IPPNW forum 146/2016 – Die Zeitschrift der IPPNW

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ippnw forum

das magazin der ippnw nr146 juni2016 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

Foto: © Erik Marquardt

- Atomanlagen in Lingen stoppen - Ziviler Ungehorsam gegen die Atomwaffenstationierung in Büchel - IPPNW-Delegationsreise in die Südost-Türkei

Flucht und Krieg: Fluchtursachen mit Friedenslogik begegnen


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EDITORIAL Jens-Peter Steffen ist Friedensreferent der deutschen IPPNW und leitet zusammen mit Xanthe Hall die Geschäftsstelle.

W © lucidwaters www.fotosearch.de

elche Gründe haben Menschen, aus ihrer Heimat zu fliehen? Maßgeblich sind Armut, Krieg und zunehmend der menschengemachte Klimawandel, so der Wirtschaftswissenschaftler Konrad Schuhler. Die vier Hauptherkunftsländer der Flüchtlinge – Syrien, Irak, Sudan und Afghanistan – sind unter den Schlusslichtern des Human Development Index der UN. Die Kosten für die Integration von Flüchtlingen müsse die westliche Staatengemeinschaft als Verursacher des Elends tragen, so Schuhler. Wie eine Umverteilung von Kosten eine solidarische Flüchtlingspolitik ermöglichen könnte, legt Schuhler anschaulich dar. „Wer Teil des Problems ist, kann auch Teil der Lösung werden“: Prof Dr. Hanne-Margret Birckenbach beleuchtet die Hintergründe der ungerechten Verteilung von Ressourcen und der europäischen Abschottungspolitik. Die Friedens- und Konfliktforscherin von der Justus-Liebig-Universität Gießen diskutierte am 20. Mai 2016 mit den TeilnehmerInnen des IPPNW-Jahrestreffens in Mönchengladbach über dieses Thema. Menschen ohne Versichertenkarte haben in Deutschland erschwerten Zugang zu medizinischer Versorgung: Die IPPNW-Mitglieder Prof. Dr. Helfried Gröbe und Katharina Thilke berichten über ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der Erstaufnahme von Geflüchteten – welche Hürden der Behandlung entgegenstehen und wie wichtig die Kommunikation insbesondere mit den Eltern junger PatientInnen ist. Die Bilder zu diesem Schwerpunkt stammen von dem Fotojournalisten und Politiker Erik Marquardt, der als Helfer aktiv ist und seit 2015 mehrfach Flüchtlinge auf dem Balkan begleitet hat. Seine Fotos sind Zeugnisse der Hoffnung und der Widerstandskraft der Menschen, die in den Hotspots eingesperrt sind, die in offiziellen und inoffiziellen Flüchtlingslagern – auf Lesbos, an der mazedonischen Grenze oder anderswo – festsitzen. Ihr Jens-Peter Steffen 3


INHALT Delegationsreise Türkei/Kurdistan: Jedes einzelne Menschenrecht wird verletzt

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THEMEN IPPNW-Delegationsreise in die Südost-Türkei: Jedes einzelne Menschenrecht wird verletzt........................................8 Den Krieg überwinden: Das Western-Balkan-Treffen....................10 Atomanlagen in Lingen stoppen............................................................... 12 Der IPPNW-Atomkongress in Berlin........................................................14 Fossil Free Health: Gesundheitsfaktor Klima....................................16 Warum ziviler Ungehorsam gegen Atomwaffen immer noch notwendig ist........................................................................................... 18

SERIE Atomanlagen in Lingen stoppen: Den Druck auf die Politik verstärken!

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Die Nukleare Kette: Uranbergbau in Mounana (Gabun)............17

SCHWERPUNKT Ein Funken Hoffnung...................................................................................... 20 Wie wir es schaffen können, die „Flüchtlingskrise“ humanistisch und solidarisch zu meistern......................................... 22 Nachdenken über Sicherheit und Frieden...........................................24 Sprechstunde für Flüchtlingskinder in einer Erstaufnahmestelle........................................................................................... 26

Foto: aaa-west

Die Ambulanz an der Drehscheibe Köln-Bonn................................ 28

WELT Ehrenamtliche Flüchtlingshilfe: Die Ambulanz an der Drehscheibe Köln-Bonn

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Der Status quo ist nicht akzeptabel: Die Mehrheit der Staaten will ein Atomwaffenverbot................................................. 30

RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31 Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


MEINUNG

Helmut Lohrer ist International Councillor der deutschen IPPNW.

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Kleinwaffen sind Massenvernichtungswaffen. Die überwiegende Zahl menschlicher Opfer infolge von Gewalt und Krieg geht auf den Einsatz dieser leicht zu bedienenden und transportablen Waffen zurück.

eutschland ist einer der wichtigsten Produzenten und Exporteure von Kleinwaffen. Exportiert wird auch in Staaten, in denen Menschenrechte missachtet werden. Die an sich strengen Exportrichtlinien haben Deutschland beispielsweise nicht daran gehindert, eine komplette Fabrik zur Produktion von G36-Sturmgewehren an Saudi-Arabien zu verkaufen. Wenn die Richtlinien es dann gar nicht erlauben, wird ein Geschäft schon mal illegal abgewickelt, anscheinend auch mit Unterstützung aus Berliner Ministerien. So jedenfalls ist es in dem Buch „Netzwerk des Todes“ nachzulesen, das Jürgen Grässlin, Daniel Harrich und Danuta Harrich-Zandberg im September 2015 veröffentlicht haben. Die darin abgedruckten Dokumente legen nahe, dass Ministerialbeamte einen illegalen Verkauf von Heckler-und-Koch-Sturmgewehren nach Mexiko erst möglich gemacht haben. Die Papiere liegen auch der Staatsanwaltschaft in Stuttgart vor. Die gleiche Staatsanwalt hat über fünf Jahre gebraucht, um nach einer Anzeige von Jürgen Grässlin gegen die Verantwortlichen des Rüstungskonzerns Anklage zu erheben. Die Ermittlungen gegen die Ministerialbeamten werden nicht weiter verfolgt, die Staatsanwaltschaft sieht „keinen Anfangsverdacht“. Das festzustellen hat so lange gedauert, dass die Taten nun ohnehin verjährt wären. Jetzt wird stattdessen staatsanwaltlich gegen die Autoren ermittelt, weil die veröffentlichten Dokumente der Geheimhaltung unterlegen hätten. In einem demokratischen Rechtsstaat würden wir erwarten, dass die Aufdeckung illegaler Umtriebe begrüßt wird. Umso mehr, wenn der Verdacht besteht, dass staatliche Stellen daran beteiligt sind. Jürgen Grässlin, Daniel Harrich und Danuta Harrich-Zandberg gebührt aus unserer Sicht hierfür Anerkennung. Die deutsche IPPNW-Sektion solidarisiert sich mit den Autoren, die mutig genug waren, die Umstände dieser illegalen Waffenverkäufe offenzulegen. Wir fordern, die Ermittlungen einzustellen und stattdessen zu prüfen, ob nicht – angesichts unzureichender Ermittlungen gegen mutmaßlich beteiligte Beamte – der Vorwurf der Strafvereitelung im Amt und der Rechtsbeugung seitens der Staatsanwaltschaft zu erheben wäre. 5


N ACHRICHTEN

Ausstieg aus der Atomenergie in Europa vorantreiben

Asylpaket II: Resolution der ÄK Hessen

Medizin gegen den Kalten Krieg: Geschichte der IPPNW

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rztinnen und Ärzte der IPPNW haben im Rahmen ihres Jahrestreffens in Mönchengladbach im Mai 2016 den Plänen der EU-Kommission zur Förderung der Atomenergie eine klare Absage erteilt. Stattdessen sollte die Energiewende hin zu 100% Erneuerbaren Energien in Bürgerhand gefördert werden. Die Ärzteorganisation hat die deutsche Bundesregierung aufgerufen, sich für den Ausstieg aus der Atomenergie in Europa und die sofortige Abschaltung der Atomkraftwerke in Doel und Tihange einzusetzen. Sie unterstützt die Städteregion Aachen sowie NordrheinWestfalen und Rheinland-Pfalz in ihren Klagen gegen den Weiterbetrieb der beiden Atomanlagen. Die Atomreaktoren in Doel und Tihange werden trotz zahlreicher Zwischenfälle und konkreter Terrorgefahr weiter betrieben. Sie stellen damit täglich eine reale Gefahr für die rund drei Millionen Menschen dar, die in der unmittelbaren Umgebung der beiden Kraftwerksblöcke leben, sowie für die rund 46 Millionen Menschen in der gesamten Region, die im Fall einer Kernschmelze durch radioaktiven Niederschlag verstrahlt würde. Neben dem Ausfall der Kühlsysteme durch Naturkatastrophen, technische Defekte oder menschliches Versagen sind auch Sabotageakte, Terroranschläge oder Cyberangriffe konkrete Gefahrenquellen. In den Reaktordruckbehältern von Doel 3 und Tihange 2 wurden zudem tausende Risse nachgewiesen.

m Mai 2016 verabschiedete die Landesärztekammer Hessen eine Resolution zum sogenannten Asylpaket II, in der sie Besorgnis angesichts der dort festgelegten erleichterten und beschleunigten Abschiebung von kranken Geflüchteten äußert. Nach der Gesetzesnovelle stellen nur noch lebensbedrohliche oder sehr schwere Erkrankungen ein „Abschiebehindernis“ dar. Das sei mit dem ärztlichen Selbstverständnis sei schwer vereinbar. Der Verweis auf mögliche Behandlungsmöglichkeiten in einem Herkunftsland gehe häufig an der tatsächlichen Versorgungsrealität für die betroffenen Menschen vorbei. Somit sei damit zu rechnen, dass viele der Patientinnen und Patienten nach der Abschiebung aus ärztlicher Sicht nicht adäquat behandelt würden. Die Landesärztekammer kritisiert, dass Menschen mit psychischen Störungen – vor allem mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) – beschleunigt abgeschoben werden können, obwohl es sich hier um schwerwiegende Erkrankungen handelt. Gerade für traumatisierte Menschen sei die Herstellung äußerer Sicherheit notwendig, um Retraumatisierungen und chronische Beschwerden zu vermeiden. Zur Feststellung insbesondere psychischer Erkrankungen brauche man ausreichend Zeit. Nur qualifizierte ÄrztInnen könnten entscheiden, wie schwerwiegend eine somatische oder psychische Erkrankung sei. Die Resolution finden Sie unter: kurzlink.de/resolution 6

ie Friedensbewegung war eines der markantesten sozialen Phänomene der frühen 1980er Jahre, das sehr unterschiedliche Gruppen und Motive miteinander verband. Die Wissenschafterin Claudia Kemper vom Hamburger Institut für Sozialforschung widmet sich in ihrem neuen Buch „Medizin gegen den Kalten Krieg, Ärzte in der anti-atomaren Friedensbewegung der 1980er Jahre“ der Geschichte der IPPNW. Dabei erhalten die Leser Hintergrundinformationen über politische Entwicklungen der 1980er Jahre in der Bundesrepublik, in Europa und in den USA. Über sozialhistorische Aspekte des Ärzteberufs, politische Konfliktkultur, Organisationsgeschichte bis zur Wissensgeschichte reichen die Kontexte, in denen die Autorin untersucht, unter welchen Bedingungen Protest und Debatten stattfanden. Daraus ergeben sich weiterführende Erkenntnisse über das Denken im und über den Kalten Krieg, aber auch auch zur Gesellschaftsgeschichte der jüngeren Zeit. Ende April stellte die Autorin ihr Buch im Berliner Willy-Brandt-Forum vor. Anschließend gab es eine Podiumsdiskussion mit IPPNW-Gründungsmitglied Dr. Barbara Hövener zu den Anfängen des Vereins. Die IPPNW hatte das Hamburger Institut für Sozialforschung mit der Archivierung ihrer Akten beauftragt. „Medizin gegen den Kalten Krieg. Ärzte in der anti-atomaren Friedensbewegung der 1980er Jahre“, 42,00 €, erschienen 2016 im Wallstein Verlag, ISBN 978-38353-1812-0


N ACHRICHTEN

Studie zur medizinischen Versorgung von Kindern ohne Papiere

Preis „Courage beim Atomausstieg“ ging an Naoto Kan

Protest während der RheinmetallHauptversammlung

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ine adäquate medizinische Versorgung von Kindern und Jugendlichen ohne Aufenthaltsstatus in Deutschland findet nicht statt. Selbst ihre Behandlung im akuten Krankheitsfall ist derzeit nicht gewährleistet. Vielmehr ist der Zugang zu medizinischer Behandlung für Kinder und Jugendliche ohne Aufenthaltsstatus abhängig von ehrenamtlichem Engagement und Spendengeldern. Das durch zahlreiche Hilfseinrichtungen deutschlandweit geschaffene alternative Versorgungsangebot kann den vorhandenen Bedarf aber insbesondere im akuten Krankheitsfall nicht abdecken. Das ist das Ergebnis der Studie „Der Zugang von Kindern ohne Papiere zu medizinischer Versorgung“ von Wiebke Bornschlegl, deren Veröffentlichung die IPPNW unterstützt hat. „Die lobenswerte und wichtige Arbeit der Hilfsorganisationen stellt keinen adäquaten Ersatz der originär staatlichen Aufgabe medizinischer Versorgung von Kindern und Jugendlichen ohne Papiere dar“, kritisiert Dr. Alex Rosen (IPPNW). Die IPPNW fordert die Bundesregierung auf, ihnen kostenlosen, niedrigschwelligen und diskriminierungsfreien Zugang zu medizinischer Versorgung zu gewährleisten, zum Beispiel durch einen anonymen Krankenschein oder die anonyme Chipkarte. Gewährleistet werden müssten sowohl Impfungen als auch U-Untersuchungen und weitere Präventionsmaßnahmen sowie die Behandlung chronischer Erkrankungen. Die Studie finden Sie unter: kurzlink.de/Kinder_ohne_Papiere

aoto Kan, ehemaliger japanischer Premierminister, hat den mit 10.000 Euro dotierten Preis für „Courage beim Atomausstieg“ erhalten, der von den Elektrizitätswerken Schönau (EWS) gestiftet wird. Der Preis wurde in Kooperation mit der Stadt Frankfurt, der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau und der Vereinigung von Juristen gegen Atomwaffen (IALANA) verliehen. In seiner Dankesrede erzählte der japanische ExPremierminister, dass er während des Super-GAUs in Fukushima von Nuklearexperten ein Worst-Case-Szenario erhalten habe. Im schlimmsten Fall hätten insgesamt 50 Millionen Menschen in einem Umkreis von 250 Kilometer evakuiert werden müssen. Laut Kan wäre Japan damit der Gefahr des Untergangs ausgesetzt gewesen. Die Situation hätte den Zerstörungen eines großen Kriegs geglichen. In seinem Buch schrieb Kan, es sei nicht so weit gekommen – dank des unermüdlichen Einsatzes der MitarbeiterInnen vor Ort, der Feuerwehrleute, aber auch mit Glück und durch die Hilfe der Götter. Seitdem engagiert er sich für den Atomausstieg. Naoto Kan will das Preisgeld investieren, um in Japan nach dem Vorbild von EWS Stromlieferanten zu gründen, die ausschließlich Strom aus erneuerbaren Energien anbieten. „Mit neuem Mut, den ich durch den Preis bekommen habe, werde ich mit vielen Mitstreitern eine japanische EWS gründen. Ich verspreche, mich persönlich mit ganzer Kraft für Null Prozent Atomkraft einzusetzen,“ erklärte er.

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riedensbewegung, Kritische Aktionäre sowie VertreterInnen von der Fraktion „Die Linke“ und „Bündnis 90 / Die Grünen“ protestierten während der Rheinmetall-Hauptversammlung Anfang Mai in Berlin gegen deren Rüstungsexportstrategie. Organisiert hatte die Kundgebung das Berliner Bündnis „Legt den Leo an die Kette“. Die Dividende für die Aktionäre des Konzerns erhöhte sich in diesem Jahr fast um das Vierfache. Europas größter Heeresausrüster setzte 2015 mit Kanonen, Munition, Elektronik, gepanzerten Fahrzeugen und Ausrüstungen 2,6 Milliarden Euro um. Um weltweit Aufträge zu erhalten, hat Rheinmetall geschmiert. Bußgelder in Höhe von 37,1 Millionen Euro wegen unerlaubter Zahlungen an Griechenland wurden bereits fällig. Weitere Verfahren in Indien und Griechenland laufen noch. Die Generalsekretärin von Pax Christi, Christine Hoffmann, kritisierte: „Der Vorstandsvorsitzende der Rheinmetall AG, Armin Papperger, verdient sich mit Rüstungsexporten eine Goldene Nase – damit ist er ein Profiteur des Todes“. Für die IPPNW sprach der stellvertretende Vorsitzende Dr. Alex Rosen über den Krieg im Jemen: „Wie kann es sein, dass eine Firma, die ihren Sitz in Deutschland hat und von unserer Infrastruktur profitiert, Bomben produziert, die auf Wohngebiete abgeworfen werden und die Menschen in die Flucht treiben?“


FRIEDEN

CIZRE: KINDER SPIELEN IN DEN TRÜMMERN DER HÄUSER.

