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Gelesen, Gesehen
Vergessene Briefe
Jahrelang lagen die Briefe vergessen in einer flachen Schachtel zwischen verstaubten Büchern. Sie stammten von seinem Onkel, dem Bruder seiner Mutter, der 1942 in Russland gefallen war...
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Unsere Kollegin Marlene Pfaffenzeller ist Psychoanalytikerin und hat viele Jahre mit geflüchteten und traumatisierten Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten gearbeitet. Nun hat Marlene ihren zweiten Roman geschrieben. Auch dieses Buch beschäftigt sich mit dem Krieg, diesmal mit dem Zweiten Weltkrieg und der Nazi-Ideologie eines verblendeten Nationalismus.
Auf der Grundlage von Feldpostbriefen eines Onkels lässt sie den Romanhelden Frieder und sein von der Zeit geprägtes Weltbild entstehen, das ihn voll Überzeugung in den Krieg nach Russland führt, wo er alle Grausamkeiten mit der nationalen Notwendigkeit erklärt und mitträgt. Ohne etwas zu beschönigen, entwirft sie das Bild eines liebenswerten, feinfühligen Mannes, der pflichtbewusst für Volk und Vaterland in den Tod geht. Mich hat die Lektüre gefesselt und beeindruckt, weil Marlene Pfaffenzeller ihren Protagonisten selbst zu Wort kommen lässt, weil sie, ohne zu werten, seine Gedanken und Überzeugungen lebendig werden lässt. Dadurch schafft sie einen anderen Zugang zur Geschichte unserer Eltern und Großeltern, ohne die Schrecken des Krieges und der Ideologie zu relativieren.
„Scharlatane, scheinbar allmächtige Führer und Heilsversprecher, die einfache Lösungen für komplexe Herausforderungen versprechen und die auf jede Frage eine unumstößliche Antwort geben, sind eine Gefahr für den Planeten mit all seinen Lebewesen,“ schreibt der Täter und Protagonist Karl am Ende der Rahmenhandlung.
Marlene Pfaffenzeller: Schatten aus vergilbten Briefen. Kulturmaschinen Verlag, Hamburg 2021, 272 S., Paperback, 16,00 € ISBN-13: 9783967631746
Gisela Penteker
Datenkraken im öffentlichen Dienst
Dr. Rolf Gössner beschreibt in seinem Buch, wie sich die Befugnisse von Polizei, Geheimdiensten und Militär im „Kampf gegen den Terror“ zunehmend ausgeweitet, vermischt und demokratischer Kontrolle entzogen haben.
Der Jurist und Publizist, der selbst 40 Jahre lang rechtswidrig durch den Verfassungsschutz überwacht wurde, hat in seinem Buch die Laudatios des jährlichen BigBrother-Awards versammelt, die er in den letzten 20 Jahren verliehen hat. Beim Lesen fällt erschreckend auf: Regelungen und Prozeduren – z.B. ein „Lauschangriff“, der im Jahr 2000 einen gesellschaftlichen Aufschrei auslöste – sind 2020 breit akzeptierte Normalität. Im zweiten Teil des Buches analysiert Gössner die dieser „neuen Normalität“ zugrundeliegende Sicherheits- und Antiterrorpolitik als Verunsicherungspolitik auf Kosten der Freiheit. Abschließend zeigt er kurz auf, wie die Corona-Pandemie diese Entwicklung weiter befördert hat. Ängste und gesellschaftliche Feindbilder haben auf politischer Ebene eher zu einem reflexhaften Aktionismus mit struktureller Aufrüstung der Sicherheitsorgane geführt. Eine Militarisierung fokussiert auf (potentielle) Kampferfolge und vernachlässigt die bürgerrechtlichen und gesamtgesellschaftlichen Kollateralschäden. Die umfassende Datenerfassung, Vernetzung und der Datenaustausch mit in- und ausländischen Geheimdiensten auch autoritärer Regime haben unter Ausschaltung von rechtsstaatlichen Grundsätzen unschuldige Existenzen zerstört. Die präventive Telekommunikationsüberwachung nutzt zudem IT-Sicherheitslücken, die deshalb nicht beseitigt werden und damit die Infrastruktur der Allgemeinheit für Cyberkriminalität offenhält – der wirtschaftliche Schaden für Deutschland wurde allein 2020 mit 220 Milliarden Euro beziffert! Noch problematischer wird es, wenn rechtsextreme Einzelpersonen oder Gruppen innerhalb von Sicherheitsbehörden die Überwachungsbefugnisse zum Ausspähen und zur Einschüchterung von politischer Gegner missbrauchen und so mit der „Sicherheitsarchitektur“ demokratisches und zivilgesellschaftliches Engagement angreifen, das diese ja eigentlich sichern sollte. Die derzeitigen Pegasus-Enthüllungen der Ausspähung von Politikern, Dissidenten und Journalisten in globaler Dimension hat das sachlich geschriebene Buch noch aktueller gemacht.
Rolf Gössner: Datenkraken im öffentlichen Dienst. Laudatio auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat. Mit Gastbeiträgen von Gerhart Baum, Sabine LeutheusserSchnarrenberger und Heribert Prantl, Papyrossa, Köln 366 S.,
19,90 €, ISBN 978-3-89438-753-2 Dr. Herbert Kappauf