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„Frieden wird kommen“ Das neue Selbstbewusstsein der Kurden IPPNW – Delegationsreise Türkei / März 2014
information der ippnw internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung
Reiseimpressionen Urfa
Inhalt I. Teil Editorial............................................................................................................................ 4 Gesprächspartner............................................................................................................... 6 Glossar............................................................................................................................. 6 Chronologischer Bericht, Gesprächsnotizen ........................................................................... 7 Aktuelle Entwicklungen......................................................................................................................................... 7 Istanbul................................................................................................................................................................. 7 Van........................................................................................................................................................................ 9 Hakkâri................................................................................................................................................................ 11 Van...................................................................................................................................................................... 13 Viranşehir............................................................................................................................................................ 14 Nusaybin.............................................................................................................................................................. 15 Midyat................................................................................................................................................................. 16 Mardin................................................................................................................................................................. 16 Diyarbakır............................................................................................................................................................ 17 Fazit .................................................................................................................................................................... 19
II. Teil – vertiefende Themen/Berichte Eindrücke aus einem verwundeten Land, das im Aufbruch ist................................................. 20 Reiseimpressionen Newroz in Diyarbakır.............................................................................. 22 Unaufhaltsamer Flüchtlingsstrom in die Türkei..................................................................... 24 Kommunalwahl 2014........................................................................................................ 26 Zur Auseinandersetzung zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde...................................... 29 Das Leben ist schön! Der Schuhputzer Ömer Öner in Diyarbakır............................................. 32 Göbekli Tepe.................................................................................................................... 35 III. Anhang Reiseimpressionen Hasankeyf............................................................................................ 36 Reiseimpressionen Akdamar.............................................................................................. 37 IPPNW-Pressemitteilung.................................................................................................... 38 Reiseimpressionen Demonstration Diyarbakır........................................................................ 39 Reiseimpressionen Hakkâri, Hosap..................................................................................... 40 Reiseimpressionen Van, Midyat...........................................................................................41 Presse............................................................................................................................ 42 Dokumentarfilm Simurg..................................................................................................... 43 Impressum & Bestellmöglichkeit......................................................................................... 44
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Editorial
„Die kurdische und die türkische Fahne werden zusammen im Wind flattern.“ Nach der letzten Kommunalwahl 2009 kam es zur großen Verhaftungswelle im Rahmen der KCK-Prozesse. Gewählte Bürgermeister, Menschenrechtler, Journalisten, Tausende sind seither in Untersuchungshaft, wenige bisher verurteilt, noch weniger entlassen. Die Situation in den Gefängnissen ist schlecht, kranke Gefangene erhalten nicht die notwendige Behandlung, es gibt keine Haftverschonung für Schwerkranke. Die Regierung verhandelt zwar mit Abdullah Öcalan, weil sie weiß, dass er für viele Kurden die Identifikationsfigur ist, dass die Menschen noch immer auf ihn hören, aber an seinen Haftbedingungen ändert sich nichts. Die Neubaugebiete der Städte sind Betonwüsten, die dem kulturellen Lebensgefühl der Menschen nicht entsprechen. Sie werden oft von der staatlichen Wohnungsbaugesellschaft TOKI gebaut, die Erdoğan unterstellt ist und in den Händen seiner Gefolgsleute liegt. TOKI verkauft die Wohnungen zu überhöhten Preisen. Die Menschen verschulden sich und geraten ins Elend.
So ähnlich hat es Osman Baydemir, der charismatische Oberbürgermeister von Diyarbakır vor einiger Zeit gesagt. Für diese und andere öffentliche Äußerungen ist er mit einem Ausreiseverbot bestraft worden. Er ist aber nicht, wie viele seiner gewählten Bürgermeisterkollegen, im Gefängnis gelandet. Seit unserer ersten Delegationsreise 1998 hat sich in der Türkei, besonders im kurdischen Südosten, viel zum Guten verändert. Besonders seit der zunehmend autokratisch regierende Recep Tayyip Erdoğan Ministerpräsident ist, sind viele Tabus gefallen. Über Kurden als eigenständiges Volk mit eigener Kultur und Sprache kann offen geredet werden, wir haben die Universität für Kurdologie in Mardin besichtigt, ein Friedensprozess ist begonnen worden, der das Sterben im Kampf beendet hat. Der Wirtschaftsaufschwung ist auch in den Städten im Südosten zu sehen.
Im Syrienkrieg unterstützt die türkische Regierung die islamistischen Kämpfer der Al Nusra und der ISIS mit Logistik und Waffen. Die Grenzen zu den kurdischen Gebieten im Norden sind jedoch geschlossen.
Am auffälligsten ist die Veränderung der kurdischen Gesellschaft. Überall sind aktive Frauen an Entscheidungen und Entwicklungen beteiligt und im öffentlichen Raum sichtbar. Erst waren es die Kämpferinnen der PKK, die sich ihren Platz neben den Männern eroberten, dann die trauernden Mütter, die ihren Protest und ihre Forderungen in die Öffentlichkeit trugen. Seite an Seite mit den Männern treten Frauen in allen Gremien als Doppelspitze auf und nach und nach – von oben nach unten – wirkt sich das auch in den Familien und im Alltag aus. In den kurdisch verwalteten Städten besinnt man sich auf die multikulturelle, multiethnische und multireligiöse Geschichte, es gelingt den Kommunalverwaltungen, die Menschen mitzunehmen, sie aktiv an der Entwicklung zu beteiligen.
Die Liste ließe sich fortsetzen. Unsere kurdischen GesprächspartnerInnen berichteten in diesem Jahr eher nüchtern davon. Sie lassen sich nicht entmutigen, sie drohen nicht mit neuen militärischen Optionen. „Der Frieden wird kommen. Wir machen weiter auf dem Weg des Friedens und der kommunalen Autonomie. Wir schaffen Tatsachen und die Regierung wird dem folgen müssen mit ihren Gesetzen“. Inschallah.
Noch aber gibt es viel Wasser im Wein. Keine der Veränderungen ist gesetzlich abgesichert. Jederzeit kann sich das Blatt wieder wenden. 4
BERICHT 2014
Inzwischen sind wieder einige Monate vergangen. Die Situation in der Region gerät aus den Fugen. Der Irak zerfällt in einem blutigen Krieg. Der Katastrophe in Syrien sieht die Welt sprachlos zu. Millionen Menschen verlieren ihre Heimat und ihre Existenz, Tausende ihr Leben. Europas Grenzen bleiben für die Flüchtlinge weitgehend verschlossen.
In Deutschland und Europa werden weiterhin die Entwicklung in den verschiedenen Teilen Kurdistans und die Veränderungen der kurdischen Gesellschaft aus politischer Rücksichtnahme auf den Verbündeten Türkei nicht zur Kenntnis genommen. Das PKK-Verbot besteht weiterhin, kurdische Politiker werden nur inoffiziell und von der politischen Opposition empfangen.
