nordwestlich von Aleppo waren nach dreijähriger Belagerung durch Kampfverbände Anfang Februar 2016 von der syrischen Armee befreit worden. Infos zum SARC unter: http://sarc.sy
Karin Leukefeld ist Journalistin und freie Autorin. Sie wird am 21.5.2016 beim IPPNWJahrestreffen in Mönchengladbach referieren.
Foto re.: Joseph Bashoura, Aleppo
...UND VON KARTOFFELN NACH DEM WAFFENSTILLSTAND.
DIE ZERSTÖRTE ALTSTADT VON DIYARBAKIR, DEZEMBER/JANUAR 2015-16. Fotos: Anonym
Krieg gegen die Kurden Das erschreckende Schweigen der NATO-Verbündeten zum offenen Massenmord in der Türkei
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eit Juli 2015 hat die AKP-Regierung unter ihrem Vorsitzenden und Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Krieg gegen seine eigene kurdische Bevölkerung wieder aufgenommen. Schon im April desselben Jahres hatte er die Gespräche, die sein Geheimdienst auf der Insel Imrali mit Abdullah Öcalan führte, abgebrochen und den Führer der PKK in die totale Isolation zurückgeschickt. Seitdem haben weder seine Familie noch seine Rechtsanwälte oder Abgesandte der HDP Kontakt zu ihm. Der Krieg, der derzeit nicht nur im türkischen Südosten, Nordkurdistan, wütet, sondern auch auf die Rückzugsgebiete der PKK in den Kandilbergen des Irak ausgedehnt worden ist, wird von der türkischen Armee mit äußerster Brutalität und ohne Rücksicht auf die Regeln des humanitären Völkerrechts geführt. Seit Monaten hat die Regierung über zahlreiche kurdische Städte, u.a. Diyarbakir, Cizre, Silopi und Sirnak, den Ausnahmezustand verhängt. Sie hat Ausgangssperren verordnet und Hunderttausende durch Polizei und Militär hermetisch abgeriegelt. Humanitäre Hilfe wird nicht durchgelassen, die Wasser- und die Stromversorgung wurden gekappt. Panzer stehen in den Straßen, Wohnviertel werden angegriffen, innerhalb der Gebiete mit Ausgangssper-
re schießen Scharfschützen auf alles, was sich bewegt. In den Sperrgebieten leisten nur die Verteidigungsverbände der PKKJugendorganisation YDG-H und der YPS („Zivile Verteidigungseinheiten“) bewaffneten Widerstand.
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Der kurdische Kampf um Selbstbestimmung hat zwei Phasen unterschiedlicher Strategie und Kampfführung durchlebt, die auch völkerrechtlich unterschiedlich bewertet werden müssen. Der bewaffnete Kampf wurde von der PKK 1984 aufgenommen und bis Mitte der 90er Jahre geführt. Ziel war die Unabhängigkeit eines von der Türkei getrennten souveränen Staates Kurdistan, welcher das kurdische Siedlungsgebiet in Südostanatolien umfassen sollte. Spätestens seit 1996 änderte die PKK ihre Strategie, verzichtete auf Sezession und die Gründung eines separaten Staates, bot der türkischen Regierung einen Waffenstillstand an und verzichtete auf die Fortführung des bewaffneten Kampfes.[1] Seitdem beschränkte sich ihre Forderung auf Selbstverwaltung und Autonomie innerhalb der türkischen Grenzen. Bis in die neunziger Jahre war die Unterdrückung der Kurden durch die türkischen Regierungen, die Verweigerung der elementaren Grund- und Menschen12
rechte, die Leugnung ihrer kurdischen Identität, ja, ihre faktische Kolonisierung so offensichtlich, dass die PKK durchaus den Charakter einer Befreiungsbewegung hatte. Sie führte damals einen legitimen Kampf um Unabhängigkeit. Doch haben ihr weder die UNO noch die tonangebenden europäischen Staaten diesen völkerrechtlich privilegierten Status eingeräumt. Die Staaten folgten ihrem NATO-Partner Türkei, der die PKK nicht als legitime Vertreterin des kurdischen Volkes anerkannte und ihren Kampf als Terrorismus einstufte. Sie griffen auch nicht ein, als die türkische Armee die in den Genfer Konventionen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen von 1977 kodifizierten Vorschriften zum Schutz der Zivilbevölkerung und Gefangenen (Verbot der Folter, erniedrigender und entwürdigender Behandlung, keine Sondergerichte) nicht einhielten.
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Spätestens seit 1996 hat sich die Situation mit dem Verzicht auf einen separaten kurdischen Staat und den bewaffneten Kampf grundlegend geändert. Die türkische Regierung hat jedoch diesen Strategiewechsel niemals anerkannt. Nach wie vor werden mit dem Vorwurf des Separatismus Bürgerinnen und Bürger, die die Forderung nach Selbstverwaltung und Autonomie in den Grenzen der Türkei unterstützen, verfolgt, inhaftiert und mit
FRIEDEN
„In diesem Krieg geht es nicht mehr um die Macht im Staat, sondern um das pure Überleben der kurdischen Bevölkerung und Bewegung.“ DIYARBAKIR
Prozessen überzogen. Seit der Gefangennahme von Abdullah Öcalan und seiner Inhaftierung auf der Insel Imrali im Jahr 1999 wechselt die türkische Regierung ihre Taktik in der kurdischen Frage zwischen Dialog und Krieg. In diesem Krieg seit Juli 2015 geht es nicht mehr um die Macht im Staat, sondern um das pure Überleben der kurdischen Bevölkerung und Bewegung. Etwa 10.000 Soldaten, Polizisten und Spezialeinheiten nehmen an den Operationen gegen die Dörfer und Ortschaften teil, die sie durch Panzerbeschuss und Bombardierung aus der Luft in Trümmerlandschaften verwandeln. Über 200.000 Kurdinnen und Kurden sind im eigenen Land auf der Flucht. An die 200 tote Zivilisten werden beklagt. Die Regierung hat zudem neue Todesschwadrone eingesetzt, von denen die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet: „So setzen die Sicherheitskräfte, wenn sie in die Städte vordringen, als Vorhut die als besonderes brutal geltenden ‚Esedullah Timleri’ ein, über denen ein Schatten des Geheimnisvollen liegt. Sie dringen in die Häuser ein, zerstören, töten.“[2] Es soll sich um „verurteilte Kriminelle“ und „Personen, die mit dem ‚Islamischen Staat’ in Verbindung“ stehen, handeln. Da die Kämpfer und Kämpferinnen der PKK sich in die Kandil-Berge zurückgezogen hatten und in diese Kämpfe nicht eingegriffen haben, musste die Zivilbevölkerung eigene ausbilden, die sich der Armee entgegenstellen.
mee so eindeutig und rücksichtslos nicht einmal die Zivilbevölkerung und ihre Wohnungen verschont und dementsprechend selbst rechtswidrig ist. Das humanitäre Völkerrecht verlangt von dem Angegriffenen nicht, den Angriff wehrlos durch Flucht oder Unterwerfung zu ertragen, zumal wenn er diesen Angriff nicht provoziert hat. Allerdings sind auch die kurdischen Kämpfer an die allgemeinen Regeln des humanitären Völkerrechts gebunden, die vor allem Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen verbieten.
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Was bis 1996 als Aufstand der kurdischen Bevölkerung gegen die türkische Staatsmacht, als Kampf um einen eigenen Staat, gesehen werden musste, hat sich nun in einen Verteidigungs- und Überlebenskampf gewandelt. Weder die PKK noch die kurdische Bevölkerung führen Krieg, sondern der türkische Staat, und zwar in Form eines offenen Terrorfeldzuges. Staatschef Erdogan und Ministerpräsident Davutoglu sprechen offen von „säubern“ und „auslöschen“. Das ist auch völkerrechtlich von Bedeutung. Denn es geht um die Berechtigung des Widerstands der Kurden mit Gewalt, völkerrechtlich um den Kombattantenstatus für die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer. Er ist mit bestimmten Rechten und Pflichten verbunden.
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Das Schweigen der Verbündeten des NATO-Partners Türkei zu diesem sich in aller Öffentlichkeit abspielenden Massenmord ist erschreckend. Der „westlichen Wertegemeinschaft“ ist offensichtlich die Hilfe der Türkei bei der Abwehr der syrischen Flüchtlinge von den EU-Grenzen wichtiger als das Schicksal der Menschen in Südostanatolien. In all den Jahrzehnten zuvor haben die NATO-Staaten sich niemals um die Lage der Menschenrechte und die Hilferufe der Kurdinnen und Kurden gegen die mörderische Repression der türkischen Regierungen gekümmert. Dass diese Gleichgültigkeit sich jetzt offensichtlich fortsetzt, ist eine Schande auch für die Bundesregierung. Unterzeichnen Sie den Aufruf unter: www.kurdistankrieg-stoppen.de [1] Erklärung von Abdullah Öcalan gegenüber seinen Besuchern Prof. Dr. Gottstein, Prof. Dr. Albrecht und dem Autor in Damaskus am 21. Juni 1995
s war die türkische Armee, die im Juli 2015 den Waffenstillstand nach einer längeren Periode der politischen Gesprä- [2] FAZ vom 18.12.2015: „Aufstand der che gebrochen und alle weiteren Waffen- verlorenen kurdischen Jugend” stillstandsangebote des Führers der PKK, Abdullah Öcalan, abgelehnt hat. Sie ist der Angreifer, gegen den es sich zu verteidigen gilt. Der Widerstand, auch der militärische, gegen eine derartige Aggression, ist gerechtfertigt. Das ist der Grundgedanke Prof. Dr. Norman Paech war bis des Verteidigungsrechts gemäß Artikel 2003 Professor 51 UNO-Charta, auch wenn dieser nur für öffentliches für den klassischen Krieg zwischen den Recht an der Staaten formuliert ist. Dieses Recht muss Universität Hamburg und ist wisjedoch auch für den Bürgerkrieg gelten, senschaftlicher wenn die Aggression der staatlichen Ar- Beirat der IPPNW. 13
FRIEDEN
Zeit heilt nicht alle Wunden Zwei Studien zu den Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen
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Die Beziehungen zu Partner und/oder Kindern sahen die meisten Teilnehmerinnen im hohen Ausmaß beeinträchtigt. Ungefähr die Häfte der Frauen hatten Partnern und/oder Kindern bis heute nicht von dem Erlebten erzählt, was auf starke Schamgefühle und die Macht des gesellschaftlichen Schweigens hinweise, so die Autorinnen. Auf sozialer Ebene berichteten viele Frauen von sozialer Ausgrenzung und Stigmatisierung.
m 30. November 2015 lud die Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale zum Fachtag: „Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen – Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Fachwelt” in Berlin ein. Zentraler Bestandteil der Tagung war die Vorstellung der Ergebnisse der Studie „We are still alive – wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark” zu den Langzeitfolgen und Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina zwanzig Jahre nach Kriegsende von medica mondiale und Medica Zenica.
Interessant sind in diesem Zusammenhang die subjektiven Wahrnehmungen und Erfahrungen mit dem offfiziellen Status sogenannte „ziviler Kriegsopfer”, den Überlebende von Kriegsvergewaltigungen seit 2006 in Bosnien und Herzegowina beantragen können. Dieser soll Überlebenden Zugang zu einer kleinen monatlichen „Rente” und anderen speziellen Unterstützungsprogrammen eröffnen. Er stellt eine weltweit einzigartige politische Errungenschaft dar, für die viele Frauenorganisationen gekämpft hatten. Allerdings hatten insgesamt bis 2015 gerade einmal drei Prozent der Überlebenden diesen Status überhaupt beantragt und erhalten. In der Stichprobe waren es auch dank der Hilfe von Medica Zenica hingegen über 75 Prozent. In diesem Zusammenhang ist es alarmierend, dass die Statusinhaberinnen der Studie den Status kaum als ermächtigenden Akt erlebten und auch nur nur sechs bis acht Prozent ein nicht-monetäres Unterstützungsangebot wahrgenommen hatten.
