Foto: © Danish Red Cross / Jakob Dall
ippnw forum
das magazin der ippnw nr152 dez 2017 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
– Atomwaffen: Der Weg zur Abschaffung – Die Normalisierung von Folter – Abrüsten statt Aufrüsten!
Klimawandel, Konflikt und Gesundheit: Die Rolle von MedizinerInnen
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Wem gehört die Welt? Einblicke in die Machtverhältnisse des globalen Kapitalismus
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EDITORIAL Franziska Pilz ist IPPNW-Mitglied und hat die Global Health Summer School 2017 organisiert.
Grafik: Freepik
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ls Medizinerinnen und Mediziner können wir neue gesellschaftliche Allianzen eingehen, um den verheerenden Gesundheitsfolgen des Klimawandels vorzubeugen und darüber aufzuklären. Es ist höchste Zeit, zu handeln.
Mit seinem Artikel „Die unbewohnbare Erde“ im New York Magazine hat David WallaceWells im Juli 2017 weltweit für Aufregung gesorgt. Im Gegensatz zu den relativ optimistischen Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change resümiert WallaceWells die pessimistischeren Studien von KlimaforscherInnen und die Auswirkungen, die eine Erderwärmung von über vier Grad auf das menschliche Dasein haben könnte. Sarah Hurtes ist sich sicher, dass aufgrund von Artikeln wie dem von Wallace-Wells dem Thema Klimawandel und den gesundheitlichen Folgen mehr Beachtung geschenkt wird. Doch sie fragt sich auch, ob es nicht die Menschen überfordert und entmutigt, wenn sie von solch desaströsen Auswirkungen lesen. Sie stellt uns ihre Strategien vor, wie man Mitmenschen von der Dringlichkeit des Handels gegen den Klimawandel überzeugen kann. Wir als Ärztinnen und Ärzte können die notwendigen Klimaschutzmaßnahmen für die globale Gesundheit in der Öffentlichkeit und gegenüber der Politik ansprechen und auf eine Reduktion des ökologischen Fußabdrucks im Gesundheitswesen drängen. Gerade hat sich die „Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit“ gegründet, in der auch IPPNW-Mitglieder mitarbeiten. Wie Klimawandel und globale Konflikte zusammenhängen, erklärt Christoph Bals. Klimabedingte Katastrophen erhöhen das Risiko für den Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen, besonders in Ländern, die verletzlich gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels sind. Das Titelbild stammt von einer der schweren Überflutungen in Uganda und wurde von der WHO im Rahmen des Weltgesundgheitstages 2008 zur Verfügung gestellt. Ihre Franziska Pilz 3
INHALT Humanitäre Katastrophe: Cholera-Ausbruch im Jemen
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THEMEN Atomwaffen: Den Weg zur Abschaffung beschreiten
....................
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Cholera-Ausbruch im Jemen .......................................................................10 Ein Besuch in Athen: Gespräch mit Giorgos Vichas ..................... 11 Die Normalisierung von Folter
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Abrüsten statt aufrüsten ...............................................................................14 Foto: Felton Davis / CC BY 2.0
Untersuchungen in Fukushima unterminiert ......................................16 Die siebente Global Health Summer School in Berlin ............... 19
SERIE Die Nukleare Kette: Atomunfall in Goiânia, Brasilien ................ 18
Klimawandel: Neue Allianzen tun not
20 SCHWERPUNKT Klimasolidarität jetzt
....................................................................................
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Der Planet schlägt zurück ........................................................................... 22
Foto: BUND Bundesverband/CC BY-NC 2.0
Den Klimawandel kommunzieren ............................................................24 Globale Energiewende als Friedensprojekt........................................ 26 Gesunde Energie: Forderungen der Klimaallianz HEAL ............ 28 Klimaschutz ist Gesundheitsschutz ...................................................... 29
WELT Schilddrüsenkrebs: Untersuchungen unterminiert
Der richtige Augenblick: Der Weltkongress in York ...................... 30
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RUBRIKEN Editorial ......................................................................................................................3 Meinung .....................................................................................................................5
Foto: © Ian Thomas Ash / A2 - B - C
Nachrichten .............................................................................................................6 Aktion .......................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine ....................................................................... 33 Gefragt .................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis ............................................................................. 33 4
MEINUNG
Dr. Alex Rosen ist Vorsitzender der deutschen IPPNW.
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Die Wissenschaftler des „Bulletin of the Atomic Scientists“ bezeichneten Atomwaffen und den Klimawandel Anfang des Jahres als die größten globalen Bedrohungen für die Menschheit.
ährend die Klimapolitik bei den gescheiterten Sondierungsgesprächen vor dem Hintergrund der Bonner Klimakonferenz eine dominante Rolle spielte, waren atomare Abrüstung und Friedenspolitik öffentlich kaum ein Thema. Und dies, obwohl die Welt zwischenzeitlich am Rande eines Atomkrieges stand, weil sich Donald Trump und Kim Jong-un mit völkerrechtswidrigen Drohungen, Todesurteilen und Vernichtungsphantasien überboten.
So vermissten IPPNW und ICAN in dem öffentlich bekannt gewordenen Zwischenergebnis der Sondierungsgespräche ein eindeutiges Bekenntnis zum UN-Atomwaffenverbot. Offen blieb ebenfalls die Frage der Aussetzung der geplanten „Modernisierung“ und des Abzugs der US-Atomwaffen aus Büchel. Während sich die Grünen für diese Forderungen eingesetzt hatten, blockierten FDP, CDU und CSU. Enttäuschend war dabei vor allem die Rolle der Liberalen, die sich offensichtlich von ihrer langjährigen abrüstungspolitischen Tradition verabschiedet haben.
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erheerend waren zudem die Ergebnisse der Sondierungen in der Asylpolitik. Es droht die Entrechtung von Schutzsuchenden in Europa durch Asyllager außerhalb der EU, noch mehr Abschottung durch Ausbau von Frontex, Abschiebungen aus Haftlagern an der EU-Grenze sowie eine „Duldung light“, die ein Bleiberecht für langjährig Geduldete erschweren würde. Auch wenn diese Szenarien jetzt erst einmal vom Tisch sind, ist das Scheitern der Jamaika-Koalition kein Erfolg, sondern eine Bankrotterklärung der beteiligten Parteien. Sie waren nicht in der Lage, den Wählerwillen durch konstruktive Verhandlungen und tragfähige Kompromisse in konkrete Politik umzusetzen. Jetzt drohen dem Land ungewisse Zeiten. Gewinner sind lediglich die Feinde der Demokratie, die auf eine Zunahme der Politikverdrossenheit und weiteren Zulauf hoffen. Unabhängig davon, wer die nächste Bundesregierung stellt, werden wir, mit dem Friedensnobelpreis für unsere Kampagne ICAN im Rücken, weiterhin das Gespräch mit der zukünftigen Bundesregierung und den Bundestagsabgeordneten suchen und öffentlich Druck für unsere politischen Ziele machen.
Dr. Alex Rosen 5
Foto: Takver, CC BY-SA 2.0
Foto: UAA Nee / Martin Walter
NACHRICHTEN
Menschenrechte und Verbrechen im atomaren Zeitalter
Tansania: Oppositionspolitiker Tundu Lissu angeschossen
Klimakonferenz in Bonn: Aktionen gegen Atomkraft
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om 14. bis 17. September 2017 fand in Basel die u.a von der IPPNW Schweiz organisierte Konferenz „Menschenrechte, zukünftige Generationen und Verbrechen im atomaren Zeitalter“ statt. ÄrztInnen, AnwältInnen, WissenschaftlerInnen und AktivistInnen diskutierten über die Auswirkungen von Atomwaffen und -energie auf den Menschen, Rechte von Opfern und den Schutz zukünftiger Generationen. Zum Beispiel wurden die oft verharmlosten Risiken radioaktiver Strahlung, insbesondere der sogenannten „Niedrigstrahlung“ mittels wissenschaftlicher Untersuchungen dargelegt. Eine Delegation aus Japan berichtete eindrücklich von den Folgen der Reaktorkatastrophe in Fukushima, über verschleppte Entschädigungszahlungen und Gerichtsprozesse der Betroffenen. Dass auch der Uranbergbau als Beginn der Brennstoffkette mit schweren Schäden für Gesundheit und Umwelt einhergeht, machten Berichte aus Niger deutlich.
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In einer gemeinsamen Erklärung bekräftigten die Teilnehmenden, dass die Risiken und Auswirkungen von Atomwaffen und -energie ein Verbrechen gegen zukünftige Generationen darstellt und forderten, dass der Einsatz von Atomwaffen sowie die Schäden für Gesundheit und Umwelt durch nukleare Aktivitäten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes anerkannt werden soll.
Die Regierung sah sich darüber hinaus in der Kritik, da sie erst spät mitteilte, die Kosten für die Behandlung des Oppositionspolitikers zu übernehmen. Aus Angst um seine Sicherheit wurde Lissu in ein Krankenhaus nach Nairobi, Kenia, geflogen. Ursprünglich sollte er auf der Konferenz „Menschenrechte, zukünftige Generationen und Verbrechen im atomaren Zeitalter“ vom 14. bis 17. September 2017 in Basel über den geplanten Uranabbau im UNESCO-Weltnaturerbe Selous berichten.
Mehr Infos unter: events-swiss-ippnw.org
m 7. September 2017 wurde der bekannte tansanische Oppositionspolitiker Tundu Lissu von Unbekannten durch mehrere Schüsse schwer verletzt. Er schwebt mittlerweile aber nicht mehr in Lebensgefahr. Unklar ist bislang, von wem die Schüsse ausgingen. Der tansanische Präsident John Magufuli verurteilte den Angriff und versprach Aufklärung. Die Oppositionspartei Chadema forderte bei den Untersuchungen Unterstützung aus dem Ausland, da sie den tansanischen Sicherheitsbehörden misstraut. Tundu Lissu ist Präsident der Tanganyika Law Society und setzt sich gegen den Abbau von Uran in Tansania ein. Er ist einer der bekanntesten Kritiker des tansanischen Präsidenten John Magufuli. Seit Beginn von dessen Präsidentschaft sah sich Lissu bereits neun Verhaftungen ausgesetzt. Magufuli wird kritisiert, weil er zunehmend autoritär regiert und die Meinungsfreiheit einschränkt.
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wei Tage vor Beginn der Weltklimakonferenz gingen in Bonn 25.000 Menschen für eine Wende in der Energiepolitik auf die Straße. Eine Woche später, pünktlich zum Karnevalsauftakt am 11. November 2017, startete eine Klimademonstration der anderen Art mit über 2.000 Menschen. Unter dem Motto „Schluss mit dem faulen Zauber – Wir treiben die bösen Geister des Klimawandel aus: Kohle, Erdöl, Atom“ forderten sie den Einsatz für globale Klimagerechtigkeit, den Stopp der Zerstörung von Lebensgrundlagen und der Vertreibung von Menschen, einen verbindlichen Fahrplan für den Kohleausstieg sowie ein Nein zur Atomkraft als Klimaretter. Auf einer Pressekonferenz des Antiatombündnisses „Don’t nuke the climate“, an dem die IPPNW beteiligt ist, informierten VertreterInnen von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus Ländern des globalen Südens über den Widerstand gegen Kohle- und Uranabbau sowie Kohle- und Atomkraft. „In Indien kämpfen Zehntausende für Klimagerechtigkeit und eine Energiewende hin zu sauberer und leistbarer Energieversorgung“, sagte Kumar Sundaram von der indischen Antiatom-Organisation DiaNuke. Pinar Demircan von der atomkritischen türkischen Organisation Nükleersiz.org ergänzte: „Wir brauchen keine teuren, gefährlichen Atomkraftwerke, sondern eine Politik für erneuerbare Energien, eine saubere Umwelt und Umweltschutz für die Bevölkerung.“ Weitere Infos unter: www.dont-nuke-the-climate.org
Foto: Darmstädter Signal
Foto: UAA Nee / CC BY-SA 2.0
N ACHRICHTEN
Tagung „Neue Entspannungspolitik jetzt!“
Bunte Menschenkette für Beitritt zum UN-Atomwaffenverbot
Gutachten: Uranfabriken können stillgelegt werden
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nter dem Titel „Neue Entspannungspolitik jetzt!“ veranstaltete die IPPNW gemeinsam mit anderen Organisationen vom 13.-15. Oktober 2017 eine Tagung in Königswinter. 70 TeilnehmerInnen diskutierten, wie Sicherheit im Sinne einer Friedenspolitik neu gedacht werden kann. Vor dem Hintergrund von Aufrüstung und Drohungen durch NATO und Russland beschäftigte sich die Tagung insbesondere mit deutscher und europäischer Entspannungspolitik. Europäische Sicherheit könne nur gemeinsam mit Russland erreicht werden. Eine Zusammenarbeit sei nötig, um eine weitere Konfrontation und ein neues Wettrüsten zu verhindern, war gemeinsamer Konsens der Veranstalter. Angelika Claußen, IPPNW-Vizepräsidentin für Europa, unterstrich in ihrem Vortrag über den Atomwaffenverbotsvertrag, dass die Antwort auf den drohenden Konflikt zwischen USA und Nordkorea friedenslogisches Denken und Handeln sein müsse. Gegen eine Erhöhung der Rüstungsausgaben und eine Aufrüstungsspirale wandte sich Anfang November mit dem Aufruf „Abrüsten statt aufrüsten“ zudem ein ungewöhnlich breites gesellschaftliches Bündnis an die Öffentlichkeit. Dazu zählen u.a. der Nobelpreisträger Paul Crutzen, die Gewerkschaftsvorsitzenden Reiner Hoffmann und Frank Bsirske, die Theologin Margot Käßmann sowie WissenschaftlerInnen wie Gesine Schwan und Ernst Ulrich von Weizsäcker. Zu den UnterzeichnerInnen gehören auch die IPPNW-Vorsitzenden Alex Rosen und Susanne Grabenhorst. Mehr dazu auf Seite 9 im Forum intern.
it einer ein Kilometer langen bunten und kreativen Menschenkette zwischen den Botschaften der USA und Nordkoreas haben am bundesweiten Aktionstag der Friedensbewegung, am 18. November 2017, rund 700 Menschen in Berlin ein Zeichen gegen atomare Aufrüstung und die Gefahr eines Atomkrieges gesetzt. Dabei führten mehrere FriedensaktivistInnen eine große Weltkugel mit sich, die von Kim Jong-un mit einer nachgebauten Atombombe in Originalgröße „verfolgt“ wurde. Ein weiterer Friedensaktivist stellte Donald Trump dar, der ebenfalls eine Bombenattrappe schob. In der Mitte trafen sich die beiden Regierungschefs und bedrohten die Weltkugel von beiden Seiten, die daraufhin von den DemonstrantInnen beschützt wurde, die sich zwischen Weltkugel und Bombenattrappen stellten. Mit der Aktion verband ein breites Bündnis von Friedens-, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen die Forderung an die künftige Bundesregierung, dem UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen beizutreten und die US-Atombomben aus Deutschland abzuziehen. Am Ende ging die Forderung der Friedensaktivisten zumindest als Theater in Erfüllung: Am Brandenburger Tor rüstete ein Aktivist mit der Maske von UN-Generalsekretär António Guterres symbolisch eine Atomrakete ab. Die Darstellerin mit der Maske von Bundeskanzlerin Angela Merkel unterzeichnete anschließend den UN-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen. Mehr dazu auf Seite 31.
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ie Stilllegung der Atomfabriken in Gronau und Lingen wäre nicht verfassungswidrig. Das geht aus einem aktuellem Rechtsgutachten für das Bundesumweltministerium hervor. Mehrere Anti-Atom-Organisationen – darunter die IPPNW – begrüßen das neue Rechtsgutachten, das das von der IPPNW in Auftrag gegebene Gutachten der Rechtsanwältin Cornelia Ziehm stützt. „CDU, FDP und Grünen stehen in Berlin, aber auch in Düsseldorf und Hannover im Wort,“ meinte Matthias Eickhoff vom „Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen“. Vor dem Hintergrund des neuen Rechtsgutachtens sei es völlig unverständlich, warum sich in den letzten Jahren in Sachen Urananreicherung und Brennelementeproduktion politisch so wenig getan habe. Der auch in Gronau tätige internationale Urananreicherer Urenco beliefert rund zehn Prozent des Weltmarktes mit angereichertem Uran zur Brennelementeproduktion. Kunden sind u. a. die belgischen AKW-Betreiber, aber z. B. auch die Ukraine. In Lingen produziert der französische Atomkonzern Areva direkt für die belgischen AKW, aber z. B. auch für Länder wie Frankreich, die Niederlande, die Schweiz, Schweden und Finnland. AtomkraftgegnerInnen fordern bereits seit langem ein Aus für Uranexporte sowie die Stilllegung dieser beiden Atomfabriken. Im Atomausstiegsgesetz wurden sie 2011 nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima aber „vergessen“ und dürfen deshalb derzeit noch unbefristet weiterlaufen.
ATOMWAFFEN
Den Weg zur Abschaffung beschreiten Atomwaffenverbotsvertrag: ICAN bekommt den Friedensnobelpreis
Internationale Demokratie und Multilateralismus in der UN haben mit dem Atomwaffenverbot einen wichtigen Meilenstein erreicht. Damit könnten die Tage der nuklearen Abschreckung und somit die Macht der Wenigen über die Mehrheit gezählt sein. Der Friedensnobelpreis für ICAN stärkt die Anti-Atomwaffen-Bewegung.