In der Türkei hat Ministerpräsident Erdoğan seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gegeben. Die kurdische BDP könnte in der gesamttürkischen HDP (Demokratische Partei der Völker) aufgehen. Sie schickt mit Selahattin Demirtas einen eigenen modernen und charismatischen Präsidentschaftskandidaten ins Rennen.
Wir hoffen, dass wir mit unseren Reisen und Berichten einen kleinen Beitrag dazu leisten können, dass zumindest in Deutschland mehr Offenheit und Verständnis für die Anliegen der kurdischen Menschen wachsen, die überall in der Welt verstreut leben. Dr. Gisela Penteker
Die Regierung hat einen Gesetzesentwurf zum Friedensprozess vorgelegt, bei dem schon der Titel auf große Kritik stößt: „Gesetzesentwurf zur Beendigung des Terrors und der Stärkung der sozialen Integration“. Derweil entstehen entlang der östlichen Grenzen immer neue Militärfestungen. Es werden neue Dorfschützer rekrutiert. Auch die PKK hat starken Zulauf von jungen Kämpfern. Und immer noch ist die Frage nicht geklärt, ob Erdoğan mit seinen Zugeständnissen nur um kurdische Stimmen für die Präsidentschaftswahlen buhlt oder, ob es einen ernsthaften Friedenswillen gibt, zu dem auch die Aufarbeitung der Geschichte und die Versöhnung gehören. Nach den Wahlen wird man sehen. Wichtig wäre auch, dass sich die Kurden untereinander einigen. Immer wieder lassen sie sich von unterschiedlichen Interessen, politischen Vorstellungen und eigennützigen Verbündeten auseinanderdividieren. 5
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Gesprächspartner und Glossar
Gesprächspartner ◊ Istanbul: • •
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IHD – İnsan Hakları Derneği (Menschenrechtsverein) KESK – Kamu Emekçileri Sendikaları Konfederasyonu (Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter)-Gewerkschaft Anwaltsverein Flüchtlingskommission des Anwaltsvereins Kommune, stv. Bürgermeisterin und Kulturdezernent kommunales Frauenzentrum („Frauenlebenszentrum“, neues Projekt)
◊ Hakkari: • • •
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IHD, Menschenrechtsverein Anwaltsverein kommunales Frauenbüro, Vorsitzende ist die stv. Bürgermeisterin
◊ Mardin: •
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TUHAD-DER, Verein zur Solidarität mit den Familien der Gefangenen KA-MER, Frauenschutzorganisation IHD, Menschenrechtsorganisation Anwaltsverein Nachrichtenagentur DIHA Ärztekammer Kommune, Referentin für ausländische Kontakte AKP, Vorsitzender der AKP Diyarbakır
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Besuch des Newroz-Festes Demonstration vor dem Gefängnis in Diyarbakır mit TUHAD-DER und IHD
◊ Istanbul:
◊ Nusaybin:
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◊ Diyarbakır:
Kommune, Bürgermeister
UNHCR, OCHA (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs) Kommune: stv. Bürgermeisterin Ärztekammer Filmregisseur Ruhi Karadag, Dokumentarfilm „Simurg“ (Thema: KorsakoffSyndrom erkrankte politische Gefangene)
Universität Mardin, Fakultät Kurdologie
Sonstiges
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◊ Diyarbakır:
◊ Viranşehir: •
Mor Gabriel: Vertreter des Klosters BDP Midyat (Barış ve Demokrasi Partisi)
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TUHAD-DER, Verein zur Solidarität mit den Familien der Gefangenen Eddi Ekrem Güzeldere, Soziologe, ESI
◊ Van:
Glossar
◊ Midyat:
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BDP, Wahlkundgebung (Stadtteil Esenler) •
◊ Urfa: •
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Abrahams Park, Göbekli Tepe
◊ Van: •
Klosterinsel Akdamar
◊ Hasankeyf 6
AKP Adalet ve Kalkinma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung BDP Barış ve Demokrasi Partisi, Partei für Frieden und Demokratie CHP Cumhuriyet Halk Partisi ( Republikanische Volkspartei) DOHA Türkische Umweltorganisation DTK Kongress für eine demokratische Gesellschaft Ergenekon Begriff aus der türkischen Mythologie, Bezeichnung für eine Verschwörung des „Tiefen Staates“ gegen die Regierung Erdoğan 2003 HDP Demokratische Partei der Völker, Nachfolgerpartei der BDP IHD Insan Haklari Dernegi, Menschenrechtsverein KA-MAR Kadin Merkezi, Frauenzentrum KCK Koma Civaken Kurdistan Union der Gemeinschaften Kurdistans KESK Gewerkschaft für den Öffentlichen Dienst, vergleichbar mit Verdi MHP Milliyetci Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen Bewegung Newroz Der neue Tag, kurdisches Neujahrsfest NGO Nongovernmental Organisation, deutsch: Nichtregierungsorganisation PKK Partiya Karkeren Kurdistan, Arbeiterpartei Kurdistan Rojava ist die kurdische Bezeichnung für Westkurdistan, die kurdischen Gebiete in Nordsyrien SES Gesundheitsgewerkschaft TOKI die staatliche Wohnungsbaubehörde, die Ministerpräsident Erdoğan direkt unterstellt ist TIHV Türk Insan Haklari Vakfi, Türkische Menschenrechtsstiftung Tur Abdin „Berg der Knechte [Gottes]“, Kernland der Syrisch-Orthodoxen Kirche in der Türkei
BERICHT 2014
Gesprächspartner und Schwerpunkte Istanbul
Auch wenn die staatliche Gerichtsmedizin als alleinige Gutachterinstanz eine Behandlung außerhalb des Gefängnisses für erforderlich hält, gehen ihre Gutachten an die zuständige Sonderabteilung der Staatsanwaltschaft und werden dort regelhaft abgelehnt. Dem schließen sich die letzt-instanzlichen Richter/innen an, wenn „von den Gefangenen eine Gefahr für die Gesellschaft ausgeht“. Das wiederum sei bei schwer kranken Gefangenen in praxi schwer vorstellbar.
Chronologischer Bericht, Gesprächsnotizen von Dr. Elke Schrage (und Dr. Gisela Penteker)
◊ Aktuelle Entwicklungen Nachdem die Türkei über Monate mit den Gezi-Protesten, internen Machtkämpfen, Korruptionsskandalen und Einflussnahme auf den Krieg in Syrien in den Medien sehr präsent ist, steht unserer Gruppe wieder eine spannende Reise bevor.