Jedes einzelne Menschenrecht wird verletzt IPPNW-Delegationsreise in die Südost-Türkei vom 13. bis 25. März 2016

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rotz aller Sicherheitsbedenken hat sich auch in diesem Jahr eine Gruppe von acht Personen als Delegation der IPPNW auf den Weg in den Südosten der Türkei gemacht. Erstmals mit dabei war Clemens Ronnefeldt, der friedenspolitische Referent des Versöhnungsbundes.

für richtig und notwendig gehalten. Leider ist zu befürchten, dass sich bei der PKK und ihren kurdischen Unterstützern die Hardliner durchsetzen und sie so spätestens mit Beginn des Frühlings ihrem Ruf gerecht werden. Mehrere unserer GesprächspartnerInnen kritisieren, dass die jugendlichen Barrikadenbauer mit ihrem bewaffneten Widerstand dem Präsidenten erst den Vorwand für seinen Angriff auf die Zivilbevölkerung in den Städten geliefert hätten.

Unsere Reise begann diesmal in Ankara, wo wir mit Parlamentariern, Menschenrechtlern, dem angeklagten Journalisten Erdem Gül und einem Vertreter der Deutschen Botschaft sprachen. Als wir in Ankara landeten, hatte es gerade einen Bombenanschlag im Zentrum gegeben. Wir flogen dann nach Diyarbakir, in den kurdisch geprägten Südosten. Weitere Stationen waren Mardin, Cizre und Viransehir. Viele Orte und Straßen entlang der syrischen Grenze waren vom Militär gesperrt.

Die dabei ausgeübte Gewalt durch Spezialeinheiten, Polizei und Militär ist allerdings völlig unverhältnismäßig. Gegen etwa 200 bewaffnete Aufständische stehen 15.000 bis 20.000 Soldaten (z.B. in Yüksekova). Mit schwerer Artillerie beschießen sie die betroffenen Stadtviertel und zerstören anschließend Haus für Haus. Was als „Ausgangssperre“ bezeichnet wird, ist Besatzung und Vernichtung. Wasser und Strom werden abgeschaltet, Verletzte werden nicht geborgen und versorgt, Tote bleiben tagelang in den Straßen liegen oder werden in sozialen Medien öffentlich zur Schau gestellt. Einer unserer Gesprächspartner formulierte es so: „Hier wird jedes einzelne Menschenrecht verletzt“.

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ie Reise stand ganz im Zeichen des Krieges, der hier mit vorher nicht vorstellbarer Grausamkeit gegen die kurdische Bevölkerung geführt wird. Über soziale Medien erreichen uns auch in Deutschland Bilder und Berichte über die Zerstörungen in kurdischen Städten, es gibt sogar ein paar gute Fernsehdokumentationen. Trotzdem ist über den Bürgerkrieg zwischen Kurden und Türken wenig bekannt. Die PKK gilt den meisten als Terrororganisation und ihre Bekämpfung wird im Rahmen des internationalen „Krieges gegen den Terror“

IM GESPRÄCH MIT METIN BAKKALCI VON DER MENSCHENRECHTSSTIFTUNG TIHV IN ANKARA. 8

Fassungslos standen wir in den Trümmern von Cizre, in denen Menschen mit versteinerten Gesichtern nach den spärlichen Resten ihrer Habe


MARDIN: SCHÖNE NEUE WELT DER HOCHAUSVIERTEL

„Viele Kurden sehen sich in einem Vernichtungskrieg. Etwa 400.000 Menschen haben schon ihre Wohnungen verlassen oder verloren.“ suchten. Am Tag unserer Abreise erfuhren wir durch die Medien, dass in der zerstörten Altstadt Sur von Diyarbakir 6.000 Parzellen von der Regierung beschlagnahmt wurden. Präsident Recep Tayyip Erdogan und der Ministerpräsident haben angekündigt, die kurdischen Städte nach der „Säuberung“ schnell und modern wieder aufzubauen. Uns schaudert bei dem Gedanken an die neuen Hochhausviertel am Rande der Städte Mardin und Diyarbakir, die mit kurdischer Tradition und Lebensweise so gar nicht vereinbar sind. Die kurdischen Bürger haben Angst, dass in ihren Städten vermehrt sunnitische, arabische Flüchtlinge aus Syrien angesiedelt und so eine demografische Verschiebung zugunsten der Regierungspartei AKP erreicht werden soll.

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iele Kurden sehen sich in einem Vernichtungskrieg. Etwa 400.000 Menschen haben schon ihre Wohnungen verlassen oder verloren. Viele wollen nur noch weg aus der Region, da sie keine Hoffnung auf ein Leben in Frieden mehr haben. Hier könnte sich eine neue Fluchtwelle nach Europa ankündigen. Europas PolitikerInnen verschließen die Augen vor dem Krieg, der hier stattfindet. Ihre Komplizenschaft mit dem „Psychopathen

von Ankara“, wie eine Gesprächspartnerin den Präsidenten nennt, wird von den Menschen mit Bitterkeit kommentiert. Insbesondere die Wahlhilfe für Erdogan durch den Besuch von Angela Merkel im Wahlkampf stößt auf heftige Kritik. Die meisten Menschen, die wir treffen, sind überzeugt, dass Erdogan sie und die ganze Türkei ins Verderben führen wird. Er habe sich alle Nachbarn zu Feinden gemacht, er habe das Präsidialsystem, das er politisch nicht durchsetzen konnte, einfach eingeführt und schere sich den Teufel um bestehende Gesetze: „Erdogan ist das Gesetz und die AKP ist der Staat.“

Angesichts des großen Elends der vertriebenen Zivilisten übergaben wir die mitgebrachten Spenden an den Hilfsverein „Bati (Rojava) Yardimlasma ve Dayanisma Dernegi“. Zusammen mit den Stadtverwaltungen wollen die Vereinsmitglieder PatInnen für die Familien suchen, die alles verloren haben – um eine Familie jeweils für eine bestimmte Zeit mit einem monatlichen Beitrag unterstützen und damit auch persönliche Kontakte knüpfen können. Spenden an den Hilfs- und Solidaritätsverein bitte adressieren an: „Bati Yardimlasma ve Danisma Dernegi“, Ziraat Bankasi Ofis/Diyarbakir Subesi, IBAN: TR19 0001 0011 5070 4108 9850 03 Den ausführlichen Türkei-/KurdistanReisebericht erhalten Sie in Kürze über die IPPNW-Geschäftsstelle, im Internet finden Sie ihn unter: www.kurzlink.de / tuerkei_2016

Die Polarisierung der Gesellschaft ist so weit fortgeschritten, dass niemand einen Ausweg erkennen kann. Selbst ein erfahrener Politiker wie Ahmet Türk, der schon viele Höhen und noch mehr Tiefen erlebt Dr. Gisela Penteker hat, wirkt ratlos und verzweifelt. Ohne den leitet die Türkeiauf der Gefängnisinsel Imrali isolierten AbKurdistan-Delegationsreise der dullah Öcalan und ohne eine Vermittlung IPPNW. Sie ist durch eine integre Person oder Gruppe Koordinatorin des von außen, die sowohl das Vertrauen der AK Flucht & Asyl und TürkeiMenschen in der Türkei als auch der USA beauftragte der und Europas genießt, sieht er sein Land in deutschen IPPNW. Blut und Chaos versinken. 9


FRIEDEN

Den Krieg überwinden MedizinerInnen aus ganz Europa trafen sich vom 6.-8. Mai 2016 auf dem Western-Balkan-Treffen in Belgrad

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er Balkan-Krieg ist nun schon seit über 20 Jahren beendet, aber wie kann man den Frieden gewinnen? Diese Frage treibt uns IPPNW-Mitglieder, insbesondere aus unserer Würzburger Regionalgruppe, regelmäßig um und hat vor über 20 Jahren zur Gründung des Projektes „Brücken der Verständigung“ geführt. Wir wollten und wollen Brücken bauen, denn, wie Dr. Renate Geiser (Würzburg) zur Eröffnung des Treffens vor etwa 50 TeilnehmerInnen aus Deutschland, Serbien, Kosovo, Mazedonien, Bosnien und Kroatien betonte: Der Krieg muss als Mittel der Konfliktlösung überwunden werden. Jedes Frühjahr treffen sich AktivistInnen der verschiedenen BalkanProjekte der IPPNW in einer der Balkan-Metropolen: Nach dem Treffen 2015 in Sarajevo hatte in diesem Jahr ein Team um die beiden Medizinstudenten Goran Mitrovic und Ljubica Bakic die Organisation des Treffens in der lebhaften Zwei-Millionen-Metropole Belgrad in die Hand genommen. Mit Erfolg, denn diesmal fand nicht nur das traditionelle Balkan-Meeting statt, sondern auch das Europäische Treffen der IPPNW-Studierenden und das des Serbischen Studentenverbandes SUMC. Es war damit das bislang größte und bestbesuchte Treffen.

liche Wiedersehen mit Studierenden, die in den vergangenen Jahren am Würzburger Projekt teilgenommen haben. Schmunzelnd mussten wir feststellen, dass aus den „Studenten der ersten Generation“ etablierte ÄrztInnen mit grauen Haaren geworden waren, was uns natürlich nicht davon abhielt, unsere große Freude über das herzliche Wiedersehen zu zelebrieren. Über 20 Jahre ist ein feines Netz an Freundschaften über den ganzen Balkan gewachsen, unvergesslich und bereichernd. Aber sind nicht gerade die Bande der Freundschaft das richtige Gegenmittel gegen Hassbotschaften?

Migration als Leit-Thema Ein Jahr „Balkanroute“ hat seine Spuren hinterlassen, bei uns deutschen Mitgliedern genauso wie bei den Kolleginnen und Kollegen auf dem Balkan – „Migration“ wurde zum zentralen Thema. Sava Velesenovic vom Serbischen Roten Kreuz und Dr. Nevena Radovanovic von Ärzte ohne Grenzen schilderten die schwierige Versorgung der MigrantInnen auf ihrem Weg von der mazedonischen zur kroatischen Grenze. Ein spannender Workshop „Labels“ von Sava Velesenovic machte für jedeN TeilnehmerIn persönlich erfahrbar, wie schnell eine Stigmatisierung von MigrantInnen erfolgen kann und wie jedeR Einzelne die Stigmatisierung überwinden kann. Carlotta Conrad und Katharina Thilke stellten das Projekt „Medical Peace Work“ vor und motivierten insbesondere die jungen Kolleginnen und Kollegen der Balkanländer zum Mitmachen auf der Online-Plattform, um gewaltfreie Kommunikation im medizinischen Bereich einzuüben.

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elgrad „platzt“ förmlich vor Lebenshunger: Die Straßen der Metropole mit zahlreichen Cafés, Bars, Restaurants und Musikkneipen voller Menschen in Feierlaune, das gute Essen, das mediterrane Flair und das sonnige warme Wetter sorgten für ein Gefühl der Beschwingtheit, das durchaus im Kontrast zum Ernst der Konferenzthemen stand. Mit serbischem Stolz werden die 1999 durch NATO-Flugzeuge zerstörten Ministerialgebäude in ihrem Zustand belassen und für jedermann sichtbar inmitten einer boomenden Stadt „ausgestellt“. Und da war noch das herz10


Spätschäden von NATO-Munition werden aktuell Dr. Dragan Veljkovic informierte mit seinem Vortrag über abgereichertes Uran, denn im Rahmen der NATO-Einsätze wurden insgesamt mehrere Tonnen dieser panzerknackenden Munition eingesetzt – ein Teil des Urans wurde als radioaktiver Staub mit dem Wind insbesondere über Serbien und Bosnien verteilt, ein noch größerer Teil landete mit den Projektilen tief im Ackerboden und wird damit zum Risiko für die Lebensmittelproduktion. Mit einer Latenz von ca. sechs Jahren sorgte dies für einen ca. 50-prozentigen Anstieg von Leukämien und Lymphomen, mit einem Anstieg solider Tumoren ist nach ca. 15 Jahren Latenz, also jetzt zu rechnen, wie derzeitige Forschungen belegen. Viele Jahre nach Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen werden die Folgen jetzt offenbar, wie ein Vortragsvideo von Prof. Dr. Cinaric von der Universität Belgrad zeigt. Doch die Verursacher werden nicht in die Pflicht genommen.

Ethnische Landkarten als Konfliktpunkt Die Abtrennung des Kosovo von Serbien ist noch immer eine offene Wunde. Dies wurde sichtbar, als Goran Mitrovic im Rahmen des Vortrags „Migration – Past and Present“ die Migrationsbewegungen der muslimischen Bosniaken, bosnischen Kroaten und bosnischen Serben an zwei Landkarten darstellte, eine vor dem Krieg und eine nach dem Krieg. Eigentlich hatte er doch „nur“ Landkarten von Bosnien gezeigt, doch sofort kam es zu einer vehementen Diskussion zwischen serbischen und kosovarischen Studierenden über die serbische Landkarte, die gar nicht gezeigt worden war. Einige offizielle serbische Versionen beinhalten das Kosovo weiterhin, da Serbien die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennt.

Treffen der europäischen und serbischen Studierenden in das Balkan-Treffen integriert Die studentischen Aktivitäten rundeten das Programm wirkungsvoll ab. So wurde die Würzburger Studentin Eva Lauckner zur Junior-Sprecherin der Europäischen IPPNW-Studierenden gewählt und wird zusammen mit Kilian Runte als Senior-Sprecher die europäischen Studierenden koordinieren. Auf europäischer Ebene sind die deutschen Studierenden zusammen mit den Balkanstudierenden wohl die aktivsten, obwohl nicht in allen Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens IPPNW-Sektionen existieren. Erstaunlich war auch die aktive Teilnahme mehrerer Studierender aus Norwegen. Ljubica Bakic (Belgrad) präsentierte die Aktivitäten des serbischen Studentenverbandes SUMC in der Ausbildung zur ersten Hilfe und auch in der Betreuung von MigrantInnen. Einen nachaltigen Eindruck hinterließen auch die beiden Studentinnen aus Banja Luka, Republika Srpska, Bosnien und Herzegovina, Ivana Todorovic und Kristina Rendic. Die beiden bosnischen Serbinnen nutzten das Forum, um ihrem Engagement und ihrem Interesse an IPPNW-Themen Ausdruck zu verleihen, während aus den beiden anderen Teilen Bosniens (Sarajevo, Mostar) leider kein Teilnehmer gekommen war. Für uns „Würzburger“ war dies durchaus ein Zeichen, den Kreis der bosnischen TeilnehmerInnen in unserem Würzburger Projekt „Brücken der Verständigung“ noch einmal zu überdenken.

Erregt machten sich TeilnehmerInnen aus dem Kosovo und aus Serbien gegenseitig Vorwürfe. Es war zweifelsfrei mutig, die Migrationsbewegungen in farbigen Skizzen darzustellen und die Frage aufzuwerfen, wie die Zukunft aussehen kann und was wir MedizinerInnen in einer solchen Situation tun können. Es zeigt aber auch, dass die Wunden zwischen Serbien und Kosovo noch immer schmerzhaft sind – auf beiden Seiten – und wie schnell es zu emotionalen Diskussionen kommen kann. Wie wichtig ist es da, nicht die Türen zu verschließen und im Gespräch zu bleiben! Die TeilnehmerInnen blieben es. Der Brückenbau „Bridges of Understanding“ bleibt auch Jahre nach Ende des Bosnienkrieges, nach Ende der Bombardements Belgrads, nach Abtrennung des Kosovo eine Aufgabe, und das sicher noch für lange Zeit!

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rinnern Sie sich an „Ihren“ Stress im Medizinstudium? Studentin Marija Babic von der Universität Split (Kroatien) versuchte mit ihrer Gruppe genau das zu dokumentieren und zeigte uns die Ergebnisse einer Studie an 236 Medizinstudierenden über den Einfluss von Stress in Examenssituationen und deren psychovegetative Folgen wie Schlafstörungen, Infektionskrankheiten, Nervosität und vermehrtem Gebrauch psychoaktiver Substanzen. Dies machte uns klar, wie ähnlich das Belastungsprofil der Balkanstudenten im Vergleich zu den westlichen Ländern ist. Dass die beiden Belgrader Studenten Goran Mitrovic und Lubica Bakic neben ihren Studienverpflichtungen noch Zeit gefunden haben, die Konferenz so gut vorzubereiten, verdient unseren ganz besonderen Dank.

Dr. Joachim Gross ist Arzt für Arbeitsmedizinund lebt in Koper (Slowenien). 11


ATOMENERGIE

Atomanlagen in Lingen stoppen Den Druck auf die Politik verstärken!

Gegen die Atomanlagen in Lingen (Emsland) gab es seit den 70er Jahren immer wieder Proteste. Allerdings wurde Lingen nie ein Kristallisationspunkt der bundesweiten Anti-Atomkraft-Bewegung wie etwa Gorleben. Jetzt nach den bundesweiten Aktionen zu den Jahrestagen der Atomkatastrophen von Fukushima und Tschernobyl ist es geboten, Lingen verstärkt in den Mittelpunkt überörtlicher Proteste zu rücken.