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und für ICANs bahnbrechende Bemühungen um einen Verbotsvertrag. In seiner Begründung hob das Nobelkomitee hervor, dass die Gefahr eines Einsatzes von Atomwaffen größer ist als zur Zeit des „Kalten Krieges“, insbesondere wegen der laufenden atomaren Aufrüstung und der verstärkten Gefahr der Proliferation.
as Verhalten wütender Staatschefs wie Donald Trump und Kim Jong-un ist beängstigend. Gleichzeitig ermöglicht es uns, die Grenzen der nuklearen Abschreckung endlich zu begreifen. Der Androhung, ein „Feindesland“ komplett auszulöschen, was nur mit Atomwaffen möglich ist, müssen wir das Völkerrecht entgegensetzen. Militärische Mittel sind keine Antwort auf solche Drohungen. Die einzige sinnvolle Antwort der internationalen Gemeinschaft ist es, solches Verhalten zu ächten. Bisher sind sich darin „nur“ die Länder einig, die Atomwaffen als Mittel der Politik ohnehin ablehnen. Um einen Durchbruch zu erreichen, müssen Staaten wie Deutschland sich beteiligen, die zwar auf dem Papier auf Atomwaffen verzichten, in der Realität jedoch die Politik der Abschreckung aufrechterhalten. Erst wenn diese Länder teilnehmen, können die Atomwaffenstaaten isoliert und ein Paradigmenwechsel vollzogen werden.
Das Komitee machte deutlich, dass Atomwaffen eine fortwährende Bedrohung für die Menschheit und alles Leben auf der Erde darstellen. Darüber hinaus hob es das mit einem Einsatz von Atomwaffen verbundene menschliche Leid hervor. Die Kampagne habe dazu beigetragen, die Lücke eines gesetzlichen Verbotes von Atomwaffen zu schließen und mit ihrer Arbeit der Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Welt neues Leben eingehaucht. Darüber hinaus betonte das Komitee, dass als nächster Schritt in Richtung einer atomwaffenfreien Welt die Atomwaffenstaaten in den Prozess eingebunden werden müssen. Die Verleihung des Friedensnobelpreises an ICAN versteht das Nobel-Komitee daher auch als Aufruf an diese Staaten, Verhandlungen zur Abschaffung der Atomwaffen einzuleiten. Berit Reiss-Andersen, Mitglied des Nobel-Komitees, sagte nach ihrer Rede, das Komitee wolle die norwegische Regierung ermutigen, ihrer Verpflichtung unter dem Atomwaffensperrvertrag nachzugehen und den Verbotsvertrag zu unterstützen.
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m 20. September 2017 wurde der Verbotsvertrag in den Vereinten Nationen feierlich zur Unterzeichnung eröffnet. 53 Staaten haben bisher unterzeichnet, drei Parlamente haben den Vertrag sogar schon ratifiziert. ICAN-Direktorin Beatrice Fihn hielt bei der Eröffnungszeremonie eine Rede: „Wir erleben am heutigen Tag, wie das Völkerrecht den Massenvernichtungswaffen die Stirn bietet, indem es den Einsatz, den Besitz und die Entwickung von Atomwaffen verbietet.“ Sie verglich den Prozess mit anderen bahnbrechenden Umbrüchen wie der Abschaffung der Sklaverei oder dem Wahlrecht für Frauen, die anfänglich keinen Konsens in der Gesellschaft hatten. „Fortschritt geschieht nicht, wenn alle so weit sind, sondern muss erkämpft werden. Jemand muss den Mut haben und den Weg als erster beschreiten“. In Oslo muss jemand diese Rede gehört haben. Nur kurze Zeit später, am 6. Oktober 2017, wurde bekanntgegeben, dass ICAN den Friedensnobelpreis erhält: Für die Arbeit, auf die katastrophalen humanitären Folgen des Einsatzes von Atomwaffen aufmerksam zu machen
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n Italien erhielt ICAN kurz darauf den „Golden Doves Award“. Danach wurde Susi Snyder von ICAN im italienischen Parlament von allen politischen Fraktionen empfangen. Seitdem konnten ICAN-Partnerorganisationen in Italien mehr als 200 Abgeordnete für den weltweiten parlamentarischen Aufruf für ein Atomwaffenverbot gewinnen. Nach der Bundestagswahl sind deutsche PolitikerInnen mit der Neubildung der Bundesregierung beschäftigt. Aufgrund des Friedensnobelpreises haben wir mehr Einfluss gewonnen und durch 8
ATOMWAFFEN
MENSCHENKETTE GEGEN ATOMWAFFEN AM 18. NOVEMBER 2017 IN BERLIN
Deswegen ist es an der Zeit, dass die IPPNW zu ihrer Uraufgabe zurückkehrt: der Verhinderung des Atomkriegs. Die alten Ängste kommen wieder – oder in der jüngeren Generation zum ersten Mal – hoch. Wir müssen auf die Straße gehen und uns an die Politik wenden mit der Aussage: Die nukleare Abschreckung schützt uns nicht, sondern gefährdet die Menschheit. Sie führt in eine immer schärfer werdende Eskalationsspirale von Drohungen, die mit Militärübungen, Überflügen mit Atomwaffenträgersystemen, Raketen- und Atomtests glaubwürdig gemacht werden. Die Schwelle zum Einsatz von Atomwaffen wird durch deren „Modernisierung“ kleiner. Der Verbotsvertrag ist das Stoppschild, das wir hochhalten können. Deutschland muss dieses Schild in die Hand nehmen und zusammen mit der Staatenmehrheit und der Mehrheit der eigenen Bevölkerung gegen die Gefahr aufstehen.
die Weltlage mehr Aufmerksamkeit für das Thema. Aber das ist keine Garantie dafür, dass wir es schaffen, die Unterstützung für ein Atomwaffenverbot in den kommenden Koalitionsverhandlungen einzubringen. Zwar hatten die Grünen uns nach der Bekanntgabe des Friedensnobelpreises lautstark ihre Unterstützung zugesichert, aber die FDP ruderte bezüglich des Abzugs der USAtomwaffen zurück und nahm gemeinsam mit der Union eine eher ablehnende Position ein. Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche ist noch völlig offen, mit welchen Parteien wir es bei unserer Lobbyarbeit für einen deutschen Beitritt zum UN-Vertrag über ein Verbot von Atomwaffen künftig zu tun haben werden.
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teffen Seibert hatte ICAN im Namen der alten Bundesregierung per Twitter zum Friedensnobelpreis gratuliert. ICAN Deutschland antwortete mit der Frage, wann die Bundesregierung dem Vertrag beitreten würde. In der Bundespressekonferenz kam gleich die Antwort: „Solange es Staaten gibt, die Europa mit Atomwaffen drohen würden, setzt Deutschland bei der Verteidigung auf die nukleare Abschreckung.“ Das ist eine neue Lesart des NATO-Mantras „solange Atomwaffen existieren, wird die NATO eine nukleare Allianz bleiben“. Aus dieser Schleife kommen wir nur schwer heraus – außer durch ein Ereignis, das wachrüttelt.
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m 10. Dezember 2017 wird der Friedensnobelpreis verliehen. Das ist ein Tag zum Feiern – und das werden wir auch tun. Gleichzeitig ist dieser Tag aber auch eine Chance, unsere Nachricht auf die Straße und in die Medien zu bringen. Die IPPNW hat deswegen dazu aufgerufen, am 9. und 10. Dezember 2017 bundesweit Solidaritätsveranstaltungn zu organisieren. Mehrere Mitglieder sind bei den Feierlichkeiten in Oslo dabei. Bei Public Viewings können wir nicht nur an der Zeremonie teilnehmen, sondern diesen Moment auch mit der Öffentlichkeit teilen und weiter über die Gefahr von Atomwaffen aufklären. Dabei haben wir mit dem UN-Vertrag über ein Verbot von Atomwaffen die Lösung in der Hand. Wir müssen nur den Weg zur völkerrechtlichen Ächtung weiter beschreiten und die Bundesregierung dabei mitnehmen.
Der Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland wurde durch Fukushima eingeleitet. Oft höre ich die Meinung, dass ein Atomwaffeneinsatz ein ähnliches Umdenken mit sich bringen könnte. Darauf mag ich nicht setzen, weil eine solche Katastrophe nicht nur hohe Kosten für Mensch und Umwelt hätte. Es besteht das reelle Risiko, dass der Einsatz einer Atomwaffe in einen Atomkrieg mündet, der die Welt an den Abgrund bringen würde. In letzter Zeit ist öfter die Rede davon, dass die MitarbeiterInnen im Weißen Haus alle Hände voll zu tun haben, den Präsidenten vom roten Knopf fernzuhalten. Im Ausschuss des US-Senats wurde deshalb Mitte November zum ersten Mal seit mehr als vier Jahrzehnten darüber beraten, ob die Autorität des US-Präsidenten zur Anordnung eines Atomwaffenangriffs geändert werden sollte. Mehrere Senatoren äußerten Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Präsidenten.
Xanthe Hall ist Atomwaffencampaignerin und Leiterin der Geschäftsstelle der deutschen IPPNW. 9
FRIEDEN
USA: PROTEST GEGEN DEN KRIEG IM JEMEN Fotos: Felton Davis / CC BY 2.0
Cholera-Ausbruch im Jemen Das Land ist von Krieg, Belagerung und politischer Instabilität geplagt
Der Jemen leidet an einer menschengemachten Katastrophe. Die andauernde politische Instabilität wurde durch die Belagerung und den fortwährenden Krieg verursacht, den Saudi-Arabien und eine Koalition arabischer Staaten mit Unterstützung der USA seit 2015 führt. Inzwischen hat sich die Situation durch die Blockade der Luft-, Land- und Seeverbindungen in den Jemen noch weiter verschlimmert.
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ufgrund des Krieges benötigen 22,7 Millionen Menschen humanitäre Hilfe. 3,3 Millionen Kinder und schwangere oder stillende Frauen sind akut unterernährt. Es gibt mehr als drei Millionen Binnenvertriebene. Sowohl der Krieg als auch die Belagerung haben den Kollaps grundlegender Dienste und Institutionen verursacht. Laut einem humanitären Bericht von UNOCHA ist die jemenitische Wirtschaft vorsätzlich zerstört worden. Die Schäden an Infrastruktur und andere Verluste werden auf 19 Milliarden Dollar geschätzt. Die Belagerung und die kontinuierliche Zerstörung der Infrastruktur führten dazu, dass kein sicheres Wasser verfügbar ist und Nahrungsmittel und wichtige medizinische Reserven knapp wurden. Dadurch stieg die Belastung aller Bereiche, insbesondere des Gesundheitssektors: Schätzungsweise 14,8 Millionen Menschen haben keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung und nur 45 Prozent der Gesundheitseinrichtungen sind funktionsfähig. Darüber hinaus wurde die Nationalbank unter die Kontrolle der Regierung des Südens gestellt, die von Saudi-Arabien unterstützt wird. Dies trug weiter zum Leid der jemenitischen Bevölkerung bei, da die Menschen in den nördlichen Provinzen, die 80 Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmachen, seitdem ihrer Gehälter beraubt werden. All diese Faktoren haben einen nahrhaften Boden für die beispiellose Verbreitung von Cholera geschaffen. Seit April 2017 wurden über 48.473 Fälle von akutem Durchfall gemeldet, von denen 1.961 tödlich endeten (Stand: August 2017). Diese Zahl ist nicht überraschend – die Cholera ist als Krankheit der Armen bekannt. Durch den Mangel an sauberem Trinkwasser und die Unterernährung ist die Bevölkerung anfällig – so konnte sich die Cholera ungebremst fast im ganzen Land ausbreiten. Ohne die internationlen Organisationen, die das zusammenbrechende Gesundheitssystem unterstützten, hätte der Cholera-Ausbruch noch mehr Todesfälle verursacht.
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it der Hilfe von WHO, UNICEF, Ärzte ohne Grenzen, des Welternährungsprogramms und anderen Partnern konnte das Gesundheitsministerium Behandlungszentren für Cholera und Stationen für Elektrolytersatzlösung im ganzen Jemen aufbauen. Das Ministerium für Wasser und sanitäre Einrichtungen vesetzte Wasserspeicher und -tanks mit Chlor. Trotzdem muss noch mehr getan werden. Aufgrund der Schließung von wichtigen Flughäfen und Häfen ist es sehr schwie10
rig, unverzichtbare Arzneimittel gegen den Cholera-Ausbruch bereitzustellen. Ohne Bezahlung ist das medizinische Personal nicht in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Manche PatientInnen können die Transportkosten zu den nahe gelegenen Gesundheitseinrichtungen nicht aufbringen. Auch wenn die Fälle von Cholera jüngst zurückgegangen sind, wird es 2018 wohl einen neuen Ausbruch geben, wenn nicht ernsthafte Anstrengungen gemacht werden, um Wasserversorgung, Gesundheits- und Sanitärsystem in der nahen Zukunft zu stärken. Der Cholera-Ausbruch ist nicht die einzige Belastung für das Gesundheitssystem. Im Jemen wurden Meningitis- und Masern-Ausbrüche registriert und eine große Anzahl chronisch kranker PatientInnen (wie beispielsweise Krebskranke und Menschen mit Nierenversagen) können aufgrund fehlender Arzneimittel nicht behandelt werden. Diese Krankheiten sind nur ein Symptom der echten Probleme: Krieg, Belagerung und politische Instabilität, die der jemenitischen Bevölkerung fortwährend Schaden zufügen. Solange wir diese zugrundeliegenden Probleme nicht angehen, werden Fälle von Cholera und Unterernährung sowie Krankheits- und Sterbe-Raten weiter ansteigen.
Nada Taqi ist Ärztin und arbeitet für Medact.
SOZIALE VERANTWORTUNG
Foto: vdää
Foto: Martin Broek / cc-by-nc/2.0
Ein Besuch in Athen Das griechische Gesundheitswesen wird immer weiter zusammengespart
„Ja, angeblich ist nun alles besser“, sagt Dr. Giorgos Vichas und schaut mich an, als hätte ich das behauptet. Wir beginnen unser Gespräch in einem Eiscafé neben der Akropolis im Zentrum Athens. Doch für die Vergangenheit hat Vichas nicht viel übrig. Als ich ihn frage, wie es denn vorher gewesen sei, schaut er mich überrascht an. Vor dem neuen Gesetz, das dafür sorgte, dass Menschen ohne Versicherung wieder in die Krankenversorgung aufgenommen wurden? „Ach vor der Krise“… sein Blick schweift in die Ferne, als würde er sie suchen, die Vergangenheit. Ja, da wäre auch nicht alles gut gewesen, aber schon besser als jetzt. Vor allem ärgere ihn, dass der Gesundheitsminister sage, das Gesundheitssystem würde nun reformiert und verbessert. Verbessern? Jedes Jahr wird das Geld für den Gesundheitsbereich gekürzt. Dieses Jahr um 200 Millionen, für nächstes Jahr seien 300 Millionen weniger geplant. Immer weniger. Er seufzt. Der Träger des Medical Peace Work Award 2016 hat die größte solidarische Klinik in Griechenland aufgebaut. In Elliniko im Süden Athens sind seit der Gründung 2011 etwa 70.000 PatientInnen versorgt worden. Unzählige Medikamentenpackungen wurden ausgegeben, laut dem Krankenhausteam 100.000 pro Jahr. Alles kostenlos und von den sogenannten „Solidarians“ getragen: ÄrztInnen, Pflegepersonal, Menschen aus dem Stadtteil. Ein Drittel der Bevölkerung ist sieben Jahre nach Beginn der Krise ohne Krankenversicherung und damit bis vor kurzen auch ohne Zugang zum Gesundheitssystem gewesen. Die Babysterblichkeitsrate stieg auf 4,2 Prozent an, es steigen auch die HIV-Infektionen, auch Malaria gibt es in Griechenland wieder.
Eine Trendwende ist nicht in Sicht. 20.000 ÄrztInnen sind ins Ausland gegangen. Was Austeritätspolitik im Gesundheitsbereich bewirkt, kann man hier beobachten Und sie ist nicht vorbei. Das „Memorandum“, der Zwang zum Sparen, ist omnipräsent. „Das neue Gesetz, das die Menschen wieder in das Gesundheitssystem integrieren sollte, gibt es auf dem Papier, aber nicht im echten Leben“, sagt Vichas und rührt in seinem Capucchino. „Hundert Millionen haben die Behandlungen für Nicht-Versicherte in diesem Jahr gekostet. Bezahlt wurde bis jetzt nichts. Die Krankenhäuser tragen die Kosten.“ Er erzählt von der neuen Intensivstation im staatlichen Krankenhaus in Katerini, 70 Kilometer von Thessaloniki. Seit sechs Monaten sei sie jetzt in Betrieb. Aber bisher hat der Staat keinen Cent bezahlt. „Der Klinikchef muss am Essen, am Personal, an allem sparen“, sagt er.
