IPPNW akzente: Responsibility to Protect – Schutzverantwortung oder Schutzbehauptung?

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UN-Resolution verfehlt: Die libyische Hafenstadt Sirte 2012. Foto: DDG/ECHO, creativecommons.org/licenses/by-nd/2.0

Responsibility to Protect Schutzverantwortung oder Schutzbehauptung?


RESPONSIBILITY TO PROTECT Jahrelang wurden mit dem Diktator Muammar al-Gaddafi glänzende Geschäfte gemacht. Libysche Grenzwächter und Flüchtlingslager hielten unliebsame afrikanische Armutsflüchtlinge von den EU-Grenzen fern. Die schwierige Menschenrechtslage in Libyen war den europäischen Politikern bekannt. Schließlich eskalierte 2011 im Rahmen des „Arabischen Frühlings“ auch in Libyen der innere Konflikt. Auffallend rasch stellte sich die „westliche Wertegemeinschaft“ auf die Seite der bis dahin weitgehend unbekannten Rebellen, die – im Gegensatz zu den Volksbewegungen in Tunesien und Ägypten – frühzeitig zu den Waffen griffen.

seine „Inneren Angelegenheiten“ muss sich demzufolge kein Staat anderen gegenüber rechtfertigen, wenn er sich nicht durch Verträge dazu verpflichtet hat. Problematisch wird es, wenn – aus welchen Gründen auch immer – die „Internationale Gemeinschaft“ oder einzelne Mitglieder die Souveränität eines Staates verletzen. Dies bzw. die Bedingungen hierfür werden seit Jahrzehnten diskutiert, wenn es zum Beispiel aufgrund eines Bürgerkrieges innerhalb eines souveränen Staates zu Menschenrechtsverletzungen kommt.

ICISS / UN - Weltgipfel 2005

Belastbare Beweise zu vom Gaddafi-Regime verübten oder geplanten Massakern, für „grobe und systematische Verletzungen von Menschenrechten und summarische Hinrichtungen“ blieb man schuldig. Die Resolution 1973 des UN-Sicherheitsrates enthielt folgende Formulierung: Es seien „alle erforderlichen Maßnahmen anzuwenden, um Zivilisten und von Zivilisten besiedelte Gebiete in Libyen, die von Angriffen bedroht sind, zu schützen“. Im Begründungstext der Resolution tauchte die Formulierung „Responsibility to Protect“ auf, und mehrere Akteure – z. B. Präsident Barack Obama – haben diesen Bezug ebenfalls hergestellt. Der Militäreinsatz in Libyen 2011 war somit der erste Fall, in dem wesentliche Akteure sich auf das Prinzip der „Responsibility to Protect“ beriefen.

Unter dem Eindruck des Völkermordes in Ruanda sowie des humanitären Desasters in Ex-Jugoslawien Mitte der neunziger Jahre wurde auf Anregung des damaligen UN„Unsere Militärs haben ein Massaker verhindert und zahllose Menschenleben gerettet.“ NATO-Generalsekratär Anders Fogh Rasmussen zum Interventions-/ Stellvertreterkrieg gegen Libyen 2011 im zynischen Widerspruch zur Realität.

Eine Bilanz des mit erheblicher NATO-Beteiligung geführten Krieges – über 9.700 Luftangriffe wurden von März bis Oktober 2011 geflogen – blieb bis heute aus. Vom späteren libyschen Übergangsrat und dem Gesundheitsministerium wurde die Zahl von 40.000–50.000 Todesopfern für den gesamten Kriegszeitraum genannt. Wie von zahlreichen Experten vorhergesagt, führte die von Frankreich, Großbritannien und den USA betriebene Intervention zu Chaos und Zerfall der staatlichen Ordnung. In den großen Medien wird über Libyen und die Kriegsfolgen kaum noch berichtet. Das Auftragsvolumen für den Wiederaufbau der Infrastruktur des Landes schätzte das britische Handelsministerium für das kommende Jahrzehnt auf 250 Milliarden Euro – Wachstumsgebiete für britische und französische Firmen. Die Gewinne der Waffenhersteller bleiben im Dunkeln.