Nach neuer Gesetzeslage wurde die Maximaldauer von Untersuchungshaft in der Türkei gerade von zehn auf fünf Jahre verkürzt. Im Rahmen aktueller Amnestiegesetze seien zwar einige Ergenekon-Inhaftierte aus dem rechten Spektrum, wie z. B. die „Christen-Mörder von Malatya“, freigekommen. Verurteilte der KCK-Prozesse von 2009 sitzen aber auch dann weiterhin ein, wenn die Frist ihrer U-Haft in wenigen Tagen oder Wochen abläuft. Dies zeige eine politische Gewichtung der Gesetzgebung. Diese Menschrechtsverletzungen seien außerhalb des Kontextes des kurdisch-türkischen Konfliktes nicht zu verstehen. Herr Belek und Herr Kilic berichten von hohen Belastungen auch für die Familien: hohen Reisekosten zu den meist weit entfernten Gefängnissen, eingeschränkten Besuchszeiten, Existenzvernichtung und Armut, neuen Anklagen zur Haftverlängerung, Ablehnung von Haftverschonung wegen der „Gefahr eines möglichen Anschlusses an die Terrororganisation PKK“.
Im Schatten dieser Ereignisse dürfen wir uns auf die Newroz-Feierlichkeiten und über die gerade erfolgte Freilassung von Emrullah Cin freuen. Ein Eindruck, der uns auf der gesamten Reise begleitet, ist der eines neuen kurdischen Selbstbewusstseins. Zeichen dafür sehen wir in: »» einer Nachwuchsgeneration mit kurdischer Identität »» der Entstehung einer Mittelschicht »» politischem Bewusstsein statt Lobbyismus »» der Frauenbewegung, dem Konzept der Doppelspitze »» dem Laizismus der kurdischen Bewegung/BDP »» dem Waffenstillstand »» der Bedeutung Rojavas als politisches Modell »» der Bedeutung Mesopotamiens als nachbarschaftlicher Raum
Ein Teil der Kranken lehne eine medizinische Behandlung in Handschellen ab, meist handele es sich aber um eine Therapieverweigerung durch den Staat. Wenn sie dann endlich in zivile Kliniken verlegt werden, finde Behandlung meist nicht auf Normalstationen statt, sondern in separaten, nicht geeigneten Kellerräumen. Auch halte sich Personal und Ärzteschaft oft nicht an die medizinische Neutralitätspflicht, sondern behandele sie wie Schwerverbrecher. Die Dämonisierung durch die Medien sei sehr wirksam.
◊ Gespräche in Istanbul TUHAD-DER (Angehörigengruppe der kranken Gefangenen)
Aus Protest gegen die Haftbedingungen und für die Freilassung von kranken Gefangenen habe es in Bolu einen nächtlichen Klopfstreik aller Inhaftierten gegeben. Daraufhin wurden elf von ihnen in ihren Zellen zusammengeschlagen und an Händen und Füßen mit Kabelbinder gefesselt für 48 Stunden in einer gewässerten Schaumstoffzelle im Kalten und Nassen belassen. Gerade habe es auch den Versuch einer Selbstverbrennung im Gefängnis gegeben.
Am Morgen nach unserer Ankunft in Istanbul findet unser erstes Treffen statt mit zwei Vertretern der hiesigen Angehörigengruppe der kranken Gefangenen (TUHAD-DER), dem Vorsitzenden Recep Belek sowie Nureddin Kilic. Sie beklagen unter den 140.000 Inhaftierten in der Türkei 564 chronisch kranke Gefangene, über 200 davon schwerund 164 sterbenskrank, die innerhalb der türkischen Gefängnisse nicht adäquat behandelt werden können. Obwohl die Todesstrafe 2004 offiziell abgeschafft wurde, komme das einer physischen Vernichtung gleich. Bisher habe es trotz nationaler und internationaler Proteste nur fünf Freilassungen gegeben.
Vor dem Hintergrund des öffentlichen Interesses an den GeziparkProtesten ist ihr Resümee: „Auch die Szene macht Unterschiede. Da ist keine Begeisterung für die politischen Gefangenen wie für den städtischen, jugendlichen Widerstand. Presseberichte gibt es nur in linken oder kurdischen Zeitschriften. In den türkischen nur, wenn es Angriffe auf die Polizei gibt, um die Kurden dann als Terroristen darzustellen. Hier ist eine andere Dimension. Der türkische Ministerpräsident redet in Diyarbakır dies und in Istanbul das. Abdullah Öcalan ist verlässliche Beständigkeit. Er redet klar vom Frieden. „Es kommt nicht 7
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Gesprächspartner und Schwerpunkte Istanbul
Diesmal zeichnet sich aber kein zentrales Motto ab, wie z. B. vor zwei Jahren die Entwicklung „Vom Militärstaat zum Polizeistaat“.
darauf an, was andere machen, sondern darauf, was wir selbst machen. Unsere Hoffnung ist das, was das kurdische Volk macht. Es wird zum Frieden kommen. Wenn die Staatsmacht sich nicht bewegt, bewegen wir uns dennoch.“
Herr Güzeldere berichtet, die letzten 12 Monate seien sehr wechselhaft gewesen mit tief greifenden Veränderungen für die Gesellschaft.
BDP-Bürgermeisterkandidat Sirri Süreyya Önder
In seiner Wohnung Nähe Taksim-Platz habe auch er dreimal mit Maske und Taucherbrille den Gaseinsätzen auf Demonstranten trotzen müssen.
Beim Wahlkampfauf tritt des HDPKandidaten Önder erleben wir ein junges und vor allem weibliches Podium mit einer sehr professionellen, völlig unaufgeregten jungen Moderatorin in Jeans und Cordjacke. Das zahlreiche Publikum auf dem großen Platz vor der Stadtteilmoschee in Esenler ist der äußeren Erscheinung nach gemischt städtisch und traditionell gekleidet. Familien mit Kindern sind genauso vertreten wie organisierte Gewerkschafter. Die Stimmung ist freudig und familiär. Als gemeinsam der Opfer von Halabja/Irak gedacht wird, herrschen Stille und spürbare Betroffenheit. Heute ist der 16. März, Jahrestag des Giftgasangriffes auf die Kleinstadt in Nordirak.
„Die wichtigsten Errungenschaften von Gezi-Park sind von Nicht-Organisierten organisiert worden. Diese 5000 Menschen waren von sich selbst überrascht. Die unorganisierte Gesellschaft wird selbstbewusster. Diese Politisierung wird bleiben. Auch die AKP muss mehr Rücksicht auf die Stadtteile nehmen.“ Die CHP hat keine Kandidaten für die großen Städte. Gleichzeitig gibt es seit zwei Jahren einen AKP internen Machtkampf zwischen Anhängern Erdoğans auf der einen und Anhängern Fetullah Gülens auf der anderen Seite. Über 10 Jahre haben AKP und Gülen-Anhänger einvernehmlich in Politik und Wirtschaft agiert. Die AKP hat ihren Nachwuchs und ihre Netzwerke aus den Privatschulabgängern Gülens rekrutiert. Gerade in der spannenden Frage neuer Märkte arbeiteten sie parallel. Bis 2009 hat die Türkei eine aktive Außenpolitik und erfolgreiche Diplomatie mit Wirtschaftsmächten vertreten. Es kam zu vielen Botschaftseröffnungen, der Einrichtung von Turkish-Airlines-Direktflügen, bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Türkische Botschaften waren Wirtschaftszentren. Allerdings wurden auch echte Fehler gemacht. Es gibt zu viele innenpolitische Probleme. Es fehlt an diplomatischem Unterbau/Personal. Ausgebildetes Personal brauche 20–30 Jahre. Traditionell bestehe nur die transatlantische Schiene mit reichlich Englisch-Sprechenden. Vor diesem Hintergrund sei es absurd, erst zu Schulbesuchen zu raten und jetzt die Gülen-Schulen zu Terrornetzwerken zu erklären. Wenn die jetzige Politik fortgesetzt wird, müssten am 1.9.2015 zig Tausende Privatschulen entweder staatlicher Kontrolle unterstellt oder geschlossen werden.
