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Der World Nuclear Industry Status Report

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Gelesen, Gesehen

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So steht es um die Atomenergie weltweit

Atomkraft, gut fürs Klima? Jährlich grüßt das Murmeltier.

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In regelmäßigen Abständen liest man on- und offline teils überraschende Meldungen wie zukunftsfähig Atomenergie sei, und wie sie überall auf der Welt – außer in Deutschland– auf dem Vormarsch sein soll. Doch selten beschäftigen sich Artikel mit reißerischen Überschriften mit Tatsachen. Das jährlich erscheinende World Nuclear Industry Report liefert dazu hilfreiche Zahlen, die die tatsächliche Lage der Atomindustrie durchleuchten.

Glaubt man den sich in den letzten Monaten gefühlt häufenden Meldungen, ist eine „Renaissance“ der Atomenergie zu beobachten. Jährlich grüßt das Murmeltier. Treffender wäre hier von Wiederbelebungsversuchen zu sprechen, denn die Realität sieht anders aus: Die Zahlen der Atomindustrie weltweit sind – mit Ausnahme von China – seit Jahrzehnten tiefrot und zeigen stets nur nach unten. Selbst China baut jedoch erneuerbare Energien weitaus schneller aus als Atomenergie. So sind im letzten Jahrzehnt (2011-2020) insgesamt 63 neue Reaktoren ans Netz gegangen, davon 37 allein in China. Währenddessen wurden weltweit 59 Reaktoren stillgelegt, davon keiner in China. Mit anderen Worten: Ohne China sind weltweit 26 Reaktoren ans Netz gegangen, gegenüber 59 Stilllegungen. Ein Minus von 33. So gibt es Anfang 2021 weltweit 412 in Betrieb befindliche Reaktoren. Das sind drei weniger als Anfang 2020, vier weniger als 1990 und ganze 26 Einheiten unter dem historischen Höchststand von 438 Reaktoren, im Jahr 2002. Von einer Wiederbelebung sind wir weit entfernt.

Der anhaltende Rückgang der Atomenergie weltweit wurde 2020 mit einem weiteren negativen Saldo aus Inbetriebnahmen und Stilllegungen bestätigt. So sind letztes Jahr nur fünf neue Reaktoren ans Netz gegangen. Ihnen stehen sechs definitive Stilllegungen entgegen. Fünf weitere wurden zudem langfristig vom Netz genommen.

Alt, teuer, unflexibel, anfällig, unsicher…

Die Atomenergie hat es nicht leicht! Während die weltweite Atomstromproduktion zwischen 2010 und 2019 von 2.630 Terawattstunden auf 2.657 Terawattstunden minimal angestiegen ist (und dennoch lediglich etwa 10,3 Prozent der weltweiten Stromproduktion bedeutet), hat sich die Produktion aus erneuerbaren Quellen (Wasserkraft ausgeschlossen!) mehr als verdreifacht! Mit 2.806 Terawattstunden Stromproduktion im Jahr 2019 haben die Erneuerbaren die Atomenergie so weit hinter sich gelassen. Dies zeigt, wie wenige Absatzmärkte die weltweite Atomindustrie tatsächlich hat.

Auch an tatsächlich installierter Leistung lässt sich ablesen, wie gering der Anteil der Atomenergie mittlerweile im Strommarkt ist. In der EU übertraf 2020 die installierte Solarstrom-Kapazität mit 130 Gigawatt erstmals die 116 Gigawatt der Atomenergie. Windkraft hatte ihrerseits die Atomenergie bereits 2014 überholt und hat seitdem den Abstand weit vergrößert. Die Windkraftleistung wuchs um 14 Prozent und die Solarenergie um sieben Prozent, während die Atomenergie um ein Prozent zurückging. Erneuerbare Energien (inklusive Wasserkraft) erzeugten 2020 einen Rekordanteil von 35 Prozent des Stroms, der in der EU erzeugt wurde, während die Atomkraft 25,5 Prozent lieferte – eine sehr nach oben verzerrte Zahl, angesichts des schwer atomlastigen französischen Strommixes. Existierende Atomkraftwerke sind meist sehr alt – sie erzeugen glänzende Profite, weil sie längst abgeschrieben sind. Dabei ist leicht zu verstehen: Je älter ein Kraftwerk, desto anfälliger wird es für Störfälle oder, im schlimmsten Fall, für Katastrophen. Neue zu bauen ist extrem teuer, langwierig und unbeliebt.

Schwer subventioniert in die Zukunft

Ein oft genannter „Ausweg“ aus dieser misslichen Lage sind sogenannte „SMRs“, Small Modular Reactors. Atomkraftwerke kleinerer Leistung, die eine flexible Atomstromproduktion an den entlegensten Orten möglich machen sollen. Doch diese schwer subventionierten Konzepte sind genau das: Konzepte. Sie existieren bisher – bis auf einer Ausnahme in Russland – nur auf dem Papier. Diese sind ohne Subventionen nicht realisierbar, und vor allem für das Militär von Interesse – ohne Gewinn für Umwelt, Klima oder Verbraucher*innen.

Während das Gerede über die SMRs unvermindert anhält, gibt es immer mehr Anzeichen dafür, dass die Trends, die die Aussichten für große Atomkraftwerke weitgehend geschmälert haben – Verzögerungen, schlechte Wirtschaftlichkeit und der schnellere und günstigere Ausbau von erneuerbaren Energien zu immer geringeren Kosten – auch diese neuen Technologien betreffen, und dass es keinen Grund gibt, mit angehaltenem Atem auf den Einsatz von SMRs zu warten.

Den unausweichlichen Abwärtstrend der Atomindustrie hat selbst die Internationale Energieagentur (IEA) erkannt. Als Reaktion auf die Coronaviruspandemie hat die IEA im Juni 2020 einen Dreijahresplan vorgelegt, der für den Stromsektor eine Priorisierung von Investitionen in erneuerbare Energien und eine Stärkung der Netze vorsieht. Für alle anderen Energiequellen einschließlich der Atomkraft schlägt die IEA lediglich vor, dass sie beibehalten werden sollten. Die Botschaft ist also klar: Für Wirtschaft, Arbeitsplätze und Klima liegt die Priorität bei den erneuerbaren Energien. Die Umsetzung dieser Vorschläge würde lediglich den Trend der letzten zehn Jahren beschleunigen: Atomkraft ist eine zunehmend veraltete, inkompatible und teure Technologie, die in einem dekarbonisierten Energiesektor nicht mit dem Angebot an günstigeren und sauberen erneuerbaren Energiequellen mithalten kann.

Mehr Infos: www.worldnuclearreport.org

Paul-Marie Manière ist Referent für Atomenergie und Energiewende in der IPPNW-Geschäftsstelle.

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