Foto: World Economic Forum

Generalsekretärs Kofi Annan und Initiative der kanadischen Regierung eine Kommission ins Leben gerufen, die Richtlinien für humanitäre Interventionen erarbeiten sollte. Die „International Commission on Intervention and State Sovereignity“ (ICISS) veröffentliche 2001 ihren Bericht mit dem Titel „The Responsibility to Protect“, in dem die Verantwortung der Staatengemeinschaft vor, während und nach dem Ausbruch von humanitären Krisen erörtert wird.

Das Prinzip der Souveränität der Staaten In der Charta der Vereinten Nationen, der zentralen Rechtsquelle des Völkerrechts, wurden zwei wesentliche Prinzipien, auf denen das Zusammenleben der Völker und Staaten basiert, festgeschrieben: das allgemeine Gewaltverbot, das den Mitgliedsstaaten die Anwendung militärischer Gewalt grundsätzlich verbietet, und das Prinzip der Souveränität, die den Staaten ihre Unabhängigkeit und Selbstbestimmung garantiert. In Bezug auf

Insbesondere geht es dabei um die Bedingungen für humanitär begründete Militärinterventionen unter Verletzung staatlicher Souveränität. In dem Bericht wird die Verpflichtung der Weltgemeinschaft formuliert, im gegebenen Fall einzugreifen, notfalls auch mit militärischer Gewalt. Sollte die Gemeinschaft der Staaten sich nicht auf ein gemeinsames Handeln einigen können, dann tritt 2


nach Auffassung der ICISS diese Verpflichtung sogar auf Einzelstaaten über. Die in der Realität ungleiche Machtverteilung und Interventionsfähigkeit wurde nicht thematisiert.

„Die Bundeswehr wandelt sich zu einer global agierenden Einsatzarmee“, ist auf einer ihrer Internetseiten zu lesen. Dies entspricht sowohl der im Lissabon-Vertrag eingegangenen Verpflichtung als auch dem ausdrücklichen Willen der Bundesregierung. Schon auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2004 betonte Angela Merkel, die ehemalige Außenministerin unter Clinton, Madeleine Albright, zitierend: „Die zentrale außenpolitische Zielsetzung lautet, Politik und Handeln anderer Nationen so zu beeinflussen, dass damit den Interessen und Werten der eigenen Nation gedient ist. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen von freundlichen Worten bis zu Marschflugkörpern.“ Dies dürfe nicht nur für die US-Politik Gültigkeit haben, „sondern sollte – besser muss – auch Maßstab einer europäischen Außen- und Sicherheitspolitik sein“. Und die Militarisierung dieses Innen- und Außenverhältnisses setzt sich fort: In einem neuen Strategiepapier bereitet sich die Bundesregierung auf ein „internationales Engagement“ gegen „fragile Staaten“ vor, gegen die „mit aller militärischen Härte“ durchzugreifen sei, wenn deutsche Interessen bedroht sind. Die Ankündigung von Ex-Verteidigungsminister De Maiziere, die Bundeswehr solle in Zukunft auch mit bewaffneten Drohnen ausgerüstet werden, lässt eine weitere Eskalation befürchten. Nach Einschätzung namhafter Völkerrechtler ist der von den USA in Pakistan, Jemen, Somalia praktizierte Einsatz dieser Waffen schlichtweg Mord.