Zu einem Gespräch mit dem Kandidaten kommt es nicht. Er ist unter Zeitverzug und – eingemummelt in einen Wollschal – gesundheitlich angeschlagen. Dr. Eddy Ekrem Güzeldere
Den im Ausland nach Korruptionsskandalen, Zensur- und Abhöraffairen für Erdoğan erwarteten Imageverlust sieht Herr Güzeldere für die anstehende Kommunalwahl nicht voraus.
Abends können wir uns in der Nähe des Galata-Turmes mit Herrn Eddy Ekrem Güzeldere, Politologe u n d Mi t g l i e d eines Think Tanks treffen. Seine Einschätzung der aktuellen politischen Lage der Türkei war bisher eine gute Überleitung zu den Rahmenbedingungen in Kurdistan.
Die Wähler außerhalb der Großstädte bekommen die Skandale nicht mit oder lediglich als Verschwörung präsentiert. In der Türkei nutzen nur 50 % der Bevölkerung Internet. Die Medien sind fest in AKP Hand. Das bedeutet Erdoğan-Propaganda auf 20 Kanälen und Dämonisierung politischer Gegner als Terroristen. Die Meinungsführerschaft der Regierung ist ungebrochen. Alternative Informationsquellen sind selten. Eine Teilrehabilitierung der Armee durch die Regierung zeichne sich ab nach dem Motto, wir lassen euch frei, nachdem euch die Gülenisten ausgeschaltet haben.
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Gesprächspartner und Schwerpunkte Istanbul, Van
Nach Einschätzung Herrn Güzelderes funktioniert die AKP. Auch sei diese Kommunalwahl ein Referendum für Erdoğan.
◊ Gespräche in Van IHD (Menschenrechtsverein)
Vereinzelte Parteiaustritte wegen des Gülen-Konfliktes seien öffentlich geahndet worden und mit enormen Nachteilen für die Betroffenen verbunden. Gülenisten wollen zwar die AKP nicht wählen, haben aber keine Alternativ-Partei mehr wie in den 80ziger Jahren. Das Mitte-rechts-Lager ist in der AKP aufgegangen. Die laizistischen Kemalisten der CHP sind zu weit entfernt von der religiös positionierten Bewegung Gülens. Eigene Parteien zu gründen, dauere für die Präsidentschaftswahl in 2015 zu lange.
Am 17.3. starten wir unsere Rundreise mit einem Flug nach Van. Beim IHD erwartet uns mit dem Vorsitzenden Hamdi Bayhan ein frisches, neues Gesicht. Er bestätigt eine schwierige, undurchschaubare Wahlperiode mit offenen internen Kämpfen. Die AKP habe nie allein regiert. Habe immer mit Gülen-Anhängern kooperiert, die ihren Einfluss in Bildung, Justiz und Polizei nutzen. Hoffnungen wie zu Anfang der Egenerkon-Prozesse, dass CHP, MHP und das Militär für ihre Verantwortung an den Kurdenmorden der 80er und 90er Jahre zur Rechenschaft gezogen werden, erfüllen sich nicht. Es entstehen mit CHP, MHP und Gülenisten einfach neue Allianzen. Die Kurden suchen einen dritten Weg. Die Menschen hier seien froh, dass es seit 18 Monaten keine Toten bei militärischen Auseinandersetzungen gegeben habe.
Herr Güzeldere vertritt die Einschätzung: „Die AKP wird dann verlieren, wenn die Wirtschaft leidet. Direktinvestitionen aus dem Ausland haben massiv abgenommen. Besonders kritisch kann diesbezüglich ein Stop von schnellem Geld sein. Das kann ganz schnell gehen.“ Solches Geld sei in den letzten Jahren reichlich geflossen. Auch wird die Wirtschaft durch die innenpolitische Konfrontation tangiert, wenn wie jetzt die Koc-Holding mit massiven Steuerprüfungen überzogen wird, nachdem in einem ihrer Hotels am Taksim-Platz Demonstranten Zuflucht vor Polizeigewalt gewährt wurde. Seine Antwort auf unsere Frage, ob im Osten der Türkei wieder Krieg drohe: „Auch die kurdische Gesellschaft ist weniger kriegsbereit durch eine wachsende Mittelschicht. Die innenpolitische Konfrontation ist traurig für die türkische Demokratie. Eine AKP mit Erdoğan ist für die kurdische Bewegung aber eher günstiger. Kurdische Politiker treten jetzt staatsmännischer und weniger kurdisch auf. Es ist eine Utopie der kurdischen Bewegung, dass ein Wirtschaftsboom schnell ausbricht, wenn es zum Frieden kommt. Der Friedensprozess wird langsamer gehen als die Kurden wollen, aber viel schneller als die Nationalisten befürchten.“
Zukünftiges Unruhepotenzial liege auch in den ca. 1,2 Millionen syrischen Flüchtlingen, von denen viele sicher bleiben werden, und ihrer prekären Situation in der Türkei.
Er bestätigt, dass die unnachgiebige Haltung in der Frage der kranken Gefangenen und der inhaftierten Kinder ein Hindernis für den Friedensprozess ist. Es habe vier Suizidversuche und einen Selbstmord unter den gefangenen Steinewerferkindern in Van gegeben. Auch stocke mit der Gesetzgebung eine wichtige Säule des Friedensprozesses. Die Situation in Van wird weiterhin durch die Folgen des schweren Erdbebens von November 2011 und natürlich durch die Grenzlage zum Iran bestimmt. Das Wiederaufbauprogramm der staatlichen Baugesellschaft Toki sei ein großes Ärgernis. Gerade öffentliche Gebäude seien nicht erdbebensicher, sondern minderwertig gebaut worden, wodurch in einer Schule viele Kinder starben. Auch jetzt sei der Aufbau nicht an den Menschen, sondern an Wirtschaft und Politik orientiert. Toki sei ein staatliches Einflussinstrument. So kämen Fachleute und Händler, selbst Baustoffe nur von außen und würden hier teuer verkauft. Mehrstöckige Mietblocks entsprechen nicht den Erdbebenwarnungen und auch nicht den örtlichen Bedürfnissen nach Kleingärten und nachbarschaftlichem Begegnungsraum. Die Wohnungen in neuen Hochhausblocks werden teuer verkauft, während die Entschädigungen für die zerstörten alten niedrig seien. Zwar sind Bebauungspläne kommunale Aufgabe, doch kann der Staat enteignen, wenn öffentliche Belange betroffen sind. Allgemein würde vermutet, dass auch die Aufteilung des staatlichen Macht- und Wirtschaftskuchens Toki eine der Ursachen für das Zerwürfnis mit den Gülen-Anhängern sein könnte.