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mmerhin soll das Atomkraftwerk Lingen 2 noch bis 2022 Atommüll produzieren und die in Lingen ansässige Brennelementefabrik stellt ohne Befristung Brennstäbe für alle Welt her. Schon in den 60er Jahren ging in Lingen eines der ersten in der Bundesrepublik ans Netz. Es war nur wenige Jahre in Betrieb, belastet die Bevölkerung aber noch heute. Aktuell wird der Rückbau der Anlage vorbereitet, aber es ist völlig offen, wo der kontaminierte Müll verbleiben soll, der beim Rückbau anfallen wird. In unmittelbarer Nähe zur Lingener AKWRuine steht das AKW Lingen 2 („AKW Emsland“). Es ging nach vielen Protesten in den 1980er Jahren ans Netz. Damit der Reaktor überhaupt starten konnte, musste ein gigantisches Wassersspeicherbecken errichtet werden, damit bei Dürreperioden genug Kühlwasser vorhanden ist. Die Ems, an der das AKW liegt, ist ein Flüsschen und kann in Sommerperioden nicht aus-

reichend Kühlwasser garantieren. Noch über Jahre hinweg stellt das AKW eine Belastung für die Bevölkerung in Nordwestdeutschland und weit darüber hinaus dar – wenn es nicht gestoppt wird. Zudem wird es noch jahrelang Atommüll produzieren, obwohl die schon vorhandenen Atommüllberge nicht beherrschbar sind. Daran ändert auch das vor Ort befindliche „Zwischenlager“ nichts, das vor einigen Jahren direkt neben dem AKW Lingen 2 in Betrieb genommen wurde. Als das AKW geplant wurde, war von diesem Atommüll-Lager noch keine Rede. Wenige 100 Meter vom AKW Lingen 2 entfernt befindet sich eine Brennelementefabrik. Sie ist schon seit Jahrzehnten in Betrieb. Nach der Stilllegung der Brennelementefabriken im hessischen Hanau (im letzten Jahrhundert) ist die Anlage einzigartig in der Bundesrepublik. In ihr werden Brennstäbe für AKWs hergestellt, die überwiegend im Ausland zum Einsatz kommen. 12

Die Anlage ist Ziel und Abfahrtsort für zahlreiche Atomtransporte unterschiedlichster Art und in der jüngsten Zeit war sie mehrfach das Aktionsziel für Blockaden aus den Reihen der Anti-Atomkraft-Bewegung.

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as Gefahrenpotential der Atomanlagen in Lingen wird durch den Bombenabwurfplatz der NATO Nordhorn Range verstärkt, der nur Flugsekunden von den Anlagen entfernt ist. Der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) schrieb dazu am 13. Januar 2016 in einer Pressemitteilung: „Aus gut informierter Quelle (von einem Zeitzeugen) wurde der Verband über Details zum Bau des AKW Lingen 2 (vor allem des Reaktorgebäudes) in den achtziger Jahren informiert. Die Informationen werfen sehr schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Ausführung der Betonbewehrung und in der Konsequenz zur Sicherheit des Reaktorgebäudes auf. Die sehr ernst zu nehmende, mögliche Schwächung der Stahlbetonstruktur muss man als


PROTEST VOR DER BRENNELEMENTEFABRIK: INTERNATIONALES URANTRANSPORTE-TREFFEN IN LINGEN AM 30. NOVEMBER 2014. Foto: aaa-West

Die „Lingen-Resolution“ fordert die sofortige Stilllegung 2014 wurde die „Lingen-Resolution“ initiiert. Ihre zentrale Kernforderung an die niedersächsische Landesregierung und die Bundesregierung: „(…) die sofortige Stilllegung des AKW Emsland sowie der Brennelementefabrik Lingen. Die Zeit für einen echten Atomausstieg ist auch im Emsland mehr als reif!“ Die Resolution wurde Ende 2014 (zunächst unterzeichnet von 59 Organisationen) an den niedersächsischen Umweltminster Stefan Wenzel und an Bundesumweltministerin Barbara Hendricks gesendet. Danach kam es in Lingen zu weiteren „meldepflichtigen Ereignissen“: Beim AKW Lingen 2 am 3. April und am 18. November 2015 sowie in der Brennelementefabrik am 3. Februar 2016. Am 2. März 2016 wurde die Resolution erneut an den niedersächsischen Umweltminister übermittelt. Inzwischen wird sie von mehr als 200 Organisationen, darunter auch der deutschen Sektion der IPPNW, unterstützt. Weitere Verbände und Initiativen können sich anschließen. Nach zahlreichen Pannen und Störfällen in belgischen AKW haben Anti-AtomkraftInitiativen aufgedeckt, dass es Liefer-Zusammenhänge zwischen der Brennele-

mentefabrik in Lingen und den belgischen Reaktoren gibt: Zu diesem Thema heißt es in einer Pressemitteilung vom 18. März 2016, die unter anderem von IPPNW und BBU veröffentlicht wurde: „Wie wichtig die Schließung der Brennelementefabrik in Lingen ist, zeigte sich gerade in den letzten Wochen. So recherchierten AntiAtomkraft-Initiativen, dass die Lingener Brennelementefabrik der Betreiberfirma Areva auch die beiden belgischen Skandalreaktoren Doel 1 und 2 bei Antwerpen beliefert. (…) Von Lingen aus werden auch die heftig umstrittenen französischen Atommeiler Fessenheim und Cattenom mit Brennelementen versorgt.“ Und Kerstin Rudek von der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg führte in der Pressemitteilung aus: „Es gibt keine harmlose Atomanlage. Wenn Brennelemente aus Lingen in störanfälligen Atomkraftwerken in den Nachbarländern zum Einsatz kommen, haften auch die niedersächsische Landesregierung und die Bundesregierung, weil sie die Exporte genehmigt haben. Vor zwei Wochen kündigte Niedersachsens Umweltminister Stefan Wenzel eine Überprüfung der Kundenliste von Areva an – diese Prüfung muss jetzt schnell in einen Exportstopp münden. Die Stilllegung der beiden maroden Atomanlagen im Emsland ist unumgänglich.“

restage von Fukushima und Tschernobyl sowie eine Veranstaltung mit Dr. Angelika Claußen (IPPNW).

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Udo Buchholz engagiert sich seit den frühen 80er Jahren in Lingen und ist Vorstandsmitglied des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU).

nd der Widerstand geht weiter: Am 31. Januar 2016 fand in der Lingener Innenstadt eine Demonstration für einen echten Atomausstieg statt und am Tag danach wurde die Brennelementefabrik blockiert. Der Elternverein Restrisiko Emsland organisierte wie schon früher in Lingen Mahnwachen anlässlich der Jah13

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etzt gilt es, den Druck auf die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker zu verstärken. In Niedersachsen sind die rot-grüne Landesregierung und speziell das Umweltministerium unter der Führung von Stefan Wenzel (Grüne) für Betriebsgenehmigungen der Atomanlagen zuständig. Das Land Niedersachsen hat in der Vergangenheit die Genehmigungen erteilt und kann die Betriebsgenehmigungen für das AKW Lingen 2 und für die Brennelemente wieder aufheben. Der Schutz der Bevölkerung muss Vorrang vor den Interessen der Atomindustrie haben. Wer die Proteste gegen die Atomanlagen in Lingen und die damit verbundenen Atomtransporte aktiv und/oder finanziell unterstützen möchte, kann sich bei den Bürgerinitiativen vor Ort oder in der Geschäftsstelle des BBU melden. In Planung ist eine Demonstration in Lingen für den 29. Oktober 2016. Lingen-Resolution unter: bbu-online.de. Die vollständigen Pressemitteilungen finden Sie unter: bbu-online.de/presse.htm

Foto: aaa-West

weiteres Indiz des mangelhaften Schutzes im Falle eines Flugzeugabsturzes bewerten. (…) Hintergrundinformation: Alle drei sogenannten Konvoi-Reaktoren Neckarwestheim 2, Isar 2 und Lingen 2 sind nicht gegen den Absturz eines Militärflugzeuges mit hoher Geschwindigkeit ausgelegt.“


ATOMENERGIE

Wege aus der atomaren Bedrohung Über 300 TeilnehmerInnen tauschten sich auf dem IPPNW-Atomkongress in Berlin aus

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Jahre sind eine lange Zeit – eine ganze Generationenspanne. Viele der Themen, die die Menschen vor 30 Jahren bewegt haben sind heute längst vergessen, zu viel ist seitdem geschehen, zu vieles hat sich für immer verändert. Ein Relikt aus dieser Zeit jedoch begleitet uns bis heute – die Strahlung von Tschernobyl. Das radioaktive Cäsium-137, das damals im April und Mai 1986 durch radioaktive Wolken zu uns geweht wurde, hat dieses Jahr gerade einmal seine erste Halbwertszeit erreicht. Das heißt, die Hälfte des radioaktiven Niederschlags ist immer noch da – im bayerischen Wald, in Heidelbeermarmelade, in Wildschweinfleisch, in Waldpilzen und im Boden. 30 Jahre leben wir als Menschheit mit den Folgen von Tschernobyl. Auch wenn rund 1.000 km zwischen dem Katastrophenreaktor und Deutschland liegen – der Super-GAU hatte auch hierzulande konkrete gesundheitliche Auswirkungen.

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nders in Japan, wo die Katastrophe von Tschernobyl weit, weit weg erschien. Bis zum März 2011, als es nach einem Erdbeben und einem Tsunami im Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi zu mehreren Kernschmelze kam. Seit nunmehr fünf Jahren leben die Menschen in Japan mit ihrer eigenen Atomkatastrophe. „5 Jahre Leben mit Fukushima – 30 Jahre Leben mit Tschernobyl“, das war der Titel, den wir in diesem Jahr für unseren traditonellen IPPNW-Atomkongress gewählt hatten. Denn viel zu oft wird so getan als handele es sich bei diesen beiden Katastrophen um längst verjährte Einzelereignisse, die nur noch aus historischer Sicht inter-

essant seien. In Wahrheit dauern die Katastrophen jedoch bis heute an und werden noch viele zukünftige Generationen massiv beeinträchtigen. Gegen das Vergessen und das Verdrängen sollte der IPPNWKongress ein deutliches Zeichen setzen.

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eladen waren neben ÄrztInnen und WissenschaftlerInnen auch AktivistInnen, Medizinstudierende und interessierte BürgerInnen aus Deutschland, Japan, Weißrussland und aller Welt. Engagierte GegnerInnen des Uranbergbaus kamen ebenso wie internationale IPPNW-Studierende, VertreterInnen der Bürgerinitiativen deutscher Atomstandorte und unabhängige japanische Journalistinnen. In der Eröffnungrede hieß es: „Wir brauchen Euch alle, wenn wir aus der katastrophalen atomaren Vergangenheit lernen und eine Welt ohne atomare Bedrohung realisieren wollen. Euch alle für ein Wochenende zusammenzubringen, Euch miteinander bekannt zu machen und Euch mit den aktuellsten Informationen und Erkenntnissen auszustatten, damit wir in Zukunft weiter gemeinsam an diesem Ziel arbeiten können – nichts weniger haben wir uns mit diesem Kongress vorgenommen“. Eine besondere Note erhielt der Eröffnungsabend durch die Kulturbeiträge aus den beiden Ländern, die am stärksten unter den Auswirkungen der Super-GAUs zu leiden haben: Zu den bewegenden Fotos des Umweltjournalisten Alexander Tetsch, die er 2015 in der Todeszone von Tschernobyl gemacht hatte, erklangen die harmonischen Töne des weißrussischen Zymbalisten Michael Leontschik, während die Bilder aus Fukushima von Akkordeonmusik der japanischen Perfor14

mance-Künstlerin Mako Oshidori begleitet wurden. Der Abend war ein gelungener emotionaler und facettenreicher Einstieg in die Thematik. Am Samstagmorgen eröffnete Prof. Wolfgang Hoffmann den inhaltlichen Teil des Kongresses mit einem fulminanten Ritt durch die neuesten Erkenntnisse der Strahlenmedizin. Informativ und unterhaltsam konnte er dabei darstellen, welch große Fortschritte die Erforschung gesundheitlicher Folgen von Radioaktivität seit dem Super-GAU von Tschernobyl gemacht hat. In den letzten zehn Jahren sind wegweisende epidemiologische Studien in namhaften Fachzeitschriften erschienen, die noch einmal bestätigen, was wir seit vielen Jahrzehnten vertreten: Jede noch so geringe Dosis an Strahlung erhöht das Erkrankungsrisiko.

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ach diesem gelungenen Einstieg folgten bewegende Berichte japanischer und weißrussischer WissenschaftlerInnen, die den TeilnehmerInnen eine Vorstellung gaben, was es bedeutet, „mit der Atomkatastrophe“ zu leben. In mehreren Foren wurden relevante Aspekte der andauernden Atomkatastrophen in größerem Detail diskutiert, wie beispielsweise die genetischen und teratogenen Folgen der radioaktiven Kontamination oder die Auswirkungen der Kernschmelze auf die Tierund Pflanzenwelt. Mit Prof. Timothy Mousseau referierte zu diesem Thema einer der weltweit führenden Forscher auf dem Gebiet der Radiobiologie, der selber mehrere Wochen im Jahr in den Todeszonen von Tschernobyl und Fukushima Feldstudien durchführt und relevante genetische und transgenerationale Effekte nachweisen


„RADIATION KILLS“ – DEN SCHALTER UMLEGEN: AKTION IN DER URANIA.

konnte. Die Schlussfolgerungen dieser wichtigen Grundlagenforschung und die Lehren für die menschliche Gesundheit sind nicht von der Hand zu weisen.

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lankiert wurde dieser Teil des Kongresses durch die IPPNW-Ausstellung „Hibakusha Weltweit“, die in anschaulicher Weise die Zusammenhänge der einzelnen Abschnitte der nuklearen Kette darstellt: vom Uranbergbau über die Atomfabriken, die zivile und militärische Nutzung der Atomkraft bis hin zu strahlenden Abraumhalden, radioaktivem Fallout und tausenden Tonnen Atommüll schädigt die Atomindustrie unserer Umwelt und Gesundheit. Am Samstagnachmittag verschob sich dann der Fokus von der Vergangenheit auf die Gegenwart – und die tagesaktuellen Themen des Atomausstiegs und der Energiewende. ExpertInnen aus dem In- und Ausland referierten über den Weg der Atomindustrie hin zu einer Atommüllindu-strie, diskutierten in Foren die Frage der Generationengerechtigkeit im Bezug auf die Abwicklung der Atomindustrie und erläuterten die neuesten Entwicklungen in Japan, wo die rechtskonservative Regierung trotz der Fukushima-Katastrophe wieder vermehrt in Atomenergie investiert. Der international erfahrene Analyst der Atomindustrie Mycle Schneider legte überzeugend dar, weshalb die Atomindustrie keine Zukunft mehr habe, warnte jedoch auch davor, die Atomkonzerne durch Konkursanmeldungen aus der Verantwortung zu entlassen. Am Ende, so Schneider, drohen die immensen Ewigkeitskosten der Atomindustrie auf den Steuerzahler zurückzufallen. Er plädierte daher dafür, so rasch wie möglich substantielle Gelder

der Konzerne für Rückbau, Sicherung und Endlagerung des radioaktiven Erbes der Atomindustrie festzusetzen. Der Samstagabend klang mit der Weltpremiere des neuen Films von Ian Thomas Ash aus, der seit fünf Jahren betroffene Menschen im Katastrophengebiet von Fuku-shima begleitet. Besonders beeindruckend war das Interview mit einer jungen Frau aus den verstrahlten Gebieten, bei der im Alter von 17 Jahren Schilddrüsenkrebs gefunden wurde. Ihre kritischen Fragen und ihre Hoffnung, dass ihr Schicksal anderen Jugendlichen erspart bleiben soll, regten zum Innehalten und Nachdenken an, nach diesem Tag, der mit Wissenschaft, Daten und politischen Fragen gefüllt war.

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m Sonntag wurde der Blick schließlich nach vorne gewendet und die Frage gestellt: „Eine Welt ohne atomare Bedrohung – wie kommen wir dort hin?“ Die Schönauer Stromrebellin Ursula Sladek und die IPPNW-Ärztin Helen Caldicott zeigten den TeilnehmerInnen mit ihren flammenden Plädoyers Handlungsspielräume und Möglichkeiten des Engagement auf. Abschließend diskutierten Expertinnen aus ganz Europa gemeinsam über die nächsten Schritte, die für eine echte Energiewende in Europa notwendig seien. Es wurde deutlich, welch wichtige Vorbildfunktion der deutsche Atomausstieg hier besitzt, vorausgesetzt es gelingt, das Ausbremsen der Energiewende durch die Politik zu beenden. Die Verhinderung des Baus weiterer Atomkraftwerke, zum Beispiel des geplanten Großprojekts im britischen Hinkley Point, wurde als gemeinsames Projekt für alle europäischen Anti-Atom-Initiativen identifiziert. 15

Mit einer von den IPPNW-Studierenden vorbereiteten Fotoinstallation endete der Kongress. Mit auf den Weg bekamen die TeilnehmerInnen noch den neuen IPPNWReport „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima“, der die wesentlichen Forschungsergebnisse und Forderungen der IPPNW zusammenfasst. Wie schon in den Jahren zuvor war der IPPNW-Atomkongress auch dieses Mal eine einzigartige Gelegenheit, Protagonisten der Forschung und der Anti-Atombewegung zusammen zu bringen und gemeinsam den Blick von der Vergangenheit über die Gegenwart hin zur Zukunft zu wenden – einer Zukunft frei von atomarer Bedrohung. Vielen Dank an dieser Stelle an alle, die zum Erfolg des Kongresses beigetragen haben und die wichtige Arbeit in den kommenden Jahren voranbringen wollen. Der Kongress hat uns noch einmal gezeigt: Wir sind weit gekommen – aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Den IPPNW-Report „30 Jahre Leben mit Tschernobyl – 5 Jahre Leben mit Fukushima“ finden Sie unter: kurzlink.de/F5T30

Dr. Alex Rosen ist stellvertretender Vorsitzender der deutschen IPPNW.