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ährend des Krieges in Bosnien und Herzegowina (19921995) wurden schätzungsweise 20.000 bis 50.000 vornehmlich bosnische Mädchen und Frauen systematisch von Soldaten vergewaltigt. Oft wurden sie gefangen genommen und über eine längere Zeit sexualisierter Gewalt und Folter ausgesetzt. Unzählige wurden davon schwanger. In der Forschungsarbeit „We are still alive” wurde mit 51 Überlebenden von Vergewaltigung und sexualisierter Gewalt im Krieg aus Bosnien und Herzegowina, die das Unterstützungsangebot von Medica Zenica in Anspruch genommen hatten, eine Studie durchgeführt. Ergänzend wurden mit VertreterInnen von NGOs und Ministerien Interviews geführt. Das zentrale Ergebnis der partizipativ angelegten Studie ist, dass auch 20 Jahre später die Überlebenden noch massiv an den psychischen, körperlichen und sozialen Folgen der Kriegsvergewaltigungen leiden. „Mehr als 70 Prozent der Teilnehmerinnen gaben an, dass die Vergewaltigung ihr Leben immer noch vollständig beeinflusst, vor allem in Form ständiger belastender Erinnerungen an die Ereignisse, emotionaler Probleme wie Angst oder Nervosität, gesundheitlicher Herausforderungen und ernsthafter Probleme in engen zwischenmenschlichen Beziehungen”, so die Autorinnen. Zu den gesundheitlichen Problemen gehörten in 93,5 Prozent der Fälle gynäkologische Probleme, Schwierigkeiten, nach dem Erlebten schwanger zu werden (20 Prozent) und Krebserkrankungen (über zehn Prozent). 57 Prozent der Teilnehmerinnen erfüllten die Kriterien der klinischen Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung PTBS, was für eine hohe Chronofizierung des Leidens spricht und sich mit den Prävalenzraten für PTBS nach Kriegsvergewaltigungen der meisten Forschungsarbeiten deckt.
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m Gegenteil, die Statusinhaberinnen in der Stichprobe hatten sogar „eine größere Neigung zur Selbstbeschuldigung als jene ohne Status”. Die Autorinnen der Studie führen das neben negativen Erfahrungen im Rahmen der Antragstellung vor allem darauf zurück, dass der Status „weder die bei weiten stärkeren, negativen Reaktionen aus dem Umfeld der Überlebenden auf[wiege], die immer noch auf allen Ebenen der Gesellschaft existierten, noch den enormen Mangel an Schutz und Gerechtigkeit, den sie erleben”. So erzählte eine Teilnehmerin etwa über ihren Kontakt mit lokalen Institutionen: „Sie sagen, dass du dich für Geld verkaufst”. Eine andere berichete, dass eine Beamtin bei Vorlage ihres Zertifikats in der Schule ihrer Tochter erwiderte: „Na und, warum hat sie nicht aufgepasst, so wie ich, warum hat MICH niemand vergewaltigt?” Hinzu kommt, das die wenigsten Täter 14
Foto: Marisa Reichert/medica mondiale
„Die Mehrheit der Teilnehmerinnen sah das Brechen des Schweigens und das Sprechen über das Erlebte als wichtigsten Faktor für Heilung.“ Auf der Tagung wurde auch die wissenschaftliche Studie „Das Geheimnis unserer Großmütter” von Svenja Eichborn und Phillip Kuwert vorgestellt. Diese erste (!) Studie erhob 2011 gezielt die posttraumatische Belastung von Frauen, die am Ende des Zweiten Weltkrieges von russischen Soldaten vergewaltigt wurden – 65 Jahre nach dem Geschehen. Im Schnitt waren die Interviewten 80 Jahre alt. Hierbei zeigte sich, dass „das öffentliche und private Schweigen über die Welle der Kriegsvergewaltigungen um 1945 in vielen Fällen bis heute eine unsagbar große Verletzung verbirgt”, so die Autoren in ihrem Schlusswort. Im Frühjahr 1945 wurden im Zuge des Vorrückens der Roten Armee nach Westen 1,4 bis 1,9 Milionen deutsche, aber auch ukrainische und polnische Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt.
zur Rechenschaft gezogen wurden und Überlebende diesen im Alltag sogar teilweise auf der Straße wiederbegegnen. All dies zeige nicht nur die „Unabgeschlossenheit des Friedensprozesses innerhalb der Gesellschaft”. Die Autorinnen schlussfolgern zudem, dass „ein Status, der allein über das Vorhandensein der Vergewaltigungserfahrung definiert wird, letztlich die Identität der Überlebenden als Opfer zementiert.” Auf die Frage, was den Frauen helfe, mit dem Erlebten umzugehen, antworteten die Teilnehmerinnen, dass ihnen „Akzeptanz, emotionale Unterstützung, aktive Bewältigung, Religion und die Suche nach und die Inanspruchnahme instrumenteller Unterstützung und Planung” geholfen habe und helfen würde. Die am häufigsten genannte Bewältigungsstratgie war jedoch Ablenkung. Auch die regelmäßige Einnahme von Psychopharmaka wurde von 60 Prozent der Frauen als Form der Bewältigung angesehen. Fast ein Drittel der Teilnehmerinnen sagten sogar, dass es heute gleich schwer oder noch schwerer sei, mit den Erfahrungen fertig zu werden. Zugleich berichten zwei Drittel von Erfahrungen persönlichen Wachstums.
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ie Studie, die auf der Diplomarbeit von Svenja Eichborn basiert, leistet so einen kleinen Beitrag zur späten Würdigung der Frauen und der lange versäumten Auseinandersetzung mit diesem Teil der deutschen Geschichte. Leider wurden jedoch nur quantitative Daten ausgewertet, was die Aussagekraft der Ergebnisse einschränkt. Aufgrund der transgenerationalen Auswirkungen sowie der Retraumatisierungsgefahr älterer allgemeinärztlicher oder klinischer PatientInnen ist die Thematik auch gegenwärtig für Gesundheitsfachkräfte relevant.
Die Mehrheit der Teilnehmerinnen sah das „Brechen des Schweigens” und das Sprechen über das Erlebte als einen Hauptfaktor für Heilung, so die Autorinnen. Hier spielten sowohl Familie wie Freunde, aber auch das Unterstützungsangebot von Medica Zenica eine große Rolle. Auch Berufstätigkeit erwies sich als ein wichtiger stabilisierender und protektiver Faktor.
Eine Zusammenfassung der Studie steht als Download auf der Seite von Medica Mondiale zur Verfügung: kurzlink.de/il8iYmpie Svenja Eichborn, Phillip Kuwert: Das Geheimnis unserer Großmütter. Eine empirische Studie über sexualisierte Kriegsgewalt um 1945. Psycho-Sozial Verlag, Gießen 2011. ISBN: 78-3-8379-2131-1
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ls „zweischneidig” bewerten die Autorinnen das Ergebnis, das die Befragten die Beziehung zu den Kindern als wichtigste und manchmal einzige Quelle der Kraft für das eigene Weiterleben nannten. Denn implizite elterliche „Aufträge” an das Kind, etwa dafür da zu sein, das Leid der Mutter zu kompensieren, führen leicht zur Überforderung und Weitergabe emotionaler Belastungen an die Kinder. Insbesondere zu der Situation und den Bedürfnissen der Kinder bedarf es weiterer empirischer Studien, vor allem, aber nicht nur da, wo diese aus einer Vergewaltigung hervorgegangen sind.
Anne Jurema ist Mitarbeiterin der IPPNW-Geschäftsstelle. 15
SOZIALE VERANTWORTUNG
Alle (fünf) Jahre wieder Der Kongress „Medizin und Gewissen“: Ein Interview
Warum findet der Kongress kommenden Oktober statt? Nürnberg bleibt der Ort, an dem sich deutsche Ärzte vor 70 Jahren für ihre Verbrechen während des Faschismus verantworten mussten. Nürnberg ist aber auch der Ort, an dem auf unsere Initiative hin der Deutsche Ärztetag 2012 offiziell die Schuld der deutschen Ärzteschaft im Dritten Reich anerkannte und die Opfer und deren Hinterbliebene um Verzeihung bat. Also ein authentischer Ort deutscher Medizingeschichte. Vor diesem Hintergrund werden wir neue medizinethische Fragen und uns alle betreffende medizinische und gesundheitspolitische Problembereiche ausleuchten und nach Antworten suchen. Dazu ist ein fünfjähriger Abstand zum letzten Kongress ein geeignetes Zeitintervall.
Um welche Themen geht es? In drei Themensträngen – medizinhistorisch, ethisch und gesundheitspolitisch – werden wir neue Ergebnisse und Entwicklungen darstellen, aktuelle kontroverse Diskussionen aufgreifen und mit anerkannten Referenten diskutieren. Zentrale Themen werden sein: medizinische Friedensarbeit, Global Health, Big Data, Menschenrechte in der Medizin, Gesundheitspolitik und Medizin im Dritten Reich. Genaueres ist im Internet unter unserer laufend aktualisierten Kongressseite nachzulesen.
Lohnt sich die Teilnahme auch für Studierende? Darauf kann ich nur mit einem überzeugten Ja antworten. Gerade Studierende wollen sich doch eine reflektierte Meinung
auch über die übergeordneten Fragen des „Arzt-Seins“ bilden. Dies können sie anhand der vielen Themen hier in Nürnberg komprimiert und fundiert tun. Neben den Studierenden sind natürlich Interessierte aus allen Berufs- und Altersgruppen willkommen. Diese Mischung macht’s!
Warum immer wieder Medizin im Nationalsozialismus? Viele Studierende und viele andere wissen darüber zu wenig. Dabei ist dieses Wissen eine Voraussetzung dafür, dass wir im Arbeitsalltag unser ärztliches Handeln immer wieder auf seine Menschlichkeit hin überprüfen. Über die NS-Medizin mehr zu wissen, ist doch Lernen am historischen Objekt. Wie mit einer Lupe können wir dort medizinimmanente Entwicklungen, Verwerfungen erkennen, deren Durchdringung unsere Widerstandskraft heute stärkt.
Was ist das Besondere an Medizin und Gewissen? Die horizontale und vertikale Herangehensweise an die zahlreichen Themen. So werden Entwicklungen, Hintergründe besser sichtbar. Aus dieser Analyse werden wir wie bei den Vorgängerkongressen den Blick nach vorne werfen. Was bedeutet das für unser ärztliches Handeln heute und morgen?
Gibt es herausragende ReferentInnen? Ja. Herausgreifen möchte ich beispielhaft Prof. Klaus Dörner, den immer noch fitten Nestor der deutschen Sozialpsychiatrie und der Euthanasieforschung. Er ist auch der Schirmherr des Kongresses. Oder Prof. Wolf Dieter Ludwig, den kritischen Vorsitzenden der Arzneimittelkommission der Deut16
schen Ärzteschaft. Wir freuen uns auch auf Dr. Monika Hauser von Medica Mondiale oder auf den Menschenrechtler und WHO-Beauftragten Prof. Heiner Bielefeld und auf Michael Wunder vom Deutschen Ethikrat. Allerdings schauen wir nicht auf den großen Namen, sondern eher auf die Qualität der Referenten. Und da brauchen wir uns nicht verstecken. Einmal wird es innerhalb des Kongresses ausreichend Zeit für persönliche Begegnungen geben: in den Pausen, beim Mittagessen und dem „Get together“ am Freitagabend. Außerhalb werden wir Führungen zum „Memorium Nürnberger Prozesse“, dem Doku-Zentrum zur Geschichte der Reichsparteitage der NSDAP und zum Parteitagsgelände anbieten.
Können Sie uns etwas zum Rahmenprogramm sagen? Einmal wird es innerhalb des Kongresses ausreichend Zeit für persönliche Begegnungen geben: in den Pausen, beim Mittagessen und dem Get together am Freitagabend. Außerhalb werden wir Führungen zum „Memorium Nürnberger Prozesse“, dem Doku-Zentrum zur Geschichte der Reichsparteitage der NSDAP und zum Parteitagsgelände anbieten. Programm und Anmeldung unter: www.medizinundgewisssen.de
Das Interview führte die Redaktion mit Elisabeth Heyn und Horst Seithe von der Kongressvorbereitungsgruppe.
ATOMWAFFEN
IPPNW STUTTGART UND DER WIDERSTAND STUTTGART 21 BLOCKIERTEN IM MAI 2015 GEMEINSAM IN BÜCHEL.
Büchel ist überall – atomwaffenfrei.jetzt 20 Wochen für 20 Bomben
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n einer von Krisen geschüttelten Welt voller Flucht und Krieg wird deutlich, dass die militärische Lösung keine Lösung ist. Und: Atomwaffen spielen hierbei erst recht keine Rolle; die nukleare Abschreckung ist als Friedensgarant diskreditiert. Aber der Glaube, dass die Atomwaffenstaaten ernsthaft abrüsten, ist leider ebenso verschwunden. Die als Modernisierung getarnte Aufrüstungswelle, die in allen Atomwaffenstaaten Milliarden von Dollar, Pfund, Euro und Rubel frisst, zeigt, wie fest die Rüstungsindustrie die Regierungen in der Hand hat.