„Was die Kommunalwahl betrifft, ist die AKP nicht kurdisch und die BDP nicht muslimisch genug.“
Herr Ömer Isik war in der Untersuchungskommission zu Roboski, dem Ort eines Militärangriffes auf eine Schmugglergruppe mit 34
In Erdoğans Erlassen vom 30.9.2013 zur Imagebesserung der Regierung seien kurdische Buchstaben zwar erlaubt und Kurdisch als Fremdsprache an Privatschulen zugelassen worden. (In Diyarbakır heißt es später, dass x und w von Standesämtern immer noch abgelehnt werden.) Die anti-kurdische Haltung der Gülen-Leute sei aber Grund mit für die innenpolitische Konfrontation und erschwere Verhandlungen mit der PKK sowie den Friedensprozess. Ähnlich tiefe Differenzen gäbe es in der Haltung zu Israel. Die interne Konfrontation wird weitergehen, wobei die Hintergründe von Schlüsselfiguren oft unklar seien.
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DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Gesprächspartner und Schwerpunkte Van
sen. Sondern u. a. nur, wenn die Eltern dort keine Schulden haben. Interessiert sind unsere Gesprächspartner am deutschen Krebsregister. Sie bekämen immer wieder Hinweise, dass Krebsfälle in der Landbevölkerung im Grenzgebiet Folgen von Gaseinsätzen und anderer Munition sein könnten.
meist jugendlichen Toten Ende 2011. Er bedauert, dass nur dieser Ort in den Medien sei. Zwischen 2003 und 2013 habe es 110 Tote, meist jugendliche Schmuggler, bei Zusammenstößen mit Sicherheitskräften im Grenzgebiet zum Iran gegeben. Kinder gehen für 30–40 Liter Benzin pro Fußtransport und wenige Lira Gewinn über die Grenze. Soldaten mordeten dann, wenn sie ihren Anteil nicht bekämen.
Auch machen sie sich Sorgen über zunehmende Importe genetisch veränderter Lebensmittel und vor allem Saatgutes.
Weiterhin hatte der IHD eine Vermittlerrolle, als ein Kandidat der AKP von der PKK entführt wurde und aus dem Iran zurückgeholt werden konnte. Zur Frage der größten Zukunftsherausforderung für den IHD Van antwortet Herr Bayhan mit der Menschenrechtslage von Frauen, Kindern, Behinderten, Transsexuellen und der Kurdischen Frage. Transsexuelle lebten gefährlich und Frauen seien immer noch Menschen zweiter Klasse.
502 Verfahren laufen türkeiweit gegen die KESK, 47 Mitglieder sitzen im Gefängnis. So wie auch ihr 1. Vorsitzender, dem aus einem abgehörten Telefonat ein Aufruf zu Gewalt unterstellt wurde.
Allerdings betrage der Frauenanteil in der kurdischen BDP schon 40 %, in anderen Parteien nur 2 %. Herr Bayhan betont das Armutsproblem. Die offizielle Armutsgrenze liege bei 1.700, die Hungergrenze bei 1.200 Lira im Monat. (Euro:Lira-Kurs 1:3, bei vergleichbarem Niveau der städtischen Lebenshaltungskosten). Der offizielle Mindestlohn betrage aber nur 800 Lira im Monat. Wenn Herr Erdoğan jetzt als „Gesellschaftsingenieur“ zu mindestens drei Kindern pro Familie aufrufe und sich in alles einmische (z. B. Senkung der auch in der Türkei hohen Kaiserschnittrate, Anm. der Verfasserin), dann könne dahinter nur der Plan stehen, dass das Volk arm bleiben solle.
Nach vielen gegenseitigen Fragen und wenig Sauerstoff taucht über die Frage der entgegen den staatlichen Gewerkschaften sinkenden KESK Mitgliederzahlen von 500.000 auf 400.000 die Frauenfrage auf. Vor der Regierungszeit der AKP habe die Mitgliederzahl der systemtreuen AKP-Gewerkschaft 40.000 betragen. Jetzt liege sie bei 700.000. Staatliche Gewerkschaften sind international nicht anerkannt, die KESK schon. Sich zur KESK zu bekennen, könne aber die Karriere kosten. Auch zählen nicht allein die Mitgliederzahlen, weil viele Saisonarbeiter per se nicht organisiert sind. Gleiches gilt für die häusliche Produktion, die besonders Frauen betreffe. Hier gelte der KESK Kampf gesetzlichen Grundrechten. Aber nicht nur um Heimarbeit von Frauen, sondern um Hausarbeit an sich entbrennt eine heftige Diskussion. Eine argumentativ starke wie bunte Gruppe junger Frauen fordert auch hier temperamentvoll Einkommen und verbriefte Rechte. Sie fragen sich, wer setzt die Frauenrechte durch: die Gewerkschaften oder die Frauenbewegung?
Seinen umfassendes Blickwinkel erklärt Herr Bayhan wie folgt. „Wir können die Menschenrechtslage nicht losgelöst von der politischen Entwicklung sehen.“ KESK (Dachverband der Gewerkschaften Kommunikation, Bildung und Gesundheit) Uns erwarten hier gelebte Basisdemokratie und eine größere Gruppe interessierter Mitglieder. Nach einigem Stühlerücken finden wir alle Platz und ein gegenseitiges Fragen beginnt. Selbst von den Privatisierungen im türkischen Gesundheitswesen betroffen, fragen sie uns nach den Auswirkungen in Deutschland aus. Dabei zeigen sich manche Parallelen. In der Türkei gebe es zu wenig Basisversorgung, Spezialisten hingegen könnten reichlich Geld verdienen. Minderjährigen stehe nicht uneingeschränkte Behandlung zu, wie große Hinweisschilder am Eingang von Privatkliniken vermuten las-
Es ist offensichtlich, dass die Frauenkampagne der kurdischen Freiheitsbewegung ihnen den Rücken stärkt. Sie berichten vom Prinzip der Doppelspitze, die jetzt nicht nur für Parteien, sondern auch für die Gewerkschaften gelte. Dass der Etablierung von Frauen in der Öffentlichkeit auch Gerechtigkeit bei der Hausarbeit folgen muss, löst bei den anwesenden Männern nur verhaltenen Beifall aus. Der Schwung der jungen Gewerkschaftlerinnen zeigt, dass hier auch Frauen bereit sind, Aufgaben zu übernehmen.