SOZIALE VERANTWORTUNG

Fossil Free Health Das Klima ist ein wesentlicher Faktor für die globale Gesundheit

An die 2.500 Ärztinnen und Ärzte appellieren an ihre ärztlichen Versorgungswerke, die Beteiligungen an Unternehmen der fossilen Energiegewinnung zu beenden. Soll die Erderwärmung durch Klimagase deutlich unter zwei Grad begrenzt werden – dazu hat sich die Staatengemeinschaft verpflichtet – müssen über 80 Prozent der derzeit bekannten fossilen Energiereserven im Boden bleiben. Investitionen in fossile Energien stellen daher ein großes finanzielles Risiko für Investoren und für die internationale Finanzstabilität dar, wenn sie im Rahmen wirksamer Klimaschutzmaßnahmen abgeschrieben werden müssen und an Wert verlieren (sogenannte stranded assets). Inzwischen warnen nahezu alle großen Finanzinstitutionen inklusive der Weltbank und der Bank of England vor einem derartigen Risiko.

Die Divestmentbewegung wird inzwischen weltweit unterstützt von Nobelpreisträgern, von Teilen der Professorenschaft der US-Eliteuniversitäten, von Margaret Chan, der Generaldirektorin der WHO, Jim Yong Kim, dem Präsident der Weltbank und vielen anderen. Hans-Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgeforschung, nennt Divestment „die wichtigste Aktion, die es jemals für den Klimaschutz gegeben hat.”

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nzwischen haben auch große nationale Ärzteverbände zum Divestment aufgerufen. So die British Medical Association (BMA) 2014 – der nationale kanadische (CMA) und der größte australische Ärzteverband (RACP) sowie die World Federation of Public Health Associations folgten 2015.

Im Vorfeld der Weltklimakonferenz hatten sich zahlreiche – auch große – Investoren wie Stiftungen, Städte, Universitäts- und Pensionsfonds und Versicherungskonzerne mit einem Anlagevermögen von über 3,4 Billionen Dollar verpflichtet, aus fossilen Energien, zumindest der Kohle, in einem überschaubaren Zeitraum, zu devestieren.

Der britische Gesundheitssektor ist dabei beispielgebend (unter anderem mit Medact, der britischen IPPNW). Die Risiken des Klimawandels für die globale Gesundheit wurden durch zwei grundlegende Berichte der Lancet-Kommission on Health and Climate Change 2009 und 2015 analysiert und im „Lancet“ wie auch im „British Medical Journal“ zu einem zentralen Thema gemacht. In der deutschen Ärzteschaft hingegen – wie auch im Gesundheitssektor insgesamt – sind Klimawandel und Gesundheit, „die größte Bedrohung für die globale Gesundheit im 21. Jahrhundert“ (Lancet Commission 2009), bisher allenfalls ein Nischenthema.

ivestment will das Geschäftsmodell fossiler Energieunternehmen, das aus Klimaschutz- wie Gesundheitsgründen keine Zukunft mehr haben darf, sozial delegitimieren, sie dazu bewegen, ihr Geschäftsmodell zu ändern und den Unternehmen das Kapital entziehen. Es geht darum, ein deutliches Signal an Politik und Investoren zu senden und den verheerenden Einfluss dieser Industrie zurückzudrängen.

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Die Divestmentkampagne ärztliche Versorgungswerke Vor gut einem Jahr hatten 110 Mitglieder in einem Brief ihre Berliner Ärzteversorgung (BÄV) zu Divestment / Reinvestment aufgefordert. Die BÄV hat im Dezember letzten Jahres beschlossen, ihre CO2-intensiven Anlagen bis zum 30. Juni 2016 zu beenden. Entscheidend wird dabei sein, wie umfassend die BÄV den Begriff „CO2intensiv“ definieren wird. Ein Divestmentantrag – eingebracht auf dem Deutschen Ärztetag 2015 – der sich an dem Beschluss der BMA orientiert, wurde zur weiteren Beratung an die Bundesärztekammer überwiesen. (Eine Entscheidung steht noch aus.) Im März diesen Jahres haben nun sieben KollegInnen in einem bundesweiten Appell ihre Versorgungswerke dazu aufgefordert, ihre Beteiligungen an den 200 größten fossilen Energiegewinnungsunternehmen offen zu legen, zu beenden und die Beiträge nach ethisch, sozial und ökologischen Kriterien anzulegen. Dieser Appell wird von fünf Ärzteorganisationen (darunter der IPPNW) und inzwischen von über 35 angesehenen Erstunterzeichnern unterstützt. Er wurde bisher von knapp 2.500 Mitgliedern der Versorgungswerke unterzeichnet.

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ie Unterschriften werden demnächst den Versorgungswerken übergeben. Den Appell, die unterstützenden Organisationen und Erstunterzeichner sowie weiterführende Literatur finden Sie auf der Internet-Plattform Weact: kurzlink.de/ fossil-free-appell

Dr. Dieter Lehmkuhl ist langjähriges IPPNW-Mitglied.

Foto: © 350.org / Ruben Neugebauer (Ausschnitt)/ SA by 2.0

„ENDE GELÄNDE“ – DEMONSTRATION IN DER LAUSITZ, MAI 2016.


SERIE: DIE NUKLEARE KETTE

Uranbergbau in Mounana Vor 60 Jahren entdeckte der französische Konzern COGEMA Uranvorkommen im Südosten Gabuns

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enige Jahre nach der Entdeckung der Uranvorkommen begann der Uranabbau in Mounana (1960– 1999), Oklo (1970–1985), Boyindzi (1980–1991) und Mikouloungou (1997–1999) durch eine Tochtergesellschaft der COGEMA, die COMUF. Anfangs wurde das Uran zum Bau von Atomsprengköpfen genutzt, später versorgte es die französischen Atomkraftwerke. Nach und nach wurden alle Minen geschlossen, da die verbleibenden Uranvorkommen nicht mehr wirtschaftlich gefördert werden konnten. Bis 1975 wurden mehr als zwei Millionen Tonnen radioaktiv verseuchter Schlamm in die nahe gelegenen Flussläufe des Mitembe und des Ngamaboungou gekippt. Weitere vier Millionen Tonnen Atommüll wurden in offenen Sammelbecken gelagert. Lange Zeit gab es für diese Becken keinerlei Sicherheitsmaßnahmen – Kinder aus den umliegenden Dörfern spielten sogar auf ihren staubigen Oberflächen, da die Bewohner nicht über die Gefahren des Atommülls informiert wurden. Erst in den 1990er Jahren wurde ein Damm gebaut und das ca. 50 Hektar große Atommüllsammelbecken mit einer 30 bis 50 cm dicken Erdschicht bedeckt. Strahlenschutzexperten bewerteten diese Maßnahmen jedoch als ungenügend.

Folgen für Umwelt und Gesundheit Den Minenarbeitern von Mounana wurde jahrzehntelang keine adäquate Schutzkleidung zur Verfügung gestellt. Auch die Gesundheitsuntersuchungen ehemaliger Minenarbeiter waren unzureichend – nach Schließung der Minen beendete COMUF jegliche arbeitsmedizinischen Untersuchungen. Viele der ehemaligen Arbeiter können sich einen Arztbesuch nicht leisten und daher keine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen. Es gibt daher auch keine aussagekräftigen epidemiologischen Studien über den Gesundheitszustand der ehemaligen Minenarbeiter in Mounana. In anderen Uranbergwerken, beispielsweise in Kanada oder Deutschland, zeigte sich in der Belegschaft stets eine erhöhte Inzidenz für Lungenkrebs, sodass von ähnlichen Effekten auch in Mounana ausgegangen werden kann. Durch die Analyse von Bodenproben aus der Umgebung der Uranminen wurde aufgedeckt, dass radioaktiver Müll im umliegenden Wald deponiert wurde. Wissenschaftler fanden Uran-239, Thorium-230 und Radium-226 im Waldboden und konnten Strahlenwerte messen, die etwa 50 Mal höher lagen als die natürliche Hintergrundstrahlung. 2002 wurde der IAEO eine interne Studie von COMUF präsentiert, die lösliches Radium-226 im Mitembe Fluss in Konzentrationen von 3,2 Bq/l fand – das Zehnfache des internationalen Grenzwertes von 0,37 Bq/l. Lösliches Uran-238 wurde in Konzentrationen von 1,7 mg/l gemessen – mehr als das 180-fache des internationalen Grenzwertes von 0,009 mg/l. Der radioaktiv verseuchte Schlamm, der in den Fluss geleitet wurde, bildet mittlerweile ein Reservoir, aus dem immer wieder verstrahltes Material abfließt.

Ausblick Trotz des neu gebauten Ngamaboungou-Damms fließt weiterhin verstrahltes Material in das sensible Ökosystem der umliegenden Flusslandschaften. Der verseuchte Fluss führt zu hohen Strahlenwerten in Nahrung und Trinkwasser. 200 Häuser mussten 2009 zerstört werden, da sie mit radioaktiv verseuchter Erde gebaut worden waren und zu hohe Strahlenkonzentrationen gemessen wurden. Ca. 4.000 Menschen leben noch in Mounana, viele von ihnen nur etwa 500 m vom Gelände der ehemaligen Minen entfernt. Auch sie sind Hibakusha, denn auch ihre Gesundheit wurde dem Streben nach Uran und Atomwaffen untergeordnet. Auch ihr Schicksal gehört zur Geschichte der atomaren Kette. Dieser Text ist ein Ausschnitt aus der IPPNW-Posterausstellung „Hibakusha Weltweit“. Die Ausstellung zeigt die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aspekte der Nuklearen Kette: vom Uranbergbau über die Urananreicherung, zivile Atomunglücke, Atomfabriken, Atomwaffentests, militärische Atomunfälle, Atombombenangriffe bis hin zum Atommüll und abgereicherter Uranmunition. Sie kann ausgeliehen werden. Weitere Infos unter: www.hibakusha-weltweit.de

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ATOMWAFFEN

Warum ziviler Ungehorsam gegen Atomwaffen immer noch notwendig ist Die fortgesetzte atomare Bedrohungslage

BLOCKADE DES „JUGENDNETZWERKS FÜR POLITISCHE AKTIONEN“ (JUNEPA) IN BÜCHEL 2015.

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nser Eid auf das Leben fordert Widerstand: Dieses alte Motto des Tübinger IPPNW-Kongresses 1983 ist aktueller denn je. Zwar bedrohen uns nicht mehr 70.000 Atomwaffen, sondern „nur“ noch etwa 15.000, deren Sprengkraft aber nach wie vor mehrfach die ganze Welt zerstören könnte. Mehr als 2.000 Ziele stehen unter der höchsten Alarmstufe, um innerhalb von Minuten ausgelöscht zu werden. In Kenntnis der zahlreichen dokumentierten menschlichen und technischen Fehler, die in der Vergangenheit beinahe zur Katastrophe geführt haben, ist es nur eine Frage der Zeit, wann das Undenkbare doch eintritt. Atomwaffen sind trotz Atomwaffensperrvertrag (NPT), trotz des Wissens um deren Kurz- und Langzeitfolgen, trotz der Auflösung der Blöcke die größte Bedrohung der Menschheit geblieben. Zwar empfindet nur noch eine Minderheit eine existentielle Bedrohung durch Atomwaffen. Allerdings entstand in den letzten Jahren eine erfolgreiche und schlagkräftige internationale Kampagne (ICAN), es gibt international agierende Organisationen wie Mayors für Peace, die IPPNW und einen Zusammenschluss von Staaten, um Atomwaffen zu ächten. Kein Atomwaffenstaat ist jedoch bereit, von seinem atomaren Überlegenheitsdenken abzurücken. Weltweit ist eine Art nukleare Apartheit entstanden.

Atomare Abrüstung von unten erzwingen: Was es braucht, ist die Delegitimierung einer Politik, die die Zerstörung der Menschheit auf Knopfdruck in Kauf nimmt und die weltweit schon Millionen Opfer gekostet hat. 20 atomare Sprengköpfe lagern noch im deutschen Büchel (Eifel). In der jüngsten von der IPPNW in Auftrag gegebenen Forsa-Umfrage hat sich eine überwältigende Mehrheit von 85% der BundesbürgerInnen dafür ausgesprochen, die US-Atomwaffen von deutschem Boden abzuziehen. Doch die Bundesregierung hält trotz des gegenteiligen Parlamentsbeschlusses vom 26. März 2010 verbissen an deren Existenz und deren „Modernisierung“ fest, um die nukleare Teilhabe nicht zu verlieren. Deutsche Piloten in ihren deutschen Tornados üben weiterhin den Ernstfall.

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it dem beschlossenen Vorhaben der NATO, neue, zielgenauere und flexibler einsetzbare Waffen mit atomaren Sprengköpfen zu entwickeln und zu stationieren, läuten sie eine neue Runde der atomaren Aufrüstung ein, auf die andere Staaten mit dem gleichen Muskelspiel reagieren. Die Bundesregierung unterstützt diese Politik trotz verbaler Gegenaussagen 18

aktiv. Deutsche Banken und Firmen machen ihre schmutzigen Geschäfte damit. Von der Großen Koalition mit ihrer atomaren Rückwärtsrolle können wir keine Kehrtwendung erwarten. Das hat sowohl das jüngste Abstimmungsverhalten der Bundesregierung in der Generalversammlung der UNO gezeigt als auch die enttäuschende Erklärung der G7-Außenminister zu atomaren Rüstung in Hiroshima im April 2016.

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tomare Abrüstung muss von unten erzwungen werden. Aufklärung, Appelle, öffentlichkeitswirksame Darstellungen und Aktionen, internationale Konferenzen, internationale Ächtung und Bemühungen um die Belebung des NPT-Vertrages sind weiterhin sicherlich wichtige Aktivitäten – was es aber braucht, ist die Delegitimierung einer Politik, die letztlich die Zerstörung der Menschheit auf Knopfdruck in Kauf nimmt und die Millionen Menschen das Leben gekostet hat.


Wozu ziviler Ungehorsam? Ziviler Ungehorsam ist eine bewusste Regelverletzung, die sich daraus legitimiert, dass ein bestehendes größeres Unrecht in seiner Alltagsfunktion bekämpft oder eine Katastrophe abgewendet werden muss. Die bestehende atomare Bedrohung stellt ein solches Unrecht dar. Nicht zuletzt hat der Internationale Strafgerichtshof dieses Unrecht aus völkerrechtlicher Sicht in seinem Gutachten von 1996 bestätigt und an die vertragliche Verpflichtung der Atomwaffenstaaten erinnert, ihr atomares Potential auf Null zu reduzieren. Seitdem ist nichts geschehen, im Gegenteil, wir stehen weltweit erneut vor einer atomaren Aufrüstungsspirale, die ungeheure menschliche Ressourcen verschlingt. Präsident Obama hat für die atomare Aufrüstung in seiner Amtszeit mehr ausgegeben als jeder amerikanische Präsident vorher. Die Bundesregierung agiert in der praktischen Politik wie ein Atomwaffenstaat. Sie verschwendet Steuergelder, um diese atomare Aufrüstung im Rahmen der NATO auch abzusichern. Geschickt verschweigt sie das Thema nach außen, weiß sie doch genau, dass sie bei ihrer Politik die Bevölkerung nicht hinter sich hat und eine erneute konflikthafte Zuspitzung provozieren würde, sollte es zu einer breiten gesellschaftlichen Diskussion um dieses Thema kommen. Deshalb wird das Thema in den Mainstream-Medien mit einem Tabu belegt. Trotz konzentrierter Anstrengungen ist es den bisherigen bundesweiten Kampagnen zur Abschaffung der Atomwaffen bisher nicht gelungen, diese wieder auf die politische Agenda zu setzen: Es muss mehr gesellschaftlicher Druck von unten aufgebaut werden.

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iviler Ungehorsam braucht einen sichtbaren Ort. In Deutschland bietet sich natürlich Büchel in der Eifel an. Leider ist diese etwas abgelegene Region wirtschaftlich und sozial vom Militär abhängig. Geschickt haben Politiker und Militärs die Lagerung von Atomwaffen mit der Existenz

SYMBOLE AUF DER „FRIEDENSWIESE“: DIE DFG-VK ZERSÄGTE EIN GEWEHR VOR DEM FLIEGERHORST (23. APRIL 2016). Foto: DFG-VK

von über 2.000 Arbeitsplätzen in dieser strukturarmen Region verbunden. Ziviler Ungehorsam kann die Diskussion um die Existenz der Atomwaffen in der Eifel beleben und von der stillen Abwehr zur öffentlichen Diskussion führen. Für den Widerstand braucht es Menschen, die Mut haben, das Risiko eines persönlichen Nachteils auf sich zu nehmen. Bisher ist in Deutschland noch niemand durch praktizierten zivilen Ungehorsam in seiner Existenz zerstört worden. Im Gegenteil, durch solche gemeinsamen Erfahrungen gewinnt man ganz andere Perspektiven für seinen Alltag – aus meiner Erfahrung eine erhebliche Bereicherung.

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ls IPPNW-Mitglieder sind wir der Prävention zutiefst verpflichtet. „Wir werden im Falle einer atomaren Katastrophe nicht mehr helfen können“: Das unterstreicht noch einmal die Notwendigkeit, über Aufklärung und Appelle hinaus Widerstand zu leisten. Ziviler Ungehorsam ist dabei ein wichtiger Lernschritt, mit dessen Hilfe wir das Heft des politischen Handelns wieder in die eigenen Hände nehmen. Als Ärztinnen und Ärzte können wir so anderen, die bereits resigniert haben, Mut machen, wieder aktiv zu werden und Schritte zur eigenen Ermächtigung zu gehen. Ziviler Ungehorsam zerstört unser demokratisches Gemeinwesen nicht – er festigt es. Indem wir diese Erfahrungen aus Büchel wieder in unsere persönliche Lebensumgebung zurückbringen, davon berichten, Bilder zeigen, die lokale Presse informieren, gewinnen wir den Humus, den eine neue Widerstandskultur zum Wachsen braucht. Die Selbstverpflichtungs- und So19

lidaritätserklärung sind dafür weitere gute Werkzeuge. Das persönliche „Standing“ ist immer noch das Ansteckendste, um Menschen zu aktivieren und aus ihrer Verzagtheit zu befreien. Als Ältere haben wir hier eine ganz besondere Aufgabe. Ich selbst jedenfalls wurde durch die alten Leute der Seniorenblockade in Mutlangen dazu gebracht, mich an solchen Aktionen zu beteiligen und auch aktiv zu organisieren.