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Die von ICAN und von den Regierungen von Österreich und Mexiko initiierte Forderung, die inzwischen von der Mehrheit aller Staaten unterstützt wird, ist deshalb ein Verbotsvertrag – wenn nötig, kann dieser auch ohne die Atomwaffenstaaten in Kraft treten. Wie andere Massenvernichtungswaffen sollen auch Atomwaffen geächtet und delegitimiert werden.
ls erste Konsequenz brachte Mexiko im Dezember 2015 eine Resolution in den Vereinten Nationen ein: Es soll eine ergebnisoffene Arbeitsgruppe (Open-Ended Working Group, OEWG) eingerichtet werden, die feststellt, welche rechtlichen Maßnahmen aus der Verpflichtung des Artikel VI des Atomwaffensperrvertrags zur Abrüstung hervorgehen können. Kurz gesagt: Ein Vertrag soll her. 139 Staaten stimmten dieser Resolution zu, eine klare Mehrheit. Deutschland enthielt sich. Am 28. Januar 2016 tagte die OEWG zum ersten Mal, um die Sitzungsdaten zu vereinbaren: Die Arbeitsgruppe soll an insgesamt 15 Tagen arbeiten, im Februar, im Mai und im August. Sie muss keinen Konsens finden und alle Staaten sind eingeladen, an den Sitzungen teilzunehmen. Somit ist die Teilnahme offen für alle, aber das Ergebnis kann von niemandem durch ein Veto blockiert werden. Auch die Zivilgesellschaft ist eingeladen. ICAN bereitet sich schon vor, am 30. April und am 1. Mai 2016 wird es ein Campaignertreffen in Genf geben.
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Büchel ist überall – atomwaffenfrei jetzt
Atomwaffen verbieten
ach dem Scheitern des Atomwaffensperrvertrags im letzten Mai, als kein Konsens über einen Weg zur nuklearen Abrüstung erzielt werden konnte, schlossen sich 123 Staaten in einer „Selbstverpflichtung“ für eine vertragliche Ächtung von Atomwaffen zusammen. Deutschland ist nicht dabei.
Und hier in Deutschland? Im Rahmen einer neuen bundesweiten Anschlusskampagne zur im letzten Mai beendeten Kampagne „atomwaffenfrei.jetzt“ soll Büchel zum zentralen Ort des sichtbaren Widerstands 17
werden. Das Motto „Büchel ist überall“ macht deutlich, dass die Atomwaffen in Deutschland und ihre Aufrüstung symptomatisch für Atomwaffen weltweit sind: Sie kosten Unmengen Geld, sie bringen uns keine Sicherheit, sondern machen uns zur Zielscheibe. Sie sind ein Anreiz für andere Staaten aufzurüsten und sie lösen keines der dringenden globalen Probleme, mit denen wir momentan konfrontiert sind. Darüber hinaus verstoßen deutsche Soldaten mit dem Üben des Einsatzes und der Vorbereitung einer Verfügungsübernahme der US-Atomwaffen gegen das Völkerrecht. Ziel der neuen Kampagne ist es, die Bundesregierung unter Druck zu setzen, ihre Atomwaffenpolitik zu ändern und sich aktiv für einen internationalen Atomwaffenverbotsvertrag einzusetzen, wie es die Mehrheit der Staaten in der UNO beschlossen hat. Deutschland hat zusammen mit den Atommächten gegen ein solches Verbot gestimmt. Außerdem fordert die Kampagne den Stopp der nuklearen Aufrüstung in Deutschland und einen Abzug der USAtomwaffen aus Büchel.
Aktionspräsenz 2016: 20 Wochen für 20 Bomben Für 20 Wochen, zwischen dem 26. März und dem 9. August 2016, soll vor dem Standort der 20 US-Atomwaffen in Büchel Präsenz gezeigt werden. Das Auftakt- und
Foto: Fraktion Die Linke im Bundestag, CC by 2.0
das Abschlussdatum fallen mit symbolträchtigen Gedenktagen zusammen: Am 26. März vor sechs Jahren beschloss der deutsche Bundestag mit großer Mehrheit, dass sich die Bundesregierung in der NATO für den Abzug aller Atomwaffen auf deutschem Boden einsetzen soll. Keine Bundesregierung ist bisher dem ausdrücklichen Willen des Parlamentes gefolgt. Im Gegenteil, die Regierung stimmte der „Modernisierung“ der B61-Atombomben zu. Am 9. August vor 71 Jahren wurde eine Atombombe über Nagasaki abgeworfen. 20 Gruppen oder Organisationen werden während dieser Zeit mindestens einen Tag in der von ihnen übernommenen Aktionswoche vor dem Haupttor in Büchel präsent sein. Die Aktionen, die von angemeldeten Mahnwachen, über symbolische bunte Aktionen bis zu Aktionen des Zivilen Ungehorsams reichen können, verantworten die Gruppen selbst. Sie sollten nur in den Aktionsrahmen passen, der auf der Homepage der Kampagne veröffentlicht wird. Die Gruppen werden durch eine Person vor Ort in ihren Aktionen begleitet. Nach der Erfahrung von Büchel65 hat es sich be-
KREATIVE AKTIONEN SIND GEFRAGT: KARFREITAGSGOTTESDIENST 2015 Selbstverpflichtungen gesammelt, die die Bereitschaft ausdrücken, mindestens einmal im Jahr nach Büchel zu kommen. Sie bilden die Grundlage für die Entscheidung, ob die Friedensbewegung ab dem nächsten Jahr eine Dauerpräsenz in Büchel einrichten kann. Die Zahl der Selbstverpflichtungen wird regelmäßig veröffentlicht.
Angebot für Studierende und Jung-ÄrztInnen!
Atomwaffen-Trainings-Wochenende, 23.-25. April 2016 in Berlin Vermittlung von Basiswissen zu Atomwaffen und ihren humanitären Folgen + + + Dialoge mit Entscheidungsträgern üben + + + Campaigning-Skills aneignen + + + Praxistag im Regierungsviertel + + + Die Teilnehmenden können Erlerntes direkt einsetzen: Bei gemeinsamer Lobbyarbeit in Berlin, als TeilnehmerIn der internationalen IPPNW-Delegation nach Genf zur OEWG, bei einer gemeinsamen Büchelreise oder am eigenen Campus/Klinik... Anmeldung bitte bei: ingablum@gmx.de währt, schon einen Tag vor der angestrebten Aktion anzureisen und eine gemeinsame Aktionsvorbereitung durchzuführen. Auf einer Friedenswiese in der Nähe des Haupttors können Friedenssymbole gut sichtbar aufgestellt werden, die auf den Unrechtsort aufmerksam machen sollen (angelehnt an den Friedensacker mit 96 Kreuzen in den achtziger Jahren im Hunsrück). Unter den TeilnehmerInnen der Aktionen und in deren Umfeld werden
Was plant nun die IPPNW? Die IPPNW wird vom 26. Juni bis 3. Juli 2016 in Büchel präsent sein. Nach einer Vorstandsitzung am 25. Juni im nahegelegenen Tagungshaus in Kail finden am 26. Juni eine Aktionsvorbereitung und ein Training für alle Interessierten statt, eventuell auch schon eine erste Mahnwache vor dem Haupttor. Am 27. Juni 2016 ist morgens zur Frühschicht eine Blockade des Fliegerhorsts geplant. An weiteren 18
Tagen in dieser Woche können IPPNWRegionalgruppen ihre eigenen Aktionen durchführen. Sie werden von IPPNW-Mitglied Ernst-Ludwig Iskenius eingeführt und begleitet, der die ganze Woche vor Ort ist. Die IPPNW-Studierenden wollen einen eigenen Studi-Tag mit ICAN-Mitgliedern in Büchel organisieren. Ein IPPNW-Friedenssymbol soll auf der „Friedenswiese“ aufgestellt werden. Das Erlebnis, gemeinsam an einem Unrechtsort etwas zu bewirken, aber auch der nicht zu vernachlässigende Spaß bei kreativen Aktionen und interessanten Gesprächen am NATO-Zaun sind unvergesslich. Und wer einmal dabei war, motiviert oft andere, beim nächsten Mal mitzukommen. Unsere Vision ist, dass ein zunehmender Strom des Protestes und Widerstandes die Bundesregierung zur Korrektur ihrer tödlichen Atomwaffenpolitik zwingt. Nukleare Abrüstung müssen wir selbst in die Hand nehmen. Als ÄrztInnen sagen wir: „Unser Eid auf das Leben verpflichtet uns zum Widerstand.“
Inga Blum, Xanthe Hall und Ernst-Ludwig Iskenius sind Mitglieder des Arbeitskreises Atomwaffen / ICAN.
Tschernobyl Die gesundheitlichen Folgen betreffen große Landstriche in Nord-, Mittel- und Südosteuropa
Hintergrund
Folgen für Umwelt und Gesundheit
Der erste Atomreaktor wurde in Tschernobyl zwischen 1971 und 1977 gebaut. Bis 1983 wurde die Anlage um drei weitere Reaktoren erweitert. Im benachbarten Städtchen Prypjat lebten die ca. 18.000 Bewohner fast alle von Jobs in der Atomindustrie. Der Super-GAU von Tschernobyl begann während eines Systemtests am 26. April 1986. Eine plötzliche Leistungssteigerung des Reaktors machte eine Schnellabschaltung notwendig. Diese führte zur Erreichung einer überkritischen Masse und so zum Beginn einer atomaren Kettenreaktion innerhalb des Reaktors. Das 1.000 Tonnen schwere Dach wurde durch die Wucht der Explosion angehoben, und das grafithaltige Inventar fing Feuer. Eine Wolke mit radioaktivem Rauch zog über weite Teile Ost- und Mitteleuropas und überzog ganze Landstriche mit radioaktivem Niederschlag. Vor allem nördlich des Kraftwerks, in Teilen Weißrusslands, gingen große Mengen Radioaktivität nieder, aber auch Teile Skandinaviens, Kleinasiens oder der Bayerische Wald wurden mit radioaktivem Jod-131 oder Cäsium-137 überzogen. Der Super-GAU wurde tagelang vor der Bevölkerung geheim gehalten. Evakuierungs- und Schutzmaßnahmen wurden stark verzögert.
Die ersten Opfer der Atomkatastrophe waren die rund 800.000 Liquidatoren, meist junge Rekruten, die aus der ganzen Sowjetunion nach Tschernobyl gebracht wurden, um die Katastrophe unter Kontrolle zu bringen. Mit bloßen Händen mussten sie strahlenden Schutt über das Gelände tragen und einen gigantischen Sarkophag über dem havarierten Reaktorblock errichten. Schätzungsweise 14 bis 15 Prozent von ihnen waren 2005, also 19 Jahre nach dem Unglück, bereits gestorben; mehr als 90 Prozent von ihnen sind erkrankt, viele vermutlich aufgrund ihrer hohen Strahlenexposition. Die Explosionen und das zwei Wochen dauernde Feuer im Reaktorkern führten zur Freisetzung von radioaktiven Partikeln. Über Atemluft, Nahrung oder Wasser aufgenommen, setzen sich diese Stoffe im menschlichen Körper ab, verstrahlen das Gewebe und führen zu Zellschäden, Mutationen und Krebs. Die gesundheitlichen Folgen beschränken sich nicht nur auf die hoch kontaminierten Gegenden der ehemaligen Sowjetunion, sondern auch Teile von Nord-, Mittel- und Südosteuropa. Da keine groß angelegten epidemiologischen Studien durchgeführt wurden, stehen zur Abschätzung der Gesundheitsfolgen nur Berechnungen auf der Basis von Kollektivdosisabschätzungen zur Verfügung.
Ausblick 1986 wurde ein temporärer Sarkophag um den havarierten Reaktor gebaut, der jedoch mittlerweile zerfällt. Um die geschätzten 180 Tonnen hochradioaktiven Mülls innerhalb des Reaktors zu schützen, gab die ukrainische Regierung einen neuen Sarkophag in Auftrag. Die Kosten werden auf über 1,5 Milliarden US-Dollar beziffert. Die endgültige gesundheitliche Bilanz der Tschernobylkatastrophe wird sich nie exakt ermitteln lassen. Genomische Instabilität kann noch mehrere Generationen später zu Folgeschäden bei den Nachkommen der Betroffenen führen. Tschernobyl ist mehr als ein einmaliger Unfall – Tag für Tag und Jahr für Jahr werden Menschen an den Strahlenfolgen erkranken und sterben. Das genaue Ausmaß der strahlenassoziierten Erkrankungen, Fehlbildungen und genetischen Folgen wird vermutlich nie erfasst werden. Die sowjetische Regierung, die Atomindustrie und Lobbyverbände wie die Internationale Atomenergie-Organisation IAEO verhindern kritische Publikationen und haben die Leiden der LiquidatorInnen zynischerweise zu Folgen schlechter Lebensführung erklärt. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de
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FUKUSHIMA, TSCHERNOBYL
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Foto: © Arkadiusz Podniesinski
n der Nähe der „roten Zone“, Präfektur Fukushima: Zugewachsene Autos, die wegen der Verstrahlung von ihren BesitzerInnen zurückgelassen wurden.