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BERICHT 2014
Gesprächspartner und Schwerpunkte Hakkâri
iranische Schmuggler in einer Lawine starben. „Roboski ist nur ein Beispiel. Die Grenze ist eine Einladung zum Töten.“
◊ Gespräche in Hakkâri
Zur Frage nach den Gefangenen berichtet Herr Akbulut: „Es gibt weniger Festnahmen, vor allem nicht Massenverhaftungen. Stattdessen gibt es den veränderten Umgang der willkürlichen Einzelfestnahmen von ein bis zwei Personen. Viele Egenerkon-Gefangene sind frei, KCK-Gefangene aber nicht. Bei ihnen wird die Rechtslage zu ihren Ungunsten ausgelegt. Vor fünf Monaten wurden in Hakkâri fünf Steine werfende Kinder im Alter von 12 bis 17 Jahren mit dem Vorwurf Widerstand gegen die Staatsgewalt festgenommen und nach Ankara verlegt. Nach türkischer Rechtsgrundlage dürfen Kinder (auch offizieller türkischer Sprachgebrauch für Minderjährige, Anm. d. V.) nicht verlegt werden. Die Terrorgesetze hebeln das aber aus. So werden Kinder in den E-Typ Gefängnissen terrorisiert. Für diese Verhaftung gratulierte der Vali öffentlich dem Polizeipräsidenten.“
IHD (Menschenrechtsverein) Am 18.3. setzen wir unsere Befragung zu den Menschrechten beim IHD in Hakkâri fort. Auf der noch mit Schnee belasteten Minibusfahrt in den entlegenen Ort nahe der irakischen Grenze brauchen wir diesmal keine Militärkontrolle zu passieren wie in den Jahren zuvor. Wieder zeigt sich ein besonderer Belagerungszustand an der Präsenz patrouillierender Militär- und Panzerfahrzeuge, aber auch der bedrückenden Verschlossenheit im Stadtbild, mit seiner relativen Abwesenheit von Frauen in den Straßen. Wie Dersim/Tunceli in den Munsur-Bergen, das wir in diesem Jahr nicht besuchen, unterliegt Hakkâri einer besonderen Bedeutung im kurdischen Befreiungskampf wie demzufolge auch besonderen Militärkontrollen und Repressionen. Dersim aber fällt durch ein lebhaftes Kultur- und Kleinstadtleben auf und könnte ohne gewisse militärische Details fast als alpines Skigebiet durchgehen.
Dass diese Minderjährigen gesetzeswidrig nicht vor Kindergerichten angeklagt und außerdem von Militäreinheiten mitgenommen wurden, ging in einem Bericht des IHD Hakkâri an die Menschenrechtskommission des türkischen Parlamentes. Als Folge seien aber nur zwei der fünf Betroffenen nach Istanbul verlegt worden. Ein Problem ist, dass politische Gefangene häufig in weit entfernte Gefängnisse verlegt werden. Der IHD kümmere sich auch um die betroffenen Angehörigen. Ein anderer Arbeitsschwerpunkt des IHD Hakkâri sei eine Felduntersuchung zu 49 zivilen Verschwundenen aus einem Dorf bei Yüksekova vor 13 Jahren. Die Menschenrechtsvereine der kurdischen Gebiete widmen den insgesamt 4.150 Opfern des Terrors von Hisbollah, Jitem und Polizei, die seit den 1990ern mit dem Militär kooperierten, ein großes Feldprojekt. Nur in ca. 500 Fällen sei der Verbleib der Ermordeten oder Verschwundenen geklärt. Für viel ältere Angehörige liefe aber die Zeit aus, noch zu erfahren, wie und wo ihre Lieben ermordet und bestenfalls bestattet wurden. Deshalb besuche man jedes Wochenende betroffene Familien, um Daten und DNA-Material zu sammeln und um Erlaubnis zur Suche an bestimmten Orten nachzusuchen. Denn oft wüssten die Familien, wo ihre Kinder beerdigt wurden. Dies gelte besonders für Sammelgräber der Guerilla, die z. T. erschwerenderweise auf Militärbasen verscharrt wurden. Großes Interesse besteht aber am Anlegen einer nationalen DNABank zur Aufklärung dieses dunklen Kapitels der türkisch-kurdischen Geschichte. Zu diesem Thema gab es erst vor zwei Monaten eine internationale Konferenz mit argentinischen Delegierten in Diyarbakır. Als sich vor drei Jahren nach einer Konferenz des IHD fünf Familien mit Erdoğan zu diesem Thema treffen konnten, war die ablehnende Haltung noch, wo solle das hinführen? Schließlich gäbe es auch noch die alten Sammelgräber von Armeniern und Griechen.
Der IHD Vorsitzende aus Hakkâri Ismail Akbulut sieht besser aus als beim letzten Besuch. Er bestätigt, nicht so ausgelaugt zu sein von Gewalt, Verhaftungen und Terror wie damals. Er bringt seine Freude und Erleichterung über den Waffenstillstand zum Ausdruck. Es habe seit 18 Monaten keine Kämpfe und keine Terrorakte mehr gegeben. Seit drei Wochen aber seien verstärkte Militärbewegungen an der Grenze zum Irak zu beobachten. Die Grenze würde gerade durch mobile Posten militärisch verstärkt. Das werde als Affront gegen den Friedensprozess gesehen. Besonders schlimm sei, dass die türkische Regierung die Gunst der Stunde nutze. Ein Bau von Basen wäre vor dem Waffenstillstand und dem Rückzug der PKK so nicht möglich gewesen. Vor drei Monaten wurde an einem Kontrollpunkt bei Cucurka ein Zivilist von Soldaten erschossen. Da er dem Militär als Spritschmuggler bekannt war, sei die offizielle Angabe, er habe auf Aufforderung nicht angehalten, nicht glaubhaft. Als bei Semdinli inoffizielle Vereinbarungen zwischen Militär und Schmugglern bekannt wurden, musste der korrupte lokale Militärchef abgezogen werden. Seitdem ist die Grenze dicht. Schmuggel sei eine Sache, der brutale Umgang damit habe aber mit der Kurdischen Frage zu tun. Die meisten Toten gibt es an der Grenze zum Iran. Die türkische Presse berichtet nur, wenn iranisches Militär für Tote verantwortlich ist. Oder wie vor einem Monat, als fünf
Herr Akbulut betont aber: „Die Untersuchungen sind wichtig für den Versöhnungsprozess. Dieser ist nur wirksam, wenn auch die Gegenseite anzeigt, dass sie Aufklärung will.“ 11
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Gesprächspartner und Schwerpunkte Hakkâri
Zur Situation von Kindern erfahren wir, dass in der Türkei Strafmündigkeit ab 12 Jahren besteht. Unterhalb dieser Altersgrenze werden nur Personaldaten erfasst und die Kinder an die Familie übergeben. Obwohl die Türkei die internationale Kinderrechtskonvention ratifiziert hat, werden Minderjährige nach den Anti-Terrorgesetzen im Erwachsenenvollzug untergebracht. Auch für sie gilt die fünfjährige Dauer von Untersuchungshaft, früher 10 Jahre. Dabei kann es wie bei Erwachsenen Jahre dauern, bis überhaupt eine Anklage erfolgt. Schulunterricht und psychologische Betreuung sieht das Gesetz zwar vor, aber nicht die Praxis. Bis zum 18. Lebensjahr steht ihnen ein Pflichtverteidiger auf Staatskosten zu. Diese werden nach einem Listensystem der jeweiligen Anwaltskammern und nicht nach Wahl verteilt. Wobei sich die Entfernung der Verlegungsorte mit der politischen Distanz der dortigen Anwaltskammern spiegele.