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ie Klinik in Elliniko versucht seit dem neuen Gesetz, die PatientInnen wieder in die Regelversorgung zu bringen und schickt alle, die nun prinzipiell Zugang haben, in die Krankenhäuser. „Die Menschen sollen sich nicht an die Soli-Kliniken gewöhnen“, sagt Vichas. „Außerdem soll es eine Rückmeldung des echten Bedarfs geben, das ist wichtig.“ Aber das Gesetz bringt wenig, wenn der Bedarf nicht finanziert wird. Für Vichas kann es ohne eine andere Politik keine gute Medizin geben. Deswegen hat die Solidaritätsklinik zwei Prinzipien: Akute Hilfe durch medizinische Versorgung und die Bekämpfung der Austeritätspolitik. 11
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ür Vichas zeigt sich das ganz deutlich an der Gesetzesänderung. Ja, jetzt könne man ins Krankenhaus gehen, nur gebe es dort dann fast nichts mehr oder man müsse ewig warten. Mehr Menschen haben nun wieder Zugang – doch bei ständig sinkenden Ausgaben kann das natürlich nicht funktionieren. Die Menschen mit Krankenversicherung können auf private ÄrztInnen und Labore ausweichen, die Versicherung trage dann die Kosten. Nichtversicherte können das weiterhin nicht. Schon vor der Krise habe der Bedarf an Gesundheitsleistungen nur zusätzlich mit den privat arbeitenden ÄrztInnen abgedeckt werden können, die Krankenhäuser seien auch damals schon nicht ausreichend ausgestattet gewesen. Der größere Bedarf nach staatlichen Leistungen kann also jetzt erst Recht nicht abgedeckt werden. Und so kommen von 8 bis 22 Uhr täglich PatientInnen in die Klinik. „Es ist sehr schwierig, hier in Griechenland außerhalb des Memorandums zu denken. Die Schulden müssen einfach weg“, sagt Vichas. „Gerade wenn die Menschen unter der Krise leiden, darf nicht im Gesundheitssystem gespart werden.“ Infos über die Arbeit der Klinik Elliniko unter: www.mkiellinikou.org/en
Maren Janotta ist Referentin für Soziale Verantwortung in der IPPNWGeschäftsstelle.
Die Normalisierung von Folter Beteiligung von MedizinerInnen am „Krieg gegen den Terror“
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or zehn Jahren schrieb Murat Kurnaz in seinem Buch „Fünf Jahre meines Lebens“: „Wir müssen darüber berichten, wie die ÄrztInnen nur kamen, um zu überprüfen, ob wir tot waren oder noch etwas mehr gefoltert werden konnten.“ Damals schockierten diese Worte. Doch seitdem haben der US-Senat und mehrere der Gefolterten entsetzliche Details der US-Folterpraktiken und die Beteiligung von MedizinerInnen am „Krieg gegen den Terror“ öffentlich gemacht. In einem Präzedenzfall gegen die Straflosigkeit von Folter erreichten zwei US-Militärpsychologen im August 2017 einen vertraulichen Vergleich, statt sich vor Gericht verantworten zu müssen. Zuvor hatten die AnwältInnen von Bruce Jessen und James Mitchell versucht, die Klage abzuweisen.
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n Großbritannien hatte es vorher schon Fälle von Zahlungen gegeben, mit denen Prozesse verhindert wurden. Dabei ging es um die Mittäterschaft bei Folter und um die illegale Auslieferung von Gefangenen. Bei Mitchell und Jessen geht es um die Folterer selbst. Die Psychologen entwickelten und überwachten das CIA-Folterprogramm, nahmen daran teil und bildeten andere aus. Dieses Programm markiert den Angriff der Bush-Regierung auf den internationalen Menschenrechtsschutz am deutlichsten. Die Normalisierung von Folter und die Dämonisierung muslimischer Männer gehören zu den schrecklichsten Vermächtnissen des Krieges gegen den Terror. Die heutige
Terrorismusbekämpfung baut auf diesen von den USA und einigen ihrer Verbündeten geschaffenen neuen Normen auf. Die Nürnberger Prozesse und die begleitenden UN-Konventionen vor 70 Jahren waren ein rechtliches Unterfangen, um individuelle Verantwortung und Rechenschaft für Gräueltaten zu etablieren und die Welt gegen die Würdelosigkeit zu schützen.
Der Jemen heute Das Beispiel Jemen zeigt, wie weit wir gekommen sind. Ein von Saudi-Arabien angeführtes und von den USA unterstütztes Bündnis bombardiert seit zwei Jahren das verarmte Land. Dort gibt es heute ein Netzwerk geheimer Gefängnisse, betrieben von Militärs der Arabischen Emirate und aus dem Jemen. Folter ist Routine und US-BeraterInnen beteiligen sich an Verhören von mutmaßlichen Al-Qaida-/IS-Gefangenen. Der gerichtliche Vergleich von Mitchell und Jessen ist ein Meilenstein. Die beiden Männer hatten als Auftragnehmer der CIA mehr als 81 Millionen US-Dollar erhalten. Sie begannen ihre Arbeit mit einem verwundeten Palästinenser saudischer Staatsangehörigkeit in einem geheimen Gefängnis in Thailand. Abu Zubeyda wurde innerhalb eines Monats 83 Mal durch Waterboarding gefoltert und fast allen brutalen US-Folterpraktiken unterworfen, die 2014 in einem Senatsbericht bekannt geworden waren. 12
Obwohl er dem FBI schon alle Informationen gegeben hatte, waren sich CIA, Mitchell und Jessen sicher, dass die Folter mehr zum Vorschein bringen würde. Jahre später gaben die USA zu, dass alle Vorwürfe gegen Zubeyda unbegründet waren – er ist nie Mitglied von Al Quaida gewesen. Trotzdem ist er bis heute in Guantánamo. Der Senatsbericht enthüllt, dass Washington dem Wunsch der Folterer nachgekommen ist, Zubeyda dürfe nie freikommen, wenn er die Folter überleben würde. Videoaufnahmen der eidesstattlichen Aussagen von Jessen und Mitchell, die in Vorbereitung auf den Prozess gemacht wurden, zeigen, wie diese ihre Taten rechtfertigten. Die Psychologen behaupteten, dass die Auswirkungen ihres Programms nicht schmerzhaft, sondern „bedrückend“, „unangenehm“, „ärgerlich“ und „verwirrend“ seien. Daneben gaben sie an, unter Druck von Jose Rodriguez, dem Chef der CIA-Terrorismusbekämpfung, und anderen Stellen aus Washington gestanden zu haben. Jessen sagte, er sei „voll überzeugt“, dass das Programm den Gefolterten keine „dauerhaften Schäden“ zufüge. Rodriguez erklärte das gleiche. Diese Einschätzungen erstaunen in Anbetracht der Tatsache, dass einer der Männer in diesem Fall starb.
A
uch von den zwei überlebenden ehemaligen Gefangenen, die Gegenstand des Prozesses waren, wurden eidesstattliche Aussagen aufgenommen: Suleiman
Foto: Justin Norman / CC-by-nd 2.0
CAMP X-RAY, GUANTANAMO 2002
FRIEDEN
„Zu sagen, dass man meine Bürgerrechte nun weiterhin verletzt, weil ich über Jahre entführt, gefoltert, gefangen war – diese verdrehte Logik überschreitet alle Grenzen.” Mohamedou Ould Slahi, ehemaliger Guantanamo-Häftling Salim aus Tansania und Mohamed Ahmed Ben Soud aus Libyen. Keiner von beiden ist in der Lage, die erlittenen Schmerzen zu beschreiben – Salim bricht bei dieser Frage zusammen. Ihre Gesichter, Körpersprache und ihr Leben heute zeigen, wie groß der bleibende Schaden ist. Ben Soud spricht von tiefer Angst und Albträumen, in denen er immer noch gefesselt im Gefängnis sitzt. Salim offenbart, dass er seit der Entlassung aus dem Gefängnis isoliert ist, es nicht unter Menschen aushält und sich „so schwach fühlt“, dass er „nichts tun kann“.
J
International Committee of the Red Cross / CC-by-sa 3.0
essen und Mitchell wurden von Salim und Ben Soud verklagt, die die „erweiterten Verhör-Methoden“ der Psychologen überlebten, und von der Familie des dritten Mannes, Gul Rahman, der im November 2002 in Afghanistan in CIA-Haft starb. Rahman wurde von Jessen persönlich 48 Stunden lang befragt. Mitchell nahm an einer Sitzung teil. Er vollzog eine Untersuchung der geistigen Gesundheit und stellte eine Auswertung der Verhör-Methoden bereit. Später berichtete ein führender CIA-Mitarbeiter gegenüber ErmittlerInnen, Rahman sei „in Jessens Verantwortungsbereich“. Der Psychologe schaute zu, wie der Gefangene „aus seiner Zelle geschleift wurde“. Rahmans Kleider wurden abgeschnitten, seine Hände zusammengeklebt, eine Kapuze über seinen Kopf gestreift. Er musste im Flur auf- und abrennen, manchmal „stolperte er und wurde gezo-
gen“. Er wurde in den Bauch „geschlagen und gestoßen“. Der Zeuge beobachtete zuletzt, wie Rahman einem von Jessen entwickelten Verhörplan unterzogen wurde, der unter anderem vorsah, ihn eisigen Temperaturen auszusetzen. Sechs Tage später erfror Rahman, gefesselt und von der Hüfte abwärts nackt. Die Temperatur in seiner Zelle betrug 2,2 Grad Celsius. Seine Familie wurde nicht benachrichtigt.
Nicht verantwortlich ACLU, die amerikanische Union für zivile Freiheiten, hat den Fall der drei Gefolterten übernommen. Die Stellungnahme von ACLU gibt einen Geschmack davon, wie hart der Kampf für Verantwortlichkeit ist: „Mitchell und Jessen versichern, dass die Misshandlungen Salims und Ben Souds ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung erfolgten und [...] sie nichts von den konkreten Misshandlungen wussten, die schließlich den Tod Rahmans verursachten, und auch nicht für diese Handlungen verantwortlich sind.“ Die ACLU ist eine der vielen Gruppen von US-JuristInnen, die in den letzten 15 Jahren hartnäckig – meist erfolglos – versuchten, US- und internationale Menschenrechtsgesetze gegen die US-Regierungen zu verteidigen. Auch AnwältInnen aus Europa kämpften gegen die Mittäterschaft ihrer Regierungen bei Folter, Entführungen und Menschenrechtsverletzungen. In Folge dieser Arbeit muss-
ten Polen, Kanada und Großbritannien Entschädigungen an einen winzigen Teil der Gefangenen des „Krieges gegen den Terror“ zahlen. Aber keines der anderen Länder, die CIA-Stützpunkte beherbergen (wie Afghanistan, Litauen und Thailand) oder US-Gefangene für Folterungen übernommen haben (wie Ägypten, Marokko und Jordanien) haben das Leid der Gefangenen anerkannt, sie entschädigt oder sich bei ihnen entschuldigt. 2015 nannte Human Rights Watch diejenigen, gegen die wegen „Verabredung zu Folter und anderen Verbrechen“ ermittelt werden sollte. Neben Ex-Präsident Bush und Ex-Vizepräsident Cheney werden darunter auch Mitchell und Jessen genannt. Die mächtigen AnwältInnen und PolitikerInnen, die wegen der Normalisierung von Folter und wegen der vorsätzlichen Demontage des Menschenrechtsschutzes zur Rechenschaft gezogen werden sollten, sitzen heute in hochrangigen Positionen in Kanzleien, Wissenschaft und Regierung und fühlen sich wahrscheinlich in ihrer Straffreiheit sicher. Der Mitchell/Jessen-Präzedenzfall sollte sie eines Besseren belehren. Auf dem Spiel steht unsere internationale Menschenrechtsarchitektur. Die zunehmende Barbarei ist heute bedrohlicher als während der Naziherrschaft, weil keine der mächtigen Regierungen ihre Mitschuld zugibt. Zuerst veröffentlicht bei Open Democracy – ungekürzte englische Originalversion unter: http://bit.ly/2x88aiI
Oliver Das Gupta / GNU GNU,
some rights rser ved
ZWEI OPFER, DIE IHRE FOLTERUNG IN GUANTANAMO ÖFFENTLICH MACHTEN: MOHAMEDOU OULD SLAHI UND MURAT KURNAZ 13
Victoria Brittain ist Jounalistin, Nahostexpertin und Menschenrechtlerin. Sie war Referentin auf dem IPPNWWeltkongress.
FRIEDEN
Abrüsten statt aufrüsten Aufgaben für eine zukünftige Friedenspolitik der Bundesregierung
W
gesteigert wird, wieso werden dann im Gegenzug nicht die Kosten gesenkt? Die EU entwickelt sich damit zunehmend weg von der EU als Friedensprojekt, das schon jetzt nur nach innen gilt, während sich die EU nach außen abschottet. Daneben stellt sich die Frage, was eigentlich gemeinsam verteidigt werden soll? PESCO soll beispielsweise die Bekämpfung von Migration beinhalten. So geht eine verstärkte Verteidigungszusammenarbeit Hand in Hand mit der Abschottung Europas. PESCO soll einen Schritt hin zu mehr Verantwortung der EU darstellen. Es geht darum, von den USA – und auch von der NATO – unabhängig zu werden und ohne diese militärisch einzugreifen. PESCO sollte jedoch nicht bedeuten, dass die EU aufrüstet und ihre Militäreinsätze ausbaut.
ährend Deutschland um eine neue Regierung rang, verhandelte die Europäische Union über die Zukunft der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und leitete eine verstärkte Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik in die Wege. Wie könnte im Gegensatz dazu eine Politik der zukünftigen Bundesregierung aussehen, die sich zuallererst dem Frieden verantwortlich fühlt, anstatt durch Militarisierung und Waffenexporte selbst zur Eskalation von Konflikten beizutragen?
I
m Rahmen der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) verpflichteten sich 23 der 28 EU-Mitgliedsstaaten im November dazu, ausgewählte Verteidigungsprojekte gemeinsam umzusetzen, also gemeinsame EU-Militärstrukturen aufzubauen. Hinter der neutral klingenden Bezeichnung verbirgt sich die Gründung der EU-Verteidigungsunion. Nun wird „von unten“ aufgebaut, was bislang nicht durchsetzbar war: Eine EU-Armee. Durch lauter einzelne Projekte kommt man diesem Ziel immer näher. Vorgesehen sind Projekte wie ein Logistikdrehkreuz oder eine Offiziersschule. In Brüssel entsteht eine militärische EUKommandozentrale. In der EU sollen Militärtransporte vereinfacht und dafür Verkehrswege angepasst werden. Außerdem enthält PESCO die Verpflichtung, zukünftige EU-Interventionen durch Personal, Material, Training und Infrastruktur zu unterstützen und zu den schon existierenden EU-Battlegroups beizutragen. Die militärischen Kampftruppen, die wegen ständiger Differenzen noch nie zum Einsatz gekommen sind, sollen bei Krisen schnell einsatzbereit sein. Daneben stehen ab 2021 über einen EU-Verteidigungsfonds jährlich 1,5 Milliarden Euro für Rüstungsforschung und -entwicklung bereit.
A
nstatt die Militärausgaben zu erhöhen und dem NATO-Ziel von zwei Prozent hinterherzulaufen, sollte Deutschland sich für Abrüstung einsetzen und die Verteidigungsausgaben senken. Das fordert ein breites gesellschaftliches Bündnis in dem aktuellen Aufruf „Abrüsten statt aufrüsten“. Dass jedes Land seine Verteidigungsausgaben innerhalb eines Jahrzehnts auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erhöhen muss, entschieden die NATO-Staaten bereits 2014. Eine stärkere Militarisierung ist jedoch der falsche Ansatz, um für mehr Frieden zu sorgen. Stattdessen sollte sich Deutschland für einen Ausbau der zivilen Konfliktlösungsmechanismen der EU einsetzen und die NATO infrage stellen. Eingesparte Mittel aus dem Verteidigungshaushalt könnte die neue Bundesregierung in Soziales und Ökologie investieren und sich für gerechte Handelsbedingungen einsetzen. Ein wichtiges Element des Einsatzes für Abrüstung stellt das Atomwaffenverbot dar. Deutschland muss sich endlich glaubwürdig für die nukleare Abrüstung einsetzen, anstatt sich hinter der NATO zu verstecken. Erste Schritte dazu sollten der Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag und der Abzug der in Deutschland verbliebenen US-Atomwaffen darstellen. Neben dem Verbot von Atomwaffen stellt sich auch die Frage nach einer alternativen Sicherheitsarchitektur, die statt auf Abschreckung auf friedliche Zusammenarbeit, Abrüstung und eine aktive Entspannungspolitik setzt. Deutschland könnte sich als Vorreiter
Durch die verstärkte Koordinierung und Zusammenarbeit sollen Kosten gesenkt und die EU-Verteidigungspolitik „effektiver“ gestaltet werden. PESCO wird auch damit begründet, dass Kosten eingespart werden sollen. Allerdings ist eine der Bedingungen, um PESCO beizutreten, dass die nationalen Verteidigungsausgaben regelmäßig erhöht werden – 20 Prozent davon sollen für Neuinvestitionen ausgegeben werden. Daher bedeutet PESCO keine Abrüstung, sondern eine Militarisierung. Wenn die Effizienz 14
DIE EU SCHRECKT NICHT VOR MILITÄRISCHER GEWALT ZURÜCK, UM SICH ABZUSCHOTTEN: GEFLÜCHTETE BEI DER MITTELMEERÜBERFAHRT.