Aktiv werden in diesem Sommer In diesem und in den kommenden Jahren haben wir viel Gelegenheit, in Büchel neue Erfahrungen in zivilem Ungehorsam zu sammeln. Unsere Aktionen sind so angelegt, dass man sich aktiv beteiligen kann, ohne sich gleich dem Risiko einer Regelverletzung auszusetzen. Wir bedürfen dabei jeder Art von Unterstützung! Mit der Beteiligung an der IPPNW-Woche vom 26. Juni bis 2. Juli 2016 in Büchel können wir als Ärzteorganisation ein unübersehbares Zeichen setzen. Das Programm findet ihr auf Seite 35. Wer diesen Sommer nach Büchel kommen möchte, melde sich am besten bei Ernst-Ludwig Iskenius: iskenius@ippnw.de Die Selbstverpflichtungserklärung findet ihr unter: kurzlink.de/verpflichtung

Ernst-Ludwig Iskenius ist IPPNWMitglied und Mitorganisator der BüchelKampagne.


Idomeni, Griechenland: Vor Stacheldraht und Polizeikette wartet ein Junge darauf, die griechisch-mazedonische Grenze zu Ăźberqueren (24. August 2015).

Foto: Š Erik Marquardt

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Weitere Fotos von Erik Marquardt finden Sie unter: www.erik-marquardt.de

Ein Funken Hoffnung Erik Marquardt begleitete Flüchtlinge auf ihrem Weg über den Balkan

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Fotos: Idomeni, Griechenland © Erik Marquardt

ie Lage war katastrophal, doch die Flüchtlinge im nordgriechischen Idomeni haben sich durch die Grenzschließung nicht unterkriegen lassen. Die griechische Regierung hat das inoffizielle Lager im Mai geräumt – in den Monaten davor gab es immer wieder gewaltsame Auseinandersetzungen. Zehntausend Menschen saßen fest und warteten auf eine Lösung. Weil es keine Waschräume gab, erwärmten Mütter Wasser am Feuer und wuschen ihre Kinder in kleinen Zelten. Ärztinnen und Ärzte liefen mit Medikamenten durch das Camp. Freiwillige kümmerten sich um die Versorgung und betreuten die Kinder – denn rund 50 Prozent der Campbewohner waren minderjährig. Kinder spielten Fußball, lachten beim Seilspringen und die Erwachsenen traten im Boxkampf gegeneinander an. Abends gab es öfter Musik aus großen Boxen. Der Fotojournalist, Politiker und ehrenamtliche Flüchtlingshelfer Erik Marquardt hat seit 2015 verschiedene Orte in Griechenland und der Türkei besucht. Er begleitete die Menschen beim Aufbruch an der türkischen Küste, bei ihrer Ankunft und Registrierung auf Lesbos sowie der Weiterreise auf dem griechischen Festland. Das Titelbild dieses Heftes wurde in Idomeni aufgenommen.

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Wie wir es schaffen können, die „Flüchtlingskrise“ humanistisch und solidarisch zu meistern Humanistische Flüchtlingspolitik ist eine politische Kampfaufgabe

Derzeit sind weltweit 62 Millionen Menschen auf der Flucht. In Deutschland sind 2015 wohl rund 700.000 angekommen und geblieben. Was zwingt die Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen? Erstens: Die Hauptursprungsländer sind Regionen, wo Kriege herrschen. Und zweitens: Die Länder gehören allesamt zu den ärmsten der Welt. Schon die Feststellung von Pro Asyl, dass 69 Prozent derjenigen, die in Deutschland Asylanträge stellen, aus „Bürgerkriegsländern“ kommen, verweist auf den inneren Zusammenhang von Krieg und Flucht. Der „Global Peace Index" belegt die Korrelation noch eindeutiger. Der Index rubriziert anhand von 22 Indikatoren den relativen „Friedensstatus“ von 162 Ländern. Je weiter vorne ein Land, desto friedlicher geht es darin zu; je weiter hinten, desto kriegerischer und zerstörerischer. Die letzten fünf Länder, von Rang 158 bis 162, sind: Somalia, Irak, Süd-Sudan, Afghanistan und Syrien. Syrien, Afghanistan und Irak sind die Haupt-Herkunftsländer von Flüchtlingen in Deutschland, Syrien mit weitem Abstand führend. Kriege sind also der wesentlichste Grund für die globale Völkerwanderung unserer Zeit.

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Welche Faktoren sind für die Kriege verantwortlich? Jährlich gehen 2,3 % des Welt-BIP in die Rüstung, 1.700 Milliarden Dollar. Das ist nicht nur ein Geschäft erster Ordnung, es schafft auch die Grundlage für die Machtverteilung in der Welt. In der Strategie der NATO heißt es, dass diese Weltordnung dort, „wo nötig“, mit militärischen Mitteln garantiert wird. Es geht um die Sicherung der wichtigsten Rohstoffregionen und vor allem auch um die Kontrolle der weltweiten Transportwege, die strategische Größe in der globalen Wirtschaft. Zur Rüstungspolitik gehört der

Rüstungsexport: Deutschland hat 2015 seine Waffenexporte gegenüber 2014 fast verdoppelt, auf etwa 13 Milliarden Euro. 60 % der deutschen Waffenexporte gehen in die sogenannten Drittstaaten außerhalb der NATO. In erster Linie nach Katar, Saudi-Arabien und Algerien. Nach Großbritannien ist Israel der Hauptempfänger deutscher Waffen. Die deutschen Waffenexporte landen also vor allem dort, wo Bürgerkriege geführt werden.

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Die zweite Ursache für die Große Flucht ist ebenso offensichtlich, nämlich Armut und soziales Elend. Im „Human Development Index“ erstellt das United Nations Development Programme jährlich einen Index menschlicher Entwicklung. Er misst die Qualität des menschlichen Lebens. Von den vier Haupt-Herkunftsländern der Flüchtlinge liegt Syrien auf Platz 118, Irak auf 120, Sudan auf 166, Afghanistan auf 168. Die Flüchtlinge wollen also sowohl den mörderischen Kriegen als auch der hoffnungslosen sozialen und materiellen Perspektive in ihren Ländern entkommen. Hunger und Armut sind globale Massenerscheinungen. Nach Angaben der UN leben derzeit 800 Millionen Menschen von weniger als 1,25 Dollar pro Tag. Dieses globale Elend ist das Ergebnis der neoliberalen Dominanz über die Welt. Allein die Auslandstöchter der Transnationalen Konzerne erwirtschaften rund 10 % des Weltsozialprodukts. Mit den Flüchtlingsströmen aus der Dritten Welt kommt die globale Armut zu deren Verursachern, den Eliten der Ersten Welt. 22

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Es gibt noch eine dritte wesentliche Ursache der Flüchtlingsströme: die fortschreitende Klima-Katastrophe. In einer aktuellen Studie rechnet Greenpeace vor, dass es heute bereits 20 Millionen Klimaflüchtlinge gibt. Geht die Umweltzerstörung weiter wie bisher, werden 2040 200 Millionen Menschen ihre Heimatregionen verlassen haben. Greenpeace argumentiert, dass der menschengemachte Klimawandel wie ein Katalysator den Wassermangel, Hunger, die Destabilisierung und gewalttätige Konflikte noch verschärfen wird. Und wenn wir sagen, der Klimawandel ist menschengemacht, dann ist gemeint, er ist im Wesentlichen zurückzuführen auf die Produktions- und Lebensweise des Westens. Die reichsten 10 % der Weltbevölkerung sind für die Hälfte aller Emissionen verantwortlich. Die ärmsten 50 % produzieren nur ein Zehntel aller Treibhausgase. Bei allen drei Grundursachen der Flüchtlingsbewegungen kommen wir zu dem Ergebnis, dass die erste Verantwortung dafür der Westen trägt, sein ökonomisches und politisches System. Unsere Gesellschaften stehen, als Verursacher für ihr Elend, in der Verantwortung für die Flüchtlinge.

Wie hoch sind die Kosten der Integration? Kommen wir zu der Frage: Wie können wir das schaffen? Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat eine Untersuchung herausgegeben mit dem Titel: „Integration von Flüchtlingen – eine langfristig lohnende Investition“. Die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass der Breakeven-Point zwischen positiven und negativen finanziellen Effekten der Flüchtlinge des Jahres 2015, im günstigsten Fall 2018,


im negativsten 2025 und bei durchschnittlichem Verlauf 2020 erreicht wird.

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ir haben es mit drei Arten von Kosten zu tun. Erstens die direkten Kosten im Zusammenhang mit der Unterkunft und Versorgung der Flüchtlinge. Sie betragen in Deutschland mindestens zehn Milliarden Euro jährlich für eine Million Flüchtlinge. Zweitens die sogenannten Integrationskosten, wo es um ausreichenden Wohnraum, um Integration in den Arbeitsmarkt, um Sprach- und Integrationskurse, um Kitas für Kinder und Unterricht für Jugendliche, um die Nachholung von Ausbildungsabschlüssen und um medizinische Versorgung geht. Allein für die 200.000 für Flüchtlinge benötigten neuen Sozialwohnungen müssen rund 20 Milliarden Euro aufgebracht werden. Die Gesundheitsversorgung für eine Million Flüchtlinge erfordert nach Angaben der Bundesregierung weitere 2,3 Milliarden Euro pro Jahr. Drittens haben wir es mit sogenannten allgemeinen Kosten zu tun, die für andere Bevölkerungsgruppen im Ergebnis der Integration zustande kommen, sowohl in Deutschland wie international. Allein in den sogenannten Frontstaaten, insbesondere der Türkei, sind in den nächsten drei bis fünf Jahren nach Ansicht von Experten mindestens 40 Milliarden Euro zu veranschlagen. Nimmt man die Aufteilung der Zehn-Milliarden-Euro-Unterstützung der EU für die Türkei als Muster, entfallen von den 40 Milliarden knapp 13 Milliarden auf Deutschland, pro Jahr drei bis vier Milliar-

den. Damit läge die Belastung des Landes durch die Bewältigung der Flüchtlingsprobleme bei rund 44 Milliarden jährlich. Vergewissern wir uns noch einmal der Dimension des Finanzproblems. Deutschland hat ein BIP von über drei Billionen Euro. Die 44 Mrd. Euro machen 1,4 %des Bruttoinlandsprodukts aus. Das Steueraufkommen in Deutschland beläuft sich auf 672 Milliarden Euro im Jahr. Die notwendigen Ausgaben für die Flüchtlinge belaufen sich auf etwas 6 % dieses Steueraufkommens. Das ist nicht wenig, aber durchaus verkraftbar, wenn wir in folgenden Schritten vorgehen: Wir haben einen Haushaltsüberschuss aller öffentlichen Hände von insgesamt 19,4 Milliarden Euro. Allein damit ließen sich die Kosten für Flüchtlinge fast zur Hälfte finanzieren. Seit 1997 gibt es in Deutschland keine Vermögensteuer. Würde man nur die reichsten 40.000 Haushalte in Deutschland, das reichste Promille der Bevölkerung, mit einer Vermögensteuer von 2 % belegen, brächte das jährliche Einnahmen von 30 Mrd. Euro. Eine fünfprozentige Steuer auf alle Millionen-Vermögen würde 140 Milliarden Euro erbringen. Würde man den Spitzensteuersatz für Jahreseinkommen von über einer halben Million Euro von jetzt 45 % auf 60 % erhöhen, würde das zusätzliche 10 Mrd. Euro jährlich erbringen. Der Verteidigungshaushalt liegt bei 34,4 Milliarden Er ist 42 % höher als im Jahr 2000. Die Ministerin will in den nächsten 15 Jahren pro Jahr 8,7 Milliarden allein 23

für neue Waffensysteme investieren, 67 % mehr als jetzt. Insgesamt sind das 130 Mrd. Euro allein für 1.500 neue Waffensysteme. Investiert wird vor allem für Panzer und Kampfhubschrauber, die unterschiedlichen militärischen Grundnahrungsmittel für Angriffe in Osteuropa und in den aktuellen Krisengebieten im Nahen Osten und in Afrika.

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ählt man diese Posten zusammen, kommen wir auf weit über 100 Mrd. Euro, das Doppelte bis Dreifache dessen, was für eine angemessene Finanzierung der Flüchtlinge gebraucht wird. Deutschland hat also die finanziellen Mittel, um das Problem zu lösen, ohne deshalb Leistungen für deutsche Bürger kürzen zu müssen. Im Gegenteil, es blieben bei einer gerechteren Besteuerung des Reichtums mächtige Ressourcen für eine bessere Versorgung der Deutschen. Es gibt einen generellen Vorbehalt: Das alles müsste gegen eine Elite und einen Staat durchgesetzt werden, die auf die Sicherung der Vorrechte von Konzernen und Reichen aus sind. Mit anderen Worten: Eine humanistische Flüchtlingspolitik ist eine politische Kampfaufgabe. Vollständiger Artikel auf der Seite des ISW München unter: kurzlink.de/schuhler

Conrad Schuhler ist Publizist und Wirtschaftswissenschaftler. Er leitet das Münchner Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung.

Foto: © Erik Marquardt

ES WIRKT WIE EIN GROSSES GEFÄNGNIS: DAS „HOTSPOT“-LAGER MORIA AUF LESBOS. UNTERSTÜTZER HABEN IHRE BOTSCHAFT HINTERLASSEN.


Foto: © Erik Marquardt

Nachdenken über Sicherheit und Frieden Was heißt friedenslogische Flüchtlingspolitik?

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it ihrer Abschottungs- und Abwehrhaltung gegenüber Flüchtlingen zerstören die EUMitglieder ihre Einflussmöglichkeiten auf die internationale Menschenrechtsentwicklung und das Gewicht ihrer Stimme in den Vereinten Nationen. Was wollen sie der malaysischen Regierung noch sagen, wenn deren Innenminister argumentiert, die aus Myanmar geflüchteten Rohingya müssten das Signal erhalten, nicht willkommen zu sein? Umso dringlicher sind Initiativen aus der Zivilgesellschaft, die in der Flüchtlingspolitik Friedenlogik anmahnen. Worin besteht ihr Mehrwert? Friedenslogik ist kein Rezeptbuch, aber ein Ideengeber für diejenigen, die nach Lösungen in komplexen Problemkonstellationen suchen. Sie erlaubt es, Zusammenhänge zwischen humanitären, entwicklungs-, menschenrechts- und gesellschaftspolitischen Arbeitsfeldern zu verstehen und diese Zusammenhänge in der Praxis zu beachten. Im friedenslogischen Denken ist Sicherheit ein hohes Ziel. Friedenslogische Politik will Sicherheit vor direkter Gewalt, Not und Furcht. Kaum strittig wird sein, dass sich die Sicherheit von Flüchtlingen im Rahmen friedenslogischer Politik erheblich verbessern würde. Aber welche Folgen hätte sie für die Sicherheit europäischer Gesellschaften? Stünde deren Sicherheit in Frage, wenn – wie von Ousmane Diar-

ra für die Assoziation der Abgeschobenen Malis anmahnte – Politik darauf hinwirken würde, dass Investoren auf Großprojekte verzichten, die landwirtschaftlich nutzbaren Boden verknappen und damit zur Vertreibung führen? Was stünde in Frage, wenn die Einreise von Flüchtlingen legalisiert und andere flüchlingssensible Maßnahmen ergriffen werden? Würden solche Veränderungen zu Lasten der Sicherheit von EU-Bürgerinnen gehen? Belege für die Berechtigung solcher Befürchtungen gibt es nicht. Gleichwohl existieren sie. Aus den aktuellen Kontroversen um die Flüchtlingspolitik lässt sich entnehmen, dass es Sorge gibt, europäische Sozialstaatlichkeit könne zusammenbrechen, rechtspopulistische Strömungen könnten wachsen, die politische Ordnung leiden, Identität und Lebensstil in Deutschland und Europa in Gefahr geraten. Man muss solche Befürchtungen nicht teilen, um sie ernst zu nehmen.

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uch ist richtig, dass sich nahezu alle sozialen, kulturellen und politischen Institutionen in der Folge der Globalisierung verändert haben und sich weiter verändern werden. Die Flucht nach Norden kann auch als Folge einer Form von Globalisierung angesehen werden, in der Ungleichheit politisch und sozial nicht abgefedert wird. Es kann auch sein, dass europäische Gesellschaften infolge der Globalisierung in Modernisierungskonflikte geraten, wie sie in vielen Krisenregionen bereits erlebt 24

werden. In beiden Fällen wirkt jedoch die Fortsetzung der Abschottungspolitik nicht präventiv. Vielmehr institutionalisiert sie die dehumanisierenden Potentiale der Globalisierung zum Nachteil der Flüchtlinge wie zum Nachteil aller Anderen, weil jeder Schritt der Entmenschlichung auch für diejenigen, die sich davon zunächst nicht betroffen fühlen, neue Unsicherheit schafft. Die in einer Öffnung gegenüber Flüchtlingen zum Ausdruck kommende humanitäre Solidarität einerseits und die Anerkennung der Mitverantwortung für Fluchtursachen andererseits würden dagegen die Chancen erhöhen, Globalisierung friedensverträglich zu gestalten und damit „menschliche Sicherheit“ am ehesten erhöhen.