Weitere Bilder von Arkadiusz Podniesinski finden Sie unter: www.podniesinski.pl
In der roten Zone Kein Vertrauen in die Behörden: Viele Menschen bleiben in ihren Behelfsunterkünften
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er Fotograf und Filmemacher Arkadiusz Podniesinski hat seit 2008 regelmäßig in der Region von Tschernobyl fotografiert. 2015 reiste er nach Fukushima, um sich einen Eindruck von der Situation der Menschen vor Ort zu machen. Die evakuierten EinwohnerInnen der „orangenen“ und „roten“ Zone dürfen nach wir vor nicht dauerhaft in ihre Häuser zurückkehren. Arkadiusz Podniesinski begleitete Evakuierte beim Besuch in ihrem ehemaligen Zuhause. JournalistInnen und TouristInnen sind den Behörden – besonders in der „roten“ Zone – nicht willkommen, und für den Eintritt ist eine spezielle Genehmigung nötig. Nur etwa zehn Prozent der Einwohner der am stärksten belasteten Region möchten überhaupt zurückkehren, weil die Angst vor den gesundheitlichen Konsequenzen groß ist. Familien mit Kindern sind längst nach Tokio oder in andere Städte gezogen. Viele ältere Menschen sind weiterhin behelfsmäßig in der Region untergebracht. Der Titel dieses Heftes zeigt die einundsiebzigjährige Kikuyo Tani aus Futaba. Ihr Haus, das in der Nähe des AKWs in der „roten Zone“ liegt, dürfen sie und ihr Mann einmal monatlich besuchen, um dort nach dem Rechten zu sehen.
DER CHECKPOINT VOR DEM KRAFTWERK FUKUSHIMA II. IM HINTERGRUND EIN REAKTORGEBÄUDE. 21
Fotos: © Arkadiusz Podniesinski
YUKIKO TAJIRIS HAUS LIEGT IN DER ORANGENEN ZONE.
FUKUSHIMA, TSCHERNOBYL
Fünf Jahre Leben mit Fukushima Ein Überblick über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe
Am 11. März 2016 gedenken die Menschen in Japan und in aller Welt des Beginns der Atomkatastrophe von Fukushima. Mehr als 200.000 Menschen aus der Präfektur mussten damals ihre Heimat verlassen und in Übergangslager evakuiert werden, wo bis heute noch knapp Hunderttausend von ihnen ausharren.
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ie Folgen der Katastrophe erstreckten sich weit über die Grenzen der Präfektur hinaus. Millionen von Menschen wurden erhöhten Strahlendosen ausgesetzt – vor allem in den Regionen mit relevantem radioaktivem Niederschlag, aber auch in weniger belasteten Teilen des Landes. Dort waren Menschen mit verstrahltem Trinkwasser, radioaktiver Asche durch verbrannten Dekontaminationsmüll und kontaminierter Nahrung konfrontiert. Die Metropolregion Tokio-Yokohama mit über 50 Millionen Einwohnern ist laut Angaben des damaligen japanischen Premierministers nur durch „göttliche Fügung” davor bewahrt worden, ebenfalls verstrahlt und evakuiert zu werden. Jodtabletten wurden von Seiten der Behörden nicht an die Bevölkerung verteilt, so dass diese dem radioaktiven Jod-131 ungeschützt ausgesetzt wurde. Und die Katastrophe dauert bis heute an. Weiter fließen jeden Tag unkontrolliert ca. 300 Tonnen radioaktive Abwässer in den Ozean. Schon jetzt stellt der Super-GAU von Fukushima die schwerwiegendste radioaktive Verseuchung der Weltmeere aller Zeiten dar.
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ünf Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe lässt sich über die gesundheitlichen Folgen für die Menschen in Japan noch nicht viel sagen. Zum einen herrscht Unklarheit darüber, wie viel Strahlung im März und April 2011 tatsächlich freigesetzt wurde und wie viel seitdem kontinuierlich aus den zerstörten Reaktoren und dem
Kraftwerksgelände austritt. So sind grundlegende Angaben zur Kontamination von Böden, Ozean und Nahrungsmitteln zwischen Atomlobby und unabhängigen Wissenschaftlern weiterhin umstritten. Zum anderen setzen die atomfreundliche japanische Regierung und die Atomlobby alles daran, die Folgen des Super-GAU kleinzureden und zu vertuschen. Selbst die groß angelegte Schilddrüsenkrebs-Stunde der Fukushima Medical University wird von atomindustrienahen Wissenschaftlern geleitet und von der IAEO, der internationalen Atomenergie-Organisation finanziell unterstützt. Die Akte Fukushima soll so bald wie möglich geschlossen werden und die Japaner die Atomkraft wieder positiv sehen. Den IPPNW-Report „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima“ finden Sie unter: kurzlink.de/F5T30
Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Nicht nur kommt es immer wieder zum Austritt großer Strahlenmengen aus den havarierten Reaktoren und zu relevanten Rekontaminationen in der gesamten Region. Auch die Stimmung in der Bevölkerung ist nach Fukushima gekippt, so dass heute die Mehrheit der Japaner die Atomkraft ablehnt. 22
Noch nicht einmal die umstrittene Schilddrüsenkrebs-Studie hat bislang die erhoffte Entwarnung gebracht, sondern stattdessen bereits bei 116 Kindern in der Präfektur Fukushima aggressive, schnell wachsende oder bereits metastasierende Krebserkrankungen der Schilddrüse gefunden – zu erwarten wäre in dieser Population etwa ein Fall im Jahr. Bei 15 Kindern hat sich der Krebs nachweislich innerhalb der letzten zwei Jahren entwickelt, so dass ein Screeningeffekt als unwahrscheinlich gilt. Noch erschreckender als die bisherigen Resultate dieser Studie: außer der Anzahl der Schilddrüsenkrebs-Fälle bei Kindern der Präfektur Fukushima werden in Japan keine weiteren strahlenbedingten Krankheiten untersucht. Die Behörden wissen, dass Krebs kein Herkunftssiegel trägt und eine individuelle Erkrankung nie kausal mit einem einzelnen Ereignis in Verbindung gebracht werden kann. Dies macht man sich in Japan zu Nutzen und untersucht schlichtweg nicht, ob in der betroffenen Bevölkerung die Zahl der Fehlbildungen, Leukämien, Lymphome, soliden Tumoren oder Nicht-Krebserkrankungen steigen: Was man nicht sucht, das kann man auch nicht finden.
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chaut man sich die japanische Bevölkerung an, muss man zwischen verschiedenen Untergruppen unterscheiden:
» den mehr als 25.000 ArbeiterInnen und Rettungskräften, die in den letzten
vier Jahren auf dem AKW-Gelände ihre Gesundheit aufs Spiel setzen um Schlimmeres zu verhindern und sicherlich die höchsten Strahlendosen erhielten. Glaubt man den Daten der Betreiberfirma TEPCO, so könnten rund 100 ArbeiterInnen wegen der Strahlung an Krebs erkranken, die Hälfte davon tödlich. Die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich um ein Vielfaches höher, denn von unregistrierten Zeitarbeitern über manipulierte Strahlendosimeter bis hin zu plumper Datenfälschung werden von Seiten der Betreiber alle Register gezogen, um sich Klagen vom Hals zu halten, »» der evakuierten Bevölkerung, die initial zum Teil erheblichen Strahlendosen ausgesetzt war, jetzt aber zum Großteil außerhalb der Präfektur lebt, »» der Bevölkerung der nicht-evakuierten verstrahlten Gebiete, die weiterhin täglich erhöhten Strahlendosen ausgesetzt ist, »» der Bevölkerung im Rest Japans, die erhöhten Strahlendosen durch geringfügigeren radioaktiven Niederschlag, kontaminierte Nahrung und Wasser ausgesetzt ist.
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igentlich müssten unterschiedliche epidemiologische Studien diese diversen Populationen begleiten und auf frühzeitig detektier- und behandelbare Folgekrankheiten der exzessiven Strahlenexposition untersuchen. Doch das ist politisch nicht gewünscht und so werden wir die tatsächlichen gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima wohl nie kennen und müssen uns darauf beschränken,
Schätzungen anhand der bekannten oder angenommenen Strahlenmengen und Expositionpfade – also der Wege, über die man mit Strahlung in Kontakt kommt – durchzuführen. Statistisch gesehen sind in ganz Japan im Laufe der nächsten Jahrzehnten bei einer kollektiven Lebenszeitdosis von ca. 48.000 Personen-Sievert knapp 10.000 Krebsfälle zu erwarten (Konfidenzintervall 4.300 – 16.800), wenn man mit den Zahlen der atomenergiefreundlichen UNSCEAR und den konservativen Risikofaktoren des BEIR-VII-Berichts rechnet. Nutzt man andere Daten und modernere, realistischere Risikofaktoren, kommt man auf deutlich höhere Zahlen – etwa bis zu 66.000 zusätzliche Krebsfälle, ca. die Hälfte davon mit tödlichem Verlauf. Ist das viel? Bei einer Bevölkerung von knapp 127 Millionen Menschen mit einem „normalen“ Lebenszeit-Krebsrisiko von etwa 50 Prozent relativ gesehen sicherlich nicht. Ist es vernachlässigbar? Bei zehntausenden Menschen, die einzig und allein aufgrund der „menschengemachten Katastrophe“ von Fukushima (so das Urteil des Untersuchungsausschusses des japanischen Parlaments) an Krebs erkranken – Nein. Das Schicksal dieser Menschen und ihrer Familien ist nicht „vernachlässigbar“ oder „insignifikant“, wie die japanischen Behörden oder die internationalen Institutionen der Atomlobby, IAEO und UNSCEAR, gerne behaupten. 23
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er öffentliche Diskurs zu Fukushima sollte nicht um Profite, Macht und politischen Einfluss geführt werden, sondern das Schicksal und die Gesundheit der betroffenen Menschen im Blick haben – derjenigen, die alles verloren haben, die um ihre Gesundheit und die ihrer Kinder bangen und ein Leben ohne Angst vor der Strahlung einfordern. Die Gesundheitsrisiken für die japanische Bevölkerung müssen von unabhängigen Wissenschaftlern untersucht werden und jeder Verdacht auf Beeinflussung durch die Atomindustrie und ihre politischen Unterstützer muss ausgeschlossen sein. Umfangreiche Studien sind nötig, um die gesundheitlichen Konsequenzen für die betroffene Bevölkerung zu verstehen, Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zukünftige Generationen durch neue Erkenntnisse vor den Folgen ionisierender Strahlung besser zu schützen. In der Debatte über die Gesundheitsfolgen des Super-GAU von Fukushima geht es um mehr als nur das Prinzip der unabhängigen Forschung, die sich dem Einfluss mächtiger Lobbygruppen widersetzt. Es geht um das universelle Recht eines jeden Menschen auf Gesundheit und das Leben in einer gesunden Umwelt.
Dr. Alex Rosen ist stellvertretender Vorsitzender der deutschen IPPNW.
Foto: © Arkadiusz Podniesinski
ÜBERBLEIBSEL DER DEKONTAMINIERUNG: SÄCKE MIT VERSTRAHLTEM ERDREICH FÜLLEN GANZE LANDSCHAFTEN.
FUKUSHIMA, TSCHERNOBYL
Der Super-GAU geht weiter Der derzeitige Zustand des AKWs Fukushima Dai-ichi
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omentan setzt das Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi hauptsächlich auf zwei verschiedenen Wegen radioaktives Material frei: Erstens ist die direkte Freisetzung radioaktiven Materials in die Atmosphäre zu nennen. Der jüngste Bericht der Tokyo Electric Power Company (TEPCO) beziffert den gesamten Ausstoß der Anlagen 1 bis 4 auf 570.000 Becquerel pro Stunde. Mit 460.000 Bq pro Stunde setzt Anlage 2 am meisten Material in die Atmosphäre frei. Die Daten für den Ausstoß in die Atmosphäre werden von TEPCO monatlich aktualisiert. Obwohl die Werte mittlerweile weit unter denen von 800 Billionen Bq/Stunde (800,000,000,000,000 Bq/Stunde) im März 2011 liegen, findet diese Art der Freisetzung weiterhin statt. Der zweite signifikante Weg, auf dem nukleares Material aus der Anlage gelangt, ist das Abfließen von Grundwasser ins Meer. TEPCO hat sehr wenige Daten über das Ausmaß des Austritts in den Ozean veröffentlicht und bis jetzt lediglich zwei grobe Einschätzungen vorgenommen. Die folgende Tabelle zeigt die Summe des Austritts pro Tag von 2013 bis 2015 für vier wichtige Radionuklide (Strontium-90, Cäsium-137, Cäsium-134 und Tritium) zusammengestellt aus Daten, die TEPCO durch Untersuchung verschiedener Ablaufkanäle und der Öffnung der undurchlässigen Trennwand zum Meer gewonnen hat.
