IPPNW forum 144/2015 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Foto: © Mònica Parra

ippnw forum

das magazin der ippnw nr144 dez2015 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

- Spar Dir den Atomkrieg! - 30 Jahre Friedensnobelpreis - Türkei nach der Wahl: Der Bürgerkrieg geht weiter

Flüchtlinge, Globalisierung und Gesundheit: Menschenrechte achten – Geflüchtete schützen


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EDITORIAL Katharina Thilke ist Mitglied im Vorstand der deutschen Sektion der IPPNW.

N www.europa-der-menschenrechte.org

ach den Anschlägen von Paris bekämpfen PolitikerInnen Gewalt mit Gegengewalt. Immer mehr Stimmen werden laut, die einen Kausalzusammenhang zwischen Terror und den „Flüchtlingsströmen“ herstellen. Pegida und AfD bekommen erneut Zulauf und das Bundesinnenministerium hat einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der massive Einschränkungen des Asylrechts enthält. „Beschleunigte Verfahren“ erhöhen das Risiko immens, dass traumatisierte und kranke Menschen abgeschoben werden. Informieren Sie sich in unserer aktuellen IPPNW-Ausgabe über Hintergründe von Fluchtursachen und die medizinisch prekäre Lage von Flüchtlingen: Das Kollektiv Fotomovimiento aus Barcelona, von dem die Bilder zu diesem Schwerpunkt stammen, hat die Situation durchreisender Flüchtlinge in Ungarn, Kroatien und an der kroatisch-serbischen Grenze in bewegenden Aufnahmen dokumentiert. Frank Uhe fasst die Ergebnisse der Global Health-Konferenz „Globalisierung, Flüchtlinge und Gesundheit“ zusammen. Frank Dörner berichtet über die lebensgefährliche Reise von Flüchtlingen über das Mittelmeer und die Rettungseinsätze von Sea-Watch. Nathalie Simonnot von Médecins du Monde stellt eine neue länderübergreifende Studie zur gesundheitlichen Versorgung von Geflüchteten vor. Von überforderten Behörden und ihrer ehrenamtlichen Arbeit in der medizinischen Versorgung berichtet Adelheid Lüchtrath. Ein erfolgreiches Beispiel für die Unterstützung und Solidarisierung mit Flüchtlingen sind die von Peter Hauber organisierten Benefizkonzerte, deren Ausgangspunkt eine ärztliche Sprechstunde auf dem Oranienplatz war. Schließlich appelliert der Jurist Peter Vonnahme an die PolitikerInnen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Nur wenn wir die Ursachen für Krieg, Vertreibung, Flucht und Radikalisierung analysieren, können wir langfristige Strategien und Lösungen entwickeln. Dazu braucht es Dialog und Verhandlungen, nicht weitere Waffenexporte und Militäreinsätze. Katharina Thilke

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INHALT Türkei: Krankenhäuser werden zu Kriegsschauplätzen

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THEMEN Türkei: Krankenhäuser werden zu Kriegsschauplätzen .................8 Rezept gegen den Krieg: Die IPPNW-Friedenskonferenz ..........10 Spar Dir den Atomkrieg: Die Macht der Atomlabore................... 12 Vor 30 Jahren: Friedensnobelpreis an die IPPNW .........................14 USA: Strahlenschutz auf der Kippe? .....................................................16

SCHWERPUNKT Flüchtlinge, Globalisierung und Gesundheit .................................... 18 Eine „Willkommenskultur“ macht noch

Vor 30 Jahren: Friedensnobelpreis für die IPPNW

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kein menschenwürdiges Aufenthaltsgesetz ...................................... 20 Es gilt die Fluchtursachen zu bekämpfen ......................................... 22 Fakten zur Gesundheit von Migrant/innen .........................................24 Zwischen Aktivismus und Professionalität: Warum auf dem Mittelmeer die Zivilgesellschaft gefragt ist ........................... 26 Ehrenamtliche Flüchtlingsärztin.............................................................. 27 No Hope! No Future! I am angry! Zur Entstehung der IPPNW-Benefizkonzerte für Flüchtlinge ..................................... 28

WELT Europäisches IPPNW-Treffen in Belgrad:

Flucht nach Europa: Flüchtlinge, Globalisierung und Gesundheit

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Gegen die Gefahr einer nuklearen Eskalation ................................. 30

RUBRIKEN Editorial ......................................................................................................................3 Meinung .....................................................................................................................5 Nachrichten .............................................................................................................6

Foto: © Antonio Litov

Aktion .......................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine ....................................................................... 33 Gefragt .................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis ............................................................................. 33


MEINUNG

Susanne Grabenhorst ist Vorsitzende der deutschen IPPNW.

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Wir sind sehr erschrocken und traurig über die Attentate von Paris, die in diese unfriedliche Welt noch mehr Leid, Aggression und Angst brachten. Wir gedenken der Terroropfer in Europa und auch der Opfer in Bamako, Beirut, beim Airbus-Absturz über dem Sinai, in Ankara und wir denken an die Menschen, die um sie trauern.

in gewalttätiger, menschengemachter Tod trifft auch ungezählte Menschen in Syrien, im Irak, im Jemen, Libyen und anderen Kriegsschauplätzen. Allein in Afghanistan, Irak und Pakistan sind durch Krieg seit 2001 bis zu zwei Millionen Menschen getötet worden, so der Body Count-Report der IPPNW. So viel Tod, so viele verletzte, verelendete und vertriebene Menschen bieten gute Rekrutierungsbedingungen für militante Organisationen wie den Islamischen Staat (IS). Terror ist eine Folge von asymmetrischen Kriegen, und der ausgerufene „Krieg gegen den Terror“ hat den Boden für noch mehr Terror bereitet. Der Aufstieg des Islamischen Staates wurde zudem extern unterstützt in der Erwartung, ihn für eigene Zwecke instrumentalisieren zu können. Der Global Terrorism Index der University of Maryland zeigt, dass die Menschen im Irak, in Afghanistan, Pakistan, Nigeria und Syrien am stärksten unter Terror leiden.

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in militärischer Sieg über den IS ist eine Illusion. Wir müssen Demokratie, Rechtsstaat sowie eine Kultur der Toleranz stärken. Die Reaktion Norwegens auf das Breivik-Attentat war nicht „mehr Hass, sondern mehr Liebe, mehr Offenheit und mehr Demokratie“. Wir brauchen eine Willkommenskultur und solidarische Integration für Geflüchtete vor eben diesem Terror und vor Krieg. Präventiv wirksam sind auch Hilfen für die Flüchtlingslager in der Kriegsregion und ein engagierter Einsatz für Waffenstillstände und Verhandlungen. Wenn Menschenrechte für Terrorbekämpfung oder geostrategische Ziele geopfert werden, werden Extremisten und Kriegsherren am Ende triumphieren. Wir lehnen Bombardierungen und Waffenlieferungen ab, die Menschen töten und in die Flucht treiben. Wer Terror und Krieg überwinden will, muss der Spaltung zwischen Arm und Reich, der weiteren Ausbeutung von Menschen und des Planeten entgegentreten. Den aktuellen Body Count finden Sie unter kurzlink.de/bodycount 5


N ACHRICHTEN

Friedenskonferenz in London: Gesundheit durch Frieden

Weltärztebund fordert zur Abschaffung von Atomwaffen auf

Aufforderung an Banken: „Spar Dir den Atomkrieg“

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Zudem appellierte der Weltärztebund an die nationalen Medizingesellschaften, auch in der Bevölkerung ein Bewusstsein für die katastrophalen Konsequenzen eines Einsatzes dieser Massenvernichtungswaffen zu schaffen. Die nationalen Ärztegesellschaften sollten ihre entsprechenden Regierungen auffordern, sich für eine Abschaffung von Atomwaffen einzusetzen. Dr. med. Lars Pohlmeier, der die IPPNW in Moskau vertrat, erklärte: „Ärzte dürfen zu diesem Thema nicht schweigen, sondern sind aufgefordert, sich aus ärztlicher Ethik zu diesem wichtigen Thema zu engagieren.“

Im Rahmen der Kampagne „Atomwaffen – ein Bombengeschäft“ protestierten FriedensaktivistInnen vor Filialen der Deutschen Bank und der Commerzbank in Bonn, Frankfurt, Gießen, Hamburg, Hannover, Köln, Schwäbisch Gmünd und Würzburg. Die Deutsche Bank und die Commerzbank zählen zu den größten Investoren in Atomwaffentechnologien. Bei der Protestaktion wurden den Filialleitern Protestschreiben überreicht.

In London fand im November die Medact-Konferenz „Health through Peace“ mit 700 ÄrztInnen, Medizinstudierenden, Krankenschwestern, Wissenschaftlern und humanitären HelferInnen aus aller Welt statt. Im Mittelpunkt stand die Diskussion über die Kriegsursachen in Europa, im Nahen Osten und in Nordafrika und die Entwicklung einer Sicherheitsagenda, die vorrangig auf Prävention von Krieg sowie Maßnahmen gegen Armut und Klimawandel setzt. Neben unserer britischen Schwesterorganisation Medact gehörten The Lancet und Ärzte ohne Grenzen zu den Unterstützern der Konferenz. Bewaffnete Konflikte und Militarisierung seien eine ernst zunehmende Bedrohung für die weltweite Gesundheit, so die TeilnehmerInnen. Medact-Direktor Dr. David McCoy forderte Politik und Öffentlichkeit auf, Militäreinsätze und Gewalt als Basis für die Gewährleistung der nationalen Sicherheit zu hinterfragen. Der Ansatz, die nationale Sicherheit durch direkte oder stellvertretende Kriegsteilnahme zu schützen, habe sich als ineffektiv erwiesen und sei für Millionen von Menschen ein Desaster. Die Konferenz thematisierte zudem die jüngsten Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in Syrien, Jemen, Afghanistan und Palästina.

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n einem Workshop unterrichteten Vertreter des Medical Peace Work-Projekts die TeilnehmerInnen mit Hilfe einer Fallstudie über die Rolle von GesundheitsarbeiterInnen bei Gewaltprävention und der Stärkung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit.

er Weltärztebund hat im Oktober 2015 in Moskau die weltweite Abschaffung von Atomwaffen gefordert. Die Delegierten verabschiedeten eine Resolution, die die Entwicklung, das Testen, die Produktion und Lagerung, den Transport und den Einsatz sowie die Androhung der Nutzung von Atomwaffen verurteilt. Sie forderten alle Regierungen auf, sich für die Abschaffung von Atomwaffen einzusetzen. Bereits ein begrenzter Atomkrieg hätte immenses Leid und den Tod von Millionen Menschen zur Folge, würde das weltweite Klima verändern und eine globale Hungersnot auslösen. Der Weltärztebund hatte sich erstmals 1998 in einer Resolution für die weltweite Abschaffung von Atomwaffen eingesetzt.

Die Erklärung des Weltärztebundes finden Sie unter kurzlink.de/wma

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nlässlich des Weltspartags am 30. Oktober hat die IPPNW deutsche Banken aufgefordert, sich aus der Finanzierung von Atomwaffentechnologie zurückzuziehen. Zehn deutsche Finanzinstitute investieren Milliarden in Firmen, die Atomwaffenkomponenten oder Trägersysteme entwickeln, herstellen oder produzieren. Firmen wie Boeing, BAE Systems, der französische Konzern Thales oder der zweitgrößte Rüstungskonzern Airbus profitieren von Milliardenverträgen für die „nukleare Aufrüstung“, die von Regierungen vorangetrieben wird. Darunter ist auch die Firma Boeing, die maßgeblich an der Aufrüstung der B-61 Atomwaffen zu taktischen Atomwaffen beteiligt sind. Rund 20 dieser US-Bomben liegen noch auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel und würden im Ernstfall von deutschen Piloten im Rahmen der sogenannten „Nuklearen Teilhabe“ eingesetzt.

Mehr Informationen unter: www.atombombengeschaeft.de


N ACHRICHTEN

Neue Fallstudien zur Medizinischen Friedensarbeit erschienen

Hilfe für traumatisierte Flüchtlinge ist unbedingt notwendig

Klimawandel und Gesundheit: Aufruf zum Divestment

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uropäische Gesundheitsorganisationen – darunter die IPPNW – haben im September neue Bildungsmaterialien zu den gesundheitlichen Dimensionen von Krieg, Gewalt und bewaffneten Konflikten für Gesundheitsfachkräfte und Studierende veröffentlicht. Die zwölf neuen Fallstudien sind Teil des Medical Peace Work Projekts. In ihnen werden herausfordende Situationen für GesundheitsarbeiterInnen dargestellt, in denen es auch um Gewaltprävention und die Stärkung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit geht. Die neuen Fallstudien beleuchten die Rolle von ÄrztInnen, Pflegekräften und anderen GesundheitsarbeiterInnen im Aufbau von Vertrauen, Verständigung und einer Friedenskultur. Sie können als Materialen für Gruppenarbeit und Unterrichtsdiskussionen in universitären und außeruniversitären bzw. schulischen und außerschulischen Bildungssettings eingesetzt werden. Für Lehrkräfte und TrainerInnen gibt es jeweils begleitende Leitfäden. Die IPPNW Deutschland hat zwei dieser Fallstudien entwickelt: Es geht um die Gesundheit von Zuckerrohr-ArbeiterInnen in Nicaragua und um strukturelle Gewalt sowie ein fiktives Szenario einer humanitären Katastrophe durch einen Atombombenabwurf auf Berlin.

Die Fallstudien können kostenlos auf www.medicalpeacework.org heruntergeladen werden

ie IPPNW-Ärztin Marlene Pfaffenzeller ist im Herbst in den Nordirak, nach Nordostsyrien und die Südosttürkei gereist. Die Neurologin und Psychotherapeutin informierte sich im kurdischen Teil Syriens, wie Frauen psychotherapeutisch geschult werden können, damit diese Kriegstraumatisierten helfen können. In Sere Kaniye an der Grenze zur Türkei traf sie in der ambulanten Krankenstation Frauen, die im psychosozialen Bereich arbeiten. Sie fühlten sich mit der Betreuung der vielen traumatisierten Menschen überfordert und wünschten sich eine Ausbildung, um besser mit den enormen Anforderungen umgehen zu können. Viele der betreuten Frauen hätten ihre Männer und Söhne durch den Krieg verloren. Anschließend besuchte Marlene Pfaffenzeller das Flüchtlingscamp Newroz bei Derik in der Türkei, in dem fast ausschließlich Jesiden leben, die aus dem Sindschar geflüchtet sind. Mitglieder der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG betreuen die Menschen im Camp. Fast jede Familie habe Angehörige verloren, viele Menschen hätten unvorstellbare Grausamkeiten erlebt. Kritik wurde an den Peschmerga geäußert: „Sie haben uns verraten, sie haben sich sogar in Einzelfällen an den Übergriffen beteiligt. Spenden, die uns von Hilfsorganisationen geschickt werden, werden von ihnen abgefangen. Die Peschmerga bekommen moderne Waffen – für uns bleiben nur die alten Kalaschnikows.“ Lesen Sie mehr im IPPNW-Blog unter kurzlink.de/irak-reise 7

m deutschen Gesundheitswesen und in der deutschen Ärzteschaft findet bisher kaum eine Debatte über Klimawandel und Gesundheit statt. Im Vorfeld des Pariser Klimagipfels veröffentlichte die Deutsche Plattform für Globale Gesundheit DPGG ein Positionspapier, das den deutschen Gesundheitssektor zum Handeln auffordert. Die weitgehende Leerstelle in der Debatte um Klimawandel und Gesundheit müsse gefüllt werden und Klimaschutzmaßnahmen durch Organisationen, Verbände und Beschäftigte des Gesundheitssektors umgesetzt werden. Speziell soll auf Investitionen in die fossile Brennstoffindustrie verzichtet werden und stattdessen klimafreundlich reinvestiert werden. Emissionen von Treibhausgasen im Gesundheitswesen könnten durch Energieeinsparung und Energieeffizienzmaßnahmen sowie durch den Wechsel zu Anbietern von Erneuerbaren Energien reduziert werden. Auch weist die DPGG auf die Haupthindernisse für den Übergang zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft hin: Subventionen für fossile Brennstoffe und der niedrige Preis von CO2. Eine veränderte Energiepolitik müsse mit einer Änderung von Produktionsweise, Konsummustern, Verhaltensweisen und Lebensstil einhergehen. Dabei gehe es letztlich um den Übergang von einer Wirtschaftsordnung, die primär auf Gewinnstreben und materielles Wachstum setze, zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise, die sich am Wohlergehen der Menschen orientiert. Mehr Informationen unter: kurzlink.de/divestment


FRIEDEN

CIZRE: WÄHREND DER BELAGERUNG TRINKT EIN KIND AUS EINER PFÜTZE, OKTOBER 2015.