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wei Erzählungen lassen sich bezüglich der Flüchtlingspolitik gegenüberstellen. In der sicherheitslogischen Erzählung werden Flüchtlinge zum Problem, weil sie als Bedrohung wahrgenommen werden. Sie gilt es abzuwehren – notfalls auch militärisch. In der friedenslogischen Erzählung ist die Gewalt das Problem, die Menschen vor, während und nach ihrer Flucht erleiden. Gewalt entsteht zwischen Konfliktparteien. Deren Beziehungen gilt es nach dem Prinzip der Konflikttransformation neu zu gestalten. Wer Teil des Problems ist, kann Teil der Lösung werden. Das ist eine Aufgabe und Chance. Sie wahrzunehmen, erfordert Problembearbeitung mit den Beteiligten durch zivile Konfliktbearbeitung.


FLUCHT

LINKS: BEI CESME, TÜRKEI: GEFLÜCHTETE WARTEN AN DER KÜSTE AUF DIE SCHLEPPER MIT DEM SCHLAUCHBOOT – DIE INSEL CHIOS IST IN SICHTWEITE. RECHTS: SCHLEPPER DRÄNGEN DIE MENSCHEN NACHTS AUF DAS BOOT, MIT DEM SIE ÜBERSETZEN WOLLEN (JANUAR 2016).

Foto: © Erik Marquardt

Die beiden Erzählungen stellen zwei Denkund Handlungsmuster dar, nicht aber zwei Realitäten. Sicherheitslogik dominiert die aktuelle Flüchtlingspolitik, aber in der gleichen Realität sind auch ermutigende, friedenslogische Praktiken entstanden. Friedenslogische Flüchtlingspolitik heißt somit, eine Praxis zu entwickeln, die den fünf Prinzipien Gewaltprävention, Konflikttransformation, Dialogverträglichkeit, Globalverträglichkeit und Reflexivität besser entspricht als die gegenwärtige Praxis. Auf internationaler Ebene trifft Europa als Akteur des politischen Nordens auf die Herkunfts- und Transitländer des politischen Südens. Aus diesen Konfliktlinien entstehen vor allem Druck und Zwang zu fliehen. Denn es geht um Machtansprüche, die Ausbeutung von Ressourcen und um asymmetrische Handelsbeziehungen. Es ist strittig, in welchem Ausmaß und in welcher Weise Europäer auch für die innerstaatlichen, ethno-politischen sowie zwischenstaatlichen Süd-Süd-Konflikte verantwortlich sind. Aber je weniger direkte oder indirekte Beteiligungen verstanden werden, desto geringer sind die europäischen Chancen, Konflikttransformationen zu fördern.

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enn Europäer Fluchtgründe reduzieren wollen, müssen sie ihr eigenes Handeln so verändern, dass Lebenschancen am Herkunftsort und in den Nachbarländern gefördert werden. Dazu bieten Fischerei- und Agrarpolitik, Klimapolitik, Rohstoffpolitik, aber auch die Unternehmenspolitik der Bekleidungskonzerne sowie die Börsengeschäfte mit Grundnahrungsmitteln viele Gelegenheiten.

Auf europäischer Ebene geht es in erster Linie um das Management andauernder Konflikte um Europäische Integration. Auf diesen Linien reproduziert sich die Kriminalisierung und Abwehr von Flüchtlingen. In den 1980er Jahren ergriffen einige EUStaaten die Initiative, einen einheitlichen Markt ohne Kontrollen an den Binnengrenzen zu schaffen. Dieses Projekt war umstritten. Der Streit wurde mit der Vereinbarung zur polizeilichen Zusammenarbeit vordergründig beigelegt. Diese orientiert sich an der Art und Weise, wie im 19. Jahrhundert Nationalstaaten gebildet, gefestigt und homogenisiert wurden. Zu diesem Zweck wurden Minderheiten ausgegrenzt, die Grenzen zu Nachbarländern verfestigt und das Ausländerrecht dem Polizeirecht und der Gefahrenabwehr zugeordnet zum Schutz vor organisiertem Verbrechen, aber auch vor unkontrollierter, „illegaler“ Einwanderung. Daher wurde auch die Asyl- und Migrationspolitik diesem Politikfeld zugeordnet. Asylsuchende und MigrantInnen wurden nun mit Verbrechern zu einer Gruppe zusammengefasst und mit dem Generalverdacht behaftet, aus niedrigen Motiven in das EU-Gebiet einzudringen. Diese konzeptionelle Fehlleistung wird auch durch die EU-Grundrechtecharta und das darin enthaltene Asylrecht nicht aufgehoben. Auf nationaler Ebene reproduzieren sich negative Haltungen gegenüber Flüchtlingen. Abneigung gegen die Schwachen entsteht aus Konflikten innerhalb der europäischen Staaten und Gesellschaften, zwischen Bund und Ländern, innerhalb der Kommunen und in der alltäglichen Lebenspraxis von Menschen, die sich einer kontinuierlichen Veränderung ihres Alltags ausgesetzt 25

sehen. Flüchtlingspolitik berührt immer auch innergesellschaftliche Brüche wie Ungleichheit, die Angst vor Übervorteilung und sozialem Abstieg und Entfremdung. Die Überwindung solcher Haltungen ist daher von arbeitsmarkt-, sozial- und bildungspolitischen Initiativen abhängig. Soziale Investitionen sind das A und O, wenn die Dynamik gesellschaftlicher Umbrüche sich nicht in Gewalt gegen Flüchtlinge entladen soll.

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rkennt man also die Gewalt gegen Flüchtlinge als Resultat systemischer Konfliktlinien, an denen Europa direkt oder indirekt beteiligt ist, lenkt diese Einsicht den Blick auf ein sehr breites friedenspolitisches Handlungsfeld. Eine friedensstiftende Flüchtlingspolitik bringt daher Teilziele wie die Bekämpfung von Fluchtursachen, die Entfeindung von Fremdheit und sozialpolitische Investitionen durch breit angelegte Menschenrechtsarbeit, Abrüstungs- und Entwicklungszusammenarbeit, Europäische Integration und Sozialpolitik miteinander in eine stimmige Verbindung und schafft dadurch auf den verschiedenen Konfliktlinien und politischen Ebenen gewaltreduzierende Beziehungen. Den Originalartikel in voller Länge finden Sie auf der Seite von „Brot für die Welt“ unter: tiny.cc/friedenslogik

Prof. Dr. Hanne-Margret Birckenbach ist Soziologin und Politikwissenschaftlerin. Sie engagiert sich in Hamburg als Flüchtlingslotsin.


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Sprechstunde für Flüchtlingskinder in einer Erstaufnahmestelle Interview mit IPPNW-Mitglied Prof. Dr. Helfried Gröbe

Herr Gröbe, Sie kümmern sich in Zirndorf (Bayern) um Flüchtlingskinder. Wieviele kleine Patienten behandeln Sie am Tag und wieviele HelferInnen unterstützen Sie bei den ehrenamtlichen Sprechstunden? Seit Oktober 2014 arbeite ich zusammen mit anderen Kinderärzten in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und Asylsuchende in Zirndorf. Dieser Zeitpunkt war gleichzeitig der Beginn des massenhaften Zustroms von Flüchtlingen, der das ganze Jahr 2015 über anhielt und dem die vorhandenen Strukturen im Aufnahmeverfahren, der Unterbringung und im Gesundheitsdienst nicht gewachsen waren. Auf freiwilliger Basis haben wir in Selbstorganisation eine Sprechstunde für Kinder und Erwachsene eingerichtet und bieten sie seitdem täglich an. Mit wohlwollender Unterstützung durch die Regierung und die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Zirndorf haben wir ein eigenes, kindgerechtes Sprechzimmer eingerichtet, wobei auch die Verantwortung an uns übergeben wurde. Uns stehen in der Regel zwei HelferInnen pro Sprechstunde zur Verfügung. Unser Angebot ist niederschwellig, das heißt, es ist keine Anmeldung erforderlich. Die Sprechstundendauer am Vormittag richtet sich nach der Inanspruchnahme: Im vergangenen Jahr war die Zahl der behandelten Kinder sehr hoch, ca. 30-40 pro Sprechstunde, jetzt ist sie deutlich auf 10-20 Kinder pro Sprechstunde zurückgegangen. Wir arbeiten auf einer Vertragsbasis mit der Regierung Mittelfranken, was ich als notwendig erachte, denn wir leisten eine professionelle, nachhaltige Arbeit unter schwierigen Bedingungen.

von uns viel Improvisations- und Einfühlungsvermögen verlangt. Zweimal pro Woche hilft uns derzeit eine asylsuchende Ärztin aus dem Irak, die Kurdisch, Arabisch, Englisch und zunehmend Deutsch spricht, eine große Entlastung. Da sie über Frankreich nach Europa eingereist ist, läuft jetzt ein Ausweisungsverfahren! Flüchtlinge haben keine Versichertenkarte. Wer kommt für die Kosten von Behandlung und Medikamenten auf? Wir diagnostizieren und behandeln die üblichen Krankheiten, überprüfen und ergänzen den Impfstatus und führen die Vorsorgeuntersuchungen durch. Die notwendigen Medikamente in der Akutbehandlung haben wir vorrätig und können sie den Eltern mitgeben. Wir bestellen die Medikamente, Verbandsmaterial und Impfstoffe direkt in den ortsansässigen Apotheken. Nicht vorhandene Medikamente verschreiben wir auf eigens entwickelten Rezeptformularen. Sie sind ebenfalls kostenfrei. Die Kostenübernahme erfolgt jeweils durch die Regierung Mittelfranken. Was machen Sie, wenn medizinische Hilfe notwendig ist, die Sie selbst nicht leisten können? Kinder mit schweren Erkrankungen, notwendigen Operationen oder Erkrankungen, die wir nicht vor Ort behandeln können, weisen wir in eine Kinderklinik oder eine entsprechende Fachambulanz ein. Dies muss vom Sozialamt bzw. Gesundheitsamt genehmigt werden. Dabei gilt für uns der Grundsatz, entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention jedes Flüchtlingskind nach den gleichen medizinischen Grundsätzen wie einheimische Kinder zu behandeln.

Stehen Ihnen auch DolmetscherInnen zur Verfügung? Wie überwinden Sie die Sprachbarriere? Dolmetscherdienste als Voraussetzung einer Diagnose, Therapieeinleitung und -begleitung stehen uns institutionalisiert nicht zur Verfügung. Hier sind oft nur „Insellösungen“ möglich. Wir suchen unter dem Personal oder den Asylbewerbern selbst nach Dolmetschern. Selten ist eine Verständigung in Englisch möglich. Bei den vielen Herkunftsländern der Flüchtlinge ist das sehr schwierig. Oft sind ein babylonisches Sprachgewirr – oder auch Sprachlosigkeit vorherrschend, was

Viele Flüchtlingskinder sind schwer traumatisiert. Wie gehen Sie mit diesen Traumatisierungen um? Traumatisierte Kinder (und Erwachsene) sind aufgrund der Sprachbarrieren ein großes Problem für uns. In unserem Sprechzimmer versuchen wir einen Ort der Ruhe und Zuwendung zu schaffen. Wir erfahren etwas über das Leben im Heimatland, die unmittelbaren Kriegseinwirkungen, die Zerstörungen, die Strapazen und Gefahren der 26


„In unserem Sprechzimmer versuchen wir einen Ort der Ruhe und Zuwendung zu schaffen. Wir erfahren etwas über das Leben im Heimatland, die Kriegseinwirkungen, die Zerstörungen, die Strapazen und Gefahren der Flucht.“ Herr Gröbe, eine abschließend Frage: Was ist Ihre persönliche Motivation, sich um kranke Flüchtlingskinder zu kümmern? Meine intellektuelle Hilflosigkeit in praktische Hilfe umzusetzen. Ich denke, dass es in unserer Gesellschaft nötig ist, dass wir solidarisch sind. Ich behandle Kinder, bekomme aber auch sehr viel an Dankbarkeit zurück. Es ist ein Geben und Nehmen.

Flucht. In einem gut geführten und ausgestatteten Kindergarten werden die Kinder bei freiwilliger Teilnahme von ErzieherInnen betreut. Psychologische und kinderpsychiatrische Dienste sind nicht vorhanden. Für Erwachsene konnte ein Kriseninterventionsdienst durch eine psychiatrische Fachkraft eingerichtet werden, der einmal pro Woche stattfindet. Eine angemessene Unterbringung, in der mit der Familie eine Intimsphäre möglich ist und die es ermöglicht, nach dem belastenden Asylverfahren rasch eine sichere Zukunftsperspektive zu eröffnen, ist leider nicht gegeben. Was noch hinzukommt, sind die psychosozialen Probleme. Letztendlich sind die Flüchtlinge sozial-kulturell entwurzelt. Das macht das Arbeiten sehr viel schwerer.

Prof. Dr. Helfried Gröbe wird auf dem Kongress „Medizin und Gewissen“ am 14. und 15. Oktober 2016 in Nürnberg über seine Arbeit als Flüchtlingsarzt referieren. Das Kongressprogramm finden Sie auf der Rückseite dieses Hefts und unter: www.medizinundgewissen.de

Bei syrischen Geflüchteten liegen die Fluchtursachen auf der Hand. Was sind Ihrer Erfahrung nach weitere Fluchtursachen, die Ihnen in Ihrer Praxis begegnen? Fluchtursachen sind neben den kriegerischen Konflikten in der brutalen globalen Ökonomisierung unserer Welt zu sehen. Dies wird besonders deutlich bei Flüchtlingen aus den Balkanländern (Kosovo) und vielen Gebieten Afrikas. Jeder Mensch hat das Recht, für sich und seine Familie eine Existenz, sein Glück zu suchen, aus welchen Gründen auch immer. Wir können ihm das nicht vorschreiben. Besonders gravierend erlebe ich die existentiellen Nöte der Roma, seien sie aus den Balkanländern oder aus der Ukraine zu uns gekommen. Sie sind in ihren Herkunftsländern nicht geduldet und haben keine Zukunft. Das gleiche geschieht hier, dabei bestände für uns aus einer historischen Schuld heraus die Verpflichtung, sie zu schützen und aufzunehmen.

Die Fragen stellte Angelika Wilmen, Pressesprecherin und Koordinatorin der Öffentlichkeitsarbeit der IPPNW.

Prof. Dr. Helfried Gröbe ist IPPNWMitglied und arbeitet ehrenamtlich im Erstaufnahmelager Zirndorf. 27


FOTO: KATHARINA THILKE

FLÜCHTLINGE VON DER ÖSTERREICHISCHEN GRENZE KOMMEN IN KÖLN-BONN AN, SEPTEMBER 2015. Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0

Die Ambulanz an der Drehscheibe Köln-Bonn Freiwillige und Hauptamtliche versorgten Geflüchtete am Flughafen gemeinsam

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n einem Zeitraum zwischen September 2015 bis April 2016 wurden Geflüchtete vom Flughafen Köln/ Bonn aus auf die 47 Landesunterkünfte in Nordrhein-Westfalen verteilt. Mit Sonderzügen aus Passau erreichten die Menschen die sogenannte „Drehscheibe“. Betreiber der Einrichtung war die Stadt Köln. Die Kosten für den laufenden Betrieb trug das Land NRW. Als fungierende Organisationen waren unter anderem der Arbeitersamariterbund, die Johanniter, das Deutsche Rote Kreuz, das Technische Hilfswerk und der Kölner Verkehrsverbund engagiert. Im Rahmen der abendlichen Einsätze waren circa 220 Menschen in Bereichen wie Essens- und Getränkeausgabe, Kleiderausgabe, Dolmetschen, Kinderbetreuung, Logistik und medizinischer Versorgung beschäftigt. Eine Registrierung der Geflüchteten fand nicht statt. Ein Team aus freiwilligen und hauptamtlichen HelferInnen holte die Geflüchteten am Gleis bei ihrer Ankunft gegen 18 Uhr ab, um sie in die kleine Zelt- und Containerstadt zu geleiten. In acht Monaten sind 60 Sonderzüge mit insgesamt 28.500 Geflüchteten dort eingetroffen. Es waren mehr als 3.000 Freiwillige im Einsatz. In den Anfängen kamen jeden zweiten

Abend Züge mit bis zu 1.000 Personen an. Die Aufenthaltsdauer der Geflüchteten betrug nur wenige Stunden. Natürlich entschieden sich auch einige, mit öffentlichen Verkehrsmitteln weiterzureisen, um zum Beispiel Teile ihrer Familie oder Freunde aufzusuchen. Sie entschieden sich gegen eine Weiterreise bzw. eine Unterbringung in der Erstaufnahme.

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ie medizinische Versorgung fand in einem Container mit vier Behandlungsplätzen statt. Außerdem gab es eine kleine Apotheke mit Medikamenten wie Paracetamol, Ibuprofen und Cortison. Einen Vorrat an Antibiotika gab es nicht. Ein Behandlungsplatz konnte mittels Vorhangs abgegrenzt werden. Hier wurden schwerer erkrankte Patientinnen und Schwangere behandelt. Vitalparameter konnten mittels Pulsoxymeter, Blutdruckmanschette und Fieberthermometer erhoben werden. Ein EKG-Monitor mit Defibrillator wurde durch den Rettungsdienst gestellt. Außerdem standen Infusionsbestecke und -lösungen zur Verfügung. Aufgrund der Gegebenheiten unterschied sich meine hiesige Tätigkeit dort von der in der Ambulanz der Kinderklinik. In dem Container war es eng. Es waren mindestens drei bis vier ÄrztInnen anwesend (Allgemeinmediziner, Kin28

derärztin, weitere Fachdisziplinen). Dann gab es vier Krankenpflegerinnen und zwei bis drei qualifizierte DolmetscherInnen. Häufig waren alle Familienmitglieder der PatientInnen anwesend, auch wenn nur Teile der Familie eine Ärztin konsultierten. Außerdem war Personal des Rettungsdienstes anwesend. Sie waren zuständig für potentielle Krankentransporte in die umliegenden Kliniken. Es agierten viele Menschen auf engstem Raum. Daher konnte die Intimsphäre der PatientInnen bedauerlicherweise nur bedingt gewahrt werden. Ein zentrales Element der medizinischen Tätigkeit war die Zusammenarbeit mit den DolmetscherInnen. Ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, eine kurze Anamnese zu erheben, um einen Eindruck von der aktuellen Gesundheitssituation der Kinder zu bekommen.