Anwaltskammer Da wegen Schnee und Kälte die für heute in Hakkâri angesagte Newroz-Feier ausfällt, haben wir die Möglichkeit zu einem Treffen in der Anwaltskammer Hakkâri. Dort empfangen uns in einem großzügigen, hellen Büro der Vorsitzende Nurettin Güngör, die Stellvertreterin Emine Akli und Veysi Dumlu. Sie loben die Idee der Doppelspitze, der sie sich selbst angeschlossen haben. Sie begrüßen, dass es seit den Gezi-Park-Protesten endlich eine öffentliche Diskussion über Polizeigewalt gegen Demonstranten gebe. Diese Gewalt habe aber hier vor Ort eine lange Tradition. Bis vor sieben Jahren herrschte hier noch Ausnahmezustand. In der Regierungszeit Erdoğans seien in der Türkei 164 Demonstranten durch Polizeigewalt zu Tode gekommen. Zurzeit gäbe es keine Meldungen von Folter, aber Klagen über grobe Misshandlungen bei Festnahmen.
Zu unserer Frage nach der Bedeutung des Konfliktes Erdoğan/Gülen, verneinen sie Auswirkungen auf Hakkâri. Es sei vor Ort immer klar gewesen, dass es einen tiefen Staat gebe. Zur Frage nach der religiösen Haltung in Hakkâri erwidern sie: „Diese Haltung ist nicht so konservativ wie in Urfa oder Batman. Es gibt Glauben, aber nicht Ideologie“ Kommunales Frauenbüro Das Büro wird von der stellvertretenden Bürgermeisterin Hatice Demir geleitet. Anwesend sind die Koordinatorin Hamide Özer und die Soziologin Özgur Duran. Sie versuchen, die Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen und sie zu schulen. Die Veränderung der feudalen Strukturen gelingt nur langsam.
In Lice/Semdinli sei auch Militär gegen zivile Proteste eingesetzt worden, als Frauen, Kinder und alte Menschen gegen die dortigen neuen Militärbasen demonstrierten. Deshalb seien die dabei Verhafteten auch Kriegsgefangene zu nennen. Als dauerhafter Skandal wird die Situation der kranken Gefangenen benannt, das System der Verlegungen in entfernt gelegene Gefängnisse und besonders die Situation der Kinder in Gefängnissen. Eine mediale Fernübertragung innerhalb der Prozesse lehnen die Rechtsanwälte ab. Eine Verteidigung sei so nicht möglich. Erschwerend sei auch, dass der Besprechungsraum mit Mandanten in Hakkâri jetzt in einen öffentlichen Raum voller elektronischer Geräte umgewandelt wurde. Bei Verhandlungen im Westen wie z. B. in Trabzon habe es Angriffe von nationalistischen Zivilisten/Grauen Wölfen auf Rechtsanwälte gegeben.
Trotz mühsamer Rückreise nach Van besteht nach dem langen Tag in Hakkâri noch dringendes Diskussionsbedürfnis in unserer Gruppe. Waren auf früheren Reisen der Personenkult um Herrn Öcalan oder der Begriff der kurdischen Nation Gegenstand kontroverser Diskussionen in der Gruppe, spiegelt sich das noch einmal in einer gewissen Polarisation zwischen einer BDP-gesteuerten städtischen Frauenarbeit wie heute erlebt und der uns bisher bekannten unabhängigen Frauenarbeit der KA-MER-Gruppen.
Vor drei Monaten seien die Leichen von drei unter unklaren Umständen Getöteten zur angeblichen Untersuchung von Schmauchspuren vor einem anwesenden Rechtanwalt der Kammer aus der Leichenhalle weggeschleppt worden. Sie hatten nämlich keine Schmauchspuren.
Unterschiedliche Ansätze zuzulassen, kann dabei eine Stärke der kurdischen Zivilgesellschaft sein. Unsere Schlussfolgerung ist, dass die bisherige Blockade in dem Ansatz bestand: Erst Öcalan befreien, dann die Gesellschaft. Dass Herr Öcalan sehr konkret dazu aufruft, schon einmal die Befreiung der Frauen zuzulassen, bzw. damit zu beginnen, stellt einiges auf den Kopf. Hiervon geht ein gesellschaft12
BERICHT 2014
Gesprächspartner und Schwerpunkte Hakkâri, Van
telanger Recherche eine 15.000 Seiten starke Klage für den hiesigen Studenten-Verein eingereicht, nachdem nach Studenten-Protesten in Van in 500 Fällen Untersuchungshaft und fast ebenso viele Zwangsexmatrikulierungen vollstreckt wurden. Von den jungen Leuten seien 20–30 in die Berge gegangen, nur 20–30 hätten einen Abschluss gemacht, aber keine Arbeit finden können und arbeiteten jetzt auf dem Bau.
licher Impuls aus, der dem des Waffenstillstandes vergleichbar ist. Interessant ist auch, warum die KA-MER-Gruppen im Osten der Türkei entstanden sind: weil der Politisierungsgrad hier höher ist, weil Gewerkschafter hier mehr im Knast saßen, weil alle Frauen hier Gewalt erlebt haben. Hier schließt sich der Kreis. Nicht umsonst ist die KA-MER-Gründerin Nebahat Koc als Aktivistin der kurdischen Bewegung und als Witwe eines ermordeten Vorsitzenden der BDP-Vorgängerpartei Teil des kurdischen Widerstandes. Verdienst der KA-MER-Gruppen ist, als Erste Individualrechte in den Vordergrund gestellt zu haben.
Auch Herr Murat lässt keinen Zweifel an der politischen Dimension dieses Konfliktes. Stellvertretende Bürgermeisterin Gülbahar Orhan
◊ Gespräche in Van
Mit der stellvertretenden Bürgermeisterin von Van, Gülbahar Orhan (Doppelspitze) und ihrem Team treffen wir junge, engagierte Fachleute. Aus den Containern inmitten von Trümmern sind sie inzwischen in ein Übergangsbüro gezogen. 2015 soll das neue, nur dreistöckige Rathaus fertiggestellt sein. Die Menschen in der Kommune Van leiden unter einer Arbeitslosigkeit von 50 %.