Ungeachtet der Schließung der undurchlässigen Trennwand zum Meer im Oktober 2015 sickert weiterhin radioaktives Material auf anderen Wegen, zum Beispiel durch Ablaufkanäle, ins Meer. Andere Möglichkeiten bestehen unter anderem in der Ausbreitung von Staub, der radioaktive Partikel enthält und während der Bergung von Trümmern in und um die Anlage in die Luft gelangte. Bei verschiedenen Gelegenheiten hat sich tatsächlich bereits radioaktiv kontaminierter Staub über den Umkreis des Kraftwerkes hinaus in benachbarte Gegenden verteilt.
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s gibt keinen Plan zur Bergung der Trümmer von Brennelementen, die geschmolzen und auf den Boden der Reaktorgebäude der Anlagen 1, 2 und 3 gefallen sind. Dazu steht keine Technologie zur Verfügung, die erlauben würde, zu erfassen, wo genau sich die geschmolzenen Brennelemente in den Reaktorgebäuden befinden.
Gesundheit der KraftwerksarbeiterInnen Bezüglich des Gesundheitszustandes der ArbeiterInnen des Kraftwerkes wurden kaum Informationen veröffentlicht. Die auf Pressekonferenzen von TEPCO weitergegebenen Informationen zu Notfalltransporten kranker oder verletzter ArbeiterInnen stimmen oftmals nicht mit den direkt er-
Geschätzte tägliche Austrittsmenge von Radionukliden über das Grundwasser:
Strontium 90
Cäsium-137
Cäsium-134
Tritium
2013
13.5 GBq
22.5 GBq
n. bekannt
24.5 GBq
2014
4.5 GBq
2.0 GBq
n. bekannt
15.0 GBq
2015
2.8 GBq
1.7 GBq
0.6 GBq
16.0 GBq
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haltenen Informationen von ArbeiterInnen überein, die direkte Zeugen der Vorgänge waren. TEPCO hat die auf der Pressekonferenz vorgestellten Informationen korrigiert, wenn es sich mit den durch meine Recherche erhaltenen Informationen konfrontiert sah. Im Oktober 2015 hat das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt zum ersten Mal die Krankheit eines Atomkraftwerkarbeiters als „berufsbedingt“ anerkannt. Der Arbeiter, ein 40-jähriger Mann, hatte Leukämie entwickelt, nachdem er in 18 Monaten einer Strahlendosis von 19,8 Millisievert ausgesetzt gewesen war.
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ie Strahlendosen der ArbeiterInnen. wurden nicht aufgezeichnet. Nach TEPCOs Angaben führte während der Notfallarbeiten 2011 in Ermangelung von Dosimetern nur eineR von 10 ArbeiterInnen ein solches mit sich, um die Strahlendosis zu messen. Meine Recherchen ergaben, dass jene Personen, die das Dosimeter trugen, vor allem die Zuweisung von Aufgaben übernahmen und deshalb gegenüber dem Rest des Teams einer vergleichsweise weniger hohen radioaktiven Dosis ausgesetzt waren. Zurzeit sind etwa 7.000 ArbeiterInnen täglich an verschiedenen Aufgaben am AKW beteiligt. Die höchste bis jetzt gemessene Strahlendosis betraf einen Mitarbeiter von TEPCO, der von März bis Mai 2011 einer Strahlendosis von 678.80 mSv ausgesetzt war. Während meiner eigenen Recherche habe ich von großen Gesundheitsproblemen und sogar Todesfällen von ArbeiterInnen erfahren. Trotz alledem wurde weder von TEPCO noch der Regierung ein umfassender Bericht über die Gesundheit der ArbeiterInnen erstellt. Nur jene Arbeiter, die an
den Notfallarbeiten 2011 beteiligt waren, haben Eintragungsbestätigungen erhalten und sind Gegenstand einer Langzeit-Monitoringstudie, die nun begonnen hat. Auch nach 2012 waren manche ArbeiterInnen Strahlendosen über 20 mSv pro Monat oder 50 mSv pro Jahr ausgesetzt, und erhalten doch nur gesundheitliches RoutineMonitoring, anstelle der detaillierten Gesundheitsuntersuchungen, die bei solchen Strahlendosen nötig sind.
Evakuierte Die Reorganisierung von Evakuierungszonen begann Ende des Jahres 2014. Die Vorschrift zur Evakuierung von Zonen mit einer jährlichen Belastung von 20 mSv oder weniger wurde Schritt für Schritt aufgehoben. Nichtsdestoweniger liegt die gesetzliche Grenze für die erlaubte Strahlenbelastung in Japan bei einem mSv pro Jahr. Bewohner der kontaminierten Regionen protestieren und klagen gegen die Aufhebung der Evakuierungsvorschrift, die gezwungenermaßen Evakuierte zu freiwillig Umgezogenen erklären würde. Der Verlust des Evakuierten-Status bedeutet das Ende der finanziellen Unterstützung für die Umsiedlung. In anderen Worten sind Menschen, die zur Evakuierung gezwungen wurden, nun gezwungen, in kontaminierte
Regionen zurückzukehren. Dies ist Teil der Strategie der Regierung, keine Schäden des Unfalls von Fukushima anzuerkennen, solange die radioaktive Belastung unter 20 mSv pro Jahr liegt. Im Zuge der gegenwärtigen Schritte des Wiederaufbaus werden manche Bewohner durch sozialen Druck mundtot gemacht und können ihre Bedenken bezüglich der radioaktiven Belastung durch das AKW nicht äußern.
Informationen zum Super-GAU Ich habe beständig investigative Recherchen zum Unfall des Kraftwerks durchgeführt. In der zweiten Hälfte des Jahres 2013 veränderte sich die Atmosphäre bei einer Pressekonferenz von TEPCO und Regierungsbehörden. Nachdem die Liberal-Demokratische Partei (LDP) bei der Wahl im Juli 2013 die Mehrheit in beiden nationalen Parlamenten gewonnen hat, gewann die Regierung des Premierministers Abe an Einfluss. Seither werden Informationen merklich langsamer weitergegeben. Die Demokratische Partei Japans, die während des Unfalls 2011 an der Regierung war, bekannte sich zu einem Ausstieg aus der Atomkraft. Im Zuge dessen stellten alle Atomkraftwerke Japans ihren Betrieb ein.
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achdem jedoch Abe und die LDP die Regierungsgeschäfte übernahmen, wurde die Atomkraft als notwendige Grundlage der Energiegewinnung eingestuft, und der landesweite Neustart der Atomkraftwerke eingeläut. Dann trat im Dezember 2014 der im Dezember 2013 verabschiedete „Act of the Protection of Specially Designated Secrets“ (Gesetz zum Schutz speziell ausgewiesener Geheimnisse) in Kraft. Dennoch ist es meiner Ansicht nach nicht so sehr jenes Gesetz, das zur Veröffentlichung von weniger Informationen bezüglich des Unfalls führt. Vielmehr war es schon vorher schwierig geworden, Informationen zu erhalten. Der Drucks der Regierung auf die Medien steigt, nicht nur in Hinblick auf den Super-GAU von Fukushima.
Mako Oshidori ist Journalistin und Atomkraftgegnerin aus Japan.
Foto: © Arkadiusz Podniesinski
DER BAUER NAOTO MATSUMURA IST ILLEGAL IN DIE „ORANGENE“ ZONE NAHE FUKUSHIMA ZURÜCKGEKEHRT, UM SICH UM VERLASSENE TIERE ZU KÜMMERN.
Fotos © Hermine Oberrück
30 Jahre Leben mit Tschernobyl Ein Überblick über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe
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or 30 Jahren, am 26. April 1986, fand die Mär von der „sicheren Atomkraft“ mit dem Super-GAU von Tschernobyl ein abruptes Ende. Millionen Menschen wurden zu Opfern radioaktiver Verstrahlung. Riesige Territorien wurden unbewohnbar. Die radioaktive Wolke zog um die ganze Erde und in den Köpfen zahlloser Menschen wuchs die Erkenntnis von den Gefahren der Atomenergienutzung. Auch in Deutschland erkrankten und starben Menschen aufgrund der mit Nahrung und Atemluft in den Körper aufgenommenen radioaktiven Partikeln. Bereits 1991 stellten MedizinerInnen als eine der ersten gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl eine erhöhte Zahl von Schilddrüsenkrebsfällen fest. Von den Organisationen der Atomlobby wie UNSCEAR oder der IAEO wurden diese jedoch trotz erdrückender Beweise zunächst nicht der Kernschmelze von Tschernobyl zugeschrieben. Dies änderte sich erst 1996. Die Analyse der gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl wird bis heute durch eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Sachverhalte erschwert: Wesentliche Daten zum Ablauf der Tschernobyl-Katastrophe und zu den gesundheitlichen Folgen sind nicht frei zugänglich und unterliegen der Geheimhaltung. Bis heute besteht unter Wissenschaftlern keine Einigkeit darüber, wie viel an radioaktivem Inventar durch die Explosion im Reaktor ausgetreten ist. Die unterschiedlichen Schätzungen reichen von 3,5 Prozent bis 95 Prozent des ursprünglichen Reaktorinventars.
In den ersten Jahren nach der Katastrophe sprachen das Ministerium für Gesundheitswesen der UdSSR und der KGB zudem zahlreiche Verbote aus, die zur Folge hatten, dass für die Beurteilung der Lage wesentliche Informationen nicht gewonnen, geheim gehalten oder verfälscht wurden.
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er Super-GAU von Tschernobyl betrifft noch immer Millionen von Menschen, darunter schätzungsweise 830.000 LiquidatorInnen, mehr als 350.000 Evakuierte aus der 30-km-Zone und weiteren sehr stark kontaminierten Regionen, ca. 8,3 Millionen Menschen aus den stark strahlenbelasteten Regionen in Russland, Weißrussland und der Ukraine sowie ca. 600 Millionen Menschen in anderen Teilen Europas, die geringeren Strahlendosen ausgesetzt waren.
Rund 36 Prozent der Gesamtradioaktivität gingen damals über Weißrussland, Russland und der Ukraine nieder, etwa 53 Prozent über dem Rest Europas. Elf Prozent verteilten sich über den restlichen Globus. Die Angaben zur Kollektivdosis bewegen sich von 2,4 Millionen Personensievert (Quelle: Sowjetunion 1986, weltweit, Zeitraum 70 Jahre) bis zu 55.000 Personensievert (Quelle: IAEO/ WHO 2005, nur Weißrusssland, Russ26
land und Ukraine, Zeitraum 20 Jahre). Und die gesundheitlichen Folgen zeigten sich anders als von den Wissenschaftlern der Atomindustrie und ihrer Lobby prognostiziert.
Krebserkrankungen Unerwartet schnell war schon drei oder vier Jahre nach Beginn der Atomkatastrophe ein rasanter Anstieg von Schilddrüsenkrebsen bei Kindern zu verzeichnen, besonders in der hoch belasteten Zone von Gomel, Weißrussland. IAEO und WHO erkannten den Zusammenhang zum Super-GAU erst zehn Jahre später an. UNSCEAR gab 2008 6.848 behandelte Schilddrüsenkrebserkrankungen bei Menschen an, die 1986 unter 18 Jahre alt waren. Auch in Russland und der Ukraine stiegen die Schilddrüsenkrebszahlen bei Kindern. Und nicht nur Kinder, auch Erwachsene und ganz besonders Frauen zeigen in den betroffenen Gebieten zunehmende Schilddrüsenkrebsraten.
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n Weißrussland kam es laut Daten des nationalen Krebsregisters zu einem generellen Anstieg diverser Krebsarten neben Schilddrüsenkrebs. Besonders betroffen waren dabei die Prostata, die Haut, die Nieren, der Darm, das Knochenmark, das lymphatische System und die weibliche Brust. Auch stellten die MedizinerInnen einen signifikanten Anstieg von Brustkrebs und Kinderleukämien sowohl in Weißrussland als auch in der Ukraine fest. Ivanov et al. berichteten 2002 zudem von einem erhöhten Auftreten von Krebserkrankungen in den besonders strahlen-
belasteten russischen Gebieten von Kaluga und Bryansk. Vor allem in der Gruppe der LiquidatorInnen wurden vermehrt Leukämien und Schilddrüsenkrebs diagnostiziert.