Die EU baut so in Afrika Grenzen auf, während innerhalb der EU die Grenzen (für EU-BürgerInnen) offen sind. Diese Abschottungspolitik führt jedoch nur dazu, dass sich Fluchtwege verschieben und gefährlicher werden. Anstatt das Sterben zu verhindern, wird dieses nur verlagert. Außerdem wird durch diese Politik das Recht auf Asyl untergraben, da durch die Abschottung verhindert wird, dass Menschen in die EU einreisen können und ihnen damit auch die Möglichkeit genommen wird, einen Asylantrag zu stellen. Auch bei der vielbeschworenen Bekämpfung von Fluchtursachen steht viel zu oft die Bekämpfung von Flucht selbst im Vordergrund. Die Bundesregierung sollte sich in der EU dafür einsetzen, sichere Fluchtwege zu schaffen und das Recht auf Asyl gewährleisten, damit das Sterben vor den Toren Europas endlich ein Ende findet.
einer solchen Politik positionieren und der gerne betonten Rolle Deutschlands als Vermittler Taten folgen lassen. Stimmen, die eine größere Verantwortung von Deutschland fordern, sollte genau damit geantwortet werden – und nicht mit einem verstärkten militärischen Engagement.
E
ine Verantwortung der Bundesregierung für eine friedliche Welt sollte sich auch in einem Ende der deutschen Kriegsbeteiligungen durch Auslandseinsätze der Bundeswehr und Rüstungsexporte widerspiegeln. Deutschland ist einer der weltweit größten Rüstungsexporteure. Mit Waffen lässt sich jedoch kein Frieden erreichen. Im Gegenteil: Mit deutschen Waffen werden schwere Menschenrechtsverletzungen verübt und kriegsführende Staaten unterstützt. Deutsche Waffenexporte heizen Konflikte an, in denen Millionen Menschen getötet oder in die Flucht getrieben werden. So exportiert Deutschland nicht nur Waffen, sondern auch Fluchtursachen.
Zudem fordern Friedensorganisationen, dass die Bundesregierung keine eigenen bewaffneten Drohnen anschafft und sich nicht an Drohnenangriffen beteiligt. Drohnenangriffe fordern zahlreiche zivile Opfer. Daneben leiden Menschen in Gebieten, in denen Drohnenangriffe durchgeführt werden, oft unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Schon das Geräusch einer Drohne führt zu Angst, da sich niemand sicher sein kann, wo die nächste Drohnenbombe einschlägt. Deutschland beteiligt sich momentan an der Entwicklung einer bewaffneten Drohne, in der Zwischenzeit sollen bewaffnete Drohnen geleast werden. Anstatt sich am grausamen Einsatz von Drohnenangriffen zu beteiligen, sollte Deutschland sich für das Verbot, zumindest aber für strenge Standards für den Einsatz von Drohnen auf EU- und internationaler Ebene einsetzen.
Die Krise der EU im Umgang mit Flüchtlingen konzentriert sich medial momentan auf das Mittelmeer. Deutschland muss auf die EU einwirken, die Zusammenarbeit mit der Libyschen Küstenwache zu beenden und stattdessen die Seenotrettung ausbauen, um mehr Tote zu verhindern. Daneben gilt es auch, weiter südlich zu schauen. Im Rahmen des Rabat- und des Khartoum-Prozesses arbeitet die EU ohne Rücksicht auf Menschenrechtsverletzungen mit afrikanischen Staaten zusammen, um Migration nach Europa schon in Herkunfts- und Transitstaaten zu stoppen. Dafür werden afrikanische Grenzen mit europäischer Technologie hochgerüstet.
Bitte unterstützen Sie den Aufruf „Abrüsten statt aufrüsten“ online: https://abruesten.jetzt 15
Robin Faißt studiert im Master Internationale Beziehungen in Berlin und absolviert gerade ein Praktikum in der IPPNW-Geschäftstelle.
ATOMENERGIE
Untersuchungen in Fukushima unterminiert Die Menschen in Japan haben ein Recht auf Gesundheit und Information
Im Sommer 2017 veröffentlichte die Fukushima Medical University (FMU) neue Zahlen ihrer laufenden Schilddrüsenuntersuchungen. Seit 2011 werden bei Menschen in der Präfektur Fukushima, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen unter 18 Jahre alt waren, alle zwei Jahre die Schilddrüsen untersucht.
fälle bestätigt – allesamt bei Kindern, die bei der Untersuchung zwei Jahre zuvor noch keine krebsverdächtigen Strukturen in der Schilddrüse hatten. 49 Neuerkrankungen in zwei Jahren entspricht 24,5 Fällen im Jahr. Bei einer bislang untersuchten Bevölkerung von 270.497 Kindern (71 % der geplanten Anzahl von Untersuchungen) sehen wir während des Zeitraums von April 2014 bis März 2016 somit eine jährliche Neuerkrankungsrate von rund neun Fällen bei 100.000 Kindern. Noch stehen rund 30 % aller Ergebnisse aus der Zweituntersuchung aus, aber sollte sich dieser Trend bestätigen (und danach sieht es der Tendenz des letzten Jahres aus), würde dies einem rund 26-fachen Anstieg der Neuerkrankungsrate entsprechen. Dieses Ergebnis ist höchst signifikant und lässt sich aufgrund der eindeutigen Voruntersuchungen aller Patienten auch nicht durch einen Screening-Effekt erklären oder relativieren.
Ursprünglich begonnen, um die Sorgen der Bevölkerung über gesundheitliche Folgen der Atomkatastrophe zu zerstreuen, haben die Untersuchungen mittlerweile besorgniserregende Ergebnisse zutage gefördert. Auch in der aktuellen Veröffentlichung muss wieder eine unerwartet hohe Anzahl neuer Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern verzeichnet werden. Diesmal waren es sechs neue Fälle, die seit der letzten Veröffentlichung im Dezember 2016 gefunden wurden.
Erste Daten aus der dritten Untersuchungsrunde
152 bestätigte Krebsfälle
Auch die ersten Daten der dritten Untersuchungsrunde wurden im Juni veröffentlicht. Bei den mittlerweile 105.966 untersuchten Kindern (31,5 % der geplanten Anzahl von Untersuchungen) wurde bei 65,2 % Knoten oder Zysten in der Schilddrüse gefunden. Bei der Zweituntersuchung zwei Jahre zuvor lag diese Quote noch bei 59,8 %, bei der Erstuntersuchung sogar nur bei 48,5 %. Dies entspricht einer durchschnittlichen Zunahme der Anzahl von Knoten oder Zysten im Ultraschall von ca. 2,7 % pro Jahr, wobei ein Teil der Daten der zweiten und ein Großteil der Daten der dritten Untersuchungsrunde noch ausstehen. Allgemein kann jedoch festgestellt werden, dass die relative Zahl der Kinder mit auffälligen Schilddrüsenbefunden in der Präfektur Fukushima in den vergangenen sechs Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Auch kamen in der dritten Untersuchungsrunde vier neue Verdachtsfälle hinzu, von denen sich zwei mittlerweile durch Operationen erhärtet haben.
Laut Datenbank des Japanischen Krebsregisters betrug die jährliche Neuerkrankungsrate (Inzidenz) von kindlichem Schilddrüsenkrebs vor der Atomkatastrophe rund 0,35 pro 100.000 Kinder. Bei einer pädiatrischen Bevölkerung von rund 360.000 wäre in der Präfektur Fukushima somit ca. eine einzige Neuerkrankung pro Jahr zu erwarten gewesen. Tatsächlich sind seit den multiplen Kernschmelzen im Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi mittlerweile bei 191 Kindern in der Feinnadelbiopsie Krebszellen gefunden worden. 153 von ihnen mussten aufgrund eines rasanten Tumorwachstums, einer ausgeprägten Metastasierung oder einer Gefährdung vitaler Organe mittlerweile operiert werden. In 152 Fällen bestätigte sich die feingewebliche Verdachtsdiagnose „Schilddrüsenkrebs“, in nur einem Fall lag ein gutartiger Tumor vor. 38 Kinder warten weiterhin auf eine Operation.
Untersuchungen werden unterminiert
Anzahl der Neuerkrankungen deutlich erhöht
Insgesamt ist festzuhalten, dass die Daten der Schilddrüsenuntersuchungen der FMU zunehmend komplexer werden. Dies ist zum Teil dem Aufbau der Untersuchungen geschuldet: zeitlich überlappende Untersuchungsrunden, die vorsehen, jedes Kind alle zwei Jahre zu untersuchen, bei denen jede Runde sich aller-
Besorgniserregend ist bei der Publikation der neuen Daten vor allem die Zahl der Krebsfälle, die bei Kindern gefunden wurden, die vor zwei Jahren noch keine Auffälligkeiten hatten. In der zweiten Untersuchungsrunde wurden beispielsweise 49 Krebs16
FUKUSHIMA: KINDER ZEIGEN DIE ERGEBNISSE IHRER SCHILDDRÜSENSCREENINGS. Foto: (c) Ian Thomas Ash / A2 - B - C
Wie viele weitere Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern ebenfalls nicht berichtet wurden, wie viele Fälle außerhalb der Grenzen der Präfektur auftraten oder bei Menschen, die zum Zeitpunkt der Kernschmelzen bereits über 18 Jahre alt waren, all dass wird wissenschaftlich nicht untersucht und damit vermutlich nie bekannt werden.
dings über zwei bis drei Jahre zieht und nach Regionen gestaffelt durchgeführt wird. Ein weiterer Faktor sind die offenkundigen Bestrebungen der Atomwirtschaft und der FMU, die Studie und ihre Aussagekraft zu unterminieren. So sollen die Untersuchungsintervalle entgegen ursprünglicher Pläne und Ankündigungen ab dem 25. Lebensjahr von zwei auf fünf Jahre ausgeweitet werden. Wichtige Informationen zu den operierten Fällen, die der statistischen Aufarbeitung und der Ursachenforschung dienlich wären, werden weiterhin nicht veröffentlicht. So wird es immer schwieriger, aus den publizierten Zahlen epidemiologische Schlüsse zu ziehen.
Das Recht auf Gesundheit Es bleibt festzuhalten, dass wir in Fukushima einen signifikanten Anstieg der Neuerkrankungsraten von Schilddrüsenkrebs bei Kindern sehen und dass diese Zahlen zugleich eine systematische Unterschätzung darstellen dürften. Zudem wird auch mit einem Anstieg weiterer Krebsarten und anderer Erkrankungen gerechnet, die durch ionisierte Strahlung ausgelöst oder negativ beeinflusst werden. Die Schilddrüsenscreenings der FMU stellen die einzigen wissenschaftlich halbwegs soliden Untersuchungen dar, die Aufschlüsse über die gesundheitlichen Folgen der Atomkatastrophe von Fukushima liefern können. Und sie laufen derzeit Gefahr, von den Befürwortern der Atomenergie unterlaufen zu werden.
Hinzu kommt, dass die Teilnahmeraten an den Untersuchungen abnehmen. Gründe könnten sein, dass Mitarbeiter der FMU an Schulen gehen und dort Kinder über deren „Recht zur Nichtteilnahme“ und dem „Recht zum Nichtwissen“ „aufklären“ oder dass ab dem Erreichen des 18. Lebensjahres die Kosten der Untersuchungen nicht mehr vollständig erstattet, sondern von den Patienten und deren Familien selbst erbracht werden müssen. Dies führt zu einer systemischen Verzerrung der Testergebnisse, die langfristig die gesamte Studie entwerten könnte – eine Konsequenz, die der um ihr Überleben kämpfenden, japanischen Atomindustrie nicht gerade unlieb sein dürfte.
D
ie Menschen in Japan haben ein Recht auf Gesundheit und ein Recht auf Information. Die Untersuchungen kindlicher Schilddrüsen kommen somit nicht nur den Patienten selber zu Gute, deren Krebserkrankungen frühzeitig detektiert und behandelt werden können, sondern der gesamten Bevölkerung, die durch die freigesetzte Strahlung beeinträchtigt wird. Die korrekte Fortführung und wissenschaftliche Begleitung der Schilddrüsenuntersuchungen liegen somit im öffentlichen Interesse und dürfen nicht durch politische oder wirtschaftliche Beweggründe konterkariert werden.
Der verschwiegene Krebsfall Schon jetzt übt die Internationale Atomenergieorganisation IAEO direkten Einfluss auf die Durchführung der Studie an der FMU aus. Diese Entwicklung dürfte sich in der Zukunft noch verstärken. Ein besonders gravierender Fall der Datenmanipulation wurde Anfang des Jahres bekannt, als die Familie eines an Schilddrüsenkrebs erkrankten Kindes aus der Präfektur Fukushima an die Öffentlichkeit ging und monierte, dass der Fall ihres Kindes in den offiziellen Daten der FMU nicht auftauchte. Die Studienleitung argumentierte, dass die Diagnose des Kindes nicht durch sie gestellt worden war, sondern durch eine kooperierende Klinik, an die der Junge zur weiteren Diagnostik und Therapie überwiesen wurde. Dass der Junge zum Zeitpunkt der Kernschmelzen in Fukushima gelebt hatte, in die Reihenuntersuchung der FMU aufgenommen war und aufgrund einer neu diagnostizierten Schilddrüsenkrebserkrankung operiert werden musste, wurde von den Datensammlern offenbar nicht für relevant gehalten.
Dr. Alex Rosen ist Vorsitzender der deutschen IPPNW. 17
SERIE: DIE NUKLEARE KETTE
Goiânia, Brasilien Vor 30 Jahren ereignete sich einer der schwersten zivilen Strahlenunfälle aller Zeiten
Hintergrund
begannen sich unkontrollierbar zu übergeben, bekamen blutige Durchfälle und litten unter rapidem Kräfteverfall. Die Ehefrau des Schrotthändlers schöpfte schließlich Verdacht, dass das geheimnisvolle blaue Pulver die Ursache dieser Symptome sein könnte und brachte es in ein örtliches Krankenhaus. Ärzte dort erkannten schnell, dass radioaktive Strahlung die Ursache der unerklärlichen Symptome sein musste und initiierten eine groß angelegte Untersuchung der Bevölkerung. Da weite Teile der Stadt radioaktiv verseucht worden waren, mussten viele Menschen evakuiert und mehr als 3.500 m3 radioaktiv kontaminiertes Material entsorgt werden.
Am 29. September 1987 entwendeten zwei Diebe ein Strahlentherapiegerät aus einer verlassenen Klinik im brasilianischen Goiânia. Der Diebstahl führte zur Verstrahlung von 249 Menschen. Vier von ihnen starben kurze Zeit später, mindestens 21 erlitten schwere Strahlenschäden. Das Gerät enthielt als Strahlenquelle Cäsium-137. Im Inneren der Bleihülse fanden die Diebe eine Kapsel mit fluoreszierendem blauen Pulver und nahmen sie aus Faszination mit nach Hause. Die Strahlung verursachte bei beiden Männern schwere Verbrennungen, die jedoch nicht sofort mit dem Pulver in Verbindung gebracht wurden. Sie zeigten die Kapsel mit dem leuchtenden Inhalt Freunden und Verwandten, von denen einige das Pulver nahmen, um blaue Kreuze auf ihre Hemden zu malen oder es als fluoreszierendes Make-up zu nutzen. Anschließend verkauften sie die Kapsel an einen Schrotthändler. Während der folgenden Tage begannen die Personen, die in Kontakt mit dem Pulver gekommen waren, Symptome akuter Strahlenkrankheit zu zeigen,
Folgen für Umwelt und Gesundheit Untersuchungen ergaben, dass sich Cäsium-137 durch Wind und Niederschlag über ein großes Gebiet ausgebreitet hatte und, vermutlich durch PendlerInnen verschleppt, noch bis in 100 km Entfernung von Goiânia festgestellt werden konnte. Die Dekontamination der Stadt begann im November 1987. Häuser wurden abgerissen, Straßen und Plätze gereinigt, Erde fortgeschafft und der Boden eilig mit Beton bedeckt, um die verbliebene Strahlung darin zu versiegeln. Eine Studie aus dem Jahr 2001 fand zehn bis vierzig Zentimeter unter der Erdoberfläche allerdings noch immer erhöhte Radioaktivitätswerte, sodass die Effektivität der ursprünglichen Dekontamination infrage gestellt werden muss.
Goiânia, Brasilien Strahlungsunfall In der brasilianischen Stadt Goiânia ereignete sich einer der schwersten zivilen Strahlenunfälle aller Zeiten. Im September 1987 führte der Diebstahl eines Therapiegeräts mit Cäsium-137 zur Verstrahlung von 249 Menschen. Vier von ihnen starben kurze Zeit später, mindestens 21 erlitten schwere Strahlenschäden. Die langfristigen Folgen des Unglücks wurden nie untersucht, die Dekontamination der betroffenen Stadtteile nur oberflächlich durchgeführt.
Von den 112.800 Menschen, die auf radioaktive Kontamination untersucht wurden, waren insgesamt 239 externer und mindestens 129 Menschen innerer Strahlung ausgesetzt – meist durch Inhalation oder Ingestion des blauen Pulvers. Die langfristigen Folgen des Unglücks wurden nie untersucht, die Dekontamination der betroffenen Stadtteile nur oberflächlich durchgeführt. Die Dunkelziffer unentdeckter Fälle dürfte bei diesen Untersuchungen relativ hoch sein. Beim Unfall in Goiânia mussten insgesamt 49 Menschen stationär behandelt werden, 21 von ihnen intensivmedizinisch.