Foto: Angelika Claußen / IPPNW

Krankenhäuser werden zu Kriegsschauplätzen Türkei nach der Wahl: Der Bürgerkrieg geht weiter

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Stadt, Wasser und Elektrizität, haben mich zutiefst erschüttert. Die Frau eines Imams, die sich in der ersten Nacht der Blockade nur ein wenig aus dem Fenster ihres Hauses gelehnt hatte, wurde umgehend von einem Bombensplitter in ihr rechtes Auge getroffen. Sie und ihr Mann schilderten mir, dass sie um 2:30 Uhr in der Nacht schwer verletzt wurde und vergeblich nach einem Unfallwagen rief, um sich im örtlichen Krankenhaus Hilfe zu holen. Die Sicherheitskräfte sagten ihr zunächst, sie könne einen Ambulanzwagen rufen, aber die Mobilnetzverbindungen waren gekappt. Später gelang es dem Ehemann, einen Wagen zu rufen, doch die Ambulanz wurde nicht zu ihrem Haus durchgelassen. Dann meinten die Sicherheitskräfte, sie könnten ja laufen, es sei nicht weit, aber die pausenlosen Schusssalven gingen immer weiter. Erst am darauffolgenden Abend erhielt das Ehepaar die Erlaubnis, mit dem Ambulanzwagen die notwendige Erstversorgung im Krankenhaus von Cizre durchführen zu lassen.

rei Tage nach der Wahl, Anfang November 2015, erklärte Ministerpräsident Ahmet Davutoglu auf dem Sicherheitsgipfel der türkischen Regierung mit Vertretern des Militärs und von hohen Bürokraten, dass die Operationen der türkischen Streitkräfte gegen die PKK mit unverminderter Härte weitergeführt werden sollen. In der Türkei sieht es schlecht aus für Frieden, Menschenrechte und Demokratie. Die türkische Regierung hat seit August 2015 ganze Städte und Regionen im Südosten der Türkei zu sogenannten „Sicherheitszonen“ erklärt und wiederholt totale Ausgangssperren verhängt, die wie in Cizre bis zu einer Woche andauern können. Auch wenn die bewaffneten Kräfte der PKK mit ihren Anschlägen auf Polizeistationen eine Mitschuld an der Eskalation tragen, so muss die militärische Antwort der türkischen Regierung auf diese Anschläge als völlig unverhältnismäßig eingestuft werden. Während der jeweiligen Ausgangssperre fahren Panzer und gepanzerte Wagen mit sogenannten Spezialkräften in die Städte, die auf alles schießen, was sich auf den Straßen bewegt. Das Ausmaß der Zerstörung ist verheerend. Die Zivilbevölkerung kann sich nicht mit Nahrung versorgen, zentrale Wasserleitungen und Elektrizitätsleitungen werden bombardiert und zerstört, die Internetnetze gekappt. Die von den Blockaden betroffenen Gebiete betreffen hauptsächlich von Kurden bewohnte Gebiete und Städte, in denen die prokurdische Oppositionspartei HDP die Bürgermeister stellt. Cizre, die Stadt an der türkisch-syrischen Grenze mit ihren 132.850 Einwohnern, wurde durch eine acht Tage andauernde komplette Abriegelung durch die türkischen Sicherheitskräfte bekannt.

Laut Bericht der Ärztekammer der Türkei wurden die Ärzte und das Pflegepersonal bei ihrer Arbeit massiv durch die Sicherheitsund Spezialeinsatzkräfte behindert. Die gepanzerten Wagen mit Scharfschützen stellten sich im Hof des Krankenhauses auf und besetzten die Notaufnahme. Sie kontrollierten Ärzte und Krankenschwestern, während diese medizinische Eingriffe am Patienten durchführten. Viele Menschen mit Schussverletzungen seien erst gar nicht in die Notaufnahme gekommen aus Angst, als „Terroristen“ verhaftet zu werden. Die Zahl der Krankenhausgeburten ging extrem zurück (normalerweise täglich 10 – 15 Geburten, während der achttägigen Blockade insgesamt nur sieben Geburten).

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Meine Gespräche in Cizre mit einigen Bewohnern, Ärzten sowie mit einem Rechtsanwalt, die Besichtigung der zerstörten Häuser, das Ausmaß der Zerstörung vor allem bei der Infrastruktur in der

a die Stromversorgung während der gesamten Zeit der Blockade unterbrochen war, wurden alle Impfstoffe schlecht und mussten weggeworfen werden. Chronisch Kranke wie z.B. 8


LONDON: SOLIDARITÄTSKUNDGEBUNG FÜR DIE STADT SILVAN IM NOVEMBER 2015.

Foto: Steve Eason, CC BY-NC-SA 2.0

medizinische Versorgung und ihr elementares Recht auf Leben wurde verletzt.

Diabetes-, Herz- und Kreislaufpatienten konnten wegen der geschlossenen Apotheken nicht versorgt werden. Auch in Silvan, wo die Gruppe an einer Beerdigung einer durch Schussverletzung verbluteten alten Frau teilnahm, bot sich ein schreckliches Bild der Zerstörung: die Hauptwasserleitung der Stadt zerbombt, die Elektrizitätsleitungen zerbombt, Wassertanks auf den Hausdächern zerbombt, ein ausgebranntes kurdisches Kulturzentrum, durch Hausdurchsuchungen der Spezialkräfte extrem zerstörte Wohnungen.

In Aufstandsgebieten (dies ist ein bewaffneter, nicht-internationaler Konflikt) muss die Zivilbevölkerung verschont werden. Angriffe auf die Infrastruktur der Städte, insbesondere Wasser, Nahrungsversorgung und Elektrizität sowie auf die medizinische Versorgung müssen von allen bewaffneten Konfliktparteien unterlassen werden. Die Menschenrechte gelten für alle Betroffenen und sind zu gewährleisten. Der türkische Staat und die türkische Regierung haben hier mit dem Ziel der Aufstandsbekämpfung völlig unverhältnismäßige Maßnahmen getroffen, die die Grundlagen des Zusammenlebens aller Bürger zerstören.

694 Tote im Zeitraum vom 7. Juni bis 11. Oktober 2015 (208 Zivilisten, 80 Soldaten, 62 Polizisten, drei Wachleute, und 341 PKKAngehörige) – das ist die Bilanz, die die linksliberale Zeitung Cumhuriyet in ihrer Ausgabe vom 11. Oktober 2015 zieht. Der deutsche Fernsehsender NTV gibt am 9. Oktober 1.250 Tote an, das türkische Militär geht von über 2.000 getöteten PKK-Kämpfern aus.

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ine Wiederbelebung des Friedensprozesses ist möglich, auch wenn Staatspräsident Erdogan den Vorschlag eines Waffenstillstands noch ablehnt. Um zum Friedensprozess zurückzukehren bedarf es wegen der verhärteten Fronten jedoch der Unterstützung von dritten Kräften – sowohl angesehene Persönlichkeiten aus der Zivilbevölkerung als auch Persönlichkeiten der internationalen Politik. Hinsichtlich der Flüchtlingsfrage steht fest: Die Türkei ist kein sicheres Herkunftsland. Der Deal mit Staatspräsident Erdogan schadet Demokratie und Frieden.

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uch in anderen Städten wurde medizinisches Personal extrem eingeschüchtert und an der Ausübung seiner Arbeit gehindert. So berichtet die türkische Ärztekammer über den Fall des diensthabenden Arztes Dr. Serdar Acar aus Silopi, der in den Morgenstunden des 7. August 2015 im Krankenhaus von Silopi von Spezialkräften mit der Waffe bedroht und aufgefordert wurde, seinen Arbeitsplatz, das Krankenhaus, zu verlassen, um sofort Menschen zu behandeln, die bei einer Polizei-Operation schwer verletzt worden waren. Dr. Acar weigerte sich, das Krankenhaus und seine ihm anvertrauten Patienten zu verlassen. Deswegen wurde er fristlos entlassen. Die Gesundheit der Bevölkerung war während der Ausgangssperre in den betroffenen Städten Cizre, Nusaybin, Silopi, Silvan, Sur, Tatvan, Van und Bitlis jeweils ernsthaft gefährdet. Ihr Recht auf

Dr. Angelika Claußen ist Europäische IPPNW-Präsidentin. 9


FRIEDEN

Rezepte gegen den Krieg Die IPPNW-Friedenskonferenz vom 2.-4. Oktober 2015 in Frankfurt

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er Blick auf die Ursachen umfasste u.a. den Hunger nach Ressourcen, das psychologische Erbe von Krieg, Verfeindung und unverarbeitetem Leiden und Schuld, die Frage von Geschlecht und Gender und unsere ausbeuterische Art des Wirtschaftens. Die Problembeschreibungen waren jeweils flankiert von Vorschlägen zu ihrer Bewältigung.

200 TeilnehmerInnen der IPPNW-Friedenskonferenz suchten in Frankfurt gemeinsam nach konstruktiven Antworten auf die Kriege unserer Zeit und ihre Folgen. Dabei lag ein besonderes Augenmerk auf dem medizinischen bzw. psychotherapeutischen Zugang unserer Organisation.

IPPNW-Ehrenvorstand Prof. Ulrich Gottstein griff Gedanken von Horst-Eberhard Richter über die Kraft der Friedfertigkeit auf und forderte deutlich mehr Mittel für präventive Friedensarbeit, wenn nicht sogar die Einrichtung eines Friedensministeriums.

einrichten und Konfliktparteien damit einen geschützten und friedenspolitischprofessionell gestalteten Raum für einen fairen Interessensausgleich zur Verfügung stellen. Wie auch Gabriele Krone-Schmalz schlug er im Hinblick auf die Ukrainekrise eine Intensivierung des zivilgesellschaftlichen Dialogs vor, sei es durch Jugendaustausch, Dialogkreise von Unternehmen, Gewerkschaften o.ä. Er stellte sein Projekt „Kooperation statt Konfrontation – die Ukraine als Brücke zwischen West und Ost“ vor. Für Lösungen im Nahen und Mittleren Osten sei ein Dialogprozess zwischen Türken und Kurden ein wichtiger Baustein.

Die Journalistin Prof. Gabriele KroneSchmalz sprach über die Belastungen des deutsch-russischen Verhältnisses und forderte wieder mehr Dialog und Respekt auf politischer Ebene. Die deutsch-russischen Erfahrungen in der Überwindung der kriegerischen Vergangenheit könnten auch den osteuropäischen Ländern zur Verfügung gestellt werden, damit Erfahrungen der Sowjetzeit nicht zu einem Friedenshindernis heute würden. Sie betonte die wichtige Rolle eines unabhängigen, gut recherchierenden Journalismus, der die Grundlage für informierte Entscheidungen der Zivilgesellschaft schafft und damit Demokratie erst möglich macht.

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er Politikwissenschaftler Prof. Andreas Buro sieht Möglichkeiten für Deutschland, eine friedensfördernde Politik zu betreiben, z.B. durch den diplomatischen Einsatz für Deeskalation im WestOst-Konflikt und die Erhöhung der Mittel für Zivile Konfliktbearbeitung. Zudem könne Deutschland ein Mediationszentrum

Die Sozialpsychologin Prof. Angela Moré erläuterte die wichtige Rolle der Verarbeitung von Traumatisierung und Schuld im Krieg. Diese könne verhindern, dass das Aggressionspotential unverarbeitet in den Gesellschaften verbleibe und den Boden für den nächsten Krieg bereite. Im darauffolgenden Workshop zeigte sich in sehr persönlichen Beiträgen, dass noch heute viele Menschen an den Folgen der Kriegstraumatisierung als Täter und/oder Opfer leiden bzw. diese Traumatisierung an ihre Kinder und Enkel weitergegeben haben. Solche Phänomene sind auch bei verfolgten Gruppen wie z.B. den Sinti und Roma und bei den Flüchtlingen aus Kriegsgebie-

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ten in hohem Maße vorhanden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte kann zu einem empathischen Verständnis der Flüchtlinge beitragen und helfen, nicht nur ihren materiellen, sondern auch ihren psychologischen Bedürfnissen gerecht zu werden.

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esonders schutzbedürftige Gruppen wie Kinder in Kriegsgebieten und ihre psychosoziale Rehabilitation waren Thema von zwei Workshops. Auch Günter Burkhardt von der Organisation Pro Asyl befasste sich in seinem Vortrag mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“. Es sei vor allem eine Krise der Flüchtlingspolitik, die auf Lager statt auf schnelle Integration mit Hilfe von Freunden und Verwandten setze und auf Abschottung, was in den Fluchtländern zu einer Art Torschlusspanik führe. Er ermutigte dazu, so viele Menschen wie möglich aus diesen Lagern und Heimen herauszuholen, wobei er besonders die Gefährdung von Schwangeren betonte. Kriegsflüchtlinge sollten pauschal einen Aufenthaltstitel erhalten, in allen anderen Fällen müsse an der individuellen Prüfung der Fluchtgründe und Abschiebungshindernisse festgehalten werden. Er kritisierte die neuen Gesetzesvorhaben und forderte die strikte Orientierung an den Menschenrechten, ganz im Sinne von Günther Jonitz, dem Präsidenten der Berliner Ärztekammer, der am 27. Oktober 2015 im Tagespiegel schrieb: „Eine Gesellschaft, die bei der ersten ernsten Herausforderung diese Grundwerte über Bord wirft, beseitigt ihre eigenen Grundlagen.“


Dass das Recht, insbesondere das Völkerrecht auch in der Regelung internationaler Konflikte unabdingbar ist, machte Otto Jäckel, der Vorsitzende der International Association of Lawyers for the Abolition of Nuclear Arms (IALANA) deutlich.

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ngerechte Gesetze wiederum können Unrecht schaffen. Anica Heinlein diskutierte in ihrem Workshop, wie palästinensische BewohnerInnen Jerusalems bei ihrem Kampf gegen das „Silent Displacement“ mit Hilfe juristischer Methoden unterstützt werden können. Eine große Rolle spielte zudem die Atomwaffengefahr. Sarah Koch und Inga Blum zeigten Wege auf, wie mit politischen EntscheidungsträgerInnen in einen konstruktiven Dialog getreten werden kann. In Vorträgen und Workshops wurde über die humanitäre Katastrophe durch Atomwaffen gesprochen, aber auch über die Humanitäre Initiative von mehr als 150 Staaten für die Eliminierung aller Atomwaffen. Ein weiterer Weg, sich gegen diese Massenvernichtungswaffen einzusetzen, ist das finanzielle Divestment, das IPPNW-ÄrztInnen und -Medizinstudierende bei der öffentlichen Aktion vor der Commerzbank im Frankfurter Bankenviertel lautstark einforderten.

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nsere ausbeuterische Form des Wirtschaftens und das Streben nach Hegemonie als Kriegsgründe waren Thema des Vortrags von Claudia Haydt von der Informationstelle Militarisierung und wurden im Workshop „Ressourcenkriege“ vertieft. Als eine Antwort darauf stellte Dr. Harald Bender alternative Formen der ökonomischen Organisation im Workshop „Solidarische Ökonomie“ dar.

die Kriege, die Schere zwischen Arm und Reich und die postkolonialen Machtstrukturen ethisch rechtfertigen müssten. Inga Blum machte deutlich, warum sie sich besonders gegen Atomwaffen engagiert und warum sie gleichzeitig die Verbindung all der Themen der Konferenz, den Blick auf das „große Ganze“, für so wichtig hält.

Kriege können nicht geführt werden, wenn nicht viele Menschen auf den verschiedensten Ebenen mitmachen, daher ist die Arbeit der Organisation Connection e.V. für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure sehr bedeutsam. In einem Workshop berichtete Rudi Friedrich von den Möglichkeiten der Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern in der Ukraine. Die Spannungen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft finden ihren Ausdruck u.a. in der Radikalisierung junger Menschen. Hakan Celik vom Violence Prevention Network stellte Methoden und Erfolge bei der De-Radikalisierung von gewaltbereiten jungen Menschen dar, die in Gefahr sind, sich dem selbsternannten „Islamischen Staat“ anzuschließen. Dabei kann auf Erfahrungen mit Aussteigern aus der rechten Szene zurückgegriffen werden.

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Der spezifisch medizinisch-psychotherapeutische Zugang wurde exemplarisch im Workshop zu Medical Peace Work dargelegt. Dieses Projekt integriert die Auseinandersetzung mit der besonderen Verantwortung und den Möglichkeiten von GesundheitsarbeiterInnen, sich für Frieden einzusetzen, in deren Ausbildung.

Die Dokumentation der Redebeiträge finden Sie unter www.kultur-des-friedens.de

uf der Konferenz ist es gelungen, präventive Ansätze und Alternativen darzustellen und Gegenkräfte zu mobilisieren und zu vernetzen. Wir danken allen KooperationspartnerInnen und TeilnehmerInnen! Wir werden versuchen, die Ansätze der Zivilen Konfliktbearbeitung, der ökonomischen Alternativen, der psychosozialen Zugänge, der Aufklärung und Vernetzung weiter zu bearbeiten. Wer sich daran beteiligen möchte und dies noch nicht auf den Rückmeldebögen oder anderweitig mitgeteilt hat, ist herzlich eingeladen, sich mit mir/uns in Verbindung zu setzen.