Nichtkrebserkrankungen Bei allen hochbestrahlten Populationen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken findet sich zudem ein deutlicher Anstieg von Nichtkrebserkrankungen wie z.B. benignen Tumoren, kardiovaskulären, zerebrovaskulären, respiratorischen, gastrointestinalen, endokrinologischen und psychischen Erkrankungen, Katarakten und Störungen der Intelligenzentwicklung. Die Anzahl dieser Erkrankungen übersteigt die Anzahl der Krebserkrankungen bei weitem. Es dauerte 23 Jahre, bis UNSCEAR kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Erkrankungen sowie Katarakte bei LiquidatorInnen als strahlungsbedingt anerkannt hat. Frühe Studien aus Weißrussland, Russland und der Ukraine an belasteten Evakuierten und Kindern zeigen zudem einen Anstieg von Veränderungen der Blutzellen und daraus resultierender Abwehrschwäche sowie von obstruktiven und nichtobstruktiven Lungenerkrankungen.
Störungen des Erbguts Fehlbildungen, chromosomale Aberrationen und die Erhöhung der perinatalen Sterblichkeit (Tot- und Fehlgeburten) wurden bereits in den ersten Jahren der Atomkatastrophe in Weißrussland, der Ukraine und in einigen mittel- und osteuropäischen Ländern registriert. In Weißrussland und in West-Berlin stieg die Anzahl von Neugeborenen mit Down-Syndrom. Alfred Körblein und Hagen Scherb wiesen in verschiedenen Untersuchungen eine erhöhte Peri-
natalsterblichkeit in Deutschland, Polen, Ungarn und in den skandinavischen Ländern nach und stellen eine Relation zur Cäsium-Belastung her. Scherb und Sperling haben die Anzahl der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten in Deutschland auf ein- bis dreitausend geschätzt. Für drei skandinavische Länder schätzte Körblein die Zahl der zusätzlichen Tot- und Fehlgeburten auf ca. 1.200. In neuen Studien konnten Scherb und Weigelt zeigen, dass sich auch das Geschlechterverhältnis zwischen weiblichen und männlichen Neugeborenen zugunsten des männlichen Geschlechts veränderte. 500.000 Mädchen fehlen demnach in West-Europa. Diese Studien sowie die ausführlichen weißrussischen Arbeiten zu Fehlbildungen, Tot- und Fehlgeburten werden allerdings bisher von den internationalen Institutionen (UNSCEAR, IAEO, ICRP) nicht in Betracht gezogen. Deren Wissenschaftler halten an einer Schwellendosis für teratogene und chromosomale Schäden fest. Diese Annahme wurde inzwischen von zahlreichen Studien widerlegt.
Gesundheit der LiquidatorInnen Die LiquidatorInnenen stellen die am schwersten betroffene Gruppe im Rahmen der Atomkatastrophe von Tschernobyl dar. Bezüglich des Ausmaßes der Morbidität und Mortalität bei den LiquidatorInnen existieren zwar unterschiedliche Zahlenangaben, aber über die Tatsache, dass die meisten von ihnen an mehreren verschiedenen schweren Krankheiten leiden (Multimorbidität) und deshalb arbeitsunfähig sind, herrscht in den medizinischen Studien Einigkeit. Yablokov schätzt aufgrund verschiedener Studien, dass bis 2005 schon 112.000-125.000 LiquidatorInnen verstorben sind. Die Hauptursache 27
sind Schlaganfälle und Herzinfarkte, die zweithäufigste Todesursache sind Krebserkrankungen. Die Tschernobylforscher Burlakova und Bebeshko identifizierten viele somatische Veränderungen als strahlenbedingte, vorzeitige Alterungsprozesse. Den IPPNW-Report „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima“ finden Sie unter: kurzlink.de/F5T30
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ie medizinisch-biologische Bewertung von Strahlenfolgen ist bis heute eine kontroverse Angelegenheit. Es geht um den Streit, wie viel radioaktive Kontamination eine Gesellschaft aus industriepolitischen Gründen heraus ertragen muss – ähnlich wie bei der Bewertung von chemisch und toxisch bedingten Umweltschäden. Doch jenseits des alten Streits zwischen den Befürwortern der sogenannten friedlichen Nutzung von Atomenergie und deren Gegnern um das Ausmaß der gesundheitlichen Schäden nach Atomunfällen und die Folgen langfristiger Strahlenexposition, mehren sich die von beiden Seiten anerkannten Forschungsergebnisse, die nachweisen, dass ionisierende Strahlung gefährlicher ist als bislang angenommen.
Angelika Claußen ist VizePräsidentin der europäischen IPPNW.
Fotos: © Hermine Oberrück
KINDERKRANKENHAUS IN GOMEL, WEISSRUSSLAND.
Das leise Tschernobyl Eine weißrussische Kinderärztin berichtet aus dem Kreis Buda Koschelowa
Foto: © Arkadiusz Podniesinski
TSCHERNOBYL: DER REAKTOR MIT NEUER SARKOPHAGKONSTRUKTION (2012)
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Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl ist das Hauptnuklid Cäsium-137, das Weißrussland radioktiv verseuchte, zur Hälfte zerfallen. Viele Menschen sind geneigt zu denken, dass die Gefahr nun vorbei sei und wir zu einem Leben frei von Radioaktivität zurückkehren können. Wir vergessen dabei, dass der vollständige Zerfall von Cäsium-137 oder Strontium-90 280 Jahre braucht. In unserem Bezirk sind auch die Plutoniumisotope 238, 239, 240 verteilt. Alle Siedlungen im Kreis Buda Koschelowa gehören zur Zone mit Radioaktivitätskontrolle – das wird sich auch in den nächsten Jahren nicht ändern.
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atürlich haben 1986 in dem mit 1-40 Curie pro Quadratkilometer und mehr verseuchten Gebiet Menschen gelebt. Die Umsiedlung der Menschen in saubere Gebiete, die Stilllegung der Böden, der natürliche Zerfall der Radionuklide, die Führung der Betriebe gemäß agrochemischen Schutzmaßnahmen der belasteten Böden hat einige Ergebnisse gebracht: Die Gebiete sind sauberer und es gibt keine Siedlungen, die eine Jahresäquivalentdosis von mehr als einem Millisievert auf-
weisen. Aber gleichzeitig fand sich bei den Untersuchungen kein Mensch, der nicht in größerem Maße das radioaktive Cäsium 137 aufgenommen hatte (gemessen wird das vom Körper aufgenommene Cäsium pro Kilogramm Körpergewicht) – weder bei den Kindern, noch bei den Erwachsenen. Die radioaktiven Zerfallsprodukte bleiben in der Nahrungskette. Die Strahlung verändert oder zerstört die Strukturen der Zellen. Auch das Erbgut wird verändert, wobei Mutationen und chromosomale Störungen zunehmen. Im Kreis Buda Koschelowa – im Bezirk Gomel – wurde in den letzten zehn Jahren, zwischen 2005 und 2015, der Zuwachs von genetischen Störungen bei den Nachkommen der verstrahlten Eltern beobachtet. Die Zahl der Kinder ist zurückgegangen und dementsprechend auch die Anzahl von Kindern, die als Invaliden eingestuft werden. Aber bei den Nachkommen verstrahlter Kinder steigen die angeborenen Krankheiten tendenziell an. 2005 wurden 40 Prozent der Kinder mit angeboren Krankheiten als invalide eingestuft – zehn Jahre später, 2015, waren es schon 50 Prozent. Chromosomale Erkrankungen wie das Downsyndrom, Mukoviszidose, Phenylketonurie oder Spinale Muskelatrophie haben zugenommen: Im Jahr 2005 waren 28
3,5 Prozent und 2015 schon 11,6 Prozent der im Kreis geborenen Kinder erkrankt. Außerdem beobachten wir zunehmend angeborene Herzanomalien: Im Jahr 2005 lag der Wert bei 6,4 Prozent, im Jahr 2015 bei 17,2 Prozent der im Kreis geborenen Kinder.
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in Zuwachs an onkologischen Erkrankungen ist auch zu verzeichnen: Im Jahr 2005 lag der Wert bei 2,85 Prozent, im Jahr 2015 bei 5,9 Prozent der Gesamtbevölkerung. Meiner Einschätzung nach werden durch die ionisierende Strahlung genetisch bedingte Erkrankungen und Invalidität zunehmen. Wir könnten sie verringern, wenn wir bei Schwangeren und Kindern regelmäßig Ganzkörperuntersuchungen durchführten – und danach unterschiedliche Maßnahmen zur Gesundung in unverstrahlten Gebieten. Das wäre weitaus kostengünstiger, als schwerkranke Kinder zu behandeln.
Die Folgen der Katastrophe 1986 lebten im Kreisgebiet 52.000 Menschen, 10.100 davon waren Kinder. 1.164 Menschen arbeiteten im Zeitraum zwischen 1986 und 1989 als LiquidatorInnen. Ihre
FUKUSHIMA, TSCHERNOBYL
„Die Brisanz des Themas lässt mit der Zeit nach, aber das leise Tschernobyl lebt – in den Schicksalen von tausenden Menschen in den belasteten Gebieten wird es sich fortsetzen.“ durchschnittliche Jahresdosis wird auf 100 Millisievert (mSv) geschätzt. Von ihnen leben noch 745, einige zogen weg, über 400 sind gestorben. 1.600 Menschen wurden aus anderen Kreisen nach Buda Koschelowa evakuiert. Die Durchschnittsdosis dieser Menschen wird mit 33 mSv angegeben. Von ihnen leben noch 300 in der Region, die meisten sind gestorben. Die Einwohner anderer Dörfer im Kreis sind mit 10-20 mSv belastet. Von den 1.350 Personen leben noch 938, die von uns ärztlich betreut werden. Insgesamt leben im Kreis noch 28.974 Menschen. Das heißt, die Bevölkerung hat sich seit dem Reaktorunglück um 40,2 Prozent verringert.
Diese Katastrophe ist für uns von ihren Dimensionen her mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs in unserer Region vergleichbar. Zum Vergleich: Während des Zweiten Weltkrieges hatten die Männer aus Buda Koschelova in der Roten Armee gekämpft. 2.000 ZivilistInnen waren während des Krieges durch die faschistischen Truppen erschossen, verbrannt oder lebend begraben worden. 1.500 wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Im Dezember 1943 war die Region durch die Rote Armee befreit worden.
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is 1986 hatte die Sterblichkeitsrate bei 14,5 und die Geburtsrate bei 15,2 pro 1.000 gelegen. 1986 hatten wir keinen Krieg, trotzdem schnellte die Sterblichkeitsrate in diesem Jahr auf 22,2 hoch. Heute ist es uns dank des medizinischen Fortschritts gelungen, sie auf 19,5 zu senken. Die Geburten nahmen nach dem Super-GAU ab, weil die Menschen die Region verließen, weil sie Angst vor Fehlbildungen ihrer Kinder hatten oder weil sie unfruchtbar geworden waren. 20 Jahre nach dem Unfall hat der Staat be-
gonnen, junge Familien finanziell zu unterstützen. Damit war ein Anreiz geschaffen, Kinder zu haben. Die Geburtenrate stieg dadurch immerhin auf 13,7 pro 1.000. Dabei wäre es wichtig, dass jeder Mensch Zugang zu medizinischen Untersuchungsmöglichkeiten hat. Nach 1986 hat es viele Schwangerschaftsabbrüche gegeben, hauptsächlich, weil man Angst vor Fehlbildungen hatte. Bis heute verlaufen nur 10-15 Prozent der Schwangerschaften normal, vermutlich infolge der ionisierenden Strahlung.