Hintergrund Am Nachmittag des 29. September 1987 entwendeten zwei Diebe ein Strahlentherapiegerät aus einer verlassenen Klinik im brasilianischen Goiânia. Das Gerät enthielt als Strahlenquelle Cäsium-137. Im Inneren der Bleikhülse fanden die Diebe eine Kapsel mit fluoreszierendem blauen Pulver und nahmen sie aus Faszination mit nach Hause. Die Strahlung verursachte bei beiden Männern schwere Verbrennungen, die jedoch nicht sofort mit dem Pulver in Verbindung gebracht wurden. Sie zeigten die Kapsel mit dem leuchtenden Inhalt Freunden und Verwandten, von denen einige das Pulver nahmen, um blaue Kreuze auf ihre Hemden zu malen oder es als fluoreszierendes Make-up zu nutzen. Anschließend verkauften sie die Kapsel an einen Schrotthändler. Während der folgenden Tage begannen die Personen, die in Kontakt mit dem Pulver gekommen waren, Symptome der akuten Strahlenkrankheit zu zeigen, begannen sich unkontrollierbar zu übergeben, bekamen blutige Durchfälle und litten unter rapidem Kräfteverfall. Die Ehefrau des Schrotthändlers schöpfte schließlich Verdacht, dass das geheimnisvolle blaue Pulver die Ursache dieser Symptome sein könnte und brachte es in ein örtliches Krankenhaus. Ärzte dort erkannten schnell, dass radioaktive Strahlung die Ursache der unerklärlichen Symptome sein musste und initiierten eine groß angelegte Untersuchung der Bevölkerung. Da weite Teile der Stadt radioaktiv verseucht worden waren, mussten viele Menschen evakuiert und mehr als 3.500 m3 radioaktiv kontaminiertes Material entsorgt werden.
Folgen für Umwelt und Gesundheit
112.800 Menschen wurden im brasilianischen Goiânia auf radioaktive Kontamination untersucht, davon waren insgesamt 239 externer und mindestens 129 Menschen innerer Strahlung ausgesetzt. Cäsium-137 war durch Wind und Niederschlag über ein großes Gebiet verteilt worden und, vermutlich durch PendlerInnen verschleppt, noch bis in 100 km Entfernung von Goiânia festgestellt werden konnte. Foto: © Karen Kasmauski/Corbis
Untersuchungen ergaben, dass sich Cäsium-137 durch Wind und Niederschlag über ein großes Gebiet ausgebreitet hatte und, vermutlich durch PendlerInnen verschleppt, noch bis in 100 km Entfernung von Goiânia festgestellt werden konnte.1 Die Dekontamination der Stadt begann im November 1987. Häuser wurden abgerissen, Straßen und Plätze gereinigt, Erde fortgeschafft und der Boden eilig mit Beton bedeckt, um die verbliebene Strahlung darin zu versiegeln. Eine Studie aus dem Jahr 2001 fand zehn bis vierzig Zentimeter unter der Erdoberfläche allerdings noch immer erhöhte Radioaktivitätswerte, sodass die Effektivität der ursprünglichen Dekontamination infrage gestellt werden muss.2 Von den 112.800 Menschen, die auf radioaktive Kontamination untersucht wurden, waren insgesamt 239
externer und mindestens 129 Menschen innerer Strahlung ausgesetzt – meist durch Inhalation oder Ingestion des blauen Pulvers. Die Dunkelziffer unentdeckter Fälle dürfte bei diesen Untersuchungen jedoch relativ hoch sein. Die geschätzte Strahlendosis rangierte zwischen einigen Millisievert bis zu einer Höchstdosis von sieben Sievert.3 Dosen von über einem Sievert können zu akuter Strahlenkrankheit führen, bei fünf Sievert stirbt jeder zweite Exponierte, zehn Sievert führen in 100 % aller Fälle zum Tod. Beim Unfall in Goiânia mussten insgesamt 49 Menschen stationär behandelt werden, 21 von ihnen intensivmedizinisch. Die Ärzte versuchten, die Elimination des Cäsiums durch provoziertes Schwitzen sowie durch die Anwendung von Berliner Blau-Lösung und Diuretika zu steigern. Dennoch starben vier Menschen, darunter die Nichte des Schrotthändlers, die geringe Mengen des Pulvers gegessen und eine geschätzte Strahlendosis von sechs Sievert aufgenommen hatte. Ihr Sarg musste aufgrund der hohen Strahlung mit Blei und Beton bedeckt werden.
Ausblick Der Fall Goiânia war für Behörden und Strahlenschutzkomitees weltweit ein Lehrstück der radioaktiven Kontamination einer modernen Großstadt. Die Krankheitsverläufe der exponierten Patienten boten neue Einblicke in die Auswirkungen von Radioaktivität auf den menschlichen Körper und es ist zu bedauern, dass langfristige Untersuchungen dieser Population bezüglich des Risikos der Krebsentstehung bislang nicht veröffentlicht wurden. Basierend auf Erfahrungen von Tschernobyl, Hiroshima und Nagasaki ist anzunehmen, dass zahlreiche Krebsfälle durch die radioaktive Exposition verursacht wurden und auch in Zukunft neu auftreten werden.
Der Fall Goiânia war für Behörden und Strahlenschutzkomitees weltweit ein Lehrstück der radioaktiven Kontamination einer modernen Großstadt. Basierend auf Erfahrungen von Tschernobyl, Hiroshima und Nagasaki ist anzunehmen, dass zahlreiche Krebsfälle verursacht wurden bzw. in Zukunft neu auftreten werden.
Eine unbekannte Menge an Cäsium-137 sickert weiterhin aus dem verseuchten Boden unterhalb der versiegelten Flächen ins Grundwasser. Das tatsächliche Ausmaß der Strahleneffekte wird vermutlich niemals vollständig erfasst werden. Die vielen Tonnen an radioaktivem Müll werden für über 180 Jahre in Bleibehältern aufbewahrt werden müssen – das ist die Zeit, die Cäsium-137 braucht, um sechs Halbwertszeiten zu durchlaufen. In vielerlei Hinsicht können andere Teile der Welt und Hibakusha in anderen Ländern von dem Unglück in Goiânia lernen, vor allem von der inadäquaten Dekontamination und der fehlenden Nachbetreuung der Exponierten.
Quellen 1 Amaral et al. „Distribution of 137Cs in soils due to the Goiânia accident and decisions for remedial action during the recovery phase“. Health Phys. 1991 Jan; 60(1):91-8. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/1983991 2 Facure et al. „Remains of 137Cs contamination in the city of Goiânia, Brazil“. Radiat Prot Dosimetry. 2001; 95(2):165-71. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/11572645 3 IAEA. „The Radiological Accident in Goiânia“. Vienna,1988. http://www-pub.iaea.org/MTCD/publications/PDF/Pub815_web.pdf
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de
2007: Das versiegelte Gelände des Schrotthändlers, auf dem die Cäsium-Kapsel gefunden wurde. Weite Teile der Stadt mussten dekontaminiert werden, Häuser abgerissen, Straßen gereinigt, Erde abgetragen und der Boden mit Beton bedeckt werden. Eine Studie aus dem Jahr 2001 fand zehn bis vierzig Zentimeter unter der Erdoberfläche allerdings noch immer erhöhte Radioaktivitätswerte, sodass die Effektivität der ursprünglichen Dekontamination fraglich ist. Foto: Ycaro Gouveia Ribeiro
Hibakusha weltweit
Eine Ausstellung der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) Körtestr. 10 | 10967 Berlin ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de V.i.S.d.P.: Dr. Alex Rosen
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FRIEDEN SOZIALE VERANTWORTUNG
Klimawandel, Gewalt und Gesundheit Die Global Health Summer School vom 19. bis 26. August 2017 in Berlin
Sechs erfüllte Tage: Bei der Global Health Summer School in Berlin trafen sich Studierende aus der ganzen Welt, um über drängende globale Fragen zu diskutieren. Tag 1 Dem herzlichen Willkommen durch das Orga-Team der Summer School folgte eine Gruppenbildungs-Sitzung, die die Basis für die wunderbare Atmosphäre während der Woche bildete. Nachmittags diskutierten, forschten und informierten wir uns über die Globalisierung und ihre Auswirkungen sowie die Begriffe öffentliche, globale und internationale Gesundheit. Unser Ergebnis: „Während globale und internationale Gesundheit sehr ähnlich sind, umfasst öffentliche Gesundheit die Prävention und Behandlung von Gesundheitsproblemen in einer bestimmten Umgebung (lokal)“ – im Gegensatz zu den vorigen Begriffen, die einen weltweiten Geltungsanspruch haben. Tag 2 Der zweite Tag brachte uns unserem Thema näher. Die Fragen, die am Morgen formuliert wurden, waren: „Was ist Klimawandel und wie beeinflusst er Gesundheit und Migration?“ Wir lernten, dass KlimaexpertInnen selbst die geschätzte Erhöhung der globalen Temperatur von 3°C als zu optimistisch erachten – um sich die Tragweite der Temperaturanstiege zu verbildlichen, sollten wir uns einen 3°C-Anstieg unserer Körpertemperatur vorstellen – dass die Menschen momentan in risikoreiche Gebieten ziehen und nicht aus ihnen weg – und dass die reichsten zehn Prozent der Welt für 50 Prozent und die ärmsten 50 Prozent für zehn Prozent der CO2-Emis-
sionen verantwortlich sind. Die Nachmittagssitzung leiteten zwei TeilnehmerInnen von Medical Peace Work, die uns mit dem großartigen Online-Kurs vertraut machten. Als Diskussions-Themen wählten wir Überschwemmungen, Regenfälle, Dürren und extreme Wetterereignisse, die im siebten Kapitel des Online-Kurses behandelt werden. Tag 3 Vorsicht vor graswurzel(-freien) Unternehmen. Diese geben vor, grüne Energielösungen anzubieten, aber erwähnen nicht, dass sie Lobbyarbeit für Atomenergie machen. Der IPPNW-Vorsitzende Alex Rosen baute eine Brücke zwischen Klimawandel und Atomenergie und gab eindeutige Antworten auf die Frage, ob Atomenergie die Lösung in Zeiten globaler Erwärmung sein kann: Für Kinder, die in der Nähe von Atomkraftwerken leben, steigt das LeukämieRisiko um 120 Prozent. Atommüll beläuft sich auf hunderttausende Tonnen. Und für diejenigen, die mehr an Finanzen als an Gesundheitsförderung interessiert sind: Die Energiepreise würden deutlich steigen. Tag 4 Die Wochenmitte bedeutete einen kurzen Tag in der Schule, dafür einen langen Tag in Berlin. Bevor das Programm mit der Lobby-Control- und Transition-Tour durch Berlin begann, bei der wir Kreuzbergs schönste Dachterrasse und Brauerei kennenlernten, gab es Einblicke in die zähe Geschichte der Klimaverhandlungen bis Paris 2015. Anknüpfend an das Thema von Dienstag erweiterten wir unser Wissen über verschiedene Energiequellen und interessante Initiativen wie POCACITO, ein Projekt, das die kohlenstofffreien Städte von Morgen in Europa fördert. 19
Tag 5 Obwohl der Klimawandel jeden Tag mit einer neuen Naturkatastrophe aufwartet, müssen viele Menschen noch von seiner Existenz überzeugt werden. In einem großartigen Vortrag erklärte Sarah Hurtes, wie. Nachmittags simulierten wir Verhandlungen über den Yasuni-Nationalpark in Ecuador. Wir spielten die Rollen der ecuadorianischen, deutschen und norwegischen Regierung, NGOs und MitarbeiterInnen eines Ölkonzerns sowie JournalistInnen verschiedener Medien. Wir diskutierten während der offiziellen Verhandlungen, merkten aber schnell, dass die wichtigen Entscheidungen in den Kaffeepausen getroffen werden. Dabei haben wir eine Ahnung bekommen, wie Politik funktioniert. Tag 6 Der letzte Tag begann und endete mit inspirierenden Gedanken, Motivation und Empowerment von Rebecca Gibbs vom Center for Sustainable Health Care. Wir sammelten und diskutierten zahlreiche Ideen, wie das Gesundheitssystem in ein nachhaltiges Ganzes verändert werden könnte, um Gesundheitsprobleme und Klimakrise gleichzeitig zu bewältigen. Am Nachmittag bekamen wir Einblicke in kreative Ansätze zivilen Ungehorsams und hatten Gelegenheit, unsere eigene Projekte zu entwickeln.
Anna-Lena Kortenbusch studiert Medizin und ist IPPNWMitglied.
KLIMAWANDEL
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Foto: © World Health Organisation / Marko Kokic
itze und unberechenbare Regenzeiten verschärfen die Dürre in Ländern wie dem Niger. Unter den Gesundheitsfolgen leiden vor allem die ärmsten Kommunen.
Die Fotodatenbank der Weltgesundheitsorganisation finden Sie unter: https: //who.int/photolibrary
Klimasolidarität jetzt Die Gesundheitsfolgen des Klimawandels müssen öffentlich gemacht werden
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wischen 2000 und 2016 ist die Zahl der extremen Wetterereignisse weltweit um 46 Prozent gestiegen. Während WissenschaftlerInnen seit etlichen Jahren um die Auswirkungen des Klimawandels wissen, kommen die dramatischen Gesundheitsfolgen erst Stück für Stück ans Licht. Instabile Wetterbedingungen und zunehmende Hitze führen zu weltweiten Ernteeinbußen, Hunger und Wassermangel. Auch Infektionskrankheiten breiten sich schneller aus. Die Rechnung bezahlen die ärmeren Länder des Südens, in denen die Erwärmung aufgrund ihrer geografischen Lage doppelt so stark zu Buche schlägt wie im Norden. Die Weltgesundheitsorganisation führt vielerorts Präventionsmaßnahmen durch, um aufzuklären, Diskussionen in den Kommunen anzustoßen und Krankheiten wie Malaria und Denguefieber einzudämmen. Um die größte Herausforderung des Jahrhunderts anzugehen, bedarf es gesellschaftlicher Projekte, auch in Deutschland. Angehörige von Gesundheitberufen haben eine besondere Rolle als MultiplikatorInnen. In vielen Ländern haben sich GesundheitsberuflerInnen zu hunderttausdenden zusammengeschlossen, um drohende Gefahren zu bekämpfen.
PAKISTAN: DIESES MÄDCHEN HAT KEINEN ZUGANG ZU SICHEREM TRINKWASSER. DIE INFEKTIONSGEFAHR BETRIFFT BESONDERS DIE KINDER. 21
Foto: © World Health Organisation / Christopher Black
Alle Fotos zur Verfügung gestellt von der WHO – World Health Day 2008
Foto: © IFRC / John Haskew
NIGER: SCHUTZ VOR MALARIA
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Der Planet schlägt zurück Hunger, Stürme, Kriege und eine Sonne, die uns kocht: Wie der Klimawandel die Welt verändern wird
Die ansteigenden Meere – und die Städte, die in ihnen versinken – haben das Bild der Erhitzung der Erde derart geprägt, dass wir andere damit verbundene Bedrohungen gar nicht mehr wahrnehmen. Steigende Meeresspiegel sind schlecht, sogar sehr schlecht, aber es wird nicht damit getan sein, von der Küste wegzuziehen. Milliarden von Menschen müssten ihren Lebensstil konsequent anpassen, um das Schlimmste zu verhindern. Das aber geschieht nicht. Daher werden wahrscheinlich bereits am Ende dieses Jahrhunderts Teile der Erde unbewohnbar werden.
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ie alle Säugetiere sind auch Menschen Wärmekraftmaschinen. Zu überleben bedeutet für sie, sich ständig abkühlen zu müssen – wie hechelnde Hunde. Damit das möglich ist, muss die Temperatur so niedrig sein, dass die Luft als eine Art Kühlung fungieren kann, die Hitze von der Haut abzieht, damit der Motor weiterlaufen kann. Bei einer Erderwärmung von sieben Grad würde das für weite Teile des Äquatorbandes und insbesondere für die Tropen, wo die Feuchtigkeit die Sache noch zusätzlich erschwert, unmöglich werden. In den Regenwäldern Costa Ricas, wo die Feuchtigkeit regelmäßig bei über 90 Prozent liegt, wäre es tödlich, sich einfach nur draußen zu bewegen, wenn das Thermometer über 40,5 Grad Celsius anzeigt.
Innerhalb weniger Stunden würde ein menschlicher Körper sowohl von außen als auch von innen zu Tode gekocht werden. Klimawandelskeptiker weisen gern darauf hin, dass der Planet sich schon oft erhitzt und wieder abgekühlt habe. Doch das klimatische Fenster, das menschliches Leben auf der Erde überhaupt ermöglicht, ist sehr klein. Bei einem Temperaturanstieg von elf oder zwölf Grad würde über die Hälfte der Weltbevölkerung, wie sie sich heute über den Planeten verteilt, durch direkte Hitzeeinwirkung sterben. Es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass es in diesem Jahrhundert noch nicht so weit kommen wird, auch wenn unverminderte Emissionen uns schließlich dahin bringen sollten. Noch in diesem Jahrhundert wird aber die Schmerzgrenze an bestimmten Punkten, insbesondere in den Tropen, sehr viel früher erreicht sein als bei einem Anstieg um sieben Grad. Der entscheidende Faktor ist die sogenannte Kühlgrenztemperatur, die als Feuchtkugeltemperatur gemessen wird. Dabei handelt es sich um eine Methode, die sich nicht nur nach Experimentierkasten anhört, sondern auch so bestimmt wird: Es geht um die Temperatur, die auf 22
einem in eine feuchte Socke gewickelten Thermometer gemessen wird, das in der Luft hin und her geschüttelt wird (da die Feuchtigkeit aus einer Socke in trockener Luft wesentlich schneller verdampft, spiegelt diese Kennzahl sowohl Hitze als auch Feuchtigkeit). Derzeit erreichen die meisten Regionen eine Kühlgrenztemperatur von 26 oder 27 Grad Celsius; die rote Linie für den Menschen liegt bei 35 Grad. Der sogenannte Hitzestress stellt sich aber wesentlich früher ein. Tatsächlich haben wir diesen Punkt bereits erreicht. Seit 1980 hat der Planet eine 50-fache Zunahme an Orten verzeichnet, die gefährlich oder extrem heiße Temperaturen verzeichnen, und die Zahl wird noch stärker zunehmen. In Europa traten die fünf wärmsten Sommer seit dem Jahr 1500 alle seit 2002 auf. Und schon bald, so warnt das IPCC, wird es in weiten Teilen des Erdballs ungesund sein, sich zu dieser Jahreszeit draußen aufzuhalten.