Einen Debattenbeitrag von Matthias Jochheim zur Friedenskonferenz finden Sie auch im Forum intern auf S. 13.

Diese Möglichkeiten griff auch der Workshop zu Griechenland auf. Er beschrieb die fatalen Folgen der maßgeblich von Deutschland mitverantworteten EU-Politik für die soziale und gesundheitliche Situation wie für Demokratie und stellte gleichzeitig Initiativen vor, die selbstorganisiert versuchen, Abhilfe zu schaffen und Not zu lindern. Zum Abschluss der Konferenz forderte der Sozialethiker Prof. Friedhelm Hengsbach, dass sich die politisch verantwortlichen MittäterInnen in der deutschen Politik für 11

Susanne Grabenhorst ist Vorsitzende der deutschen IPPNW.


Spar Dir den Atomkrieg! Die Macht der Atomlabore

Die Drohgebärde mit atomarer Bewaffnung ist längst ein Feilschen um Macht und wirtschaftliche Zusammenhänge geworden. Wer in den Atomlaboren, zum Beispiel in den USA, an der Bombe arbeitet, genießt häufig einen gesicherten, gehobenen Lebensstandard, erzählten uns Trish und Greg Mello von der Los Alamos Study Group bei ihrem Besuch in Deutschland.

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eit die erste Atomwaffe am 16. Juli 1945 in der Wüste New Mexicos gezündet wurde und nach den unvorstellbar grausamen Erfahrungen der Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, ist WissenschaftlerInnen klar, dass eine kriegerische Auseinandersetzung mit diesen Waffen das Ende des Lebens auf der Erde bedeuten würde, so wie wir es heute kennen. Ein Flaschengeist wurde geboren, der den Herrschenden zur Drohgebärde im Kalten Krieg taugte. Immer mehr Menschen hatten große Angst vor dem Atomkrieg. Der Widerstand gegen die Atombombe wuchs ab diesem Moment beständig. Verknüpfungen der Rüstungsindustrie mit den Milliardengeschäften der Atomindustrie zur zivilen Nutzung machten Firmen und Einzelpersonen reich und mächtig. Eine starke Wirtschaftslobby mit Verflechtungen hinein in die Politik und zu Geheimdiensten hält die Atomwaffenindustrie am Laufen. Banken sind welt-

weit in die Finanzierung von Atomwaffen und deren Trägersystemen verstrickt. Das US-amerikanische Atomlabor in der Wüste von Arizona, Los Alamos, die Geburtsstätte der Bombe, ist immer noch ein mächtiger, geschützter Hochsicherheitstrakt, in dem Menschen an der Bombe arbeiten. Eine Gruppe der Friedensbewegung, die Los Alamos Study Group (LASG), beobachtet seit Herbst 1989 die Atomwaffenschmiede und lüftet Geheimnisse der Atomwaffenindustrie. Greg und Trish Mello von LASG berichteten von ihren Erkenntnissen während einer Tour in Deutschland früher in diesem Jahr. Nach dem Kalten Krieg, so dachten die AktivistInnen, werde das Labor nach und nach überflüssig. 1992 begann ein Moratorium der Atomtests. Ein Drittel der WissenschaftlerInnen wurden zwischen 1989 und 1995 entlassen und eine neue Offenheit für echte Abrüstung entstand. Diese war der damaligen Energieministerin Hazel O'Leary zu verdanken, doch bald stoppte der Rückbau. 12

Seit 1995, dem Jahr, in dem der Atomwaffensperrvertrag unbefristet verlängert wurde, wurde die Forschungseinrichtung kaum noch verkleinert. Die MitarbeiterInnen im Atomlabor werden teuer bezahlt. Eine Anstellung in der Nuklearwaffenindustrie verschafft ihnen einen Lebensstandard, der mit anderen Jobs nicht so leicht zu erlangen ist. Staatsangestellte verdienen in den USA weit weniger als die Angestellten der Privatfirmen. Was sie in den Atomlabors verdienen, bleibt zwar geheim, aber die Los Alamos Study Group hat einige Zahlen aufgedeckt.

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in Geschäftsführer des Labors, so heißt es, verdiene ca. 1,6 Millionen US-Dollar pro Jahr. Tausende WissenschaftlerInnen bekommen genauso viel wie ein Staatsminister oder ein General. Auch eine Sekretärin kann 187.000 US-Dollar jährlich kassieren. Diese Zahlen werden nur mündlich weitergegeben, sie existieren nicht auf dem Papier.

Foto: Netzwerk Friedenskooperative

DAS NETZWERK FRIEDENSKOOPERATIVE AM WELTSPARTAG 2015 IN BONN


ATOMWAFFEN

Die Atomwaffenherstellung in den USA ist mittlerweile zu 95% privatisiert. Acht Atomzentren, die nukleare Sprengköpfe herstellen, existieren in den USA: drei Labore und fünf Herstellungsanlagen. Die drei Labore sind das Los Alamos Nuclear Laboratory (LANL), Lawrence Livermore Nuclear Laboratory (LLNL) und Sandia Nuclear Laboratory (SNL). Die Macht der Atomlabore wuchs seit 1996. Seit 2006 sind sie vollständig privatisiert: Los Alamos wird von Bechtel Corporation, URS (von AECOM übernommen), Babcock und Wilcox und der Universität von Kalifornien betrieben. Die gleichen vier Unternehmen betreiben Livermore, zusammen mit der Firma Batelle. Sandia ist in den Händen von Lockheed Martin.

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reg Mello beschrieb schockierende Dimensionen des Konzerns Bechtel in den USA. Bechtel ist unter anderem im Geschäft mit der Privatisierung von Trinkwasser aktiv. Die Bechtel Corporation wurde 1898 gegründet und rangiert heute auf Platz sieben der größten privaten Unternehmen in den Staaten. Es ist das größte Bau- und Anlagenbau-Unternehmen der Vereinigten Staaten. Insgesamt wird in den nächsten dreißig Jahren eine Billion US-Dollar für diese Modernisierungs-Programme und für neue Atomanlagen (ohne die neuen U-Boote) ausgegeben werden, geschätzte 355 Milliarden im nächsten Jahrzehnt. Das größte Problem für die Rüstungsindustrie sind die explodierenden Kosten. Nicht selten kosten die Modernisierungsprojekte ca. drei- bis fünfmal mehr und dauern wesentlich länger als geplant. PolitikerInnen können diese Tatsachen in ihren Wahlkämpfen schlecht verkaufen. Die Militärs sind verärgert, weil sie die Programme als

Mittelverschwendung sehen. Sie hätten lieber das Geld für andere Streitkräfte, z.B. für die Marine. Der US-Kongress kann bei neuen Anschaffungen von Trägersystemen oder Anlagen intervenieren. Aus solchen Gründen wurde eine Fabrik zur Herstellung von Plutonium, „Pits“ (die Atomkerne der Bomben), bereits gestoppt. Die Modernisierung der Atomwaffen ist also ein großes Gerangel um Macht und wirtschaftliche Vorrechte. Es gilt genau hinzuschauen, welche Banken und welche Konzerne verstrickt sind. Die Kampagne „Atomwaffen – ein Bombengeschäft“ versucht Licht in diese Verstrickungen zu bringen und Finanzinstitute in Deutschland, die in Modernisierung von Atomwaffen investieren, zu bewegen, aus diesen Geschäften auszusteigen. Am Weltspartag, dem 30. Oktober 2015, rief die Kampagne AktivistInnen dazu auf, unter dem Aktionsmotto „Spar Dir den Atomkrieg!“ Filialen der Deutschen Bank, Commerzbank sowie Allianz-Filialen in deutschen Städten aufzusuchen, um den MitarbeiterInnen Sparschweine mit dem Aktionsslogan zu übergeben. In Bonn, Frankfurt, Gießen, Hamburg, Hannover, Köln und Würzburg wurden Briefe an die FilialleiterInnen überreicht. Die öffentliche Wahrnehmung der Aktion steigert den Druck auf die Kreditinstitute, aus der Finanzierung der atomaren Rüstung auszusteigen.

rungen als im Vorjahr. Trotzdem listet der Bericht noch 382 Banken, Versicherungen und Rentenfonds auf, die seit Januar 2012 fast 500 Milliarden US-Dollar für die Produktion nuklearer Waffensysteme zur Verfügung gestellt haben.

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ehn deutsche Banken und Versicherungen investieren mehr als zehn Milliarden US-Dollar (fast neun Milliarden EUR) in Firmen, die die verheerendsten Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme herstellen. Diese Unternehmen profitieren von Milliardenverträgen für die „nukleare Aufrüstung“, die die Atomwaffenstaaten vorantreiben. Mehr als 25 Millionen US-Dollar investieren deutsche Banken und Versicherungen beispielsweise in die Firma Boeing, die seit Jahrzehnten für die Entwicklung und Produktion von US-Langstreckenraketen verantwortlich ist. Boeing baut das Heckteil für die neue B 61-12-Atombombe, deren Stationierung in Deutschland voraussichtlich ab 2020 geplant ist. Weitere Infos unter: www.atombombengeschaeft.de

Silvia Bopp ist Mitarbeiterin der Friedenswerkstatt Mutlangen e.V.

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m 12. November 2015 erschien die neueste Ausgabe der ICAN-Studie „Don’t Bank on the Bomb“, herausgegeben von PAX. Die internationale Kampagne zeigt langsam Wirkung. Denn weltweit haben 53 Finanzunternehmen Investitionen in die Produktion von Atomwaffen verboten oder reduziert. Das sind 150 Prozent mehr Banken und Versiche13

Xanthe Hall ist Geschäftsstellenleiterin und Abrüstungsreferentin der IPPNW Deutschland.


FRIEDEN

Vor 30 Jahren: Friedensnobelpreis für die IPPNW Unser Engagement ist nach wie vor notwendig

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it drei Atombombenexplosionen 1945, einer Testexplosion im Juli in der unbewohnten Wüste von New Mexico und den folgenden Atombombenabwürfen im August auf Hiroshima und Nagasaki mit 200.000 Toten begann eine neue Zeitrechnung. Besonders nach der Testexplosion der Wasserstoffbombe sieben Jahre später auf dem Atoll Elugelap im Pazifischen Ozean wurde klar, dass wir Menschen in der Lage sind, alles Leben auf unserer Erde zu zerstören. Nichtsdestotrotz konstruierten und testeten immer mehr Länder Atomwaffen. In den USA gründete 1960 Prof. Bernard Lown zusammen mit namhaften Ärzten und Wissenschaftlern die Vereinigung „Physicians for Social Responsibility“ (PSR). 1962 veröffentlichten sie im „New England Journal of Medicine“ eine Artikelserie: „Die medizinischen Folgen des thermonuklearen Krieges“. Darin schildern sie die Auswirkungen einer Atombombenexplosion über einer amerikanischen oder sowjetischen Stadt, die zu Millionen Toten und unzähligen Verwundeten führen würde. Eine wesentliche ärztliche Hilfe sei dann unmöglich.

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ls Analysen von Untersuchungen kindlicher Zähne zum Nachweis von Strontium als Folge der Atomwaffentests publik wurden, setzte in der Bevölkerung ein Sturm der Entrüstung ein. Präsident John F. Kennedy nahm Verhandlungen mit dem sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow auf und 1963 wurde ein begrenzter Teststoppvertrag mit dem Verbot von Atomwaffenexplosionen über der Erde sowie im Wasser abgeschlossen. Doch die Atomwaffentests unter der Erde gingen weiter. Zwischen den USA und der UdSSR bestand ein „Kalter Krieg“, der jederzeit „heiß“ werden konnte. Dieser fand seinen Höhepunkt in der Kuba-Krise im Oktober 1962, als die Sowjetunion Mittel-

BERNARD LOWN UND EVGENY CHASOW NAHMEN IM DEZEMBER 1985 IN OSLO DEN FRIEDENSNOBELPREIS ENTGEGEN. streckenraketen mit den dazugehörigen Atomsprengköpfen nach Kuba verschiffte. Das hatten US-Aufklärungsflugzeuge festgestellt. Nachdem am 27. Oktober 1962 ein US-Zerstörer ein sowjetisches U-Boot zum Auftauchen gezwungen hatte, das Atomraketen an Bord hatte, stand die Welt am Abgrund eines Atomkriegs. In letzter Minute telegraphierte Präsident Kennedy an Ministerpräsident Chruschtschow und erreichte eine diplomatische Lösung. Die sowjetischen Atomraketen wurden aus Kuba entfernt. Im Gegenzug versicherten die USA, Kuba nicht mehr angreifen zu wollen und ihre Atomraketen aus der Türkei abzuziehen. Die Menschheit war noch einmal gerettet. Würde sie nun zur Vernunft kommen? Das war die Hoffung weltweit, auch bei der PSR in den USA. Ihre Aufklärungsaktivitäten ließen nach, aber das nukleare Wettrüsten ging weiter. 14

1980 organisierte Bernard Lown in Boston ein Symposium mit dem Titel: „Die medizinischen Folgen der Atomwaffen und des Atomkriegs“. Die Schlussfolgerungen wurden in der New York Times veröffentlicht und den Präsidenten Jimmy Carter und Leonid Breschnew übersandt. Über 700 Ärzte und Wissenschaftler, darunter mehrere Nobelpreisträger, unterzeichneten das Dokument. Es blieb ohne politische Resonanz. Deswegen beschlossen Lown und seine Kollegen, eine internationale, über alle Blockgrenzen hinweg kooperierende Ärztebewegung zu gründen. Im Dezember 1980 traf sich Lown mit seinem ihm gut bekannten sowjetischen Kardiologie Kollegen Prof. Evgeny Chasow in Genf und überzeugte ihn von seinen Auffassungen. Im März 1981 wurde dann bereits in Airlie, Washington DC, auf einem ersten noch kleinen internationalen Kongress die Ver-


„Es ist die Auffassung des Komitees, dass diese Organisation der Menschheit einen bedeutenden Dienst geleistet hat, indem sie richtungsweisende Informationen verbreitet und ein Bewusstsein von den katastrophalen Konsequenzen eines Atomkrieges geschaffen hat.“ einigung „International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW)“ gegründet, Lown und Chasow wurden KoPräsidenten. Rasch entstanden IPPNWSektionen in 40 Nationen (wir gründeten 1982 die BRD-IPPNW Sektion in Frankfurt mit 18 Mitgliedern), die engagierte Aufklärungsarbeit betrieben und auf internationalen Konferenzen und Weltkongressen die Gefahren eines drohenden Atomkriegs besprachen und an die Welt appellierten, von der Atomwaffenideologie abzulassen. Diese Mahnung wurde von den Medien wenig zur Kenntnis genommen, jedoch von der WHO, dem Internationalen Roten Kreuz, dem Weltärztebund, dem Präsidenten der Vereinten Nationen und zahlreichen Regierungen, die sich nicht am Atomwaffenwettlauf beteiligt hatten.

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m 30. Oktober 1984 erhielt die IPPNW den UNESCO-Friedenspreis. Die Medien nahmen kaum Notiz von der Auszeichnung. Die weltweite Öffentlichkeit und besonders die Regierungen wurden jedoch aufgeschreckt, als das Norwegische Nobelkomitee nur ein Jahr später, am 11. Oktober 1985 erklärte: „Das Komitee hat entschieden, den Friedensnobelpreis für 1985 an die Organisation „Internationale Ärzte zur Verhütung eines Atomkriegs“ zu verleihen. Es ist die Auffassung des Komitees, dass diese Organisation der Menschheit einen bedeutenden Dienst geleistet hat, indem sie richtungsweisende Informationen verbreitet und ein Bewusstsein von den katastrophalen Konsequenzen eines Atomkriegs geschaffen hat. Das Komitee glaubt, dass dadurch der Druck des öffentlichen Widerstands gegen die Verbreitung von Atomwaffen zugenommen hat und den Prioritäten für gesundheitliche und andere humanitäre Belange größere Bedeutung geschenkt hat. Solch ein Erwachen der öffentlichen Meinung, wie sie jetzt in Ost und West, Nord und Süd erkennbar ist, kann den augenblick-

lichen Verhandlungen über Waffenbegrenzungen neue Perspektiven und Seriosität verleihen. In diesem Zusammenhang ist es für das Komitee von besonderer Wichtigkeit, dass die Organisation durch die gemeinsame Initiative von Sowjetischen und Amerikanischen Ärzten gegründet wurde und nun die Unterstützung von Ärzten aus über 40 Nationen weltweit erhält. Das Komitee hat daher beschlossen, die zwei Begründer der Organisation, die gemeinsam den Titel Präsident tragen, Prof. Bernard Lown von den USA und Professor Evgeni Chasow von der Sowjetunion einzuladen, den Friedenspreis für ihre Organisation in Empfang zu nehmen.“

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m Central Office der IPPNW in Boston und auch bei uns in der Bundesrepublik trafen viele Gratulationen ein, u.a. vom Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt. Aber dann setzten Verleumdungen ein, nachdem bekannt wurde, dass Bundeskanzler Helmut Kohl und CDUGeneralsekretär Heiner Geißler beim Nobel-Komitee Einspruch erhoben hatten. Sie stellten die Forderung, die Entscheidung zurückzunehmen, da die IPPNW durch ihren sowjetischen Co-Präsidenten eine kommunistische Organisation sei, die nicht dem Frieden diene. Diese Forderung lehnte das Nobel-Komitee mit Empörung ab und wies darauf hin, dass nun zum zweiten Mal in der Geschichte des Friedensnobelpreises eine deutsche Regierung versucht habe, eine Preisverleihung zu verhindern. Das erste Mal war es Adolf Hitler, der die Auszeichnung für Ossietzki, dem im KZ inhaftierten Pazifisten, hatte unterbinden wollen. Die CDU, besonders Heiner Geißler und der Staatssekretär im Bundeskanzleramt Schreckenberger, betrieben ihre Anti-Propaganda weiter und behaupteten in Zeitungsinterviews, die IPPNW, und auch die deutsche Sektion, seien kommunistisch unterwandert. Dies 15

musste der parlamentarische Staatsekretär Carl-Dieter Spranger (CSU) später im Bundestag auf Anfrage von Gabriele Hamm-Brücher (FDP) nach dem Ergebnis der geheimdienstlichen Untersuchungen widerrufen. Am 10. Dezember 1985 fand dann die feierliche Verleihung des Friedensnobelpreises in der Osloer Universität statt. Nach der Begrüßungsansprache des Vorsitzenden des Komitees, des Norwegers Egil Aarvik, nahmen Lown und Chasow die Medaille und Urkunde entgegen und hielten die „Acceptance Speeches“. Am Vorabend hatte der Oberbürgermeister und Rat der Stadt die etwa 300 angereisten IPPNWMitglieder aus inzwischen 40 Nationen zu einem Empfang in den großen Rathaussaal eingeladen. Auf Wunsch der damaligen norwegischen IPPNW-Sektionsvorsitzenden, Dr. Dagmar Sorboe, hielt ich für die IPPNW die Dankrede und entschuldigte mich als Deutscher für das Fehlverhalten von Helmut Kohl und Heiner Geißler.