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nabdingbar für eine adäquate medizinische Versorgung ist die Kommunikation mit den Eltern. In der Ambulanz der Kinderklinik erfahre ich täglich, wie limitiert die ärztliche Tätigkeit sein kann, wenn es wenige bis keine Kanäle der Kommunikation gibt. Die Arbeit kann nicht nur unbefriedigend und frustrierend sein, sondern im Zweifelsfall auch gefährdend. In der kleinen Ambulanz an der Drehscheibe


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war ich sehr dankbar für die Anwesenheit von professionellen DolmetscherInnen. Wichtige Fakten zum Krankheitsverlauf waren neben dem Allgemeinzustand des Kindes wegweisend, ob eine stationäre Behandlung notwendig war oder nicht. Die Mehrheit der Konsultationen umfasst Symptome wie Infektionen der oberen und

Ambulanz ein limitierender Faktor. Insbesondere wenn es zu Krankenhauseinweisungen kam. Für mich als Kinderärztin ist die Situation eindeutig, wenn ich einen acht Monate alten Säugling untersuche, der an einer obstruktiven Bronchitis erkrankt ist, in reduziertem Allgemeinzustand bei nicht ausreichender Sauerstoffsättigung. Es be-

bedarf es eigentlich der Ruhe und eines Rückzugsraums für ein Gespräch mit Erklärungen. Stattdessen befinde ich mich in einem kleinen Container umringt von unterschiedlichen Akteurinnen. Ich versuche mittels Dolmetscherin den Eltern die medizinische Situation ihres Kindes so ruhig wie möglich zu erläutern. Im Hintergrund höre ich eine Stimme, die ruft, was denn nun sei, dass der Bus abfahren solle, wie lange es denn noch dauere.

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unteren Luftwege, Fieber, Otitis media sowie Durchfall und Erbrechen. Je nach Aufkommen der Patientinnen bzw. nach Altersstruktur untersuchte ich in Einzelfällen auch schwangere Frauen und erwachsene Patientinnen. Häufig war die Anzahl der Kinder sehr hoch, so dass ich vor allem Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder untersuchte. Einweisungen in das Krankenhaus waren selten notwendig in Fällen wie beispielsweise Pneumonie und Dehydrierung. Die Anzahl der Patientinnen variierte in Abhängigkeit von der Gesamtanzahl der Geflüchteten. Manchmal waren es mehreren Dutzend Konsultationen innerhalb von wenigen Stunden.

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iel war es, dass die Geflüchteten schnellstmöglich in die Erstaufnahme weiterreisen konnten. Wenn sie sich im Aufenthaltszelt gestärkt hatten, sich bei Bedarf zum Beispiel neue Schuhe in der Kleiderkammer geholt hatten, die Windelkinder eine Versorgung an der separaten Wickelstation erhalten hatten, war es Zeit, in die einsatzbereiten Busse zu steigen. Häufig war unsere Tätigkeit in der kleinen

darf einer stationären Aufnahme in eine Kinderklinik. Das Risiko, den Säugling nun noch einige Stunden mit dem Bus weiterreisen zu lassen, ist mir als Kinderärztin zu hoch. Insbesondere, weil ich nicht sicher weiß, ob bei der nächtlichen Ankunft in der Erstaufnahme eine Ärztin anwesend ist. Die Flüchtlinge können sich auf Grund der Sprachbarriere nicht artikulieren. Außerdem sind es zumeist große Gruppen von von mehreren hundert Geflüchteten. Da besteht das Risiko, dass Einzelpersonen untergehen. Doch der Säugling mit ob-struktiver Bronchitis wird von einer großen Familie begleitet. Es bestand von Seiten der Stadt Köln die Möglichkeit, Mutter und Vater und gegebenenfalls Geschwisterkinder unterzubringen. Jedoch reichten die Kapazitäten nicht aus, die gesamte erweiterte Familie unterzubringen.

evor ich angefangen habe, in der Ambulanz an der Drehscheibe zu arbeiten, habe ich mir Gedanken darüber gemacht, ob ich als Kinderärztin in der Weiterbildung schon genug Erfahrung habe, um Entscheidungen zu treffen ohne die Möglichkeit eines CrP-Schnelltestes, eines Urinstix oder einer Blutgasanalyse. In der Situation selbst habe ich dann schnell festgestellt, dass die vordergründigen Probleme häufig ganz anderer Natur waren. Im Falle des acht Monate alten Säuglings mit Bronchitis hat sich die Familie gegen eine stationäre Aufnahme entschieden. Nach einer Gabe von Cortison supp und Salbutamolinhalation reisten sie weiter. Seit Anfang April hat die Landeshauptstadt Düsseldorf die Koordination übernommen. Die Verteilung der Geflüchteten findet nun von dort aus statt. Die Drehscheibe am Flughafen Köln/Bonn gibt es nicht mehr. Auf dem Gelände soll ein Hotel entstehen.

So befand ich mich in einem Dilemma. Für Katharina Thilke ist Kinderärztin, mich war einerseits nachvollziehbar, dass aktiv im Arbeitsdie Familie sich unter keinen Umständen kreis Flucht und trennen wollte. Auf der anderen Seite habe Asyl und Mitglied des Vorstandes ich mich für das Wohl des Kindes verantder deutschen IPPNW. wortlich gefühlt. In einer solchen Situation 29

Fotos: © Erik Marquardt

„Die Arbeit kann nicht nur unbefriedigend und frustrierend sein, sondern im Zweifelsfall auch gefährdend.“


WELT

Foto: ICAN

Der Status quo ist nicht akzeptabel Die Mehrheit der Staaten will ein Atomwaffenverbot

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on der internationalen Presse weitgehend ignoriert, diskutierten UN-Mitglieder im Mai in Genf juristische Maßnahmen, um Atomwaffen weltweit abzuschaffen. Die Atomwaffenstaaten boykottierten das Treffen. Deutschland und andere Staaten, die mit den USA alliiert sind, übernahmen in der Debatte die Rolle der Befürworter von Atomwaffen und wandten sich gegen ein Atomwaffenverbot. Dennoch kann man sagen, dass der Verbotsvertrag unaufhaltsam auf den Weg gebracht worden ist.

ren Schirm zum Schutz vor der russischen Bedrohung. Während der OEWG sprachen sich 125 Staaten für eine „Schließung der Rechtslücke“ aus, also für eine explizite Ächtung der Atomwaffen wie bei den B- und C-Waffen. Die 54 Staaten der afrikanischen Gruppe machten eine gemeinsame Erklärung, um den Aufruf für ein Atomwaffenverbot zu unterstützen. Die 33 lateinamerikanischen und karibischen Staaten (CELAC) schlugen vor, Verhandlungen über einen Verbotsvertrag aufzunehmen. Neun Staaten schlugen vor, die UN sollte bereits 2017 eine Verhandlungskonferenz für einen Verbotsvertrag abhalten. Bei den Statements am letzten Tag erhielten all diese Vorschläge sehr viel Unterstützung, außer von den Staaten, die von den Atomwaffen abhängig sind (die NATO-Mitglieder, Australien, Japan und Südkorea).

Wie kam es zu diesem Schritt? Mexiko machte bereits im letzten Jahr den Vorschlag, eine „Open-Ended Working Group (Ergebnisoffene Arbeitsgruppe, OEWG) bei den Vereinten Nationen in Genf abzuhalten. Die Mehrheit der Staaten stimmte dafür. Da in der UN-Vollversammlung Mehrheitsentscheidungen gelten, im Gegenteil zur ständigen Abrüstungskonferenz oder den Konferenzen des Atomwaffensperrvertrags, beschlossen die Staaten, die OEWG in drei Sitzungsperioden 2016 abzuhalten. Das Mandat lautete: Juristische und andere Maßnahmen zu diskutieren, um die multilaterale nukleare Abrüstung weiterzuführen. Die zweite Sitzungsperiode ging am 13. Mai 2016 zuende – und die IPPNW war dabei.

Nun stellt sich die Frage, wie der Botschafter Thani Thongphakdi aus Thailand, der den Konferenzvorsitz innehat, die Unterstützung für einen Verbotsvertrag im OEWG-Abschlussbericht wiedergeben wird und was er der UN-Vollversammlung empfiehlt. Denn die Teilnehmerstaaten sind gespalten und die verschiedenen Meinungen zur Legitimität der Atomwaffen sind unvereinbar. Im August treffen sich die Staaten wieder, um den Abschlussbericht zu verabschieden. Wenn es keinen Konsens gibt, was zu erwarten ist, könnte abgestimmt werden. Dann würde das Mehrheitsvotum zählen und die Atomwaffenstaaten könnten überstimmt werden.

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ur Eröffnung der OEWG am 2. Mai 2016 veröffentlichte die IPPNW gemeinsam mit drei anderen internationalen Gesundheitsorganisationen ein Papier mit medizinischen und wissenschaftlichen Fakten zu den Folgen eines Einsatzes von Atomwaffen. Angesichts der existentiellen Gefahr sei die Ächtung der Atomwaffen die einzige mögliche Handlungsoption. Nichtregierungsorganisationen durften sich aktiv an der Diskussion beteiligen. Die IPPNW-ÄrztInnen Tilman Ruff, Ira Helfand, Clara Levin und Ron McCoy waren unter den Vortragenden, die aus medizinischer Sicht für ein Atomwaffenverbot argumentierten.

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m Oktober findet die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York statt. Da das Mehrheitsprinzip gilt, ist zu erwarten, dass die Versammlung eine Konferenz zur Verhandlung eines Verbotsvertrags 2017 einberufen wird. Noch offen ist allerdings, ob die „abhängigen“ Staaten (wie Deutschland) oder gar die Atomwaffenstaaten bei einer solchen Konferenz dabei sind. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass sich die PolitikerInnen im Bundestag bereits 2010 parteiübergreifend für das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ausgesprochen haben. Daher werden die IPPNW und ihre Bündnispartner die Bundesregierung zu Beginn des Verhandlungsprozesses massiv unter Druck Xanthe Hall setzen, ihrer Verpflichist Atomtung aus dem Nichtverwaffencampaignerin breitungsvertrag Artikel der IPPNW VI nachzukommen und und besuchte für ein Atomwaffenverdie OEWG in Genf. bot zu stimmen.

Die OEWG ist offen für alle UN-Mitgliedsstaaten. Aber alle neun Staaten, die Atomwaffen besitzen, blieben fern. Staaten, die wie Deutschland unter dem „nuklearen Schirm“ stehen, nahmen zwar teil, argumentierten aber gegen ein Verbot. Sie bezeichneten ein solches als verfrüht und äußerten die Befürchtung, ein neuer Vertrag würde von dem bereits bestehenden Atomwaffensperrvertrag ablenken. Deutschland erklärte sogar, die Risiken eines Atomwaffeneinsatzes seien heute nicht höher als zu Zeiten des Kalten Krieges. Das widerspricht allerdings sowohl den Ergebnissen der internationalen Konferenzen als auch der eigenen Argumentation. Denn der deutsche Botschafter Michael Biontino sagte, angesichts der derzeitigen Sicherheitslage bräuchte Deutschland den atoma30


Foto: Uwe Hiksch CC BY-NC-SA 2.0

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AKTION

BERLIN Foto: Alois Hirth

Abschalten: Ja, bitte! Tschernobyl und Fukushima: 30 Jahre sind genug Anlässlich der „runden“ Jahrestage der Super-GAUs von Tschernobyl und Fukushima protestierten bundesweit tausende von AtomkraftgegnerInnen – unter anderem in Brokdorf, Lüttich, Ahaus, bei Schacht Konrad, in Biblis, Gundremmingen, Landshut, in Fessenheim und auf den Brücken am Oberrhein. IPPNWMitglieder organisierten Veranstaltungen oder traten mit Redebeiträgen auf. Auf der Kazaguruma-Kundgebung in Berlin sprach der europäische Studierendenvertreter Jonathan Lauryn. IPPNW-Atomenergiereferent Henrik Paulitz hielt in Nürnberg einen Vortrag über notwendige Maßnahmen zum Erreichen der Energiewende und Angelika Claußen diskutierte an der Universität Bielefeld mit Studierenden über die gesundheitlichen Auswirkungen von Tschernobyl und Fukushima. In Fürth war bis zum Tschernobyl-Jahrestag die Ausstellung „Hibakusha Weltweit zu sehen. Siehe auch Berichte im Forum intern. Foto: GuenterHH / CC BY-ND 2.0

FÜRTH

BROKDORF 31


G ELESEN

Ausnahmezustand

Wie Medien manipulieren

Navid Kermani, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, hat die Krisenherde zwischen Kaschmir und Lampedusa bereist. Einfühlsam und unvoreingenommen stellt er Fragen, die uns alle bewegen.

Von der Tatsache zur Nachricht: Der Sammelband „ARD & Co.“ ist eine kenntnisreiche und umfassende Bestandsaufnahme der Nachrichtenmache und Desinformation durch ÖffentlichRechtliche, private Verlagshäuser und Akteure auf dem expandierenden Nachrichtenmarkt Internet.

W

D

er ist Schuld an den Krisen in der islamischen Welt? Der Westen? Der Islam? Was geschah am 11. September 2001? Die Antworten sind so vielfältig wie seine Gesprächspartner: Er nimmt uns mit ins Teehaus in Kairo, in dem immer noch viel gelacht wird, zu ekstatischen Festen und spuckenden Sufis in Pakistan, zum Germanistikprofessor im Bagdad, der von der Übersetzung von Visaanträgen lebt und glaubt, dass drei Kriege den Widerstandsgeist der IrakerInnen gebrochen haben, zu Nur Agha, der seit dem Tod seiner Frau und fünf seiner Kinder durch eine Bombe in Kabul auf dem Friedhof lebt und sich entschuldigt, dass er vom 11. September dort nichts mitbekommen hat, zum Küchenchef im NATO-Feldlager, der sich darüber wundert, dass er kein afghanisches Personal einstellen darf, zum ehemaligen Taliban, der Selbstmordanschläge für eine Sünde hält und trotzdem bereut ausgestiegen zu sein.

ie 17 AutorInnen veranschaulichen in diesem Buch, wie eingebettete Kriegsberichterstattung funktioniert, unter anderem am Beispiel von Syrien, Irak, Aghanistan, Kosovo, dem Kaukakasuskrieg 2008 und der eskalierenden Propaganda zur Ukrainekrise. Sie geben prägnante Beispiele für den direkten Einfluss von Politik, PR-Agenturen und Lobbyisten auf die Verlagshäuser – so zum Beispiel, wie es Rudolf Scharping und hohen Militärs nach dem Kosovokrieg mithilfe eines dafür eigerichteten Arbeitsstabes gelang, unliebsame Schlagzeilen über DU-Munition aus den Medienberichten zu verbannen. Das Buch gibt aufschlussreiche Einblicke in das Innere der öffentlich-rechtlichen „Medienqualle“: JournalistInnen haben kaum mehr die Möglichkeit, einer eigenen Weltwahrnehmung zu folgen. Schuld sind Zeitdruck, prekäre Arbeitsbedingungen, die Einsparung von Berichten aus erster Hand und ein um sich greifendes Klima von Opportunismus und fehlender sozialer Empathie. „Anpassung ist Regel Nummer Eins.“ Wer sich brisanter Themen annimmt, riskiert Personalaktenvermerke, die die Karriere zunichte machen – oder bekommt keine Aufträge mehr.

Er fährt mit den Peschmerga an die Front, wo erst über Arsenal London diskutiert wird und kurz darauf drei Männer sterben. Er nimmt uns mit uns nach Lampedusa, wo ihm ein strahlender Kapitän berichtet, das Seerecht stehe für ihn über Frontex. Er lädt uns ein zu Ajatollahs, Künstlern, Widerstandskämpfern, Touristen, Landlosen, Politikern, Slumbewohnern und bis an die Grenzen seiner Berichterstattung: zu den von Minen zerfetzten Kindern in den hoffnungslos überforderten Krankenhäusern Afghanistans und Syriens.

Unter die Lupe genommen wird auch Veränderung der Medienlandschaft: Einschneidend waren die Einführung des privaten „Kommerzfunks“ 1980 durch die Regierung Helmut Kohl und die Vermarktung von Nachrichten im Internet, bei der Output an die Stelle von Inhalt tritt. Das Recycling der immer gleichen Themen und das Aufblähen medialer „Heißluftballons“ verstopfen die Kanäle und sorgen für eine Entpolitisierung und Frustration beim Publikum. Zu hoffen bleibt, dass mit dem Dissenz auch das Interesse an alternativen Informationsangeboten wächst.