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elbst wenn wir die Klimaziele von Paris mit einem Temperaturanstieg von zwei Grad einhalten, werden Städte wie Karatschi und Kalkutta fast unbewohnbar werden und in jedem Jahr tödliche Hitzewellen wie 2015 erleben. Bei vier Grad Erderwärmung wird die europäische Hitzewelle von 2003, der bis zu 2.000 Menschen an einem einzelnen Tag zum Opfer fielen, zur sommerlichen Normalität werden. Joseph Romm hat das in seiner richtungsweisenden Einführung auf den Punkt ge-
DER AUSGETROCKNETE RHEIN BEI NIERSTEIN IM HITZESOMMER 2015. Foto: Jivee Blau / CC BY-SA 3.0
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ber die Hitze bringt Menschen bereits heute um. In der Zuckerrohr-Region von El Salvador leidet ein Fünftel der Bevölkerung an einer chronischen Nierenerkrankung, bei den Männern ist es über ein Viertel. Man geht davon aus, dass es sich um die Folge der Dehydrierung handelt, die die Menschen durch Arbeit auf den Feldern erleiden. Noch vor zwei Jahrzehnten konnten sie die Felder problemlos abernten. Patienten mit Nierenversagen haben mit einer teuren Dialyse eine Lebenserwartung von fünf Jahren. Ohne nur ein paar Wochen. Klimata sind unterschiedlich und Pflanzen variieren, doch die Grundregel für die wichtigsten Getreidesorten besagt, dass die Erträge bei jedem Temperaturanstieg um ein Grad über die optimale Wachstumstemperatur um zehn Prozent zurückgehen. Manche Schätzungen sprechen so-
gar von 15 bis 17 Prozent. Das bedeutet, dass wir, wenn der Planet am Ende des Jahrhunderts um fünf Grad wärmer ist, 50 Prozent mehr Menschen zu ernähren und gleichzeitig 50 Prozent weniger Getreide zur Verfügung haben könnten. Um die Proteine ist es noch schlechter bestellt: Es braucht 16 Kalorien an Getreide, um nur eine einzige Kalorie an Burger-Fleisch zu produzieren, das von Kühen stammt, die ihr Leben lang das Klima mit Methan-Abgasen belastet haben. Optimistische Pflanzenkundler werden darauf hinweisen, dass diese Berechnungen nur auf die Regionen zutreffen, die die optimale Wachstumstemperatur bereits erreicht haben, und sie haben recht – theoretisch erleichtert ein wärmeres Klima den Anbau von Getreide in Grönland. Doch wie die wegweisende Arbeit von Rosamond Naylor und David Battisti zeigt, sind die Tropen bereits heute zu heiß, um dort in wirtschaftlicher Weise Getreide anzubauen. Und an anderen Orten, wo Getreide heute angebaut wird, herrscht bereits die optimale Anbautemperatur – was bedeutet, dass hier selbst ein geringfügiger Temperaturanstieg die Produktivität verringern würde.
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ürre könnte ein noch größeres Problem darstellen als Hitze, wenn sich Teile des anbaufähigen Landes schnell in Wüste verwandeln. Niederschläge lassen sich schwer vorhersagen, aber die Prognosen für das Ende des Jahrhunderts sind wenig ermutigend: noch nie da gewesene Dürren überall dort, wo heute Lebensmittel produziert werden. Wenn die Emissionen nicht dramatisch reduziert werden, wird Südeuropa im Jahr 2080 mit einer permanenten Dürre leben müssen – schlimmer, als das Trockengebiet in Amerika je war. Man darf nicht vergessen, dass wir schon heute weit davon entfernt sind, in einer Welt ohne Hunger zu leben. Schätzungen beziffern die Zahl der Unterernährten auf weltweit 800 Millionen. Seit dem Frühjahr herrschen in vier Ländern Afrikas und des Nahen Ostens Hungersnöte. Darüber hinaus haben die Vereinten Nationen gewarnt, dass allein in diesem Jahr in Somalia, dem Südsudan, Nigeria und Jemen 20 Millionen Menschen an den Folgen von Unterernährung und Hunger sterben könnten. © 2017 from New York Magazine / New York Media LLC. All rights reserved. Distributed by Tribune Content Agency. Übersetzung: Zilla Hofman/Holger Hutt
Außerdem lässt sich Ackerland nicht leicht David Wallace-Wells ein paar hundert Kilometer nach Norden ist Redakteur des transportieren. Die Erträge in entlegenen New York Magazine. Ecken Kanadas und Russlands sind durch Dies ist eine stark die Qualität der dortigen Böden begrenzt. gekürzte Fassung des englischspraDie Erde braucht viele Jahrhunderte, um chigen OriginalBöden mit einer hohen Fruchtbarkeit her- textes unter http:// nym.ag/2u2DqgH vorzubringen. 23
Foto: © New York Magazine
bracht: Die Hitzebelastung in New York City wäre dann schlimmer als die, die heute in Bahrain herrscht – an einem der heißesten Orte der Welt. In Bahrain würde die gestiegene Temperatur dabei selbst bei schlafenden Menschen eine Hyperthermie auslösen. In der Tat wird die Krise im Nahen und Mittleren Osten sowie am Persischen Golf am dramatischsten ausfallen, wo der Hitzeindex bereits 2015 Temperaturen von 72,7 Grad Celsius registriert hat. Schon in einigen Jahrzehnten wird die Hadsch den zwei Millionen Muslimen, die die Pilgerfahrt jedes Jahr unternehmen, körperlich schlicht unmöglich werden.
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Den Klimawandel kommunizieren: Probleme und Lösungen Gesundheitsaspekte spielen eine zentrale Rolle bei der Kommunikation von Klimafolgen
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wischen den Jahren 2000 und 2016 hat sich die Zahl der Menschen, die Hitzewellen ausgesetzt waren, um 125 Millionen erhöht. 2015 litt eine Rekordzahl von 175 Millionen Menschen unter extremer Hitze – diese Zahl wird sich in den kommenden Jahren verschlimmern. Die Ausbreitungsrate von Denguefieber hat sich – verglichen mit den Zahlen von 1990 – global zwischen 3 und 5,9 Prozent erhöht. Bei 50 bis 100 Millionen geschätzten jährlichen Infektionen wird die sich weltweit am schnellsten ausbreitende Krankheit immer schlimmer um sich greifen. Unterernährung ist die gravierendste Gesundheitsfolge des Klimawandels im 21. Jahrhundert. Denn mit jedem zusätzlichen Grad, um das die globale Temperatur steigt, geht die globale Weizenernte um sechs Prozent zurück – und die Reisernte um zehn Prozent. Während ich den Lancet Countdown Report 2017 lese, dessen Ergebnisse ich an die Öffentlichkeit verbreiten soll, kann ich nur eins denken: Wir haben es versaut.
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lar ist: Während die physikalischen Auswirkungen des Klimawandels seit etlichen Jahren bekannt sind, sind seine Gesundheitsfolgen viel schlimmer als bisher angenommen. Wie soll ich also meine Aufgabe, die der Klima-Kommunikatorin, angehen, ohne meine Leserschaft – die Menschen, die sich die Mühe machen, sich hiermit zu beschäftigen – geradewegs in die Spirale der Depression zu schicken? Informationen über die negativen Auswirkungen des Klimawandels, die emotionale Wirkung haben, können die Wichtigkeit des Themas klarmachen. Zum Beispiel Artikel wie der von David Wallace-Wells im New York Magazine „Die unbewohnbare Erde: Hunger, ökonomischer Kollaps und
eine Sonne, die uns kocht“ (s.S. 22f.) – in diesem Jahr einer der am weitesten verbreiteten Artikel über den Klimawandel. In den Sozialen Medien wurde er mehr als 800.000 mal geteilt. Manche meiner FreundInnen, die sich für dieses Thema sonst nicht interessieren, haben diesen Artikel auf Facebook gepostet, mit Kommentaren, die genauso wenig konstruktiv waren wie meine erste Reaktion auf den Lancet Report. Hier drängt sich die Frage auf: Wie effektiv kommuniziert ein solcher Text den Klimawandel? Manche nennen den Text von Wallace-Wells sogar einen Klimadesaster-Porno, eine Horrorgeschichte ohne Aufruf zur Veränderung, die die Naturwissenschaften fetischisiert, statt zu sozialer und politischer Aktion anzuregen. Während solche emotional wirkende Information über die Auswirkungen des Klimawandels die Aufmerksamkeit auf sich zieht, kann sie gleichzeitig so lähmen, dass wir uns überwältigt und machtlos fühlen. Deshalb muss sie mit konstruktiven Informationen über mögliche Lösungen kombiniert werden, die das Gefühl der Gefahr verringern. Um noch einmal auf den Lancet Countdown zurückzukommen, geben Trends etwa in der Energiegewinnung und im Transportsektor Anlass zu Optimismus. Das Elektroauto soll bis Ende 2017 kostengleich mit seinem nicht-elektrischen Pendant sein. Wenn dieser Trend andauert, könnte er einen Systemübergang einläuten. Da fossile Brennstoffe im Zuge dieses Wechsels überflüssig werden, könnte eine nie gesehene Reduktion der Krankheitsund Sterbefälle beginnen – ein bemerkenswerter Erfolg für die globale Gesundheit. Außerdem haben wir alle ein eingeschränktes Budget an Aufmerksamkeit, die wir erübrigen können. Ich zum Beispiel schaffe es nicht, an ein Weihnachtsgeschenk für meinen Vater zu denken. Manche Men24
schen sind mit drohenden militärischen Gefahren beschäftigt, mit dem Zugang zu Verhütungsmitteln oder anderen Alltagsproblemen, die einfach dringender sind als das fern klingende Stichwort Klimawandel.
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uch wenn das immer seltener geschieht, machen wir oft den Fehler, das Klimarisiko zu kommunizieren, indem wir uns auf Ereignisse konzentrieren, die zeitlich und örtlich weit entfernt liegen. Wenn wir uns die Vorhersagen der NASA zum Klimawandel anschauen, dass der arktische Ozean noch vor Mitte des Jahrhunderts im Sommer eisfrei sein wird, betrifft mich das vielleicht, macht mich aber nicht besorgt. Es ist bekannt, dass wir Menschen die Tendenz haben, Geschehnisse in ungewisser Zukunft herunterzuspielen, im Vergleich zum Hier und Jetzt – und die Risiken danach zu beurteilen, wie nah sie uns selbst, unserer Familie und uns ähnlichen Menschen sind. Unzweifelhaft sind wir durch Risikobeschreibungen eher bewegt und betroffen, wenn wir uns selbst in Gefahr glauben. Besorgt war ich besonders, als Stürme und Überflutungen Deutschland heimsuchten, wohin ich vor kurzem gezogen war. Derzeitige Stürme und Fluten in Deutschland, und ebenso in Frankreich, wo meine Familie lebt, sind ein Realitätscheck, der uns zeigt, was passiert, wenn der Klimawandel einsetzt und extreme Wetterereignisse Normalität werden. Die Gegenwart und die lokale Relevanz des Klimawandels zu betonen, reduziert die psychologische Distanz. Auch weil ich weiß, dass extremes Wetter direkte Gesundheitsfolgen hat wie Ertrinken, Unfälle oder (langfristiger) durch verseuchtes Wasser und Essen ausgelöste Krankheiten, versetzen mich die möglichen Konsequenzen umso mehr in Stress.
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rotzdem sind die sprachlichen Mittel nicht alles. Selbst wenn Sie alle genannten Kommunikationshilfen einsetzen, um den Klimawandel relevant und dringlich erscheinen zu lassen, kann es sein, dass Ihr Gesprächspartner nicht
KRAKAU, POLEN, SOMMER 2015: EIN WASSERVORHANG SOLL DIE MENSCHEN VOR ZU GROSSER HITZE SCHÜTZEN. darauf anspricht. Deshalb sind die Sozialwissenschaften, die des menschlichen Verhaltens und der Kommunikation, hier genauso wichtig wie die von Klimawandel und Nachhaltigkeit. Wenn Sie über Klimawandel sprechen, müssen sie sich anpassen und eine Geschichte um die Werte der Menschen herum erzählen. In ihrem letzten Buch argumentieren Corner and Clarke, es gehe nicht darum, „Gewinner“ bei der Diskussion zu sein, sondern, einen lebendigen Dialog in Gang zu setzen. Das heisst, wir müssen über Botschaften und Geschichten die Werte der Menschen ansprechen – in den USA sind hier Erfindergeist, Unabhängigkeit, Wohlstand und Führungskraft der Schlüssel, in Indien eher Werte wie Gemeinschaft, Autonomie und Achtung vor der Natur. Die Forschungen zeigen, dass viele Menschen von Natur aus am Wohlergehen anderer und ihrer Umwelt interessiert sind. Appelle, sich für 25
andere einzusetzen, können daher effektiver motivieren als ökonomische Eigeninteressen. Bei Menschen wie Donald Trump wiederum gibt es nur eine Möglichkeit – ihnen eine Studie zu zeigen, die mich neulich im Büro zum Lachen brachte: „Klimawandel: Gut für den Sex, schlecht fürs Sperma. Manche mögens heiß, die Hoden nicht“ – ein Arbeitspapier, das zeigt, dass in den USA auf die sogenannten 80-GradTage (in Celsius: ca. 27 Grad) neun Monate später niedrigere Geburtenraten folgen.
Sarah Hurtes ist Medienbeauftragte der Europäischen Klimastiftung und war als Referentin bei der Global Health Summer School 2017.
Foto: Silar / CC-BY-SA 4.0
Wichtig ist, dass Informationen über mögliche Gesundheitsfolgen eine wirkungsvolle Möglichkeit bieten, über den Klimawandel zu sprechen. Gesundheitsfachleute sind als ExpertInnen zum Thema zunehmend gefragt und werden ermutigt, mit ihren PatientInnen sowie lokalen EntscheidungsträgerInnen über Gesundheitsgefahren zu reden – Asthma, Allergien und die Verbreitung bestimmter Krankheiten durch Klimaveränderungen. Organisationen wie die globale Gesundheits- und Klimaallianz, die Gesundheits- und Umweltallianz HEAL oder Health Care without Harm, um nur einige zu nennen, sind wichtige Institutionen, die solche Themen an die Öffentlichkeit bringen. Es ist ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit, zu zeigen, dass viele der Schritte, die wir ergreifen, sofort positive Gesundheitseffekte hervorbringen. Ein positiver Wille, sich dem Thema zu stellen, entsteht, wenn wir die Vorteile des Aktivwerdens aufzeigen, statt uns auf die Folgen des Nichtstuns zu konzentrieren. Das könnte bedeuten, sich auf die durch Einsparung von Emissionen vermiedenen Gesundheitsfolgen zu konzentrieren, statt zu betonen, was passieren wird, wenn es keine Reduktion gibt. Den Treibhauseffekt zu beheben, heißt, die Smogluft zu reinigen, die unsere Lungen vergiftet. Diese langfristigen wie unmittelbaren Gesundheitsfaktoren sind der Grund, weshalb die Lancet Commission zu Gesundheit und Klimawandel sagte, eine umfassende Antwort auf den Klimawandel sei die größte Chance für die Weltgesundheit im 21. Jahrhundert.
KLIMAWANDEL
Globale Energiewende als Friedensprojekt Der Klimawandel ist Risikoverstärker für globale Konflikte
Weiter auf fossile Energieträger zu setzen, untergräbt weltweit die Sicherheit. Vieles spricht für den Abschied von Öl, Gas und Kohle, für Energieeinsparung und erneuerbare Energien. Doch auch das ist nicht ohne friedenspolitische Risiken.
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ossile Energien destabilisieren in zunehmendem Maße diesen Planeten. Das geschieht auf zweierlei Weise. Zum einen – das ist nicht neu – werden Kriege etwa um Öl und Gas geführt. Beispiel Irak: Im ChilcotReport hat die britische Regierung im vergangenen Jahr die Beteiligung des Landes am Irakkrieg untersucht, der von 2001 bis 2009 dauerte. Bereits im Jahr 2001 stellte demnach eine interne Analyse des britischen Außenministeriums fest, welches die „fundamentalen Interessen“ Großbritanniens in Bezug auf den Irak sind. Erstens war das regionale Stabilität und das Verhindern der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Zweitens aber ging es um „Energiesicherheit“, da die Region um den Irak über „66 Prozent der globalen Ölreserven“ verfüge. Die Hinweise auf Massenvernichtungswaffen beruhten allerdings auf „fehlerhaften Geheimdienst-informationen“ – womit nur noch der Zugang zu den Ölreserven als Kriegsgrund blieb.