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bschließend dürfen wir festhalten: Mit dem UNESCO-Friedenspreis und dem Friedensnobelpreis ist unser erfolgreiches Bemühen um den Abbau von Feindbildern und die Verhütung eines Atomkriegs gewürdigt worden. Diese Arbeit müssen und wollen wir fortsetzen, denn es gilt, die Menschheit und die lebende Natur zu bewahren.

Prof. Dr. Ulrich Gottstein ist Ehrenvorstandsmitglied der deutschen IPPNW.


ATOMENERGIE

USA: Strahlenschutz auf der Kippe? Das Linear-No-Threshold-Modell (LNT) ermöglicht weltweite Strahlenschutznormen

Quelle: Ian Fairlie / kurzlink.de/ian-fairlie

SICHERE GRENZWERTE GIBT ES NICHT: DIE STUDIE VON DARBY ET AL. (2005) ZUM RISIKO VON RADONBELASTUNG IN GEBÄUDEN IST NUR EIN BEISPIEL DAFÜR.

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ie wirkt ionisierende Strahlung? Das lineare Modell ohne Schwellenwert (LNT: Linear No-Threshold) ist die weltweit wichtigste theoretische Grundlage für Strahlenschutznormen. Das Modell besagt, dass zwischen Strahlendosis und Erkrankungswahrscheinlichkeit ein direkter Dosis-Wirkungs-Zusammenhang besteht, und das bei jeder noch so geringen Dosis, also ohne Schwellenwert. Das Hormesis-Modell dagegen nimmt an, Strahlung würde im niedrigen Bereich positive Effekte bewirken und den Organismus sogar vor der zerstörerischen Wirkung starker Strahlung schützen. Die US-Atomaufsichtsbehörde (NRC: National Regulatory Commission) hat im Juni 2015 um öffentliche Stellungnahmen zu drei Anträgen gebeten, denen zufolge das LNT-Modell keine gültige Basis für die Defintion von Strahlenschutznormen ist – stattdessen solle das Hormesis-Modell herangezogen werden. Dessen Verfechter haben die US-Atomaufsichtsbehörde aufgefordert, die Leitlinien zu ändern und die Basis ihrer Strahlenschutzvorschriften entsprechend anzupassen. Die NRC ließ verlauten, sie überprüfe die Anträge und bitte um Kommentare dazu. US-amerikanische Umweltgruppen sind

besorgt, dass Strahlenschutznormen in den USA gekippt werden könnten, wenn die NRC den Anträgen nachgäbe. Andererseits gibt es Indizien dafür, dass sich die NRC-Mitarbeiter über die Risiken ionisierender Strahlung durchaus im Klaren sind.

Zur Hormesis Einige Zell- und Tierversuche zeigen, dass der Organismus nach einer niedrig dosierten Bestrahlung unempfindlicher gegen eine spätere, stärkere Strahlendosis sein kann. Andere Studien wiederum, die andere Dosierungen, Zeiträume und Endpunkte nutzen, zeigen diesen Effekt nicht. Entsprechende Versuchsergebnisse von Menschen, etwa aus der Epidemiologie, gibt es nicht. Allerdings ist ein ähnlicher Effekt aus der Chemie bekannt und es gibt auch eine theoretische Erklärung für einen Anpassungseffekt bei Tieren und Pflanzen. Die Befürworter des Hormesis-Modells argumentieren meist damit, dass die Strahlung zwar die DNA angreife, dann aber schnell eine Korrektur durch DNA-Reparaturmechanismen stattfinde. Diese sind mit etwa 15.000 Reparaturen pro Stunde und Zelle sehr aktiv – doch gerade die Fehlreparaturen, die dabei auftreten, rufen Schäden hervor. 16

Die US-Umweltschutzbehörde EPA stellte fest: „Biophysische Berechnungen und Experimente zeigen, dass schon eine einzelne Elektronenbahn durch eine Zelle komplexe Schäden in der DNA anrichtet, die typisch für Radioaktivität und in der Reparatur störanfällig sind.“ Selbst wenn die Hormesis bestätigt würde, bliebe die Frage, welche Relevanz das für den Strahlenschutz hätte. Der UNSCEARoder der BEIR-Bericht geben die Antwort: Keine. Denn dann müssten wir Strahlenarbeitern vorab kleine Dosen zur Immunisierung gegen größere Strahlenschäden verabreichen, was wir natürlich nicht tun.

Zum LNT-Modell Auf der anderen Seite gibt es aus epidemiologischen und radiobiologischen Studien sowie aus offiziellen Berichten vielfältige, stichhaltige und überzeugende wissenschaftliche Nachweise für das LNT-Modell. Epidemiologische Studien Zeigen vorhandene epidemiologische Studien, dass das Strahlenrisiko bei Niedrigdosen proportional zur Dosis sinkt? Ja. Neuerdings beweisen das sowohl groß angelegte Studien mit guten Konfidenzintervallen als auch Studien, die sich mit


ATOMENERGIE

extrem niedrigen Dosen auf dem Niveau der Hintergrundstrahlung befassen. Der neueste Beleg ist die eindrucksvolle Studie von Dr. Klervi Leraud et al., die einen linearen Zusammenhang bis zu sehr niedrigen Werten nachweist. An dieser Studie ist besonders bemerkenswert, dass fünf der 13 Autoren von namhaften US-amerikanischen Instituten stammen. Die Studie wurde von internationalen Agenturen mitfinanziert. Da fragt man sich, ob die NRC eigentlich bei ihrer Konsultation in Kontakt mit diesen offiziellen Instituten ist. Radiobiologische Theorien Auch viele radiobiologische Theorien weisen auf ein lineares Dosis-Wirkungsverhältnis bei niedrigen Dosen hin. Die radiobiologische Argumentation für die Linearität basiert auf der stochastischen Energiedeposition ionisierender Strahlen. 15 der weltweit wichtigsten Radiobiologen argumentierten in einem Papier (David J. Brenner u.a.): 1) Es gibt direkte epidemiologische Belege, dass eine Organdosis von 10 Milligray bei Röngenaufnahmen mit einem erhöhten Krebsrisiko einhergeht. 2) Bei einer Organdosis von 10 Milligray durch Röntgen werden die meisten bestrahlten Zellkerne nur durch eine oder ein paar weiter voneinander entfernte Elektronenbahnen durchquert. Bei ihrer Entfernung voneinander ist unwahrscheinlich, dass die Bahnen bei der Beschädigung der DNA zusammenwirken, eher lässt sich vermuten, dass sie unabhängig voneinander stochastische Schäden und Zellveränderungen hervorrufen. 3) Eine Verringerung der Strahlendosis, etwa um den Faktor 10, würde sich so auswirken, dass es proportional weniger Elektronenbahnen und weniger getroffene Zellen gibt. Es folgt, dass die von der niedrigeren Dosis betroffenen Zellen trotzdem denselben Schädigungen und radiobiologischen Vorgängen unterworfen sind, wie es bei 10 Milligray der Fall wäre.

4) Also würde sich die Zahl der geschädigten Zellen um das Zehnfache verringern (…) Die Wirkung würde sich linear mit der Dosis verringern. Es ließe sich bei einer Bestrahlung von einem Milligray kein anderer biologischer Prozess erwarten als bei 10 Milligray, und umgekehrt.

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pidemiologische und radiobiologische Nachweise fanden Eingang in mindestens vier offizielle internationale Berichte. Sie bestätigten, das LNT-Modell sei die umsichtigste Basis für Strahlenschutzzwecke. Der Vorsitzende der BEIR-VII-Kommission, Prof. Richard R. Monson, meinte: „Die wissenschaftliche Basis zeigt, dass es keinen Schwellenwert gibt, unterhalb dessen ionisierende Strahlung eine nachweisbar harmlose oder positive Wirkung hat.” Auch der Vorstand der Strahlenschutzabteilung der EPA stellte fest: „Obwohl radiobiologische Ergebnisse auf neuartige Schädigungs- und Reparaturprozesse bei niedrigen Dosen hinweisen, wird das LNTModell durch Ergebnisse aus der Epidemiologie und der Radiobiologie gestützt. Beim derzeitigen Stand der Forschung – beim Konsens der wesentlichen Wissenschafts- und Regierungsorgane und bei der Klarheit und Kalkulierbarkeit der Annahmen des LNT-Modells – ist es unwahrscheinlich, dass die EPA ihren Ansatz in nächster Zeit ändern wird.”

Die Bedeutung des LNT-Modells für den Strahlenschutz Trotz divergierender Ansichten basieren heute fast alle Strahlenschutzkonzepte auf dem LNT-Modell. Dieses ermöglicht die Konzepte von absorbierter Dosis, effektiver Dosis, Folgedosis und Dosis-Koeffizienten. Sie erlaubt zum Beispiel, die durchschnittliche Strahlendosis abzuschätzen, die auf ein Organ oder auf Gewebe trifft. Sie ermöglicht es, Dosen zu addieren – und das auch über einen längeren Zeitraum. Die Nutzung dieses Modells ermöglicht also: Begrenzungen und jährliche Höchstwerte; Optimierung, z.B. den Vergleich verschiedener Vorgehensweisen, die Ein17

schätzung von Risiken bei kleinen und minimalen Dosen, die Personendosimetrie mit passiven Detektoren, die Nutzung der Kollektivdosis und der Dosenregister über lange Zeiträume. Das LNT-Modell untermauert alle gesetzlichen Strahlenschutzvorkehrungen – in den USA und allen anderen Ländern. Ohne die Anwendung des LNT-Modells ist der Bestand aktueller Strahlenschutzsysteme kaum vorstellbar.

Die Anträge Nach kurzer Überprüfung der Anträge, die der NRC vorliegen, kam ich zu dem Ergebnis, dass sie nicht ernstzunehmen sind. Sie basieren auf Vorannahmen und Ideologie, nicht auf wissenschaftlichen Belegen, die in die andere Richtung deuten. Sie dürfen von der NRC nicht genutzt werden, um schwächere Gesetzesstandards in USamerikanischen Atomanlagen zu rechtfertigen. Es bleibt die Frage, ob die NRC die Anträge überhaupt zur Verhandlung hätte annehmen sollen. Die NRC sollte sich von den fünf wissenschaftlichen Instituten und Regierungsabteilungen beraten lassen, die eindeutige Fakten zu diesem Thema veröffentlicht haben. Die ausführliche Stellungnahme von Ian Fairlie gegenüber der National Regulatory Commission finden Sie unter: kurzlink.de/ian-fairlie David J. Brenner u.a. (2003) „Cancer risks attributable to low doses of ionizing radiation: Assessing what we really know“ kurzlink.de/Brenner-et-al Ian Fairlie wird vom 26.-28. Februar 2016 auf dem Tschernobyl-FukushimaKongress in Berlin zu Gast sein.

Dr. Ian Fairlie berät Institutionen und Einzelpersonen in Sachen Radioaktivität und Strahlenschutz.


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mmer wieder warten: Geflüchtete am Grenzübergang Bapska zwischen Serbien und Kroatien.

Foto: © Roberto Astorgano

FLUCHT


Weitere Bilder von Fotomovimiento finden Sie bei Flickr oder unter: fotomovimiento.org

An den Grenzen Ungarn, Serbien und Kroatien: Eine Chronik in Bildern

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ie beschwerliche, oft lebensgefährliche Fußroute der Flüchtlinge durch den Balkan: Das Kollektiv Fotomovimiento zeigt die unhaltbaren Zustände an den Grenzübergängen, wo Flüchtlinge ohne Obdach und Versorgung festsitzen. Die FotografInnen haben das Leben auf der Flucht in Röszke (Ungarn), Bapska (Kroatien) und an der kroatisch-serbischen Grenze dokumentiert – ihre desolate Lage, aber auch Momente der Gemeinschaft und der Hoffnung.

Das Titelfoto hat Mònica Parra am Grenzübergang in Röszke (Ungarn) gemacht. Einen Bericht von Franziska Pilz über Flüchtlingsarbeit auf der Balkanroute finden Sie auf Seite 10-11 im Mitglieder-Teil dieser Ausgabe.

AN DER KROATISCH-SERBISCHEN GRENZE

Foto: © Manu Gómez

FREIWILLIGE IN BAPSKA

IN RÖSZKE, UNGARN

Foto: © Manu Gómez

Foto: © Mònica Parra

Mitglieder des Kollektivs sind in verschiedene Länder, zuletzt nach Lesbos in Griechenland aufgebrochen, um Geflüchtete zu porträtieren. Die FotografInnen aus Barcelona haben sich zum Ziel gesetzt, die soziale Realität in Bildern festzuhalten und zu verbreiten. Hervorgegangen ist das Kollektiv aus der Bewegung der Empörten und den Protesten in Spanien 2011/12.

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Foto: © Manu Gómez

IN RÖSZKE, UNGARN

Eine „Willkommenskultur“ macht noch kein menschenwürdiges Aufenthaltsgesetz Die IPPNW-Konferenz „Globalisation, Refugees & Health“

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen. Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung und notwendiger sozialer Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie außereheliche, genießen den gleichen sozialen Schutz.“

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s war Shermin Langhoff, die Intendantin des Gorki-Theaters in Berlin, die uns in ihrem Grußwort auf der internationalen Global Health-Konferenz „Globalisierung, Flüchtlinge und Gesundheit“ am 12. September 2015 in Berlin die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Erinnerung rief.

In Zeiten, in denen die öffentliche Diskussion zunehmend von rigiden ordnungspolitischen Vorstellungen dominiert wird, ist dieses Dokument eine wichtige Richtschnur für deutsche und europäische Politik in Bezug auf den Umgang mit Migranten und Flüchtlingen.

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er diesjährige, inzwischen fünfte Global Health Summer von IPPNW und dem Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité Berlin thematisierte die Situation von Flüchtlingen und ihre Gesundheit. Die sechstägige Summer School startete mit der internationalen Konferenz, auf der


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über 140 TeilnehmerInnen aus 14 Staaten über die Situation von Flüchtlingen an den Außengrenzen der Europäischen Union und im Inneren diskutierten. Eine Delegation von Public Health-ÄrztInnen aus der Türkei war ebenso mit einem Bericht über die Situation von Flüchtlingen in der Türkei beteiligt wie die internationale Medical-Peace-Work-Projektgruppe, die die Fluchtbewegungen in den Kontext von struktureller Gewalt, Konflikt und Krieg stellte. Besonders gefreut hat uns die Mitwirkung von Flüchtlingen aus Somalia und Nigeria, die eindrucksvoll ihre Fluchtgeschichten mit uns teilten und uns über ihr Ankommen in Europa und Deutschland berichteten. Die Konferenzbeiträge von Frank Dörner (Sea-Watch) und Nathalie Simonnot (Ärzte der Welt), ergänzt um Adelheid Lüchtraths Erfahrungen als ehrenamtliche IPPNWÄrztin in der medizinischen Flüchtlingsversorgung vor dem Lageso, der zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Berlin, dokumentieren wir in diesem Heft. Im Folgenden fasse ich die Diskussion über die Aufgaben zusammen, die sich in Bezug auf den Zugang nach Europa und die Aufnahme in Deutschland aus Sicht der IPPNW stellen.