Das Konzept beinhaltet allerdings drei Komponenten: als erstes die Responsibility to Prevent, die Konfliktprävention, das Verhindern der Eskalation, danach erst das Eingreifen auch militärisch und schließlich die „Responsibility to Rebuilt“, den Wiederaufbau. Auf ihrem Weltgipfel 2005 nahm die UN das ICISS-Konzept mit seiner Kernaussage zur Schutzverantwortung an. Zwei wesentliche Unterschiede zum ursprünglichen Konzept, die insbesondere auf Betreiben der blockfreien Staaten zustande kamen, gab es: Zum Einen betonte das Ergebnisdokument des UN-Weltgipfels die Souveränität der Staaten weit mehr, als dies der ICISS-Report tut. Zum Anderen wurde darauf verzichtet, dass die Verantwortung zur Intervention für den Fall, dass die Weltgemeinschaft sich nicht auf ein gemeinsames Handeln einigen kann, auf Einzelstaaten übergeht. Von Befürwortern des Konzeptes wird in der Debatte um „Responsibility to Protect“ gern das Argument einer „sich entwickelnden Rechtsnorm“ benutzt, in Bezug auf das nicht verschriftlichte Völkergewohnheitsrecht, welches neben sonstigen völkerrechtlichen Verträgen eine weitere Säule des internationalen Rechts darstellt. Anknüpfend daran versuchen militärisch starke (NATO-) Staaten, im Sinne von „Responsibility to Protect“ solch ein Gewohnheitsrecht zu konstruieren.

Krieg als Mittel der Politik Der Militäreinsatz in Afghanistan gilt allgemein – auch und gerade unter Soldaten – als gescheitert. Trotzdem hat er für die öffentliche Meinungsbildung eine entscheidende Bedeutung. Afghanistan ist der Testfall nicht nur für die Bundeswehr, sondern für unsere westliche Demokratie insgesamt. Die Diskussionen in der Zivilgesellschaft, die scheinbar kontroversen Debatten in Talkshows und die ständigen Nachrichten aus dem Einsatzgebiet der Bundeswehr könnten von PR-Strategen nicht besser arrangiert werden. Langsam sollen wir lernen, dass traumatisierte oder gar „gefallene“ Soldaten der Preis sind, mit dem wir für unseren Wohlstand, unsere Freiheit und Sicherheit bezahlen. Die Beförderung des Oberst Klein – verantwortlich für den Tod von mehr als hundert afghanischen Zivilisten, auch Kindern – ist ein makaberes Signal.

Offensichtlich ist aber, dass der Grundsatz der staatlichen Souveränität der Vorstellung „Responsibility to Protect“ entgegensteht. Die Souveränität eines Staates darf laut UN-Charta nur aus zwei Gründen außer Kraft gesetzt werden: zur Selbstverteidigung gegen einen Angriffskrieg und bei Gefährdung des Weltfriedens. Es ist derzeit nicht erkennbar, dass die Mehrheit der Staaten zu einer fundamentalen Änderung der Charta der Vereinten Nationen bereit wäre.

Europa / Deutschland Neben den USA waren Europäer – insbesondere Frankreich und Großbritannien – die entscheidenden Militärmächte, die sich an den Angriffen auf Libyen beteiligten. Im Vertrag von Lissabon, der ursprünglich als „Verfassung“ der EU formuliert und nach anfänglichem Zaudern einiger Mitgliedsstaaten 2009 unterschrieben wurde, ist die Absicht der Regierungen, die Kriegsbereitschaft der Europäischen Union zu erhöhen, festgeschrieben. Die Staaten verpflichten sich, ihre Rüstungsanstrengungen stetig zu steigern und erklären ihren Willen, ihre globalen Interessen auch militärisch zu verfolgen.

Während Kriege vorgeblich im Einsatz für die Menschenrechte oder im Kampf gegen Terrorismus geführt werden, kann, wer die Welt aufmerksam betrachtet, erkennen: Es ist der immer härter werdende Wettstreit um Ressourcen und Märkte, der zunehmend gewaltsam ausgetragen wird. Leidtragende der weltweiten Kriege sind die Menschen, die umgebracht, psychisch und körperlich verletzt, ihres Lebenssinnes beraubt werden, deren Rechte keine Bedeutung haben. Und der Terrorismus ge3


deiht in dem Maße, wie verzweifelte Verlierer keine Perspektive mehr erkennen, während aus Politik und Presse fast einhellig das Credo der „humanitären Intervention“ erklingt.