Reales Ausmaß verschwiegen Vor Tschernobyl wurden 73 Prozent der untersuchten jungen Erwachsenen für die Armee tauglich befunden, 2015 waren es nur noch 48 Prozent. Unter Kindern und Jugendlichen gibt es seit 2003 vermehrte Todesfälle aufgrund von Alkoholmissbrauch, Drogen und Suizid. Die Sterbestatistik der Erwachsenen ist mit Vorsicht zu interpretieren, denn im Kreis gibt es nicht ausreichend Spezialärzte, die angemessen diagnostizieren können. Uns fehlen auch die nötigen Geräte für Untersuchungen. Die Todesursachen lauten: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Lungenerkrankungen, endokrinologische Erkrankungen, Knochen- und Muskel-Erkrankungen, Bluterkrankheiten oder hohes Alter. Das Ausmaß der menschlichen Tragödie wird mit der medizinischen Statistik verschwiegen. Onkologische Erkrankungen werden nicht benannt. Erwachsene, die vor der Katstrophe keinerlei chronische Erkrankungen aufwiesen, sind seitdem zu Invaliden geworden. Ihre zunächst gesunden Kinder entwickelten nach der Strahlenbelastung maligne und chronische Erkrankungen, dazu kommen psychische Störungen ohne Behandlungschancen.
und in ständiger Angst vor neuen Krankheiten und finanziellen Sorgen. Die größeren zentralen und republikanischen Krankenhäuser sind wesentlich besser ausgestattet als die vor Ort, hier müssen aber die Behandlungskosten privat aufgebracht werden. Eine internationale Anti-Atom-Gesetzgebung müsste auf den Weg gebracht werden. Die AKWs laufen weiter – in über 30 Ländern weltweit. (In Weißrussland wird gerade ein neues mit russischem Geld gebaut, Anmerkung der Redaktion.) Gibt es für die in der Nähe der AKWs lebenden Menschen Garantien für ein gefahrloses Leben? Haben sie Zugang zu wahrheitsgetreuen Informationen? Die Spielregeln für Fußball und Eishockey sind in allen Ländern der Welt gleich, aber die Regeln der Strahlensicherheit arbeitet jedes Land nach eigenem Gutdünken aus.
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einer Meinung nach müssten internationale Experten die Todesursachen und Krankheitsverläufe der LiquidatorInnen, Evakuierten und Umgesiedelten erforschen; nicht um irgendwelche Vorteile für diese Menschen zu erreichen, sondern um sich über die Folgen der Radioaktivität auch für die kommenden Generationen ein Bild zu machen. Wir brauchen weltweit Expertengruppen, die vorurteilsfrei die Bevölkerung untersuchen, um die Risiken für die Zukunft abzuschätzen, und um internationale Anti-Atom-Gesetze zu schaffen. Valentina Smolnikowa ist inderärztin im Kreis Buda Koschelowa in Gomel, Weißrussland.
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ie vielen leidvollen Erkrankungen während des Lebens spiegelt die Todesstatistik nicht wider. Mit Statistiken kann man die Folgen von Tschernobyl nicht erfassen. Nicht nur die Liquidatorenfamilien, sondern alle Familien, die in der Region geblieben sind, leben mit psychischer Anspannung 29
Übersetzung: Irina Gruschewaja und Dörte Siedentopf.
WELT
Die Wahrheit aufdecken Das Symposium „Nuclearisation of Africa“ vom 16.-19. November 2015 in Johannesburg
tem Wasser und durch den radioaktiven Boden bedroht. Wir besuchten eine dieser Siedlungen, gebaut auf einer Abraumhalde, in der 1.800 Menschen leben, die drei Toiletten und drei Wasserstellen zur Verfügung haben.
W DIE DELEGATION AUS NIGER IN JOHANNESBURG..
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m 16. November 2015 begann das Symposium „Nuclearisation of Africa“ in Johannesburg, organisiert von der Schweizer IPPNW, dem Uranium Network Freiburg und der „Federation for a Sustainable Environment“ aus Südafrika. Etwa 90 TeilnehmerInnen aus afrikanischen Staaten wie dem Niger, Nigeria, Tansania, Ghana sowie aus Kanada, USA, Frankreich, und der Schweiz u.a. diskutierten über den Uranabbau und seine gesundheitlichen und sozialen Konsequenzen. Die Plenarvorträge und Workshops des ersten Tages befassten sich mit der Situation der Bevölkerung in Südafrika und Australien in der Umgebung der Uranminen und mit der Frage einer “nuklearen Renaissance”. Am zweiten Tag hörten wir Berichte aus Niger, dem Kongo, aus Frankreich und Kanada sowie der Gegend um Johannesburg in Südafrika. Es ging um die Gesundheit der dort lebenden Menschen. In Südafrika lagert viermal soviel radioaktiver Uran-Müll wie in allen anderen Ländern der Welt zusammen. Das liegt an dem Abraum der Goldminen, die seit dem 19. Jahrhundert ausgebeutet wurden. In diesem Abraum kommt immer auch Uran vor. Am dritten Konferenztag konnten wir uns ein eigenes Bild von den Hinterlassenschaften der Witwatersrand-Goldfelder
und den Lebensbedingungen in unmittelbarer Nachbarschaft machen. Während der einstündigen Fahrt sahen wir, wie die Stadt Johannesburg sich immer mehr zwischen den sterilen, kahlen Abraumhügeln (Tailings) und tiefen, verlassenen Tagebaugruben ausbreitet. Vier große Minen haben dort seit 120 Jahren Gold und zum Teil auch Uran gefördert. Grund- und Oberflächenwasser sind mit Uran und Schwermetallen verseucht. Die Salze der Schwermetalle fallen aus, wenn das zur Extraktion benötigte Wasser mit einem pH-Wert von 2 mit wässriger Lauge neutralisiert wird und anschließend als braune Giftbrühe in die Umwelt gepumpt wird. Dieses Wasser enthält u.a. 2.500 mg Schwefel/l, der WHO-Standard für Trinkwasser liegt bei 200 mg/l. Die Urankonzentration bei Rindern, die dort grasen, ist im Vergleich zur Kontrollgruppe in den Nieren 4.350 mal höher, in Knochen 60 mal höher und in der Leber 26 mal höher. Durch Minen, die aufgegeben und geflutet wurden, gelangt stromabwärts stark verunreinigtes Wasser ins Flussbett und gefährdet dort die Bevölkerung. Insgesamt leben 1,6 Millionen Menschen nahe den Goldminen, und es gibt zahlreiche nicht legalisierte Siedlungen, “informal settlements”. Die Gesundheit ist durch hohe Konzentrationen von Radongas, radioaktivem Staub, verseuch30
ir hatten im Vorfeld unterschrieben, dass wir die Fahrt in eigener Verantwortung unternehmen. Mariette Liefferink von der Federation for a Sustainable Environment hat die Exkursion für uns organisiert und uns begleitet. Sie besucht wöchentlich die Menschen, bringt ihnen Obst und unterstützt sie bei Gerichtsverhandlungen. Sie sprach von Kleinwuchs, onkologischen Erkrankungen und Nierenerkrankungen. Der Ausflug gewährte einen Blick in den nuklearen Abgrund. Dabei bestehen für Afrika Alternativen zur zentralen Nuklearisierung: Am letzten Konferenztag wurden praktische, intelligente Alternativen der Energiegewinnung vorgestellt. Eine kleine Kommune ist dabei, alles zu verwerten: Es gibt tragbare Öfen, die mit wenig Holz Wasser zum Kochen bringen; Solarenergie speichern und wie ein Baukastensystem erweitert werden können.
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ine zentrale Forderung des Kongresses ist die nach einem weltweiten Verbot des Uranabbaus. Besonders in Afrika setzen sich derzeit junge AktivistInnen für dieses Ziel ein. Wie kann eine weltweite Kampagne zum „U-Ban“ aussehen? Ein erstes Positionspapier mit Ideen zu einer Kampagne ist in Arbeit und wird auf dem Fukushima-Tschernobyl-Kongress in Berlin diskutiert.
Dr. Dörte Siedentopf ist Mitglied der IPPNW.
AKTION
FRANKFURT
BERLIN.
Frieden für Syrien! Aufschrei gegen den Bundeswehreinsatz In 24 deutschen Städten gingen Anfang Dezember Tausende auf die Straße, um gegen das Mandat für den Einsatz der Bundeswehr in Syrien zu demonstrieren. Dieses war innerhalb kürzester Zeit durch den Bundestag geschleust worden. 445 Abgeordnete stimmten dafür, ihnen gegenüber standen nur 145 Gegenstimmen. Umso wichtiger war es, dass allein in Berlin 3.000 Menschen dem Aufruf des Aktionsbündnisses „Kein Bundeswehr-Einsatz in Syrien“ folgten, um ihre Ablehnung einer militärischen Lösung kundzutun. In München folgten 500 DemonstrantInnen ihrem Beispiel, in Aachen waren es 120. Von den 445 BefürworterInnen aus dem Parlament kamen beinahe alle aus dem Koalitionslager. Nur zwei Abgeordnete von CSU/CDU stimmten dagegen, in der SPD waren es schon 28. Die Linke war sich in ihrer Ablehnung einig, bei den Grünen stimmten drei von 63 Abgeordneten für den bewaffneten Einsatz.
BERLIN.
BIELEFELD. 31
GELESEN
GESEHEN
In eigener Sache:
Fakten über Auschwitz
Grüße aus Fukushima
Neonazis und den sogenannten Revisionisten ist bei ihrer Geschichtsfälschung nahezu jedes Mittel recht. Viele Menschen lassen sich dadurch verunsichern und fragen insgeheim sogar, ob der Massenmord an den europäischen Juden tatsächlich stattgefunden hat. Till Bastians neu erschienenes Buch will als ein Gegengift wirken.
Pünktlich zum fünften Jahrestag der atomaren Katastrophe kommt der neue Film von Dorris Dörrie „Grüße aus Fukushima“ in die Kinos. In dem Film geht es um die junge Deutsche Marie, die nach dem Verlust ihrer großen Liebe Deutschland verlässt, um in Japan neu anzufangen.
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ort angekommen, arbeitet sie als Clown, um Freude in das Leben der BewohnerInnen von Fukushima zu bringen, die immer noch unter elenden Bedingungen in Notunterkünften leben. Doch die junge Frau (Rosalie Thomass) bemerkt schnell, dass sie für diese Arbeit nicht gemacht ist. Während ihrer Sinnsuche trifft sie auf Satomi (Kaori Momoi), die letzte Geisha von Fukushima. Die will auf eigene Faust in ihr altes Haus zurückziehen, das in der Sperrzone liegt.
m Sommer 1992 erschien sein Text über Auschwitz als „Rundbrief-Sondernummer” zum ersten Mal. Der Titel: „Menetekel Auschwitz – Erinnern hilft Vorbeugen“. Ein Anlass für die Veröffentlichung war die schmutzige Welle fremdenfeindlicher Gewalt, die damals durch das just eben wiedervereinigte Deutschland brandete. 1993 wurde dann das Buch „Auschwitz und die ‚Auschwitz-Lüge“ beim Münchner Verlag C.H. Beck daraus. Das Büchlein erlebte fünf Auflagen sowie eine italienische und eine japanische Übersetzung – im neuen Jahrtausend ging das Interesse allerdings deutlich zurück und der Band war eine ganze Weile nicht mehr lieferbar. Dann hat der Verlag sich höchst erfreulicher Weise entschlossen, eine überarbeitete Neuauflage auf den Markt zu bringen. Für diese hat der Autor einen großen Stapel neuer Fachliteratur durchgeforstet – der Text ist umfassend überarbeitet und ergänzt worden. Traurigerweise erscheint er zu einer Zeit, in der Fremdenfeindlichkeit und Rassismus neuerlich um sich greifen. Eben deshalb sei dieses Buch den IPPNW-Mitgliedern ans Herz gelegt – heute wie damals, vor 24 Jahren…
Der Film hätte zum fünften Jahrestag die Chance geboten, die enormen sozialen Verwerfungen zu skizzieren, die die atomare Katastrophe in Japan verursacht hat. Er hätte die katastrophalen Folgen für Umwelt und Gesundheit in der Präfektur Fukushima thematisieren können. Aber Dorris Dörrie bleibt hier an der Oberfläche. Das Thema wird zwar tangiert, etwa wenn Marie mit einem Geigerzähler Hotspots misst, die Kamera über die blauen Müllsäcke mit der kontaminierten Erde schwenkt oder Satomi aus ihrer Notunterkunft in ihre alte Heimat flieht, weil sie es in der Enge des Containerdorfes nicht mehr aushält. Aber es bleiben eben nur Randnotizen. Doris Dörrie stellt die Beziehung der beiden sehr unterschiedlichen Frauen in den Vordergrund ihres Films, den Zusammenprall zweier unterschiedlicher Kulturen und Generationen. Sie erzählt eine Geschichte vom Verlust geliebter Menschen, aber auch der Heimat, in sehr poetisch berührenden Schwarz-Weiß-Bildern.
Till Bastian: Auschwitz und die ‚Auschwitz-Lüge‘. Massenmord, Geschichtsfälschung und die deutsche Identität. 6., überarbeitete und aktualisierte Auflage, C.H. Beck 2016. 137 S., 12,95 €, ISBN 978-3-406-68799-0
Vormerken!