Flucht- und Migrationsursachen entgegenwirken Menschen haben viele Gründe ihr Heimatland zu verlassen: Krieg, Gewalt, systematische Menschenrechtsverletzungen, Diskriminierung, repressive politische Systeme. Die Ursachen sind vielfältig, die Menschen zu Flüchtlingen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention machen. Davon zu unterscheiden sind Migrationsursachen: Armut und Perspektivlosigkeit veranlassen Menschen dazu, auszuwandern. Migranten unterliegen anderen völkerrechtlichen Bestimmungen als Flüchtlinge. Gemeinsam ist diesen Menschen, dass sie dazu gezwungen werden zu fliehen, um zu überleben oder um ein besseres Leben an einem anderen Ort zu suchen. Bilder von Ertrunkenen und Erstickten haben uns drastisch vor Augen geführt, wie gefährlich die Flucht nach Europa sein kann.

Deutschlands Verantwortung Deutschland trägt mit den Auswirkungen seiner Agrar-, Außenwirtschafts-, Han-

dels-, Rohstoff-, Energie- und Klimapolitik sowie mit seinen Waffenexporten maßgeblich zu den Fluchtursachen bei. Ein Politikwechsel ist daher dringend notwendig. Deutschland braucht eine kohärente Ausrichtung seiner Außenpolitik: Eine Politik, die in anderen Teilen der Welt nicht die Menschenrechte verletzt, Gewalt begünstigt, nicht die wirtschaftliche und soziale Entwicklung untergräbt. Wir brauchen eine friedenslogische Flüchtlingspolitik.

Kriegs- und Krisenregion Naher und Mittlerer Osten Der aktuelle Flüchtlingsandrang wird nicht abreißen, wenn es nicht gelingt, im Nahen und Mittleren Osten den Krieg zu beenden und den Ländern eine Entwicklungsperspektive zu ermöglichen. Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen und Mittleren Osten (KSZMNO) könnte der Weg sein, um einer Lösung näher zu kommen. Die internationale Gemeinschaft hat vor allem dringend dafür Sorge zu tragen, dass die Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens wesentlich besser versorgt werden. Dazu muss das internationale humanitäre Hilfssystem ausreichend finanziert werden.

Balkan-Region Es ist der internationalen Staatengemeinschaft nicht gelungen, nach den Balkankriegen stabile Verhältnisse zu schaffen. Die Gesellschaften zerfallen, die Menschen sind arm, die Minderheiten, besonders die Roma, werden diskriminiert und können kaum überleben. Die Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären und den Flüchtlingen von dort de facto das Asylrecht zu nehmen, ist aus menschenrechtlicher Perspektive höchst problematisch. Die zur Zeit diskutierte Option, Afghanistan zum sicheren Herkunftsland zu erklären, ist absurd und zynisch.

Menschenrechte achten – Flüchtlinge schützen Wir sehen uns nach einer großzügigen Einreisepolitik und „Willkommenskultur“ zunehmend mit einem „Rollback“, einer Politik der Flüchtlingsabwehr konfrontiert, wie sie im „Asylpaket I“ und im jetzt bekanntgewordenen „Asylpaket II“ zum Ausdruck kommt, die auf dem Altar des ordnungspolitischen Regelungsbedarfs Kernberei21

che asyl- und menschenrechtlicher Richtlinien zur Disposition stellt.

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m Rahmen der Global-Health-Konferenz wurden folgende Forderungen an die Bundesregierung und die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten diskutiert:

Aus den Bürgerkriegsregionen müssen legale und sichere Zugangswege nach Europa eröffnet werden. Flüchtlinge sollten die Möglichkeit erhalten, an den Landesgrenzen der EU einen Asylantrag zu stellen. Das Recht auf individuelle Prüfung des Asylantrages darf nicht angetastet werden. Flüchtlinge sind in den Aufnahmeländern vor Gewalt zu schützen und menschenwürdig unterzubringen. In sogenannten „sicheren Herkunftsländern“ gibt es gravierende Menschenrechtsverletzungen, die staatlicherseits geduldet oder zumindest nicht verhindert werden, so dass Betroffene keinen ausreichenden Schutz und keine Sicherheit genießen. Das Konzept der „sicheren Herkunftsstaaten“ ist daher abzulehnen. Die militärische Seenotrettung durch Frontex unterstellte Einheiten ist durch eine zivile Seenotrettung im Mittelmeer abzulösen. Zentral für die Angehörigen verschiedener Heilberufe, die sich seit vielen Jahren für Flüchtlinge einsetzen, ist der Zugang der Geflüchteten zu medizinischer Versorgung.

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eder Flüchtling sollte von Anfang an eine Krankenversicherungskarte bekommen mit dem gleichen Leistungsspektrum wie alle Versicherten. Dolmetscherkosten sind in den Leistungskatalog mit einzubeziehen. Notwendig ist zudem eine frühe Identifikation vulnerabler Flüchtlinge, wie sie u.a. die EU-Aufnahmerichtlinie fordert. Den neu ankommenden Kindern und Jugendlichen soll zeitnah eine Vorsorge angeboten werden. Weitere Informationen finden Sie unter www.gesundheit-und-globalisierung.de

Frank Uhe ist Leiter der Geschäftstelle und aktiv im Arbeitskreis Flucht und Asyl.


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Es gilt die Fluchtursachen zu bekämpfen Hauptursache des Flüchtlingsstroms sind die von der westlichen Militärallianz verursachten Kriege

Was wir derzeit erleben, ist ein bewundernswertes Gemeinschaftswerk von Hilfsorganisationen, Behörden, Lokalpolitikern, Bahn, Polizei und vor allem von freiwilligen Helfern. Sie zeigen Empathie, Ausdauer und Kreativität. Deutsche haben der Welt gezeigt, was Mitgefühl und Humanität leisten können.

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ie große Politik fernab in Berlin hat viel zu lange zugeschaut, planlos und ohne erkennbaren Gestaltungswillen. Erst unter dem Druck einer immer nachdenklicher werdenden Öffentlichkeit bemerkt sie allmählich, dass es nicht damit getan ist, vor „Wirtschaftsflüchtlingen“ und „Asylbetrügern“ zu warnen und über Abwehrmechanismen zu Wasser und zu Land nachzudenken. Der Not gehorchend, hat sie sich zu einem uninspirierten Krisenmanagement ohne Zukunftsperspektive durchgerungen. Wachgerüttelt durch die Zivilgesellschaft dämmert es mittlerweile den ersten in der politischen Führungsriege, dass die ankommenden Menschenströme die Vorhut einer neuzeitlichen Völkerwanderung sind.

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uch die deutsche Kanzlerin wartete zunächst ab, beobachtete Stimmungen, um dann zum spätestmöglichen Zeitpunkt mit Symbolpolitik und gestanzten Sprüchen zu antworten. Zuerst verkündete sie einer hellhörigen Welt, dass das deutsche Asylrecht keine Obergrenze kenne und dass Deutschland in der Lage sei, hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen. Als sie bemerkte, dass sie damit die Einfallstore für Flüchtlinge scheunenweit geöffnet hatte, ruderte sie erschreckt zurück. Im besten Bürokratendeutsch schränkte sie ihre Verheißung flugs wieder ein: Wer nicht schutzbedürftig ist, hat bei uns „keine Bleibeperspektive“. Doch das kam zu spät. Ihre christlichen Parteifreunde reagierten entsetzt. Seehofer: „Merkel bringt Deutschland in eine nicht mehr zu beherrschende Notlage.“

Diese Bewertung ist jedoch populistische Panikmache. Nüchterne Zahlen verdeutlichen das. Nach einer Mitteilung der Deutschen Bundesbank haben die deutschen Steuerzahler seit 2008 insgesamt 236 Milliarden Euro für die Bankenrettung bezahlt, ohne dass der Staat daran zerbrochen wäre. Es ist deshalb nicht zu erwarten, dass Deutschland infolge der jüngst beschlossenen Flüchtlingshilfe von zehn Milliarden Euro in den Abgrund stürzen wird, selbst dann nicht, wenn noch Investitionen für Schulen und Wohnungen hinzukommen. Auch die nackten Flüchtlingszahlen sprechen nicht dafür, dass wir geradewegs in die nationale Katastrophe steuern. Zwar hat Deutschland 2014 mit Abstand die meisten Flüchtlinge in Europa aufgenommen. Gleichwohl liegt Deutschland – gemessen an der Einwohnerzahl – europaweit nur an der sechsten Stelle (2,1 Asylbewerber auf 1.000 Einwohner). Schweden (7,8), Ungarn (4,2), Schweiz (2,7), Dänemark und Norwegen (je 2,5) liegen deutlich vor uns. Natürlich wird Deutschland den gegenwärtigen Kraftakt bei der Aufnahme von Flüchtlingen auf Dauer nicht im Alleingang durchhalten. Vonnöten ist internationale Solidarität, und zwar sowohl innerhalb der Europäischen Union von 28 Mitgliedsstaaten als auch – was zumeist unerwähnt bleibt – über den Atlantik hinweg. Nebenbei bemerkt: Die muslimischen Nachbarstaaten Syriens haben eindrucksvoll bewiesen, was Solidarität bedeutet. Sie haben viele Millionen Flüchtlinge aufgenommen und zwar unter schwierigsten Bedingungen. Ähnliches gilt für die Nachbarstaaten Afghanistans und des Iraks. 22

Im Libanon vegetieren heute bei einer Einwohnerzahl von etwa vier Millionen gut eine Million Syrienflüchtlinge in endlosen Lagern. In Relation dazu müsste Deutschland nicht 800.000, sondern 20 Millionen aufnehmen.

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s ist unübersehbar: Wirtschaftlich schwache Zufluchtsstaaten wie Libanon, Jordanien, Irak und Türkei sind mit der Versorgung von Millionen entwurzelter Menschen hoffnungslos überfordert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die verzweifelten Flüchtlinge nach Europa aufgebrochen sind. Das war voraussehbar. Die jahrelange Tatenlosigkeit angesichts der zu erwartenden Völkerwanderungsströme offenbart das Totalversagen der europäischen und der nationalen Politik. Phantasielos begnügte man sich mit der Bekämpfung von Schleppern und der Sicherung der EU-Außengrenzen durch die Grenzsicherungsagentur „Frontex“. Gleichzeitig wurde die humanitäre italienische Seenotrettungsaktion „Mare Nostrum“, die innerhalb eines Jahres 140.00 Flüchtlinge aus Seenot gerettet hatte, finanziell ausgeblutet. Die Politik muss sich schleunigst neu orientieren. Es genügt nicht, die Symp-tome der Völkerwanderungen zu bearbeiten. So wichtig Grenzsicherung, Registrierung, Verteilung, Transport, Unterbringung und Finanzierung auch sein mögen, all das löst das Problem des Flüchtlingszustroms nicht an der Wurzel. Die Aktivitäten von Merkel, Gabriel, de Maizière & Co erinnern an einen kopflosen Hausbewohner, der bei einem Wasserrohrbruch im Keller nur damit beschäftigt ist, die Einrichtungsgegenstände aus


dem Erdgeschoss in den ersten Stock zu schleppen, anstatt die Quelle des Übels, die Bruchstelle, zu reparieren. Wer so verfährt, ruiniert zunächst das Haus und später die Möbel dazu. Auf das Flüchtlingsproblem übertragen, bedeutet das die sofortige Bekämpfung der Fluchtursachen.

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ei der Suche nach den Fluchtursachen fällt sofort auf, dass die mit Abstand meisten Flüchtlinge aus Ländern kommen, die in den letzten 20 Jahren Schauplätze von Kriegen waren: dem ehemaligen Jugo-slawien, Afghanistan, Irak, Syrien, Äthiopien, Somalia. Nach einer Statistik des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge waren 2014 die genannten Staaten und ihre Zerfallsprodukte die zehn wichtigsten Herkunftsländer für Asylbewerber in Deutschland. Kennzeichnend für fast alle Kriege in den genannten Staaten sind völkerrechtswidrige Militärinterventionen, zumeist der USA und ihrer Bündnispartner. Das legt die Annahme nahe, dass diese Kriege hauptursächlich für die großen Fluchtbewegungen der Gegenwart sind. Diese Kriege bedeuteten Tod, Verarmung, Anarchie, Zerfall von Gesellschaften, religiös motivierte Massaker und Massenflucht. Nie gelang es, stabile Demokratien einzuführen oder gar Menschenrechte zu sichern. Wer also Massenflucht eingrenzen will, muss in einem ersten Schritt militärische Abenteuer unterbinden und Militärbündnisse wie die NATO auf reine Verteidigungsaufgaben zurückführen. Hauptursache des Flücht-

lingsstroms aus dem Nahen und Mittleren Osten (Syrien, Irak, Libyen und Irak) sind die von der westlichen Militärallianz verursachten Kriege Sie haben die ganze Region destabilisiert und die Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt. Wem vermeintliche Bündnisverpflichtungen sowie rechtlich höchst fragwürdige „Koalitionen der Willigen“ wichtiger sind als eine gerechte Friedenspolitik, der muss mit den Flüchtlingsströmen leben – und zwar auf lange Zeit. Gleiches gilt für eine Politik, die glaubt, die Wohlstandsvermehrung im eigenen Land sei wichtiger als eine sozial ausgleichende Entwicklungspolitik in afrikanischen und asiatischen Staaten.

Nahziel muss somit sein, den ungeliebten syrischen Machthaber, die wichtigen Regionalmächte (zumindest Türkei, Iran, Saudi-Arabien), die syrische Schutzmacht Russland, die UN und sinnvollerweise auch die EU als Hauptbetroffene des Flüchtlingsdramas schnellstmöglich an den Verhandlungstisch zu bringen. Ein in eine Friedenslösung eingebundener Assad ist für das geschundene Land immer noch besser als ein totales Machtvakuum ohne ihn oder gar ein Land unter IS-Terror. Irak und Libyen stehen mahnend vor der Welt: Diktator getötet, mission accomplished, Anarchie, Blutströme, Bürgerkriege, Massenelend. Unter dem Eindruck der sich entfaltenden Völkerwanderungen und der Erfahrung, dass Europa das Wasser bis zum Hals steht, scheint der Realitätssinn zu wachsen. Es wächst die Bereitschaft, selbst mit dem Teufel zu reden, wenn dadurch die Flüchtlingsströme versiegen. Ziel muss sein, eine Allianz gegen das die ganze Region bedrohende IS-Regime zu schmieden.

Bei aller historischen Verbundenheit mit den USA: Europa muss den Mut finden, ureigene Bedürfnisse zu artikulieren. Dies gilt umso mehr, als die Verwerfungen einer falschen Politik allein Europa treffen. Konkret heißt das mit Blick auf Syrien: Oberstes Ziel kann nicht sein, den syrischen Staatschef Baschar al-Assad zu vertreiben. Weder sein menschenverachtendes Militär- Ungekürzte Fassung dieses Artikels bei regime noch seine Nähe zu Russland und Telepolis unter: kurzlink.de/telepolis zum Iran sind ein hinreichender Grund, ihn von der Lösungssuche auszuschliePeter Vonnahme war ßen. Das Gebot der Stunde ist vielmehr, Richter am Bayerischen die Lage für das leidgeplagte Volk zu verVerwaltungsgerichtsbessern und dadurch den Flüchtlingshof, ehem. Mitglied strom an der Quelle zu stoppen. Nach im Bundesvorstand den Erfahrungen der vergangenen Jahre der Neuen Richtergeht das aber nicht gegen, sondern nur vereinigung, Mitglied der IALANA. mit Assad. 23

Foto: © Teresa Forn

IN BAPSKA, SERBISCH-KROATISCHE GRENZE


FLUCHT

MigrantInnen ohne Papiere werden faktisch nur im Notfall behandelt, ohne Zugang zu präventiven Maßnahmen und ohne jegliche kontinuierliche Versorgung. Auch schwangere Frauen und Kinder sind häufig von diesen Restriktionen betroffen.

Gesundheit von Migrant/innen Eine Studie von Médecins du Monde belegt eklatante Mängel in der Gesundheitsfürsorge

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as weltweite Netzwerk „Médecins du monde“ (MdM) bestand 2014 aus 15 eigenständigen Organisationen und 355 weltweiten Programmen in 82 Ländern, von denen 180 nationale Programme in 15 Ländern liefen. Die meist ehrenamtlichen Teams bieten kostenlose medizinische und psychosoziale Anlaufstellen für sozial verletzliche Menschen, das gilt z.B. für Obdachlose, Drogenabhängige, Sex-ArbeiterInnen, Roma, neu angekommene MigrantInnen, EU-BürgerInnen ohne Dokumente und Staatsangehörige von Drittländern sowie auch unbegleitete minderjährige Flüchtlinge.