Zum anderen zeigt sich immer deutlicher die destabilisierende Rolle der fossilen Energien, der Hauptursache des Klimawandels als Risikoverstärker für Konflikte. Beispiel Syrien: Laut einer Studie für die NASA herrschte in der Region bis 2011 die längste Dürre seit 900 Jahren und die schwer-ste Dürre seit 500 Jahren. In Syrien verendeten rund 85 Prozent der Herden, 800.000 Bauern verloren ihren Lebensunterhalt, drei Millionen SyrerInnen rutschten in die Armut ab und wanderten in die überbevölkerten Städte. Dort lebten bereits rund eine Million IrakerInnen, die vor dem Krieg im eigenen Land geflohen waren. Im ländlichen Raum Syriens hatte sich lange Unmut wegen der ausbleibenden Landreform aufgestaut. Die Dürre gab den nun ausbrechenden heftigen Protesten eine zusätzliche Dringlichkeit. Die Rebellion wurde vom Assad-Regime mit großer Brutalität niedergeschlagen – so begann der bis heute tobende Krieg. 26
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n der bislang methodisch belastbarsten Studie zum Zusammenhang von Klimawandel und bewaffneten Konflikten hat sich unter Leitung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung herausgestellt: Klimabedingte Katastrophen erhöhen das Risiko für den Ausbruch bewaffneter Konflikte in Ländern, die einerseits verletzlich gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels und anderseits ethnisch oder sozial zerklüftet sind. Zwischen 1980 und 2010 fielen in solchen Ländern – vor allem in Nord- und Zentralafrika sowie Zentralasien – 23 Prozent der Konfliktausbrüche mit dem Auftreten klimabedingter Katastrophen zusammen. Die globale Klimakrise nicht als alleinige Ursache, aber als Risikoverstärker für den Ausbruch von Konflikten – das wird immer deutlicher.
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ine Strategie, die weiter auf fossile Energieträger setzt, untergräbt weltweit menschliche Sicherheit. Vieles spricht für den Abschied von fossilen Energieträgern, für eine Modernisierungsstrategie hin zu Energieeinsparung und erneuerbaren Energien. Doch auch diese ist nicht
KIND MIT PATRONEN IN DARFUR / SUDAN, MÄRZ 2011 Foto: UN Photo/Albert González Farran
Weltweite Energiewende geht nur kooperativ Für ein Land wie Russland – inzwischen zum weltgrößten Öl- und Gasexporteur sowie zum fünftgrößten Kohleexporteur aufgestiegen, muss eine solche Aussage wie ein aggressiver Akt klingen. Nein, wer mit Russland oder Saudi-Arabien die notwendige Transformation auch als Friedensprojekt vorantreiben will, der muss auf kooperative Energie-, Wasser- und Klimasicherheit als Schlüssel zu einem neuen Wohlstandsmodell setzen. Im Umgang mit Russland würde das einerseits bedeuten, eine Energieeffizienz-Strategie zu unterstützen, die im Land eine Modernisierung voranbringt. Und anderseits die Exportstrategie des Landes immer stärker auf Gas statt Öl und Kohle zu konzentrieren, das schrittweise in nachhaltiges Biogas oder anderes erneuerbares Gas zum Beispiel aus Ökostrom transformiert wird.
Interessenausgleich – und nicht durch Drohungen und Waffengewalt – lässt sich eine Klimastrategie in die Tat umsetzen, die das Unbewältigbare vermeidet und das Unvermeidbare bewältigt. Ein menschenrechtsorientierter Ansatz zur Gestaltung der globalen Energiewende und der Anpassung an den Klimawandel unterstützt eine solche Strategie.
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ie im Pariser Klimaabkommen vorgesehene Kooperation zwischen Staaten beim Erreichen ihrer abgegebenen Klimaziele kann als außenpolitische Strategie konsequent dafür genutzt werden, um die Frage der Klimasicherheit mit dem Zugang zu nachhaltiger Energie, sauberem Wasser und Nahrung zusammenzudenken. So verstanden, bedeutet mehr Klimaschutz dann auch mehr humanitäre Sicherheit und weniger militärische Konflikte.
Dieser Beitrag erschien als Editorial zum Themenheft „Klimafrieden“ des Umweltdebattenmagazins movum. Lesetipp: Carl-Friedrich Schleussner et. al.: Armed-conflict risks enhanced by climate-related disasters in ethnically fractionalized countries (2016), http:// www.pnas.org/content/113/33/9216
Eine solche, an der humanitären Sicherheit orientierte Strategie hat das Potenzial, den Sicherheitsbegriff zunehmend zu entmilitarisieren. Nur durch Kooperation und
Christoph Bals ist Ökonom und politischer Geschäftsführer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch. 27
Foto: (c) G. Kier
ohne friedenspolitische Risiken. Beim letzten G7-Gipfel wurde das deutlich, als die britische Regierungschefin Theresa May davon sprach, für ernsthaften Klimaschutz spreche vor allem, dass man sich so von den energiepolitischen Erpressungen Russlands freimachen könne.
MENSCHEN AUS ALLER WELT DEMONSTRIERTEN BEIM KLIMAGIPFEL FÜR GLOBALE GERECHTIGKEIT – BONN, 4.11.2017
Gesunde Energie Die Gesundheitsallianz HEAL fordert eine gerechte Energiewende
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er Zugang zu finanzierbarer und sauberer Energie ist eines der UN-Entwicklungsziele für Nachhaltigkeit – wesentlich für unsere Gesundheit und unser Wohlergehen. Doch die Stromerzeugung hat auch negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Vor allem verursacht Energie, die auf fossilen Brennstoffen basiert, durch giftige Schadstoffemissionen eine große Bürde von Krankheit und erhöhter Sterblichkeit – hier geht es z.B. um Feinstaubpartikel, saure Gase und Schwermetalle. Die Ernergiegewinnung erzeugt auch Treibhausgase. Sie kurbelt den Klimawandel an, dessen gesundheitliche Auswirkungen wir jetzt schon beobachten können – auch in Europa. Der Klimawandel ist eine enorme Bedrohung für die öffentliche Gesundheit. Es ist unbedingt notwendig, dass wir gefährliche Temperaturanstiege verhindern, indem wir unter einer Erwärmung von zwei Grad Celsius bleiben. Um das zu erreichen, müssen fossile Brennstoffe so schnell wie möglich abgelöst werden. Das Abkommen von Paris 2015 stellt fest, dass unsere Wirtschaften allerspätestens in der Mitte des Jahrhunderts dekarbonisiert sein müssen. Einige der vorgeschlagene Alternativen zum derzeitigen Kohle-, Öl- und Gasmix beinhalten ernsthafte, umfassende Risi-
ken – vor allem Atomenergie und Fracking können keine akzeptablen Optionen sein. Während erneuerbare Energien wie Wind und Biomasse niedrige CO2-Emissionen mit sich bringen, gibt es auch bei ihnen Gesundheitsbedenken. Jede Form der Energieerzeugung hat Nachteile mit kleineren oder größeren Negativeffekten für die Gesundheit. Wir müssen unsere Prioritäten unbedingt auf die Energieformen setzen, die kurz- wie langfristig die kleinsten Gesundheitsschäden mit sich bringen.
Ziele Die Energiegewinnung durch fossile Brennstoffe muss durch die Regierungen der Industrieländer bis 2050 durch hundert Prozent erneuerbare und sichere Energiequellen ersetzt werden – nötig sind auch Anreize zum Energiesparen. Die Subventionen für fossile Brennstoffe müssen durch die Regierungen bis 2025 gestrichen werden – in einer Weise, die besonders belastete Gemeinschaften schützt.
Wie können wir das erreichen? Die notwenige Energiewende von fossilen zu erneuerbaren Brennstoffen sollte unter Gesichtspunkten der öffentlichen Gesundheit erfolgen. 28
1) Gesunde Energieentscheidungen durch Verträglichkeitsstudien untermauern Umfassende Untersuchungen der Gesundheitsgefahren, die die ganze Lebensspanne umfassen und verschiedene Energieoptionen sowie technische Lösungen miteinander vergleichen, sollten bei allen Energieentscheidungen erfolgen. Dieser Ansatz wird die zukünftigen Gesundheitsfolgen der Stromerzeugung minimieren und zu einer Auswahl von Möglichkeiten führen, die lang- und kurzfristig insgesamt die wenigsten Negativfolgen haben. 2) Die Energienachfrage durch Effizienz und Einsparung reduzieren Für unsere Gesellschaften und Gesundheitssysteme brauchen wir eine gesunde, nachhaltige Energieversorgung. Eine Senkung unseres Bedarfs durch mehr Effizienz und Einsparung muss absolute Priorität haben. Die Entwicklung sauberer Speichermöglichkeiten und dezentraler Energieerzeugung aus regenerativen Quellen sollte Vorrang vor dem Ausbau von Energienetzen haben. (...) 3) Die Energiearmut reduzieren, allen Menschen Zugang zu Energie geben Um eine gesunde Energiezukunft zu schaffen, sollten wir den Zugang aller zu Energie verbessern, die umweltbedingte gesundheitliche Ungleichheit reduzieren und das Problem der Energiearmut thematisieren (...).
KLIMAWANDEL
Klimaschutz ist Gesundheitsschutz Ambitionierte Maßnahmen jetzt auf den Weg bringen
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nlässlich des Bonner Klimagipfels im November 2017 forderte die Health and Environment Alliance (HEAL) die Bundesregierung auf, ihre Versprechen einzulösen und ambitionierte Maßnahmen zum Klimaschutz zu ergreifen. Deutschland müsse seine Verpflichtungen im Pariser Klimaabkommen und seine eigene Zielen für 2020 und darüber hinaus erfüllen. Der Klimawandel stelle die größte Bedrohung für die menschliche Gesundheit in diesem Jahrhundert dar.
4) Einen gerechten Übergang für die Beschäftigten im Energiesektor sicherstellen Die Beschäftigten der fossilen Energiewirtschaft sollten unterstützt werden, sich in der Übergangsphase umzuschulen und einen Neuanfang zu machen (...) 5) MedizinerInnen und Gesundheitsfachleute können einen wichtigen Beitrag zum Wechsel unserer Energiesysteme leisten. Zum Beispiel, indem sie ihr Wissen über die Gesundheitseffekte verschiedener Erergiegewinnungsformen weitergeben, über die Gesundheitsgefahren des Klimawandels aufklären, bei Gesetzgebungsverfahren informieren, Verträglichkeitsstudien entwickeln und sich an Bildungs- sowie öffentlichen Aktionen beteiligen. Dies ist ein Auszug aus dem Positionspapier Healthy Energy: bit.ly/2zkbfgm
Wichtige Klimaallianzen:
HEAL forderte die Bundesregierung auf, jetzt ambitionierte Maßnahmen zur Dekarbonisierung, besonders des Energiesektors, auf den Weg zu bringen. Die Transformation im Energiesektor sei ein wichtiger Schritt, um die Gesundheit der Menschen in Deutschland und Europa zu schützen und Gesundheitskosten einzusparen sowie die Lebensqualität zu verbessern. Denn die Verbrennung von fossilen Brennstoffen führe zu vielfältigen Gesundheitsauswirkungen, die alle vermeidbar seien. Im Sinne des Gesundheitsschutzes fordert HEAL: 1. Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030 Kohlekraftwerke tragen nicht nur wesentlich zum Klimawandel bei, sie stoßen auch große Mengen von Luftschadstoffen aus, die die Gesundheit der Menschen schädigen. Im Jahr 2015 waren deutsche Kohlekraftwerke für 3.850 Fälle von vorzeitigen Todesfällen europaweit verantwortlich, verbunden mit Gesundheitskosten von 5,5 bis 10,5 Milliarden Euro. 2. Ende der Subventionen für fossile Brennstoffe Laut neuesten Berechnungen fließen in Deutschland 29 Milliarden Euro öffentlicher Gelder jährlich in
fossile Kraftstoffe, davon 8 Milliarden Euro für Diesel-Subventionen und 7,5 Milliarden Euro für die Steuerbefreiung von Kerosin. Allein für Diesel resultiert dies in Umweltkosten von bis zu 33 Milliarden Euro. Laut HEAL betragen in Deutschland jene Gesundheitskosten, die durch frühzeitige Todesfälle aufgrund von Emissionen aus fossilen Energien entstehen, bis zu 42,7 Milliarden Euro pro Jahr. „Die Subventionierung fossiler Brennstoffe ist nicht nur gesundheitsschädlich, sondern stellt auch eine Marktverzerrung dar zu Lasten nachhaltiger Energie- und Mobilitätsformen. Es ist höchste Zeit, ein Datum für den Ausstieg aus der Subventionierung fossiler Brennstoffe festzusetzen,“ so HEAL in einem offenen Brief. Weitere Hintergründe und Quellen finden Sie unter: www.env-health.org
IPPNW-Mitglieder gründen Klima-Allianz mit Am 13. September 2017 haben 20 Personen, darunter auch mehrere IPPNWMitglieder, die sich in verschiedenen Kontexten mit dem Thema befassen, die „Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit“ gegründet. Sie folgen damit dem Beispiel ähnlicher nationaler und internationaler Koalitionen, wie etwa in Großbritannien und den USA. Die Allianz, die sich im Aufbau befindet, will die Folgen des Klimawandels und die Chancen von Klimaschutzmaßnahmen für die globale Gesundheit (z.B. sauberere Luft) im Gesundheitssektor, in der Öffentlichkeit und gegenüber der Politik adressieren und auf eine Reduktion des C02 bzw. den ökologischen Fußabdruck im Gesundheitswesen hinwirken. Mehr Infos dazu im nächsten Forum.
Global Climate and Health Alliance weltweiter Dachverband www.climateandhealthalliance.org Health and Environment Alliance europäischer und internationaler Dachverband www.env-health.org UK Health Alliance on Climate Change 600.000 Mitglieder www.ukhealthalliance.org Medical Society Consortium on Climate & Health, USA 500.000 ÄrztInnen medsocietiesforclimatehealth.org 29
Der richtige Augenblick Nord und Süd trafen sich vom 2.-7. September 2017 auf dem IPPNW-Weltkongress in York
S
treng genommen fand der diesjährige Weltkongress ein Jahr zu spät statt. Im vergangenen Jahr 2016 wurde die in der Satzung festgelegte Regel, dass die Treffen des International Councils, dem obersten Organ der internationalen Föderation der IPPNW, mindestens alle zwei Jahre stattzufinden haben, missachtet. Der Grund: In der Zeit seit dem Kongress in Astana war die Führung der IPPNW, insbesondere die Co-Präsidenten und die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstandes, so sehr in die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) eingebunden, dass schlichtweg keine Ressourcen vorhanden waren, um einen Weltkongress zu veranstalten. Und nach dem großartigen Erfolg, den ICAN mit dem Beschluss über den Atomwaffen-Verbotsvertrag vom 7. Juli in der UN-Generalversammlung verbuchen konnte, kann niemand behaupten, dass die Konzentration auf dieses wichtige Ziel nicht angebracht gewesen sei.
Um so wichtiger war es, dass die international tätigen AktivistInnen dieses Jahr Gelegenheit hatten, sich über den Fortgang unserer zuletzt so erfolgreichen Arbeit auszutauschen. Die Kulisse war grandios: Vom 4. bis zum 6. September 2017 fand der Kongress unter dem Titel „Health through Peace“ auf dem Universitäts-Campus der geschichtsträchtigen, mittelalterlichen Stadt York im Norden Englands statt. Organisiert wurde er von Medact, der
britischen Sektion der IPPNW. Von der deutschen Sektion war eine große Delegation aus StudentInnen und ÄrztInnen nach England gereist. Sehr erfreulich war die Teilnahme vieler Delegierter aus dem globalen Süden. In letzter Minute war, mit Unterstützung von Mitgliedern der deutschen Sektion, sogar die Anreise eines Vertreters der noch jungen Sektion aus Bolivien gelungen! Die Themen der Plenarsitzungen und Workshops orientierten sich überwiegend an den Kernprogrammen der IPPNW. Aufgrund der aktuellen Ereignisse lag der Schwerpunkt dieses Mal auf dem Thema Atomwaffen. So sprach im Plenum zum Auftakt u.a. Beatrice Fihn, die Direktorin von ICAN, über die Humanitäre Initiative und den Atomwaffen-Verbotsvertrag. Andere Plenarsitzungen behandelten grundsätzliche Themen wie z.B. die Entstehung und Prävention von Krieg und Gewalt. In Workshops wurden einzelne Aspekte vertieft, wobei allein von Mitgliedern der Deutschen Sektion sieben Workshops organisiert wurden. Das Programm und ein Teil der Beiträge sind im Internet dokumentiert: www.medact.org/project/forum-2017
D
ie Studierenden hatten unmittelbar vor dem Weltkongress ein gesondertes Treffen, auf dem die Themen der IPPNW aus studentischer Perspektive diskutiert wurden. Als neue internationale Studierendensprecher wurden dabei Franca Bruggen aus Deutschland und Kelvin Kibet aus Kenia gewält. Vor und nach dem Kongress trafen sich die internationalen Gremien der IPPNW: Das Board of Directors und das International Council (IC). Letzteres hatte zunächst die Präsidenten der IPPNW neu zu bestimmen. Gewählt wurden: Daniel Bassey aus Nigeria, Ira Helfand aus den USA, Arun Mitra aus Indien und Tilman Ruff aus Australien. Alle Ergebnisse der Vorstandswahlen können auf der internationalen IPPNW-Homepage abgerufen werden: www.ippnw.org/board.html Eine Entscheidung des IC war, den bislang streng festgelegten zweijährigen Rhythmus der IC-Treffen zugunsten einer flexiblen Regelung aufzugeben. In Zukunft finden sie immer im Rahmen eines IPPNW-Weltkongresses statt. Und für den nächsten Kongress gibt es bereits zwei Kandidaten: Nepal und Kenia.