Nach Dörries wunderbarem preisgekrönten Film „Kirschblüten – Hanami” hatte ich mir von dem Film mehr erhofft. Am 10. März 2016, unmittelbar vor dem fünften Jahrestag der Atomkatastrophe, kommt „Grüße aus Fukushima“ in die deutschsprachigen Kinos. Bei der Berlinale erhielt der Film den Preis des Internationalen Verbands der Filmkunsttheater.
OKTOBER 14.–15.10.2016 Internationaler Kongress „Medizin & Gewissen“ in Nürnberg
Angelika Wilmen
www.medizinundgewissen.de 32
GEDRUCKT
TERMINE
IPPNW-Report Gesundheitliche Folgen der Super-GAUs Eine Studie zu den gesundheitlichen Folgen der beiden Atomunfälle: Institutionen wie die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und der Wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) spielen die Folgen der Super-GAUS bis heute herunter. „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 30 Jahre Leben mit Fukushima“, 84 Seiten A4, 10,- Euro. Anschauen unter: kurzlink.de/F5T30. Bestellen unter shop.ippnw.de
MÄRZ März-April Hibakusha Weltweit: Ausstellung in Fürth 11.3. Fünfter Jahrestag der Atomkatastrophe in Fukushima 21.3. Die nukleare Kette – Von Hiroshima bis Fukushima, Bremen 25.-28.3. Ostermärsche 26.3. Beginn der Dauerpräsenz und Aktionen vor den Toren des Atomwaffenlagers Büchel. Mehr Infos: http://buechel-atomwaffenfrei.de 29.03. „Grenzen öffnen für Menschen, Grenzen schließen für Waffen“, Vortrag und Disskussion, Kiel
AKW-Abriss
APRIL
Dauerhafter Einschluss statt Rückbau?
18.4.-6.5. Hibakusha Weltweit: Ausstellung in Rottweil
Der überwiegende Teil der gering kontaminierten AKW-Abfälle soll nicht endgelagert, sondern „freigegeben“ werden. Das IPPNW-Akzente erörtert den Stand der öffentlichen Diskussion, informiert über verschiedene Verfahren, mit den stillgelegten AKWs umzugehen und klärt über gesundheitliche Gefahren für die Bevölkerung auf. 4 Seiten A4, Stückpreis 0,50 Euro. Anzuschauen ist das Heft unter: issuu.com/ippnw
24.4. Präsentation des „Schwarzbuch Waffenhandel“, Eggenfelden 26.4. 30. Jahrestag der Atomkatastrophe in Tschernobyl
MAI 20.5. „Fluchtursachen“, Vortrag von Prof. Dr. Hanne Margret Birckenbach auf der MV in Mönchengladbach
GEPLANT
20.5. „Flucht und Krieg: deutsche Handlungsoptionen“, Vortrag von Karin Leukefeld in Mönchengladbach
Das nächste Heft erscheint im Juni 2016. Das Schwerpunktthema ist:
Fluchtursachen und Flüchtlingshilfe
JUNI
Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 146/Juni 2016 ist der 30. April 2016. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de
11.6. Menschenkette in Ramstein 26.6.-3.7. IPPNW-Aktionswoche in Büchel
IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS
Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland
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Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika Wilmen, Regine Ratke Freie Mitarbeit: Maximilian Sarre, Hannah Mertgen Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körtestraße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80 74-0, Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de, www.ippnw.de, Bankverbindung: Bank für Sozialwirtschaft, Kto-Nr. 2222210, BLZ 10020500, IBAN DE39 1002 0500 0002 2222 10, BIC BFSWDE33BER Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Artikel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke bedürfen der schriftlichen Genehmigung. Redaktionsschluss für das nächste Heft: 30. April 2016 Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout: Regine Ratke; Druck: Vivian Schneider Berlin; Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC.
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Einfach mal raus! Yoga im Forsthaus. Kleine Gruppen, ohne Esoterik. www.Yoga-im-Forsthaus.de Leben und Mitgründen einer kleinen Gemeinschaft im Wendland: www.Forsthaus-Hofgemeinschaft.de
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6 Fragen an … Ursula Sladek
Stromrebellin und Gründerin der Elektrizitätswerke Schönau
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Frau Sladek, Sie und Ihr Mann Michael Sladek haben 1994 die Elektrizitätswerke Schönau gegründet und wurden in der Presse als „Stromrebellen“ bezeichnet. Sehen Sie sich selbst als Rebebellin? Diese Bezeichnung wurde uns – ich sage mal liebevoll – von den Medien verliehen. Die Übernahme des Stromnetzes und der Stromversorgung in Schönau war nur mit einem „rebellischen Geist“ möglich, sieben Jahre Kampf und zwei Bürgerentscheide hat es gebraucht, bis die Schönauer BürgerInnen sich gegen die Übermacht des großen Energieversorgers und die lokalen Widerstände durchsetzen konnten. Heute kämpfen wir für das in der Verfassung verbriefte Recht der Kommunen, die Energieversorgung in eigener Regie zu betreiben, was durch das kartellrechtliche Regime konsequent verhindert wird. Wie viele StromkundInnen konnten Sie seit Bestehen der EWS gewinnen? Wir hatten Ende 2015 rund 161.000 Stromund ca. 11.000 GaskundInnen in der Versorgung. Unsere Stromund GasabnehmerInnen fühlen sich in Mehrheit nicht nur als Kunden, sondern als Mitstreiter für die Umsetzung der Energiewende.
Sie haben gemeinsam mit BürgerInnen aus ganz Europa und 30 Umweltverbänden Beschwerde bei der EU-Kommission eingereicht, weil diese Subventionen für das britische AKW Hinkley Point C genehmigt hat. Worum geht es dabei? Der Energiekonzern Electricité de France will im englischen Hinkley Point eines der größten AKWs der Welt bauen. Finanzierbar ist das Projekt nur mit Subventionen durch die britische Regierung. Ein Garantiepreis von über 11 Cent pro Kilowattstunde soll über einen Zeitraum von 35 Jahren gewährt werden, dazu kommt ein jährlicher Inflationsausgleich, so dass die Vergütung nach Berechnungen der Financial Times bis zum Ende des Förderzeitraums auf rund 35 Cent je Kilowattstunde ansteigen wird. Der britische Staat sagt außerdem rund 20 Milliarden Bürgschaften und weitere Garantien zu. Diese Beihilfen verstoßen gegen europäisches Wettbewerbsrecht – die EU-Kommission hatte sie dennoch im Oktober 2014 genehmigt. Ein solcher Präzedenzfall ist geeignet, dem Neubau von AKWs in Europa Tür und Tor zu öffnen. Im Oktober 2015 konnte die EWS mit über 180.000 Beschwerdebriefen an die EU aufzeigen, dass die Bevölkerung die umstrittene Entscheidung strikt ablehnt.
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Wie bewerten Sie die Politik der großen Koalition im Hinblick auf die Energiewende? Ziemlich miserabel: Schwarz-Rot nennt die Energiewende eines der zentralen Vorhaben der Bundesregierung – Taten folgen nicht. Zum Beispiel das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG): Die Bundesregierung hat eifrig mit in das allgemeine Klagen eingestimmt, dass die Erneuerbaren Energien die Strompreise in die Höhe treiben würden und diese „Erkenntnis“ als Grundlage für die Änderungen im EEG 2014 genommen. Doch die Erneuerbaren sind nicht der wesentliche Strompreistreiber. Nicht einmal die Hälfte der EEG-Umlage von aktuell 6,354 Cent pro Kilowattstunde kommt tatsächlich deren Ausbau zugute. Der größere Teil entfällt auf sogenannte „sonstige Kosten“, wie unter anderem die weitgehende Befreiung der Großindustrie von der EEG-Umlage und der Konstruktionsfehler im EEG-Vermarktungsmechanismus. Doch statt die Befreiung der Großindustrie zu beenden und endlich ein neues Marktdesign zu schaffen, hat die Regierung Gesetzesänderungen vorgenommen, die unter der Überschrift „atmender Deckel“, „verpflichtende Direktvermarktung“, „Ausschreibung für Erneuerbare Energien“ die Energiewende ausbremsen und deren Akzeptanz gefährden.
EWS plante im letzten Jahr gemeinsam mit Yauemon Satoh, dem „Schönauer Stromrebellen“ 2014, eine Photovoltaikanlage in der verstrahlten Zone von Fukushima zu errichten. Was ist daraus geworden? Yauemon Satoh und Tetsunari Iida gründen mit weiteren Beteiligten eine Stiftung, deren Ziel es ist, die Bürger und Kommunen in der Präfektur Fukushima mittels Erneuerbarer Energien und lokaler/regionaler Stromverteilung zu unterstützen. Yauemon Satoh hat inzwischen mehrere PV-Anlagen gebaut, unsere finanzielle Unterstützung fließt in die Stiftung Fukushima MADEI Foundation, der die EWS beratend zur Seite steht.
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Sie haben sich 2015 aus dem Vorstand der Netzkauf Schönau EWS zurückgezogen. Was sind Ihre Pläne für die nächsten Jahre? Mein Mann und ich sind altershalber ausgeschieden. Wir engagieren uns weiter für die Energiewende: Uns bleibt uns nun mehr Zeit, uns um die grundsätzlichen Rahmenbedingungen der Energiewende zu kümmern, uns mit der Zivilgesellschaft und den Anforderungen für ein klimafreundliches Wirtschaften auseinanderzusetzen, Menschen zu ermutigen und zu begeistern. Vollständiges Interview auf dem Blog: blog.ippnw.de/?p=1836 34
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20 Wochen für 20 Bomben: Stoppt die nukleare Aufrüstung in Deutschland!
137 Seiten mit 18 Abbildungen. Paperback € 12,95 ISBN 978-3-406-68799-0
Dieses Buch stellt kurz und prägnant alle wichtigen Fakten über das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zusammen – Vorgeschichte und Geschichte des nationalsozialistischen Massenmordes werden in einer „Chronologie des Terrors“ dargelegt. Schließlich informiert der Autor grundlegend über die „revisionistische“ Literatur und schildert die Hintergründe und Auswirkungen der „Auschwitz-Lüge“. „Eine sachliche Antwort auf eine unsachliche Diskussion, ein Beitrag zur politischen Kultur dieses Landes, das die Geister der Vergangenheit nicht los wird.“ Badische Neueste Nachrichten
C.H.BECK www.chbeck. de
Zwanzig Kalender-Wochen stellvertretend für die etwa 20 Atombomben, die in Büchel stationiert sind: ab dem 26. März bis zum Nagasaki-Gedenktag, dem 9. August 2016 werden Gruppen und Einzelpersonen an den Haupttoren des Atomwaffenstützpunktes Büchel Mahnwachen halten oder andere gewaltfreie Aktionen durchführen.
Die IPPNW und ICAN werden vom 26. Juni bis zum 3. Juli vor Ort sein. Habt Ihr Lust, mitzumachen? Dann meldet Euch bitte bei Ernst-Ludwig Iskenius: iskenius@ippnw.de Mehr Infos findet Ihr unter: www.atomwaffenfrei.de/buechel
+ Medizinische Friedensarbeit + Menschenrechte in der Medizin + Ökonomie & Gesundheitspolitik
5. Internationaler IPPNW-Kongress
Medizin & Gewissen
Was braucht der Mensch? Nürnberg, 14. – 15. Oktober 2016 ReferentInnen u.a.: Martin Beckmann | Prof. Dr. Dr. h.c. Heiner Bielefeldt | Carlotta Conrad
Prof. Dr. Michael von Cranach | Dr. Frank Dörner | Prof. Dr. Dr. Klaus Dörner | Prof. Dr. Wolfgang Eckart Prof. Dr. Frank Erbguth Erika Feyerabend | Prof. Dr. Andreas Frewer | Thomas Gebauer | Prof. Dr. Helfried Gröbe | Dr. Judith Hahn | Dr. Monika Hauser | Prof. Dr. Gerrit Hohendorf | Prof. Dr. Thomas Kühlein | Prof. Dr. KarlHeinz Leven | Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig | Katja Maurer | Dr. Gisela Penteker | Prof. Dr. Dieter Riesenberger Prof. Dr. Volker Roelcke | Jörg Schaaber | Dr. Horst Seithe | Harald Weinberg | Dr. Michael Wunder
www.medizinundgewissen.de Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung e.V. Regionalgruppe Regionalgruppe Nürnberg – Fürth – Erlangen der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW)
Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Körtestraße 10, 10967 Berlin, Tel. 030 / 698 07 40 www.ippnw.de info@ippnw.de