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ir führen in unseren 15 Organisationen nationale Programme durch, da wir uns als AktivistInnen in unseren eigenen Ländern wahrnehmen. Als solche arbeiten wir auf positive soziale Veränderung hin. Wir verändern Programme und stellen sicher, dass diese möglichst schnell öffentliche Förderung erhalten und von anderen Vereinen oder öffentlichen Strukturen übernommen werden. Wir müssen handeln, wenn Menschen in unseren eigenen Ländern keine medizinische Unterstützung erhalten. Unsere täglichen Aktionen gehen immer über die individuelle Hilfeleistung hinaus, wegen all derer, die wir nicht persönlich treffen. Deswegen setzen wir positive Veränderungen in Verfahrensweisen, Gesetzen und Regulationen durch. Wir sind bereit, die Grenzen der Legalität zu überschreiten, wenn die Gesetze nicht mit den Menschenrechen vereinbar sind, zum Beispiel, wenn wir unregistrierte MigrantInnen anzeigen sollen oder Prostituierten ihre Rechte genommen werden.

Fakten zur Gesundheit von MigrantInnen Seit 1995 haben wir in Frankreich und seit 2006 auf europäischer und internationaler Ebene ein Beobachtungszentrum, dass sich mit dem Zugang zur Gesundheitsversorgung befasst. Das Netzwerk sammelt soziale und gesundheitsbezogene Merkmale, Hilfebedarf und Barrieren beim Zugang zur Gesundheitsversorgung von PatientInnen, mit dem Ziel, die Qualität unserer Aktionen zu verbessern, Bewusstsein unter den Interessengruppen zu schaffen und Fortschritte in Gesetzen und Verfahrensweisen zu sichern. Es gibt eine beeindruckende Bandbreite von internationalen Texten und Verpflichtungen, die das grundlegende Recht auf Gesundheit garantieren – verabschiedet von den Vereinten Nationen, dem Europarat, der Europäischen Union und diversen Agenturen. Trotzdem gibt es in vielen Staaten legale und administrative Barrieren zur Gesundheitsversorgung: Hier sind zunächst MigrantInnen ohne Dokumente betroffen, oft auch AsylbewerberInnen und Angehörige von Drittstaaten. Faktisch werden sie nur im Notfall behandelt, ohne Zugang zu präventiven Maßnahmen und ohne jegliche kontinuierliche Versorgung. Auch schwangere Frauen und Kinder sind häufig von diesen Restriktionen betroffen.

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nser letzter Bericht basiert auf Datensammlungen der MdM-Teams durch persönliche Gespräche mit 23.341 Menschen in 26 Städten und 11 Ländern im Jahr 2014 und zeigt fortlaufende Lücken 24

im Zugang zur Gesundheitsfürsorge auf. Bei den untersuchten PatientInnen handelte es sich zu 94,4 % um MigrantInnen. In Europa waren 15,6 % mobile EU-BürgerInnen, in München machten EU-MigrantInnen sogar einen Anteil von 53,3 % der Patienten aus und 16,5 % besaßen die Staatsangehörigkeit des Gastlandes. Insgesamt hatten nur 34 % unserer PatientInnen ein Aufenthaltsrecht in der EU – 91,3% lebten unter der Armutsgrenze und waren nicht krankenversichert. Eines der grundlegenden und universellen Menschenrechte ist das Recht von Kindern auf gesundheitliche Versorgung. Trotzdem haben Kinder von AsylbeweberInnen und Flüchtlingen nur in sechs der untersuchten Länder die gleichen Rechte auf Gesundheitsversorgung wie Staatsangehörige. Kinder von MigrantInnen ohne Papiere sind in den meisten Ländern legalen Barrieren beim Zugang von Gesundheitsfürsorge und Impfungen ausgesetzt. Weniger als die Hälfte der Kinder der waren gegen Tetanus (42,5 %) oder Masern, Mumps und Röteln geimpft – damit liegen sie weit unter dem Bevölkerungsdurchschnitt, auch wenn die Lebensumstände dieser Kinder ein weiterer Grund wäre, sie zu immunisieren. Für schwangere Frauen, die in unser Programm kamen, ist die Situation nicht besser: Mehr als die Hälfte von ihnen waren nicht bei der Pränataldiagnostik, bis sie zu MdM kamen (54,2 % in Europa). In Europa waren 81,8 % nicht krankenversichert, in Kanada und der Türkei sogar bis zu 100 beziehungsweise 98,1 %. Die häufigsten Barrieren zur Gesundheitsversorgung sind: Finanzielle Schwierigkeiten, administrative Proble-


me, mangelndes Wissen oder Verständnis des Gesundheitssystems und der eigenen Rechte, sowie Sprachbarrieren. 70,2 % der Patienten, die unter chronischen Krankheiten litten, hatten vor ihrem Besuch bei MdM noch keine Behandlung oder medizinische Beachtung bekommen. Unsere Daten widerlegen klar den Mythos, MigrantInnen würden aus gesundheitlichen Gründen einwandern, mit dem Kürzungen oft legitimiert werden. Durchschnittlich haben die MigrantInnen bereits 6,5 Jahre im Gastland gelebt, bevor sie uns aufsuchten. Nur 3 % nannten Gesundheit als einen Migrationsgrund. MigrantInnen mit chronischem Leiden wussten nur in 9,5 % der Fälle schon vor ihrer Ankunft in Europa von ihrer Krankheit. Eine überwältigende Mehrheit von 84,4 % der PatientInnen berichtete, dass sie mindestens einmal Opfer von Gewalt wurden, entweder in ihrem Herkunftsland, während der Reise oder im Gastland. 24 % der Frauen und 5 % der Männer wurden vergewaltigt. Sie brauchen zusätzliche Unterstützung und eine sichere Umgebung, damit sie ihr Leben wieder aufnehmen können, anstatt, wie allzu oft, in Armenvierteln zu landen, in ständiger Angst vor Abschiebung. Europäische und nationale Maßnahmen setzen den Fokus auf Migration als Sicherheitsthema und vergessen dabei ihre Schutzverantwortung.

Antworten auf die Aufnahmekrise MdM-Teams arbeiten in den Herkunftsländern der MigrantInnen, auf ihren Routen

und in Transit- und Ankunftsländern. In Europa sehen wir die psychischen Wunden von MigrantInnen, die um ihr Leben gefürchtet, Familienmitglieder verloren und ihr Leben auf instabilen Booten riskiert haben. Sie haben unter Sonnenbränden und unter dem 50 Kilometer langen Marsch von der Anlegestelle bis zum Lager in Lesbos gelitten, und leiden nun bei ihrer Ankunft unter Unterkühlung, durchnässt und schutzlos. In Calais war der französische Staat im Oktober 2015 nach einer legalen Aktion von MdM und Caritas dazu gezwungen, innerhalb von acht Tagen Toiletten zu installieren, Zugang zu Wasser und zu Notunterkünften zu gewährleisten und allen unbegleiteten Minderjährigen innerhalb von zwei Tagen einen entsprechenden Schutz zu bieten.

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ir fordern die europäischen Interessengruppen, politischen EntscheidungsträgerInnen und Gesundheitsfachleute auf, diese gesundheitsgefährdenden Maßnahmen zu beenden. Mauern und Stacheldraht müssen fallen, um für die ZuwandererInnen sichere Routen nach Europa zu gewährleisten. Allein im Mittelmeer wurden von Januar bis Oktober 2015 3.440 Tote bzw. Vermisste gezählt. Wenn die MigrantInnen sicher in Europa angekommen sind, müssen wir angemessene Aufnahmezentren und Schutz bieten, anstatt durch die vorhandenen Zustände zu weiteren Risiken und Traumata der MigrantInnen beizutragen. Durch Dublin III werden viele Familien getrennt und an der Integration gehindert, da sie nicht aussuchen können, in welchem Land sie ihren Asylantrag stellen. Wir glauben auch, dass 25

Fachleute im Gesundheitswesen einen entscheidenden Wandel bewirken können, da veränderte Praktiken anschließend zu positiven Regulationen und Gesetzen führen können. Medizinische Ethik hat Priorität, so dass PatientInnen entsprechend ihrer Bedürfnisse, nicht nach ihrem Status behandelt werden. ÄrztInnen sollten sich weigern, Untersuchungen nur zum Zweck der Zuwanderungskontrolle durchzuführen. Fragen zur Gewalt, die ein Patient erlebt hat, sollten Teil der Anamnese sein.

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ie EU-Mitgliedsstaaten und -Institutionen müssen ein universelles öffentliches Gesundheitssystem gewährleisten, das auf Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit aufbaut und jedem in der EU zugänglich ist. Wir fordern einen sofortigen Zugang zu nationalen Impfsystemen, Kinderärzten, pränataler und postnataler Versorgung und sichere Einreisewege. Die Grundrechteagentur der EU hat nachgewiesen, dass Vorsorge Kosten spart. Könnten alle schwangeren Migrantinnen Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, würde dies in Deutschland beispielsweise Ersparnisse von bis zu 48% bewirken.

Nathalie Simonnot ist stellvertretende Direktorin des weltweiten Netzwerks Médecins du Monde.

Foto: © Antonio Litov

AN DER GRENZE ZWISCHEN SERBIEN UND UNGARN


FLUCHT

Zwischen Aktivismus und Professionalität Warum auf dem Mittelmeer die Zivilgesellschaft gefragt ist

Rettungseinsatz der Sea Watch

Foto: Sea-Watch

EINE RETTUNGSINSEL VON SEA-WATCH IM EINSATZ.

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as Projekt Sea-Watch wurde erst im Dezember 2014 aus der Taufe gehoben. Damals waren es gerade mal drei Personen, die dem Sterben im Mittelmeer nicht mehr tatenlos zusehen konnten, ihr Geld zusammenlegten und daran gingen, private Seenotrettung zu organisieren. Bis heute hat die Sea Watch, ein hundert Jahre alter ehemaliger Fischkutter, über 2.000 Menschen direkt und aktiv vor dem Ertrinken gerettet und ihre Weiterfahrt in einen sicheren Hafen ermöglicht. Dabei wurde zusätzlich durch die Crew der Sea Watch das Borden auf weitaus größere Schiffe für den weiteren Transport sichergestellt und medizinische Hilfe geleistet, wo akut nötig. Die anfänglichen Befürchtungen, dass die mangelnde Erfahrung mit kaum planbaren Situationen auf See eventuell zu unkalkulierbaren Risiken und Verletzungen von Menschen führen könnte, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: Es ist kein einziger Mensch während dieser Rettungseinsätze zu Schaden gekommen und oft war die Sea-Watch in weitem Umkreis von bis zu neun Stunden Anreise das einzige Schiff, das helfen konnte. Manchmal wurden zur Aufnahme der Geretteten extra Schnellboote der Küstenwache aus Lampedusa geschickt. Die vielzitierten Rettungseinsätze der Marine, inklusive der deutschen Schiffe Werra und Schleswig-Holstein, fanden auf jeden Fall nicht dort statt, wo wir fast täglich per Fernglas völlig überladene Boote in Seenot sichteten. Die zivilen Kapazitäten waren allerdings auch extrem limitiert. Neben der Sea-Watch gab es nur die wesentlich größeren und besser ausgestatteten Schiffe der Ärzte ohne Grenzen (MSF), Bourbon Argos und Dignity, und ein Schiff von MOAS, einer maltesischen Organisation in Kollaboration mit MSF.

Der Einsatz der Sea Watch erfolgt grundsätzlich unter der Prämisse, nur in absoluten Ausnahmefällen Menschen an Bord zu nehmen. Sea-Watch arbeitet in Notarztmanier und andere bringen die Flüchtlinge in Sicherheit. Das Schiff ist einfach nicht zu mehr in der Lage. So wird Notfallmedizin in der Messe des kleinen Schiffes, auf dem einzigen Tisch durchgeführt. Das Konzept sieht vor, mit dem Schnellboot den gesichteten Booten zu Hilfe zu eilen, die Kommunikation aufzubauen und als erstes Rettungswesten zu verteilen. Das Mutterschiff bleibt dabei eine Meile entfernt und greift nicht direkt ein. Dies soll verhindern, dass Menschen in Panik versuchen, auf die Sea Watch zu gelangen und sich und andere in Gefahr bringen. Das Schnellboot ist mit drei Leuten besetzt und trägt die nötige Anzahl von Rettungswesten. Sollte der Transfer der Flüchtlinge auf die mitgeführten Rettungsinseln nötig sein, werden diese von der SW zu Wasser gelassen und herangeschleppt. In Einzelfällen allerdings wurden auch Rettungsinseln direkt an die Sea Watch selber gekoppelt – einmal sogar mit einer Gesamtzahl von über 500 Menschen.

kritisch zu kommentieren. Die Vorstellungen, den Schlepperbanden das Handwerk durch militärischen Einsatz zu legen und damit Menschen zu retten, sind bestenfalls zynisch, völlig unrealistisch und schlimmstenfalls menschenverachtend. Denn sie versuchen von der eigenen Verantwortung abzulenken und werden viel Geld kosten ohne positiven Effekt für Flüchtende.

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ir tragen zur politischen Debatte bei und wollen dort sein, wo keiner hinschauen möchte, um darüber zu berichten, was wirklich passiert. Das bedeutet praktische Solidarität. Die unterschiedlichsten Menschen sind bei Sea-Watch aktiv. Alle sind Profis in ihrem Bereich, niemand kann alles. Viele Kontakte tragen zur guten Vernetzung bei. Dies hat praktische Vorteile und erleichtert die Zusammenarbeit. Denn das ist es, was wir brauchen: die größtmögliche Gemeinsamkeit, um effektiv mit den limitierten Ressourcen möglichst viel helfen zu können und politischen Druck für eine wirklich aktive Rettung aus Seenot und einen legalen Zugang nach Europa zu machen. Sea-Watch ist jetzt auch zwischen der Türkei und Griechenland im Einsatz. Es muss kein Mensch im Mittelmeer ertrinken! Diese humanitäre Krise darf nicht in unserem Namen weitergehen.

Die Crew assistiert wenn nötig auch direkt beim Umsteigen der Flüchtlinge auf die großen „Tranportschiffe“. Dies können private Rettungsboote von Ärzte ohne Grenzen, die Küstenwacht oder auch Handelsschiffe und Tanker sein. Dabei wird auch medizinische Unterstützung ermöglicht.

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ea-Watch hat sich in Kürze bei allen Akteuren auf dem Wasser, aber auch an Land, Respekt verschaffen können. Ohne viele Worte wurde eine schwierige Aufgabe in extrem kurzer Zeit angegangen und gemeistert. Das hat Leben gerettet. Und die Legitimität verschafft, darüber zu reden, was nötig ist, was bisher nicht getan wird und auch Pläne für die Zukunft 26

Frank Dörner ist Arzt bei Sea-Watch.


FLUCHT

Ehrenamtliche Flüchtlingsärztin Neuankömmlinge werden nicht regulär versorgt

Hunderte Flüchtlinge warten seit Wochen vor dem Berliner Landesamt für Soziales und Gesundheit auf ihre Registrierung. Einen Krankenschein haben sie nicht. Freiwillige Ärzte, Studenten, Hebammen und Krankenschwestern leisten „erste Hilfe“. Adelheid Lüchtrath hat die Flüchtlinge drei Monate lang versorgt.

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ADELHEID LÜCHTRATH UND EINE DER EHRENAMTLICHEN ÜBERSETZERINNEN

rei Monate habe ich bis zu 40 Stunden in der Woche ehrenamtlich in der medizinischen Flüchtlingsversorgung auf dem Gelände vor dem Berliner Lageso in Haus C, in der „ersten Hilfe“ gearbeitet. Dort werden Flüchtlinge versorgt, die noch nicht registriert sind und somit noch keine „grüne Karte“ haben, den Krankenschein für Flüchtlinge, der ihnen den Zugang zur kassenärztlichen Versorgung ermöglicht. Das Team vor Ort besteht in der Regel pro Tag aus sechs ÄrztInnen, vier Kankenschwestern, drei bis vier Hebammen und zahllosen ÜbersetzerInnen aller Sprachen. Eine Koordinatorin wurde als hauptamtliche Kraft von der Caritas eingesetzt. Sie ist die einzige, die bezahlt wird. Pro Tag behandelten wir ca. 150-200 PatientInnen. Dazu stehen zwei Räume zur Verfügung, die durch einen Flur verbunden sind, wo die zahlreichen PatientInnen auf ihre Behandlung warten. Vor drei Monaten fand die Versorgung noch in einem Zelt statt. Am Eingang zum Haus sitzt eine Krankenschwester oder MedizinstudentIn, die mit Hilfe eines oder mehrerer DolmetscherInnen eine Kurzanamnese erhebt, die auf einen Zettel geschrieben wird, zusammen mit einer Wartenummer, die die PatientInnen in die Hand bekommen und nach der aufgerufen wird.