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in Highlight war die Vorführung des Films „The Shadow World“ mit einer anschließenden Diskussion mit Andrew Feinstein. Der deutschen IPPNW ist der Autor und Aktivist vom Kongress „Zielscheibe Mensch“ bekannt. Sein Film behandelt die Verflechtungen der internationalen Politik mit dem Waffenhandel und wird vermutlich im nächsten Jahr auch in die deutschen Kinos kommen. 30
Dr. Helmut Lohrer ist International Councillor der deutschen IPPNW.
AKTION
BREMEN
BREMEN
Auf der Straße Bundesweiter Aktionstag der Friedensbewegung
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it Aktionen in mehr als 30 Städten, darunter einer Menschenkette von der US-amerikanischen zur nordkoreanischen Botschaft in Berlin, mit Demonstrationen u.a. in Frankfurt, Nürnberg, Bremen und weiteren vielfältigen Aktivitäten wandten sich Organisationen und Initiativen aus der Friedensbewegung am 18. November 2017 an die Öffentlichkeit und verlangten von den politisch Verantwortlichen Abrüstung statt Aufrüstung und Krieg. Bunt, kreativ und auch laut unterstrichen die Beteiligten die zentralen Forderungen der Friedensbewegung, die auf einer Aktionskonferenz im Oktober gemeinsam vereinbart wurden. Bei vielen Aktionen wurden Unterschriften unter die Petition an die zukünftige Bundesregierung „Unterzeichnen Sie das UN-Atomwaffenverbot“ und den gesellschaftlichen Aufruf „abrüsten statt aufrüsten“ gesammelt.
FRANKFURT / MAIN
BERLIN 31
GELESEN
Der neue Rechtsruck
Fassadendemokratie
Dieses Buch lässt Synapsen vibrieren. Andreas Peglau gelingt eine präzise Analyse gesellschaftlicher Dynamik, indem er über unser individuelles Dasein aufklärt.
Gleich zwei Neuerscheinungen von Jens Wernicke verleihen uns Wut und Mut zur Veränderung.
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ügen die Medien? Der Titel mag zunächst irritieren. Man mag sich doch nicht in der Nähe der „Lügenpresse“Schreier sehen. Allerdings steht Jens Wernicke, der als kritischer Journalist bekannt ist, und mehr noch die 25 Autoren, u.a. Noam Chomsky, Daniele Ganser, Eckart Spoo, Uwe Krüger, Rainer Mausfeld, Erich Schmidt Eenboom, Sabine Schiffer und Daniela Dahn, dafür, dass es um fundierte Medien- und Gesellschaftskritik geht.
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hre Stärke zieht diese Analyse aus der Synopse soziologischer, sozialpsychologischer und psychologischer Erkenntnisse. Der Autor nimmt Wilhelm Reichs These auf: „Versucht man die Struktur der Menschen allein zu ändern, so widerstrebt die Gesellschaft. Versucht man die Gesellschaft allein zu ändern, so widerstreben die Menschen. Das zeigt, dass keines für sich allein verändert werden kann“ (1934). Reich erforschte als einer von wenigen mutigen WissenschaftlerInnen, die seelischen Mechanismen, die den Faschismus möglich gemacht und getragen haben. Peglau weist empirisch fundiert nach, dass der aktuelle gesellschaftliche Rechtsruck die gleichen Facetten der seelischen Dynamik nutzt. Lebens- und Entwicklungsbedingungen deformieren das lebensbejahende Empfinden und Denken Neugeborener: Kirche, Patriarchat und kapitalistische Formen der Produktion und des Konsums schaffen und verstärken autoritär-aggressive, unterwürfige seelische Strukturen.
Geht es „uns“ wirklich so gut, wie Merkel uns dies souffliert angesichts einer immer weiter auseinanderklaffenden Schere zwischen Armen und (Super)Reichen, Sozialabbau, drohender Altersarmut, nationalistischem Rechtsruck, Militarisierung der Außenpolitik, der der „Krieg um die Köpfe vorausgeht sowie ein Abbau von immer mehr Grundrechten unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung“, fragt Klaus-Jürgen Bruders etwa. Diesem fundierten Beitrag über die Manipulationsmacht der Medien, der ursprünglich als kritisch-aufklärerisch gedachten „vierten“ Gewalt, hat Wernicke einen weiteren Band „Fassadendemokratie und tiefer Staat“ folgen lassen. Die darin versammelten 16 Beiträge klären auf, wie die liberale Demokratie, die eigentlich die Interessen ihrer Bürger repräsentieren sollte, in eine Autokratie der ökonomisch Mächtigen degeneriert, deren Interessen sich unsere Regierungen zunehmend unterwerfen, sodass suprastaatliche Strukturen entstanden, die keiner demokratischen Kontrolle mehr unterworfen sind: der „tiefe Staat“. Beide Bücher sind allen politisch interessierten Menschen sehr zu empfehlen, um aus passiver Resignation zu Veränderungs-Wut und -Mut zu finden.
Peglau ermutigt, Menschen dort abzuholen, wo sie sich, oft bis zur Selbstaufgabe psychisch verstümmelt, befinden: Ihnen helfen, ihre Angst und ihre Selbstzweifel zu überwinden; sie aufklären, dass die politisch und ökonomisch Herrschenden sie bedrohen und nicht Langzeitarbeitslose, Flüchtlinge und Sinti; sie ermuntern, sich ihre Freiheit und Selbstachtung zurückzuholen, gemeinsam mit allen anderen Benachteiligten und Geknechteten. Politische Veränderung und das Abfedern rechter Tendenzen beginnen, indem Menschen ihre Gefühle und Gedanken von Angst und Aggression befreien. Vorgelegt hat Peglau ein Handbuch für die politische Praxis, das uns sagt, was zu tun ist, und andeutet, wie es getan werden könnte. Wer im Herzen den Wunsch und im Kopf die Vorstellung trägt, dass die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse einer radikalen Veränderung bedürfen, sollte es auf seinem Nachttisch in Leseweite haben, auch wenn dort schon Bibel oder Mao-Bibel liegen. IPPNWlerInnen kann es mahnen, noch stärker „in sozialer Verantwortung“ zu handeln. Und es fordert auf, Wilhelm Reich, Erich Fromm, aber auch Peter Brückner und Igor Caruso, wieder im Original zu lesen – sie sind aktueller denn je.
„Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung“, hrsg. von Jens Wernicke. Westend 2017, 358 S., 18,- €, ISBN: 9783864891885
„Rechtsruck im 21. Jahrhundert“, Andreas Peglau, Nora Verlag 2017, 174 S., 39,95 €, ISBN-10 3865574289
„Fassadendemokratie und tiefer Staat. Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter“, hrsg. gemeinsam mit Ulrich Mies, Promedia 2017, 271 S., 19,90 €, ISBN: 9783853714256
Günter Rexilius
Mechthild Klingenburg-Vogel 32
GEDRUCKT
TERMINE
Publik Forum: Flucht Dossier Flucht und Vertreibung
DEZEMBER Noch bis Ende Januar Hibakusha Weltweit, VHS Mönchengladbach
Mehr als 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Die Wenigsten von ihnen wollen nach Europa. Dennoch wird intensiv darüber gestritten, wie die Fluchtursachen zu bekämpfen sind. Das neue Publik-Forum-Dossier „Damit sie bleiben können“, erstellt mit elf Kooperationspartnern, geht der Frage nach, was Menschen fliehen lässt. Es will zur Debatte über die wirklichen Fluchtursachen anregen. Bestellung unter shop.ippnw.de
10.12. Friedensnobelpreis-Verleihung, Direktübertragungen der Verleihung aus Oslo in Berlin, Darmstadt, Hamburg, Hannover
Der Amatom ist da
17.2. Vortrag von Prof. Rainer Mausfeld, Mönchengladbach
IPPNW-Studierendenmagazin 2017 (K)ein Grund zum Feiern? Zeitschrift von Studierenden für Studierende – Ausgabe 2017. Themen u.a.: Fracking in Niedersachsen – Atomwaffenverbot – Kommerzialisierung des Gesundheitswesens – Zivilschutz in Deutschland – Das DRK im Nationalsozialismus. A4 42 Seiten, kostenlos. Bestellung unter shop.ippnw. de. Online lesen: ippnw.de/bit/amatom30
JANUAR 20.1. IPPNW-RegioContact Stuttgart
Süd-
FEBRUAR
16.-18.2. Demonstrationen gegen die Münchner Sicherheitskonferenz 16.-18.2. Internationale Friedenskonferenz, München
MÄRZ 20.-21.3. Kongress „Armut & Gesundheit“, Berlin 30.3.-2.4. Ostermärsche
MAI 4.-6.5. Jahrestreffen und IPPNWMitgliederversammlung, Köln
GEPLANT Das nächste Heft erscheint im März 2018. Das Schwerpunktthema ist:
Don’t nuke the climate!
21.5.-2.6. Frieden geht – Staffellauf für eine friedliche Welt
JUNI
Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 153/März 2018 ist der 31. Januar 2018. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de
IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-
kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der
tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-
Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke
wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland
bedürfen der schriftlichen Genehmigung.
Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika
Redaktionsschluss für das nächste Heft:
Wilmen, Regine Ratke
31. Januar 2018
Freie Mitarbeit: Robin Faißt
Gestaltungskonzept: www.buerobock.de,
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-
Layout: Regine Ratke; Druck: DDL Druckerei-
straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 6980740,
dienstleistungen Berlin; Papier: Recystar Polar,
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Das Forum erscheint viermal im Jahr. Der Be-
S. 31 unten: DFG-VK;
zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag
nicht gekennzeichnete:
enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-
privat oder IPPNW.
10.6. „Tag der Bundeswehr“ 15.-23.6. IPPNW-Woche in Büchel Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine
A nmelden MAI 21.5–2.6.2018
Frieden geht! Staffellauf von Oberndorf nach Berlin www.frieden-geht.de
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!
GEFRAGT
6 Fragen an … Foto: Uranium Film Festival
Norbert G. Suchanek Filmemacher und Gründer des International Uranium Film Festivals in Rio de Janeiro und Berlin
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Herr Suchanek, warum haben Sie und Ihre Frau Márcia Gomes de Oliveira das Festival gegründet? Angefangen hat es mit einem Film, den wir 2006 über die Guarani-Indianer in Brasilien gemacht haben. Auf deren Gebiet standen damals schon zwei Atomkraftwerke. 2010 wurde der Bau eines dritten Atomkraftwerks und von bis zu 40 anderen angekündigt. Und der GAU in Tschernobyl war vergessen. Da wollten wir etwas dagegen setzen. Die Idee für das Festival hatte ich bei einem internationalen Treffen der indigenen Völker, die vom Uranbergbau betroffen sind, dem Indigenous World Uranium Summit. Dort wurden mehrere Filme über den Uranbergbau gezeigt. Wunderbare Filme, die man niemals im Fernsehen sehen konnte. Die wollten wir ins Kino bringen.
Berlin war dann auch sofort dabei. Mit mehr Sponsoren könnten wir das Festival in jeder Hauptstadt des Planeten machen. Nächstes Jahr sollen wir nach Schottland kommen – als Teil der schottischen Bewegung gegen England. Sie haben dort zwei AKWs, die von der Regierung in London gebaut wurden.
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Was ist das Ziel des Festivals? Es geht darum, Aufmerksamkeit zu schaffen, das Thema unter die Leute zu bringen und zu zeigen, dass Atomkraft mit Uran zusammenhängt. Die meisten Menschen in Brasilien oder in Deutschland wissen ja nicht, dass der Kernbrennstoff Uran ist und dass man den irgendwo abbauen muss. Wir in Deutschland müssen den aus Australien holen oder aus Namibia, ein Teil kommt auch aus Kanada. Inzwischen hat sich das Festival aber auf die gesamte nukleare Kette erweitert.
Was für ein Verhältnis haben Sie zu den FilmemacherInnen und wie unterstützen Sie sie? Definitiv ein besonderes Verhältnis. Wir geben ihnen nicht nur eine globale Plattform und Zuschauer, sondern auch eine Heimat, einen Ort zum Erfahrungsausstausch. FilmemacherInnen, die sich dem „radioaktiven“ Thema widmen, gehen oft hohe Risiken ein. Sie können Ihren Job verlieren oder ihre Gesundheit oder Schlimmeres. Adam Horowitz zum Beispiel durfte seinen mit Geldern des öffentlichen US-Fernsehens produzierten Film nicht im US-Fernsehen zeigen. Wir wählten den Dokumentarfilm „Nuclear Savage: The Islands of Secret Project 4.1“ über die US-Atombombentests, aus und gaben ihm unseren Filmpreis und zeigten ihn u.a. in Rio de Janeiro, München, Neu Delhi, New York, Washington, Window Rock, Santa Fe, Hollywood und Berlin. Das gab Horowitz wie auch anderen atomaren FilmemacherInnen Kraft, weiterzumachen.
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Auch der Film „High Power“ des indischen Atomenergie-Ingenieurs und Filmemachers Pradeep Indulkar war in Indien verboten... Wir haben den Film auf Portugiesisch übersetzt, zeigten ihn in Rio und gaben ihm unserem Kurzfilmpreis. „High Power“ wurde daraufhin von der indischen Regierung freigegeben und Pradeep Indulkar reiste mit dem Film rund um den Globus. Das sind, so möchte ich sagen, die Kollateral-Schäden des Uranium Film Festivals – auch das macht unser besonderes Verhältnis zu den FilmemacherInnen aus.
Um den Strahlenunfall in Goiâna/Brasilen ging es beim diesjährigen Festival in drei Filmen... In der Stadt Goiânia wurde ein Krebskrankenhaus verlagert und das alte Gebäude abgerissen. Nur ein Raum mit einem Strahlenbehandlungsgerät blieb erhalten. 1987 haben junge Arbeitslose es zu einem Schrotthändler gebracht, um es zu Geld zu machen. Nachdem das Gerät aufgebrochen und radioaktives Cäsium freigesetzt wurde, wurden hunderte Menschen verstrahlt (siehe Seite 19).
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Wie hat sich das Festival im Lauf der Zeit verändert? Das Festival wächst ständig. Schon nach dem ersten Mal in Rio haben wir die Einladungen nach Indien und in die USA bekommen.
Das Interview führte Susanne Ehlerding (Fragen 1-4). Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Tagesspiegels. 34
issuu.com/ippnw
Ihr Erbe kann der Fortsetzung Ihrer politischen Anliegen dienen Mit ihrem Nachlass oder Teilen davon können Sie nicht nur ihre Familie versorgen. Sie können auch gemeinnützige Vereine und Institutionen dabei unterstützen, das fortzusetzen, was ihnen zudem sehr lange wichtig war: Wie Ihre Vorstellungen über eine menschenwürdige Welt frei von atomarer Bedrohung. Für das steuerbegünstigte Spenden, z.B. an die IPPNW, sind einige Dinge zu bedenken. Die IPPNW-Broschüre „Über den Tag hinaus die Zukunft mitbestimmen. Vererben oder Vermachen an einen gemeinnützigen Verein“ informiert Sie darüber. Fordern Sie die Broschüre mit der Bestellkarte an.
Per PerFAX FAXan an030/693 030/69381 8166 66
Ihr Nachlass gestaltet: Über den Tag hinaus
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Straße
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Plz, Ort
Unterschrift
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21. MAI – 2. JUNI 2018
FRIEDEN
GEHT!
OBERNDORF – KASSEL – BERLIN
Staffellauf für eine friedliche Welt
Viele Menschen aller gesellschaftlichen Gruppierungen treten mit dieser Aktion gemeinsam für Frieden und gegen den Rüstungswahnsinn ein. Sie zeigen damit ihre Solidarität mit Millionen vom Krieg betroffener Männer, Frauen und Kinder. Von Oberndorf aus geht es – an Rüstungsstandorten vorbei – nach Berlin. Jede und jeder kann mitmachen: Entweder beim Lauf, bei einer der Kundgebungen oder bei einer der Aktionen entlang der Strecke. Bitte organisiert aus Euren Regionen Läufe zur zentralen Route.
Die Strecke 21. 5. Oberndorf > Furtwangen 55 km 22. 5. Furtwangen > Offenburg 105 km 23. 5. Offenburg > Karlsruhe 80 km 24. 5. Karlsruhe > Heidelberg > Mannheim 64 km 25. 5. Mannheim > Frankfurt 82 km 26. 5. Frankfurt > Fulda 110 km 27. 5. Fulda > Kassel 129 km 28. 5. Kassel > Eisenach 89 km 29. 5. Eisenach > Jena 106 km 30. 5. Jena > Halle 90 km 31. 5. Halle > Magdeburg 89 km 1. 6. Magdeburg Potsdam 132 km 2. 6. Potsdam > Berlin 31 km
WER FRIEDEN WILL, BRAUCHT KEINE WAFFEN.
www.frieden-geht.de
(Änderungen im Verlauf vorbehalten. Alle Infos und Kontakt auf der Website.)
Auftakt: Oberndorf, Pfingstmontag, 21. Mai Großes Abschlussfest: Berlin, Samstag, 2. Juni