Fazit: Verschwiegene Interessen Ist die „Verantwortung zu beschützen (RtoP)“ eine Notwendigkeit im Interesse der Menschenrechte? Die wahren Hintergründe für Interventionen militärisch starker Staaten auf den Territorien schwächerer sind zu beleuchten. „Der europäisch-amerikanische Überfall auf Libyen hat nichts damit zu tun, dass jemand beschützt werden soll, solcherlei Unsinn glauben nur unheilbar Naive. Es ist die Zusammenarbeit des Westens mit den Volkserhebungen in strategisch wichtigen und ressourcenreichen Regionen und der Beginn eines Zermürbungskrieges gegen den neuen imperialen Konkurrenten China“ (John Pilger, 2011). Unmittelbare wirtschaftliche Interessen wie ungehinderter Zugang zu Rohstoffen und Märkten, die dafür erforderliche Sicherung von Handelswegen, die Durchsetzung unseres derzeit dominierenden westlichen Gesellschaftsund Wirtschaftssystems sind Gründe für den Sturz eines unliebsamen Machthabers und den „regime change“. „Eine treffendere Beschreibung für RtoP wäre … umdekorierter Neokolonialismus“, so der damalige Präsident der UN-Generalversammlung, der Nicaraguaner Miguel d'Escoto Brockmann (Nokes 2011).

Humanitäre Alternative: Gewaltfreie solidarische Intervention Die Militärinterventionen und ihre Folgen im Irak, in Afghanistan und in Libyen haben gezeigt, dass Menschenrechte mit Krieg nicht zu erkämpfen sind. Die Opfer unter der Zivilbevölkerung, die es vorgeblich zu schützen galt, sind unerträglich hoch (siehe auch „Body Count"; IPPNW 2012). Auch die IPPNW als Teil der deutschen Friedensbewegung setzt auf die Solidarität mit unterdrückten Völkern.

Der „Krieg gegen den Terror“ hat allein im Irak, Afghanistan Body Count und Pakistan zu 1,7 Millionen Todes-Opfern geführt. Das ist das Ergebnis des IPPNW-Reports "Body Count - OpferzahOpferzahlen nach 10 Jahren len nach zehn Jahren Krieg gegen den Terror". Die Autoren Joachim Guilliard, Lühr Henken und Knut Mellenthin haben für den Report systematisch wissenschaftliche Studien über die Toten auf beiden Seiten der Kriege im Irak, Afghanistan und Pakistan zusammengestellt und aktualisiert. Für diese Länder ziehen sie eine Bilanz über den humanitären Preis des Krieges. Inhaltsverzeichnis

„Krieg gegen den Terror“ Irak

Afghanistan

Pakistan

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Zu beziehen bei der IPPNW-Geschäftsstelle oder im IPPNW-Online-Shop unter: http://shop.ippnw.de Die gewaltsame, militärische Durchsetzung eigener wirtschaftlicher und machtpolitscher Interessen unter dem Vorwand des Schutzes von Menschenrechten, die „Responsibility to Protect“, lehnen wir ab. In derzeitig einseitiger Nutzung des ICISS-Konzeptes taugt dieses nur als Kriegsbegründung gegenüber der eigenen Bevölkerung. Krieg als Mittel der Politik muss geächtet werden (Beschluss der IPPNW-Mitgliederversammlung 2011): „Responsibility to Prevent“ ist unsere Aufgabe.

Quellen und Literatur: • UN-Resolution 1973 • „The Responsibility to Protect“, Report of the International Commission on Intervention and State Sovereignty, 2001 • Charta der Vereinten Nationen • Rausch, Anne: „Responsibility to Protect“, Kölner Schriften zu Recht und Staat, Verlag Peter Lang, 2011 • Reader Sicherheitspolitik, Bundeswehr, www.readersipo.de • Merkel, Reinhard: „Die Intervention der NATO in Libyen“, Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, 10/2011 • „Body Count – Opferzahlen nach 10 Jahren ,Krieg gegen den Terror‘“, IPPNW 2013

Bestellmöglichkeit in der IPPNW-Geschäftsstelle:

IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. V.i.S.d.P: Helmut Lohrer (IPPNW) Körtestr. 10 · 10967 Berlin Tel.: +49/ (0) 30 - 69 80 74 - 0 Fax:  +49/ (0) 30 - 683 81 66 ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de © IPPNW e. V., 2014, Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmgung möglich.


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