Medikamente aus, hier stehen mehrere Ordner, in denen wichtige Informationen abgeheftet werden, zum Beispiel zu Härtefällen. Auf dem zweiten Tisch befindet sich alles, was für eine Akutversorgung erforderlich ist: Fieberthermometer, Otoskop, Blutzuckermessgeräte, Urinsticks, Blutdruckmessgerät, Tupfer, Lanzetten, etc. Der zweite Behandlungsraum ist für KinderärztInnen, Hebammen und Zahnarzt gedacht. Dort stehen zwei Behandlungsliegen, ein Zahnarztstuhl und mehrere Regale, seit Neuestem auch ein Kopierer, der die Arbeit ungemein erleichtert.

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Die Lösung, dass ÄrztInnen endlich hauptamtlich in der Medizinischen Flüchtlingsversorgung arbeiten, schien seit dem November 2015 eingetreten. Die Charité hat vom Senat den Auftrag erhalten, die Koordination der medizinischen Versorgung vor Ort zu übernehmen. Leider gibt es immer noch kein Finanzierungkonzept seitens des Senates, d.h. auch die Charité-ÄrztInnen arbeiten ehrenamtlich. Es sind neue

m ersten Behandlungsraum behandeln in der Regel drei Ärztinnen parallel. Es gibt Stellwände, die einen Bereich abgrenzen, damit wir unbekleidete Personen vor den Blicken der anderen schützen konnten. Zudem gibt es mehrere Stühle, auf denen weitere PatientInnnen, die sich nicht entkleiden müssen, behandelt werden und zwei Schreibtische. An dem einen wird dokumentiert. Dort liegt die Liste für benötigte

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ir ÄrztInnen, Krankenschwestern und Hebammen sind alle berufserfahren und in Hygiene ausgebildet. Wir machen keinerlei körperliche Eingriffe in der Ambulanz, keine Injektionen, keine Nähte bei Platzwunden, keine Abszesseröffnungen. Verbandswechsel und körperliche Untersuchungen bedürfen auch der Hygiene in den Räumen. Diese wird von allen auch zum Eigenschutz eingehalten. Wir haben den Eindruck, dass die Notlösung der ersten Hilfe für Flüchtlinge institutionalisiert wird. Es gibt inzwischen die Forderung von Seiten des Gesundheitsamtes, dass eine hauptamtliche Hygienebeauftragte von der Caritas bezahlt werden soll.

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Räume auf dem Gelände gefunden worden, wo jedem Arzt, jeder Ärztin, jedem Zahnarzt, jeder Zahnärztin und den Hebammen ein eigener Behandlungs-Raum zur Verfügung steht und auch die Caritas-MitarbeiterInnen bzw. SozialarbeiterInnen untergebracht worden sind. Ein Ruheraum für Schwangere und Stillende ist ebenfalls vorhanden. Jetzt sollen wir Ehrenamtlichen die AssistenzärztInnen der Charité einarbeiten und den Dienstplan auffüllen, natürlich kostenlos. Das ist für mich ein Grund, erstmal eine Pause zu machen, um dann mit neuer Kraft in ein neues Flüchtlingsprojekt einzusteigen.

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ur Zeit gibt es in Berlin 92 dezentrale Notunterkünfte (NUK). Die Flüchtlinge kommen in Berlin an, werden registriert und bekommen beim Lageso ein Armband mit einem Termin zur Asyl-Antragsstellung ums Handgelenk und werden in die NUKs gefahren, wo sie oft auch keine medizinische Versorgung vor Ort haben. So werde ich jetzt in die Notunterkünfte gehen und mich für ein neues Medi-Mobil einsetzen, mit dem – vor allem an den Wochenenden – eine medizinische Versorgung der Flüchtlinge gewährleistet wird. Der Plan ist, ein Versorgungsfahrzeug anzuschaffen und am Wochenende mit entsprechenden ÄrztInnen zu besetzen, um die Flüchtlinge in den NUKs zu versorgen.

Adelheid Lüchtrath ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, Akupunktur und Naturheilverfahren und IPPNW-Mitglied.


Foto: Fraktion Die Linke im Bundestag, CC by 2.0

FLUCHT

OKTOBER 2013: HUNGERSTREIK VON LAMPEDUSAFLÜCHTLINGEN AM BRANDENBURGER TOR.

No Hope! No Future! I am angry! Die Entstehung der IPPNW-Benefizkonzerte

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ie Idee zu den Benefizkonzerten wurde im Herbst 2013 nach meinen ersten Sprechstunden im Camp der „Lampedusa-Flüchtlinge“ auf dem Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg geboren. Ein Kollege hatte mir wiederholt von der Situation dort berichtet und mich eingeladen, mitzukommen.

Da stand ich dann an einem regnerischen Tag im Oktober vor den Zelten und Hütten der Flüchtlinge und fühlte mich – mitten in Berlin – wie ein Fremdling in einem afrikanischen Dorf. Mit einem Unterschied: Es war bitterkalt. Die dunkelhäutigen Männer mit ihren blitzend weißen Zähnen und traurigen Augen betrachteten mich erwartungsvoll. Der Besuch eines Arztes, der eine Sprechstunde im Camp abhalten wollte, kam nicht alle Tage vor. Ich ging auf sie zu und begrüßte jeden Einzelnen mit Handschlag.

ter lang in Berlin? Das Überleben dieser Flüchtlinge hing von Spenden ab, denn von den Behörden wurde ihnen alles verweigert, was Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschrechte fordert: Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die seine und seiner Familie Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und notwendiger Leistungen der sozialen Fürsorge, gewährleistet. Er hat das Recht auf Sicherheit im Falle der Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Verwitwung, Alter oder von anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände.

In Zelten im Herzen der Metropole

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Seit mehr als einem Jahr besetzten diese Menschen den Platz, um auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen und um als Bürgerkriegsflüchtlinge anerkannt zu werden. Jedem, der sich über sie informieren wollte, standen sie in einem Infozelt Rede und Antwort. Aus Politik und Verwaltung wehte ihnen ein harter Wind entgegen. Wiederholt wurde die Räumung des Platzes angedroht. Von Seiten vieler Berliner Bürgerinnen und Bürger, Kirchengemeinden und humanitärer Organisationen wie Asyl in der Kirche und Malteser Migranten-Medizin wurde ihnen jedoch Hilfe, menschliche Wärme und Sympathie entgegengebracht: Sie versorgten sie mit den nötigsten Dingen des täglichen Lebens. Einen Winter hatten sie schon überstanden, der nächste stand ihnen bevor. Ich versuchte mir das vorzustellen: Überwintern im Zelt, auf einer Matratze, eingerollt in einem Schlafsack. Das ist vielleicht ein paar Tage unter afrikanischem Himmel zu ertragen – aber einen ganzen Win-

as hatte sie nach Berlin geführt? Die Odyssee der Flüchtlinge begann im Frühjahr 2011 in Libyen. Sie lebten dort als Gastarbeiter mit festem Einkommen und allen medizinischen und sozialen Sicherheiten, die dieses Land bis dahin zu bieten hatte. Es ging ihnen und ihren Familien gut. Nach Beginn der Bombardierung Libyens durch die NATO wurde ihre Existenz unverschuldet von heute auf morgen zerstört. Der libysche Machthaber Gaddafi machte sie zum Spielball nach dem Motto: „Die NATO bombardiert uns – wir bombardieren jetzt die NATO mit euch Afrikanern!“ Mehr als 70.000 Schwarzafrikaner wurden nach den ersten Bombenangriffen im März 2011 zwangsweise in völlig überfüllten Booten, ohne seemännische Erfahrung und ohne ausreichend Trinkwasser und Nahrung aufs Meer geschickt. Die Tragödien, die sich auf See abspielten, sind bekannt. Die Verluste und körperlichen wie seelischen Qualen, die sie durchlitten, wer28


den viele nie mehr loslassen. Nach ihrer Ankunft in Lampedusa und Aufenthalten in italienischen Lagern wurden die Flüchtlinge mit einem „Schengen-Papier“ versorgt, das ihnen zwar für ein Jahr freie Bewegungsmöglichkeit in der EU garantierte – aber keine soziale Sicherheit. Etwa 150 von ihnen ließen sich nach ihrer Wanderschaft quer durch Europa auf dem Oranienplatz nieder.

Die erste Sprechstunde Eines der Zelte wurde bei meinem Besuch spontan als Sprechzimmer eingerichtet. Die Beleuchtung war dürftig, das Interesse, im Camp selbst einen Arzt konsultieren zu können, allerdings groß und so bildete sich bald eine lange Schlange von Wartenden. Wenn die Verständigung in Worten nicht ausreichte, halfen Gestik und Zeichensprache. Die körperliche Untersuchung, die Berührung eines schmerzenden Bauchs mit meinen Händen oder das Abhören und Abklopfen des Brustkorbs bei Husten, die Untersuchung von Hals und Ohren wurden dankend angenommen. Mein Vorrat an mitgebrachten Medikamenten wurde nur spärlich genutzt. Ein freundliches Lächeln, beruhigende Worte, eine abschließende kurze Umarmung und mein Versprechen, wiederzukommen, schienen wenigstens für diese Stunden eine heilende Wirkung zu entfalten. Die Traurigkeit in den Augen dieser Menschen war für kurze Zeit verflogen: Die meisten ihrer Probleme waren psychosomatischer Natur. Kein Wunder bei dem, was jeder Einzelne durchgemacht hatte. Von ihren Schicksalen sollte ich erst nach und nach bei meinen folgenden Besuchen erfahren.

Musik als Medizin Ein Erlebnis gab dann den Impuls, ein Benefizkonzert zu organisieren: Nach einer meiner abendlichen Visiten setzte ich mich zu einer Gruppe, die in einem Kreis um ein offenes Feuer saß und afrikanische Musik aus einem Kassettenrecorder hörte – ein romantischer Tagesausklang. Die besinnliche Lagerfeuerstimmung wurde plötzlich unterbrochen: Aus dem Dunkel trat ein kräftiger barfüßiger Mann und begann vor dem Feuer zu tänzeln – wie ein Boxer vor einem unsichtbaren Gegner. Hin und her springend schlug er sich mit seinen Fäusten auf die Brust. Dabei brüllte er immer wieder mit heiserer Stimme: „I am angry! I am angry!“

Dann fuhr er fort: „No hope! No future! I am angry!“ – Der Mann wird sich eine Lungenentzündung holen, dachte ich.

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bwohl seine Gestik sehr aggressiv war, wagte ich ihn anzusprechen: „You will get a cold!“ Er rief: „I am not cold – I am hot!“ Er riss sich sein Hemd vom Leibe und fuhr mit seiner Klage fort. Ich reichte ihm meine Hand: „My name is Peter – What is your name?“ Er antwortete: „I am Elias, I am a Christian!“ Elias beruhigte sich und begann mir seine Geschichte zu erzählen. Er endete damit, dass er kein Geld habe, nach Italien zu fahren, um sein „Schengen-Papier“ zu verlängern, was nur dort möglich war. Da wurde mir klar: Ein Mensch ohne Papiere ist ein Mensch ohne Zukunft. „No future!“ – das macht zornig: „I am angry!“ Und das war, wie ich schon zuvor erfahren hatte, ein brennendes Problem für viele Bewohner des Camps: Ihre Zeit lief ab und sie drohten, „Illegale“ zu werden. Aber sie hatten kein Geld für die Reise. In diesem Moment entstand die Idee zu einem Benefizkonzert. Mit international bekannten Solisten und Ensembles aus fast allen großen Berliner Orchestern fand dann am 10. Dezember 2013 – dem Tag der Menschenrechte – das erste „IPPNW-Benefizkonzert für Flüchtlinge“ statt. Nach einem mehr als vierstündigen Programm mit „Klassik, Tango und Jazz“, ergänzt durch Lesungen von Flüchtlingsschicksalen, legten die Besucher der Kaiser-WilhelmGedächtnis-Kirche fast 11.000 Euro zugunsten von Asyl in der Kirche und der Malteser Migranten-Medizin in die Körbe. Es war immerhin ein Tropfen auf den heißen Stein und es brachte vielen der Flüchtlinge Hoffnung auf eine sicherere Zukunft. Weitere Konzerte sollten folgen, um die Not dieser Menschen lindern zu helfen.

Weitere Infos und aktuelle Konzerttermine unter www.ippnw-concerts.de Hier können Sie auch CDs der letzten Konzerte bestellen.

TANGOKONZERT MIT LA BICICLETA BEI DER GLOBAL HEALTH CONFERENCE 2015.

Dr. Peter Hauber ist Arzt und gründete IPPNWConcerts.


Europäisches Treffen in Belgrad

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Im Mittelpunkt stand die Gefahr einer nuklearen Eskalation

ehn Jahre nach dem letzten Europäischen Treffen in Aubagne (Frankreich) trafen sich 75 Ärzte und Medizinstudierenden aus 15 europäischen Ländern vom 11. bis zum 13. September 2015 in Belgrad. Die Initiative für das Treffen ging von unserer serbischen Sektion aus. Die Gastgeber hatten seit 1995 fast alle an dem Versöhnungsprogramm „Brücken der Verständigung“ teilgenommen. Von Anfang an waren die norwegische, die deutsche und die Schweizer Sektion dabei, so dass wir gemeinsam ein interessantes politisches Programm konzipierten, das die die Breite der vielfältigen Aktionen der einzelnen europäischen Sektionen widerspiegelt. Gleichzeitig war genug Zeit für Begegnung und Austausch untereinander, kurze Spaziergänge in die Altstadt von Belgrad und eine wundervolle Bootsreise an den Zusammenfluss der Donau und der Sawe – alles in allem ein großer Erfolg.

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ie Programminhalte reichten von nuklearer Abrüstung (ICAN und die humanitäre Initiative zum Verbotsvertrag) über Atomenergie (Bau von neuen AKWs in der Türkei) bis hin zu Uranwaffen, deren Wirkung in den ex-jugoslawischen Republiken auch nach Kriegsende fortbesteht. Im Mittelpunkt des Treffens standen zudem der Ukraine-Konflikt und die Gefahr einer nuklearen Eskalation. Eine IPPNWVertreterin aus Kiew und eine Journalistin, die in der Ost-Ukraine arbeitet, berichteten einfühlsam und authentisch über die aktuelle humanitäre Situation. Ein serbischer Vertreter der OSZE erläuterte die Möglichkeiten und die Grenzen der so wichtigen OSZE-Aktivitäten in der

Ukraine. Die Teilnehmer appellierten an die Präsidenten Poroschenko und Putin, an das EU-Parlament und an die OSZE, sich dafür einzusetzen, die Blockade des Donbass zu beenden und forderten freien Zugang zu humanitärer Hilfe für die Bevölkerung in der Region. Beide Seiten, die NATO und Russland, müssen auf die Drohung verzichten, in diesem Konflikt Atomwaffen einzusetzen. Humanitäre Hilfe und diplomatische Konfliktlösungen, die die unterschiedlichen Interessen und die dahinter stehenden Bedürfnisse der Kriegsakteure aufgreifen, müssen im Vordergrund stehen.

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n Bezug auf den Waffenhandel waren sich die Konferenzteilnehmer einig, dass die großen Waffenexporteure wie Deutschland, Frankreich, England, Italien und Russland alle Waffenexporte an kämpfende Milizen und Regierungen im Nahen Osten und in die Ukraine unverzüglich beenden müssen. Der Export von Waffen bedeutet, Kriege vorzubereiten und anzustacheln, er führt zu unermesslichem Leid. Der Bürgerkrieg in Syrien und im Irak, der mit diesen Waffenexporten genährt wird, ist einer der wesentlichen Gründe für die vielen in Europa ankommenden Flüchtlinge. Unsere abschließende Diskussion konzentrierte sich darauf, wie ICAN-Aktivitäten und die Arbeit am Atomwaffenverbot von den europäischen Sektionen weiter entwickelt werden können. Ein zweiter wesentlicher Punkt waren Überlegungen zur Nachwuchsförderung, besonders unter den Medizinstudenten und jungen ÄrztInnen. Als ein Schwerpunkt, die Studentenarbeit in Europa zu entwickeln, wurde die Arbeit zum Medical-Peace-Work-Projekt 30

gesehen, in dem schon drei Sektionen gemeinsam arbeiten: Norwegen, Großbritannien und Deutschland. Inhaltlich umfasst Medical Peace Work medizinische Projekte zur Friedensarbeit, zu Atomwaffen, Kleinwaffen, Versöhnungsarbeit, Arbeit mit Kriegsflüchtlingen und Menschenrechtsverletzungen. Dieses weite Spektrum kann damit die unterschiedlichen Ansätze der einzelnen Sektionen gut aufnehmen. Das MPW-Projekt sollte deshalb weiter an den Medizinischen Fakultäten verankert werden. Wie das im Einzelnen geleistet werden kann, wurde bei der Friedenskonferenz von Medact in London besprochen.

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in weiterer Schwerpunkt soll ICANAktivitäten in Europa umfassen: Hier würde sich die Implementierung von ICAN in den osteuropäischen Ländern und besonders in der Ukraine anbieten – eine schwierige und komplizierte Aufgabe, zu der spezifische Schritte noch weiter ausgearbeitet werden müssen. Nächster internationaler Höhepunkt für die gemeinsame Arbeit in Europa soll die internationale Konferenz zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl und Fukushima vom 26.-28. Februar 2016 in Berlin darstellen. So hoffe ich viele Mitglieder auf dieser Konferenz wiederzutreffen.