Durch die lebendigen Schilderungen lässt sich das fundierte politische, historische und religiöse Hintergrundwissen leicht aufnehmen. Die vielfältigen Eindrücke zeigen, wie komplex und furchtbar die Situation ist. Da es Kermani durch ehrliches Interesse und respektvolle Anteilnahme gelungen ist, tiefgehende Gespräche zu führen, lässt sich dennoch an einigen Stellen Hoffnung zumindest erahnen: Viele Gesprächspartner bemühen sich um eine differenzierte Beurteilung oder beziehen sich, unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Zugehörigkeit, auf ähnliche Grundwerte.

Ein gut recherchiertes, spannendes Buch von AutorInnnen, die den Finger in die Wunde der Medienökonomie legen – unbedingt lesenswert für alle, die trotzdem versuchen wollen, mit alternativen Themen in die „Stuben der Meinungsmacher“ einzudringen.

Navid Kermani: Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigte Welt. C.H. Beck, 2. Auflage 2013, 253 S.: mit zehn Karten, 19,95 €, ISBN 978-3-406-64664-5 Inga Blum

Ronald Thoden (Hrsg.): ARD & Co. – Wie Medien manipulieren. Selbrund Verlag 2015, 316 S., 16,80 €, ISBN 978-3-9816963-7-0 Regine Ratke 32


GEDRUCKT

TERMINE

Tschernobyl und Fukushima

JUNI

Eine kleine Broschüre zu den bisher größten Atomkatastrophen

19.6. Friedenspolitisches Forum zur Erinnerung an Andreas Buro, Frankfurt/M.

JULI

Tschernobyl und Fukushima haben beide bewiesen, dass das Atom-Risiko ein reales ist – nicht nur in sowjetischen Meilern, sondern auch in einem Hochtechnologieland wie Japan, das wie kaum ein anderes Erfahrung mit Atomkraftwerken hat. Auch in jedem anderen AKW kann es jeden Tag zum Super-GAU kommen. Wer weiter auf Atomkraft setzen will, muss Tschernobyl und Fukushima vergessen machen. Diese Broschüre hingegen will die Katastrophen und ihre Folgen begreiflich machen und in Erinnerung halten – als Mahnung und Ansporn, alle Atomkraftwerke endlich abzuschalten.

26.6.-2.7. IPPNW-Aktionswoche am Fliegerhorst Büchel (Eifel) 5.-15.7 Hibakusha Weltweit: Ausstellung in Karlsruhe 8.7. Flaggentag der Mayors for Peace, 20. Jahrestag des IGH-Rechtsgutachtens

AUGUST 6.8. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima: Veranstaltungen in Berlin, Dortmund und anderen Städten

Redaktion: Dr. Alex Rosen (IPPNW) und Armin Simon (Ausgestrahlt)

9.8. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Nagasaki – Ende der Dauerpräsenz in Büchel

40 Seiten A6, 0,40 Euro pro Stück Zu bestellen unter: shop.ippnw.de

Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen unter: hiroshima-nagasaki.info

GEPLANT

SEPTEMBER

Das nächste Heft erscheint im September 2016. Das Schwerpunktthema ist:

Medizin und Gewissen – Was braucht der Mensch?

18.-30.9. Begegnungsfahrt Palästina – Israel

OKTOBER

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 147/Juni 2016 ist der 31. Juli 2016. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Redaktionsschluss für das nächste Heft:

Wilmen, Regine Ratke

31. Juli 2016

Freie Mitarbeit: Hannah Mertgen

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

Regine Ratke; Druck: Vivian Schneider Druckerei-

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 698074-0,

dienstleistungen Berlin; Papier: Recystar Polar,

Fax 030 / 693 81 66, E-Mail: ippnw@ippnw.de,

Recycling & FSC.

www.ippnw.de, Bankverbindung: Bank für

Bildnachweise: S. 6 Mitte: Hungerstreik von

Sozialwirtschaft, Kto-Nr. 2222 210, BLZ 1002

Flüchtlingen in Berlin, Die Linke im Bundestag / CC

0500, IBAN DE39 1002 0500 0002 2222 10,

by 2.0; S. 7 Mitte: Remy Steinegger / CC by-sa 2.0

BIC BFSWDE33BER Das Forum erscheint vier Mal im Jahr. Der Bezugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti33

14.-15.10 IPPNW-Kongress „Medizin und Gewissen“, Nürnberg 14.-15.10 Demonstration für die Stilllegung der Atomanlagen in Lingen Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

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OKTOBER 14.–15.10.2016 IPPNW-Kongress „Medizin und Gewissen“


G EFRAGT

6 Fragen an … Fabian Scheidler

Der Journalist, Theater- und Buchautor Fabian Scheidler hat Geschichte, Philosophie und Theaterregie studiert. Er ist Autor des Buches „Das Ende der Megamaschine“, das 2015 erschien.

1

In Ihrem Buch „Das Ende der Megamaschine“ betonen Sie die brutale westeuropäische Geschichte. Aber es gab doch auch außerhalb Europas unmenschliche Systeme. Natürlich. Aber das Besondere an Europa seit der frühen Neuzeit ist die extreme wirtschaftliche und militärische Dynamik. Das Kapital war von Anfang an transnational organisiert, während Staaten wie Frankreich und England miteinander konkurrierten und überall verschuldet waren. Wer mehr Geld hatte, konnte grössere Heere finanzieren, und dafür brauchten die Herrscher das Kapital der Händler. Das war im arabischen Raum anders: Dort war das Handelssystem im Hochmittelalter weiter entwickelt als in Europa, aber die Händler standen dem Staat fern. Auch China hatte eine sehr entwickelte Handelsflotte, doch um 1430 ließ sie der Kaiser stilllegen, weil er sich von den Händlern in seiner Macht bedroht fühlte.

4

2

5

Auch wenn der Staat oft eine zweifelhafte Rolle spielte: Einiges an ihm ist doch erhaltenswert. Sicher. Soziale Bewegungen haben dem Staat, der einst ein reines Repressionsorgan war, in den letzten 200 Jahren einiges abgetrotzt: ein Gesundheitssystem, Renten, öffentliche Bildung. Das sind enorme Errungenschaften, die es zu verteidigen gilt. Was wir brauchen, ist ein Ausstieg aus der Logik der endlosen Geldvermehrung. Es geht um eine Wirtschaft, die am Gemeinwohl und nicht am Profit orientiert ist, auf Kooperation statt Konkurrenz beruht. Dafür müssen wir die Rahmenbedingungen verändern, um die Inseln des Gemeinwohls auszuweiten, die es heute schon gibt. Auch der Aufbau von selbstorganisierten Strukturen von unten spielt eine wichtige Rolle, etwa Genossenschaften für die Energieversorgung. Kluge Ansätze dafür gibt es, das ist nicht das Problem...

1968 erscheint in Ihrem Buch als Lichtblick – war dieses Jahr wirklich so wichtig? 1848 war vermutlich ebenso wichtig. Aber ich habe die Zeit, die uns näher ist, stärker in den Vordergrund gerückt. Die 68er-Bewegung hat das System auf sehr fundamentale Weise herausgefordert, weil sie nicht nur die Ökonomie, sondern auch das Militär infrage gestellt hat. Nie zuvor wurde im Westen ein laufender Krieg derart kritisiert wie der Vietnamkrieg. Seither ist es schwieriger geworden, Angriffskriege zu führen. Auch die Erziehung wurde infrage gestellt, die Bildung, die Medien – zum ersten Mal hatten Politiker Angst vor Reportern! Die Herrschaftsverhältnisse gerieten wirklich durcheinander.

Sondern? Vieles steckt noch in Nischen fest. Und oft, wenn solche Versuche aus der Nische kamen – etwa in der Pariser Commune oder in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg -, schlug sie das Militär nieder. Die Kurden haben heute auch eine bemerkenswerte Selbstorganisation aufgebaut in Rojava, dem de facto autonomen Gebiet in Syrien, und werden massiv von der Türkei beschossen. Zum Glück ist zumindest in Westeuropa militärisches Eingreifen heute viel schwieriger zu legitimieren als vor hundert Jahren. Es gibt Freiräume, wir können mehr wagen.

6

Sind Sie optimistisch? Wir bewegen uns in eine chaotische Übergangsphase hinein. Die Gefahr besteht, dass autoritäre und rassistische Kräfte die Oberhand gewinnen. Ich sehe in der gegenwärtigen Situation aber auch Chancen. Entscheidend ist, ob sich Menschen, die für einen sozialen und ökologischen Wandel streiten, organisieren können. Damit sie in Krisensituationen politische Räume besetzen können, statt das Feld den Rechten zu überlassen. Der Umgang mit geflüchteten Menschen ist dafür eine Probe aufs Exempel: Lassen wir es zu, dass sich die Staaten einmauern, oder gelingt es uns, eine Kultur der Solidarität aufzubauen?

3

Mit dieser Bewegung hatten die Mächtigen nicht gerechnet. Nein. Am Anfang waren sie überfordert und reagierten ziemlich hilflos. Aber dann fanden sie einen Dreh: Der Anspruch der Achtundsechziger, sich von staatlicher Autorität zu befreien, bot einen Anknüpfungspunkt für neoliberale Theorien – obwohl die Achtundsechziger nicht den Sozialstaat, sondern den Disziplinarstaat ablehnten. Die Verfechter des Neoliberalismus behaupten, sie seien gegen den Staat. Tatsächlich sind sie aber darauf angewiesen, dass der Staat die Verluste begleicht, wenn die Blase platzt. Das geht seit 500 Jahren so! Die Britische Ostindien-Kompanie zum Beispiel wurde im 18. Jahrhundert immer wieder vom Staat freigekauft – weil sie systemrelevant war, „too big to fail“.

Ausführliche Fassung des Interviews von Bettina Dyttrich vom 25.2.2016 in der Wochenzeitung WOZ unter www.woz.ch/-6891 34


26.6.-2.7. IPPNW-Woche in Büchel Samstag 25.6. Wir Ärztinnen und Ärzte setzen ein Zeichen gegen die nukleare Teilhabe und für ein Verbot aller Atomwaffen. Denn in der Eifel lagern immer noch etwa 20 Atomwaffen, jede einzelne hat die mehrfache Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Kommt mit euren Familien, Freunden und Bekannten oder Eurer politischen Gruppe! Bringt eure Banner, Musikinstrumente und Liederbücher mit! Bitte meldet euch bei uns, wenn Ihr eine Unterkunft sucht oder Fragen zur Organisation habt.

Camp von IPPNW-Studierenden & ICAN-Mitgliedern am Fliegerhorst Kontakt: arw@posteo.de

Sonntag 26.6.

10-12.00 Uhr Aktionstraining in der Brückenmühle, 56754 Roes ab 12.00 Uhr Mahnwache vor dem Haupttor des Fliegerhorstes Aufbau eines IPPNW-Symbols auf der Friedenswiese am Fliegerhorst ab 17.00 Uhr Aktionsvorbereitung Tagungshaus Kulturtransistor, Unterstraße 16, 56829 Kail – gemeinsame Übernachtung

Montag, 27.6. 6.00 Uhr Aktion des Zivilen Ungehorsams am Fliegerhorst Büchel ab 9.00 Uhr weitere Mahnwachen – Wir suchen noch Menschen, die während der Woche in Büchel präsent sein möchten.

Samstag 2.7. Abschluss der IPPNW-Woche mit internationaler Beteiligung

20 Wochen gegen 20 Atombomben Seid dabei! Anmeldung und Infos bei: iskenius@ippnw.de ANZEIGE

Die beste Zukunftsanlage ist die soziale Gerechtigkeit. Übliche Geldanlagen ziehen ihre Rendite aus Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Zerschlagung der sozialen Netze, Privatisierung der Daseinsfürsorge für die Profite der Ultra-Reichen. ProSolidar verzichtet auf Rendite. Und finanziert stattdessen Einsatz für Umweltschutz, soziale Gerechtigkeit und Frieden sowie für Konzernkritik.

Es gilt das Prinzip: Leben statt Profit. Ja, ich zeiche eine Einlage bei ProSolidar

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� Festeinlage (ab 500 Euro) .................... Euro � Spareinlage (mind. 20 Euro/mtl.) ........... Euro Bitte deutlich schreiben (falls Platz nicht reicht, bitte Extrablatt beifügen)

Name, Vorname

Straße, Hausnr.

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PLZ, Ort

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Bankleitzahl bzw. BIC

Konto-Nr. bzw. IBAN

Datum, Unterschrift

Bitte ausschneiden und zurücksenden an: ProSolidar / Schweidnitzer Str. 41 / 40231 Düsseldorf Tel. 0211 - 26 11 210 / Fax 0211 - 26 11 220 / Mail info@ProSolidar.net / www.ProSolidar.net

Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrages verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen. Gläubiger-ID: DE08PRO00000729847

� Bitte schickt mir kostenlos und unverbindlich weitere Informationen.


5. Internationaler IPPNW-Kongress

Medizin & Gewissen Nürnberg, 14. – 15. Oktober 2016 Wilhelm-Löhe-Schule | Deutschherrnstraße 10 | 90429 Nürnberg Freitag 16.30

Eröffnungsveranstaltung

Eröffnung der Ausstellung „Fegt alle hinweg“

Vortrag

19.15 – 20.00

Begrüßung

17.00 – 17.30

Dr. Peter Schönlein, Dr. Heidemarie Lux

17.30 – 18.15

Wenn Ärzte nur das Beste wollen Prof. Dr. Klaus Dörner

18:15 – 19:00

Leitlinien für Ärzte – Wer leitet wen wohin? Patientenorientiert behandeln Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig

Healing under Fire – Medical Peace Work in the Field Englisch Dr. Louisa Chan Boegli, Dr. Gabriella Arcadu

Vorträge

Die kleine Korruption im Arzt-Alltag Prof. Thomas Kühlein

International Medical Peace Award

20.00 – 20.30

Preisverleihung und Laudatio Musikalische Begleitung: Ines und Katja Lunkenheimer, Flügel

Empfang Kleines Essen und Get-Together

20.30

Samstag

Vortrag

9.00 – 9.45

Solidarität und Würde – Unterstützung für traumatisierte Frauen und Mädchen in Kriegs- und Krisengebieten

Samstag

FORUM 1: Medizingeschichte

10.00 – 12.00

Mit Geschichte lernen: Der Nürnberger Kodex und seine Folgen

Dr. Monika Hauser

Dr. Michael Wunder

Historische und aktuelle Perspektiven: Der Schatten der NS-Verbrechen und deren Einfluss auf die Medizinethik heute

Eng verwoben: Das DRK, die Macht und das Militär – Geschichte und Aufgaben des Deutschen Roten Kreuzes Dr. Judith Hahn Dr. Horst Seithe Prof. Dr. Dieter Riesenberger

FORUM 2: Global Health – Medical Peace Work

FORUM 3: Medizinethik

Auswirkungen von TTIP auf die Gesundheitswesen weltweit

Wo fängt Bestechung an? Korruptionsversuche im Arztalltag – die eigene Verführbarkeit erkennen lernen

Jörg Schaaber Dr. Martin Beckmann Anne Jung

Medical Peace Work: Strengthening health workers' capacity in violence prevention and peace building.

New case studies on climate change, torture and refugee health Englisch Dr. Klaus Melf Aditya Vyas Dr. Ruth Renfrew Dr. Eva-Maria Schwienhorst-Stich

Prof. Dr. Karl-Heinz Leven Prof. Dr. Volker Roelke

Flüchtlingsdrama in mehreren Akten: Was ist die Herausforderung der medizinischen Flüchtlingshilfe?

Prof. Thomas Kühlein

1. Nothilfe im Heimatland Dr. Gisela Penteker Decision Making – das ärztliche Dilemma: 2. Nothilfe auf der Flucht Werte kennen – bewusst Dr. Frank Dörner entscheiden 3. Nothilfe hier vor Ort Prof. Thomas Kühlein

Prof. Dr. Helfried Gröbe

12.00 – 13.30 Mittagessen / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / 13.30 – 15.30

„Versuchskaninchen Euthanasie gestern und Mensch“ – Darf der heute – „Der Tod als ErForscher alles, was er lösung von Leiden“ kann? Bioethische Gren- Prof. Dr. Gerrit Hohendorf zen der Forschung Psychiatrie im NationalProf. Dr. Andreas Frewer sozialismus – Wie Ärzte Prof. Dr. Frank Erbguth zu Mördern wurden Prof. Dr. Michael von Cranach

Sich für das Recht auf Gesundheit stark machen: Weltweite soziale Sicherung – eine Utopie? Thomas Gebauer

Global medical aid: How to do no harm, but support peace Englisch Dr. Louisa Chan Boegli Katja Maurer Carlotta Conrad

Die europäisch nationale Perspektive: Ist die Bürgerversicherung eine Alternative?

Social Freezing – vom Wunschkind zum Wunschtermin? Fakten aus Sicht der Reproduktionsmedizin Prof. Dr. Ralf Dittrich

Big Data – der Königsweg zu einer besseren Medizin? Chancen und Risiken der big-data-basierten Forschung und Patientenversorgung weltweit NN

Anschließend Diskussion mit Erika Feyerabend und Dr. Saskia Möckel

Harald Weinberg

15.30 – 16.00 Kaffeepause / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / / 16.00 – 16.45

Vorträge Medizin und Militär: Wie lassen sich Ärzte für die Kriegsführung instrumentalisieren? Prof. Dr. Wolfgang Eckart

16.45 – 17.30 17.30

Gesundheit als Menschenrecht – Menschenrechte im Gesundheitswesen Prof. Dr. Dr. Heiner Bielefeldt

Verabschiedung Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung e.V. Regionalgruppe Regionalgruppe Nürnberg – Fürth – Erlangen der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW)

www.medizinundgewissen.de Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Körtestraße 10, 10967 Berlin, Tel. 030 / 698 07 40 www.ippnw.de info@ippnw.de


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