Angelika Claußen ist Europäische IPPNWPräsidentin.


AKTION

Bombengeschäft Aktion: „Deutsche Banken finanzieren den Krieg“ Von Deutschland geht Krieg aus. Deshalb machten etwa 40 IPPNW-Mitglieder bei einer Protestaktion vor dem Hochhaus der Frankfurter Commerzbank auf die Verquickung von Banken und Kriegsindustrie aufmerksam. Ziel der Aktion im Vorfeld der IPPNW-Friedenskonferenz war, der Öffentlichkeit die Möglichkeiten des Divestments, des Abzugs der Investitionen, nahezubringen. Schwarze Riesen-Ballons in Form von Bomben erregten öffentliche Aufmerksamkeit, mussten aber aufgrund der starken Winde an diesem Nachmittag gut festgehalten werden. Die PassantInnnen zeigten reges Interesse an den Geschäften ihrer Finanzdienstleister und an den Möglichkeiten, auf andere Anbieter umzusteigen. Deshalb waren die Steckbriefe, die über einzelne Bankhäuser und ihre Aktivitäten im Rüstungsbereich informierten, auch schnell vergriffen.

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GELESEN

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Windmühlen bauen

Medizin als Berufung

Lüders’ Buch liest sich wie ein Politthriller: Unheimlich packend beschreibt er die heutige Situation im Nahen und Mittleren Osten mit ihren geschichtlichen Hintergründen.

Wir kennen ihn schon lange. Ein Arzt ist er. Ja, davon gibt es viele. Ein berühmter Arzt ist er. Ein Homo politicus ist er darüber hinaus, der den Friedensnobelpreis für die IPPNW entgegennehmen durfte. So etwas nennt man heutzutage ein Alleinstellungsmerkmal.

E

r selbst versteht das Buch als eine „Abrechnung mit westlicher Politik, die für sich gerne in Anspruch nimmt, ‚werteorientiert‘ zu handeln, im Nahen und Mittleren Osten aber vielfach verbrannte Erde hinterlassen hat. Die Akteure sind dabei in erster Linie die USA und Großbritannien. Spätestens seit 9/11 gehören aber auch die übrigen Mitgliedsstaaten der EU dazu, nicht zuletzt Deutschland.“

W

er außer Bernard Lown könnte eine Chronik des Konkurrenzkampfes zwischen Angioplastie und koronarer Bypass-Chirurgie schreiben wie einen spannenden Wirtschaftskrimi, in dem die Protagonisten vergessen, dass es um Patienten geht. Wer außer Bernard Lown könnte so über die „medizinische Überbehandlung als Normalfall“ schreiben, dass einem Hören und Sehen vergeht, nicht nur über die Zukunft der Humanmedizin, sondern auch über die Zukunft des Gesundheitswesens. Und was kann man erwarten, wenn Bernard Lown über den „Arzt als Wissenschaftler, Heiler, Zauberer, Unternehmer, Einzelhändler oder Fließbandarbeiter“ schreibt?: „Wenn die Märkte die Medizin beherrschen, ist der Patient lediglich ein Produkt. Jahrtausendealte und geheiligte hippokratische Traditionen werden damit aufgegeben.“ Man kann dieses Buch aufschlagen, wo man will, man wird sich sofort festlesen. Ich mache die Probe, lande auf Seite 137: „Medizinstudenten werden nicht über die Grenzen und Einschränkungen der Wissenschaft instruiert. Ihnen wird wenig beigebracht, wie für den sterbenden Patienten gesorgt werden kann. Der junge Arzt ist konditioniert, den Tod als ein Zeichen des Versagens anzusehen.“ Oder auf Seite 275: „Über das Auslösen einer Angina pectoris auf ein Stichwort hin war zuvor noch nie berichtet worden.“ Lown hat nicht nur eine unglaubliche Beobachtungsgabe, sondern er nimmt diese auch ernst, beginnt sofort zu forschen und kommt immer wieder zu dem gleichen Ergebnis: „Die Gesundheitsfürsorge ist zu einer riesigen Industrie geworden, ein Krankheitssystem, das von finanziellen Anreizen bestimmt wird.“ Lown aber stellt sich bedingungslos auf die Seite der Kranken und macht jedem Leser nachhaltig klar, dass nur der ein Arzt sein kann, für den die Medizin eine Berufung ist und keine Geschäftsangelegenheit.

Er erklärt die Konflikte der Gegenwart, wie den Atomkonflikt mit dem Iran, den Krieg in Syrien und den Vormarsch des selbsternannten „Islamischen Staates“ aus der Einflussnahme der westlichen Politik seit Ende des zweiten Weltkriegs. Angefangen mit dem von CIA und MI6 eingefädelten Sturz des demokratischen Ministerpräsidenten Mossadegh im Jahr 1953, spannt er den Bogen über den Irakkrieg von 2003 bis hin zur Unterstützung angeblich gemäßigter Rebellen im Kampf gegen den syrischen Machthaber Baschar al-Assad. Er fragt auch nach Lehren, die sich ziehen lassen, Konstanten der Geschichte: „Zunächst einmal sticht die große Kluft hervor zwischen dem Freiheitsversprechen westlicher Demokratien und der breiten Blutspur, die sich durch den Orient zieht, als Ergebnis westlicher Militärinterventionen, wirtschaftlicher Strangulierung, der engen Zusammenarbeit noch mit übelsten Diktaturen, solange sie nur prowestlich sind.“ „Ein chinesisches Sprichwort sagt: Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“ Lüders plädiert für Windmühlen und fordert, die Welt nicht mehr in die und wir zu unterteilen. „Die Bruchlinien verlaufen nicht zwischen Staaten, Religionen oder Ideologien. Sondern dort, wo es um die Verteilung von Macht und Ressourcen geht. Einen Kampf der Kulturen gibt es nicht. Wohl aber einen Kampf um die Fleischtöpfe.“

Bernard Lown ist in diesem Jahr 94 Jahre alt geworden. Mit seiner 35-jährigen Enkelin Melanie Lown kommt er in diesem Buch in einen tiefen Dialog und stellt sich all ihren Fragen. Das Buch wird so zu einer unerschöpflichen Quelle der medizinischen Erfahrung, der Lebensweisheit und der politischen Kampfeslust.

Ächten wir Antisemitismus und Islamhass. Zeigen wir Härte denen gegenüber, die unsere Freiheit missbrauchen. Dazu gehören vor allem auch diejenigen, die Wind säen und Sturm ernten, nicht allein im Orient. Michael Lüders: Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet. C.H. Beck 2015, 175 S., 14,95 €, ISBN 978-3-406-67749-6 Sabine Farrouh

Bernard Lown: Heilkunst. Mut zur Menschlichkeit, Schattauer Verlag 2015, 320 S., 24,99 €, ISBN: 978-3-7945-3125-7 Bernd Hontschik 32


GEDRUCKT

TERMINE

Krieg um Energie Energieressourcen als Kriegsursache Rohstoffe und vor allem Energieressourcen sind schon immer ein wichtiger Auslöser, Katalysator und aufrechterhaltender Faktor von Kriegen gewesen. Viele Staaten streben mehr Energie-Autonomie an, um ihre Abhängigkeit von externen Energielieferanten zu verringern. Die Folge sind Konflikte und Kriege, um gezielt Einfluss auf die Energiepolitik der betreffenden Länder zu nehmen. Flyer DIN lang. Redaktion: Dr. Winfrid Eisenberg, Henrik Paulitz, Dr. Alex Rosen. Zu bestellen unter shop.ippnw.de

Amatom 28

FEBRUAR 11.–14.2. Münchener Friedenskonferenz und Demonstration 12.-14.02. Münchner Sicherheitskonferenz (SiKo) 19.-20.2 Strategiekonferenz der Kooperation für den Frieden, Leipzig 26.-28.2. Internationaler Kongress: 5 Jahre Fukushima, 30 Jahre Tschernobyl, Urania Berlin. Infos unter: www.tschernobylkongress.de

MÄRZ März-April Hibakusha Weltweit: Ausstellung in Fürth

Grenzerfahrungen: No Borders, no Cry?!

11.3. 5. Jahrestag der Atomkatastrophe in Fukushima

Der Amatom ist das IPPNW-Magazin von und für kritische Medizinstudierende. Themen dieser Ausgabe sind: Versorgung von Flüchtlingen – Ukraine-Krise – Solidarische Gesundheitsarbeit in Thessaloniki – Global Health Summer School – Transkulturelle Psychiatrie – und viele mehr. 36 Seiten A4, Stückpreis 1,- Euro. Anzuschauen ist das Heft unter: issuu.com/ippnw Zu bestellen im Shop: shop.ippnw.de

24.-27.3. Ostermärsche 26.3. Beginn der Dauerpräsenz und Aktionen vor den Toren des Atomwaffenlagers Büchel. Mehr Infos: http://buechel-atomwaffenfrei.de

APRIL

GEPLANT Das nächste Heft erscheint im März 2016. Das Schwerpunktthema ist:

5 Jahre Fukushima – 30 Jahre Tschernobyl

18.4.-6.5. Hibakusha Weltweit: Ausstellung in Rottweil 26.4. 30. Jahrestag der Atomkatastrophe in Tschernobyl

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 145/März 2016 ist der 30. Januar 2016. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Redaktionsschluss für das nächste Heft:

Wilmen, Regine Ratke

31. Januar 2016

Freie Mitarbeit: Samira Seidler

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

Regine Ratke; Druck: Oktoberdruck Berlin;

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80

Papier: Recystar Polar, Recycling & FSC.

74-0, Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@

Bildnachweise: S. 6 Mitte: WMA / CC BY-SA 3.0;

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34: Strelka Institute for Media, Architecture and

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Design / CC BY 2.0; nicht gekennzeichnete: privat

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oder IPPNW.

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Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Be-

Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Vormerk en

!

OKTOBER 14.–15.10.2016 Internationaler Kongress „Medizin & Gewissen“ in Nürnberg www.medizinundgewissen.de

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti33


G EFRAGT

6 Fragen an … Saskia Sassen

US-amerikanische Wirtschaftssoziologin und Autorin des Buches „Ausgrenzungen“

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Frau Sassen, die Bilder von Menschen an Grenzzäunen und in Flüchtlingslagern in Europa wirken wie eine plakative Bestätigung Ihres neuen Buchtitels „Ausgrenzungen“. Ja, das dachte ich auch schon. Tatsächlich haben wir es mit einer Migrationsdynamik zu tun, die schon vor Jahren eingesetzt hat. Aber erst jetzt vermitteln uns diese Bilder mit voller Wucht, was rund um den Globus vor sich geht. Erst jetzt scheint der befriedete und wohlhabende Teil der Welt aufzuwachen. Und wir erleben, wie unvorbereitet die Regierungen darauf reagieren. Noch immer wird nur zögerlich darüber gesprochen, dass viele Länder, die als Sehnsuchtsorte nun diesen Andrang erleben, den Fluchtdruck mitproduziert haben.

Und diejenigen, die aus ökonomischen Gründen fliehen? Wer Wirtschaftsflüchtling genannt wird, führt ebenfalls einen harten Kampf um seine Existenz. Der Zugang zu einer Scholle Land oder zu einer Behausung in einer Stadt, in der man eine Arbeit finden kann, ist von jeher eine Grundvoraussetzung dafür, dass man ein selbstverantwortliches Leben führen kann. Für viele Menschen ist dieser Zugang mittlerweile versperrt. Nicht nur in ihren Herunftsländern, sondern auch dort, wo sie sich eine Zukunft erhoffen...

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Was genau meinen Sie damit? Die wohlhabenden, sicheren Regionen haben die Länder, aus denen die Menschen fliehen, jahrzehntelang ausgebeutet oder mit Waffen versorgt. Auch die USA und Saudi-Arabien sind maßgeblich daran beteiligt. Europa ist die Region, die ideell am engsten mit dem verbunden ist, was wir „humanitäre Prinzipien“ nennen. Darum ist der Schock dort so groß. Was dort jetzt alles nicht funktioniert, verweist auf die Herausforderungen, denen sich alle entwickelten Länder stellen müssen. Die alten Herangehensweisen an Migrationsfragen taugen nicht mehr, nirgendwo.

Können Sie das etwas erläutern? Eines der großen Probleme heute ist das Landgrabbing, der staatlich geduldete oder subventionierte Landraub. Konzerne verleiben sich ganze Landstriche ein, zerstören die Umwelt, die ansässige Landwirtschaft, das Kleingewerbe der Bevölkerung. Sie zerschlagen die regionale und letztlich auch die nationale Ökonomie. Weltweit breitet sich etwa der Bergbau massiv aus. Grundwasser wird in großem Stil vergiftet. Zurück bleibt Brachland. Und Menschen, die ihre Existenzgrundlage verloren haben. Zugespitzt könnte man sagen: Der Privatisierungsgrad der Welt ist so hoch wie nie zuvor. Es existiert praktisch nirgendwo mehr freies Land, kein Gemeinwesen, dem man sich ohne Weiteres anschließen könnte. Die Zahl derjenigen, die draußen bleiben müssen, steigt.

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Die politische Rhetorik in Deutschland dieser Tage prägt die Unterscheidung von Kriegsflüchtlinge auf der einen Seite und den sogenannte Wirtschaftsfüchtlingen auf der anderen Seite. Da wird moralisch argumentiert – wer es „verdient“ hat, eingelassen zu werden, und wer weiter ausgegrenzt bleiben soll. Beide Gruppen werden auf absehbare Zeit weiter unterwegs bleiben. Die Menschen, die derzeit etwa Syrien oder Somalia verlassen, gehören meist der Mittelklasse an, viele hatten ein gutes Leben. Sie versuchen schlicht, ihr Leben zu retten. Weltweit gibt es viele Kriegszonen, sie sind alle regional begrenzt – und es werden nicht weniger werden. Wir brauchen nicht, wie nach dem Zweiten Weltkrieg, auf einen generellen Waffenstillstand zu hoffen, der von Großmächten an einem Konferenztisch offiziell vereinbart und unterschrieben wird, verstehen Sie?

In Ihrem Buch bezeichnen Sie den alles prägenden Metatrend als „brutales Aussortieren“. Die Gegenwart ist ein gewaltiger Outsourcing-Prozess. Menschen, die versuchen, im Niedriglohnsektor ihr Geld zu verdienen, als sogenannte Billigarbeitskräfte. Arbeitslose, die keinen Zugang mehr haben zu den Versicherungssystemen, die einst von Unternehmen mitgetragen wurden, und die irgendwann auch aus den staatlichen Sozial- und Vorsorgesystemen fallen. Menschen mit niedrigerem Bildungsgrad, die als verzichtbar betrachtet werden. All diese werden zu Fremden im System, sie spielen nicht mehr richtig mit. Und der Neoliberalisms unternimmt nicht einmal mehr einen ernsthaften Versuch, diese Menschen auf irgendeine Art zu integrieren. Die Fragen stellte Katja Kullman im „Freitag“ vom 16. Oktober 2015. Die ausführlichere Originalfassung des Artikels „Es wird für alle enger“ finden Sie unter: http://shuu.de/twR 34


ANZEIGEN

„Worte sind das mächtigste Hilfsmittel, das ein Arzt besitzt.“ Bernard Lown: Heilkunst. Mut zur Menschlichkeit Der Friedensnobelpreisträger und IPPNW-Gründer Bernard Lown ist einer der bedeutendsten Ärzte unserer Zeit. Er beleuchtet die unermessliche Bedeutung der Arzt-PatientInBeziehung – die „Droge Arzt“ als bestes Heilmittel der Welt – und zeigt, wie man die Zeit mit Patienten nutzbringender verwendet, als gleich mit Apparate-Tests zu beginnen. Im Dialog mit seiner Enkelin Melanie stellt er sich auch den Fragen der jüngeren Patienten- und Ärztegeneration. Herausgegeben von Wulf Bertram Schattauer Verlag 2015, 320 Seiten, kartoniert € 24,99 – ISBN 978-3-7945-3125-7 Im IPPNW-Shop zu bestellen unter: kurzlink.de/Heilkunst

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Foto Original: Rasande Tyskar, creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/


Jahre Tschernobyl

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05

Jahre Fukushima

Internationaler IPPNW-Kongress

5 Jahre Leben mit Fukushima 30 Jahre Leben mit Tschernobyl Aktuelle Bilanz der Folgen für Umwelt und Gesundheit Nukleare Kette – Vom Uranabbau zum Atommüll Herausforderung: Energiewende

Berlin, Urania 26. bis 28. Februar 2016

www.tschernobylkongress.de

Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung für die Verhütung des Atomkrieges, des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. ausgezeichnet mit

ausgezeichnet mit Unesco Friedenspreis 1984 und Friedensnobelpreis 1985


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