Anwaltskammer Am 19.3. treffen wir den sehr beschäftigten, noch jungen Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer Murat Timur in seinem gut organisierten Büro in Van. Bereits drei Monate nach der erforderlichen Berufserfahrung sei er in sein Amt gewählt worden.
Die Gemeindeverwaltung hat sich nach dem Erdbeben an der Bildung einer demokratischen Plattform mit dem Vorrang humanitärer Hilfe beteiligt. Wenn Ankara es damals nicht abgelehnt hätte, die Region zum Katastrophengebiet zu erklären, hätten dreimal so viele Zuschüsse fließen müssen. Sehr ungünstig sei, dass nach dem Erdbeben der Staat die Bauplanung übernommen habe. Bis dato sei der Bausektor in lokaler Hand gewesen und die Planungshoheit bei der Stadt. Jetzt kommen alle Fachleute, Bauarbeiter und auch Material von außerhalb. So entstehe kein kommunaler wirtschaftlicher Nutzen. Um die neuen Toki-Wohneinheiten beziehen zu können, müssten Menschen sich hoch verschulden, bekämen vorerst auch keinen Grundbucheintrag und damit kein Veräußerungsrecht. Die Banken verdienen an diesen Krediten. Die Bürgermeisterin sieht auf diesem Gebiet ein Chaos voraus.
Bis zum 17.12.2013, dem Datum der ersten Abhörskandale, habe es keine unabhängige Justiz gegeben. Dies sei jetzt endlich ein Thema in der Presse. Die Kurden haben rechtlich unter der Kooperation von AKP und Gülen gelitten. Hier habe es zu wenig Kritik und Proteste aus der EU gegeben. „Dieses Justizsystem als Teil der EU wäre ein Grund, nicht zur EU gehören zu wollen.“ Die Frage nach der Unabhängigkeit von Justiz und Richtern verneint er. Dem Dachverband HSYK der obersten Richter und Staatsanwälte steht als Vorsitzender ebenso wie vormals den Sondergerichten der Justizminister als ein Instrument des Staates vor und könne immer Einfluss nehmen. Sondergerichte gibt es seit 1923. Zuletzt seien sie von Gülenisten unterwandert gewesen.
Stolz ist Frau Orhan, dass Van sich von 200 Millionen Lira Schulden vor der Amtszeit der BDP auf annähernd Schuldenfreiheit gearbeitet hat. Das trägt enorm zu Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit bei.
Schon 2008 habe Abdullah Öcalan vor einer Übernahme des Justizapparates durch Gülen-Leute gewarnt, weil „die Kurden sonst dafür bluten müssten.“ Hier in der Region spreche man Gülen wegen seiner offensichtlichen Eigeninteressen den religiösen Hintergrund ab, obwohl hier Religiosität an sich anerkannt wird.
In der Türkei besteht eine zentrale Finanzverteilung Ankaras an die Kommunen. Dieser an sich festgelegte, proportionale Verteilungsschlüssel kann willkürlich um 60 % gekürzt werden, wenn die Kommune Schulden hat. Eine beliebte Methode, politisch unliebsame Gemeinden abzustrafen, oft geschehen im Osten.
Zur Frage nach seiner Menschenrechtsarbeit gibt Herr Murat an, viele Fälle zum EU-Menschenrechtsgerichtshof gebracht zu haben. Bis 2009 häufig auch mit Erfolg. Dann habe sich das Blatt gewendet. Gerade habe er von dort nichts als einen Dreizeiler als Absage eines Antrages auf Verfahrensaufnahme bekommen. Er hatte nach mona13
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Gesprächspartner und Schwerpunkte Van, Viranşehir
Wir gratulieren Frau Orhan zum Erfolg ihrer Kommunalarbeit und erinnern uns noch gut, wie sie bei unserem Besuch kurz nach dem Erdbeben mit aufgekrempelten Hemdsärmeln im Containerbüro von den Sonderschichten und der Sisyphosarbeit ihrer Behörde berichtete. Nach den BDP-Regeln, die für ein politisches Amt zwingend Rotation nach zwei Wahlperioden vorsehen, wird sie am 30.3. nicht mehr für Van kandidieren. Wir wünschen ihr alles Gute. Auf unsere Frage nach dem Friedensprozess sagt sie, es wird Frieden geben.
Herr Varol und seine Kollegen bestätigen, Van habe wegen der Grenznähe „seit Ewigkeiten mit Flüchtlingen zu tun. Fremdenhass gibt es hier nicht.“ Nach dem Erdbeben seien zunächst für ein bis zwei Jahre alle Flüchtlinge weitergeleitet worden. Jetzt seien anstatt wie zuvor 3.000–6.000 Personen wieder 750 gemeldet. Diese Offenheit haben auch unsere anderen Gesprächspartner in Van bestätigt. Genauso wie bei unseren Besuchen weiter südlich den syrischen Flüchtlingen eher Mitgefühl und Verbundenheit von unseren Gesprächspartnern entgegengebracht wird. In den Straßen von Diyarbakır, Mardin, Urfa oder Istanbul ist ihr soziales Elend aber unübersehbar und der offizielle Sprachgebrauch der „Gäste“, den Ankara vorlegt, könnte sich als dünnes Mäntelchen erweisen.
Es gäbe einen starken Wunsch nach Frieden, Freiheit für Abdullah Öcalan, Freiheit für die Frauen und dass die Guerilla in ein ziviles Leben zurückkehren könne. Nach dem Gespräch erhal ten wir die Möglichkeit, den kurz vor der Eröffnung stehenden riesigen Neubau eines Stadtteil-Frauenzentrums und sein Team aus städtischen Sozialarbeiter und Lehrerinnen zu besuchen. Das Zentrum soll als Pilotprojekt dienen.
◊ Gespräch in Viranşehir Emrullah Cin Unser Besuch in Viranşehir und Treffen mit Emrullah Cin verdiente ein eigenes Kapitel. Er war der Erste, der die kommunale Entschuldung vorantrieb, um dem willkürlichen Proporz Ankaras zu entkommen und sich für die Politik des „was haben wir, was können wir tun“ erfolgreich einsetzte. Damit gingen von Viranşehir wichtige Impulse für ein kurdisches Selbstbewusstsein aber auch für kommunale Arbeit in strukturschwachen Gemeinden allgemein aus.
Fachkommission Flüchtlinge der Anwaltskammer Eine sehr lebendige Runde erwartet uns beim Treffen mit der Rechtanwaltskommission zur Verteidigung der Flüchtlingsrechte Van. Herr Onur Varol und seine Kollegen bearbeiten ehrenamtlich dieses komplexe Gebiet, auf dem es bis zum 11.5.2013 keine gesetzliche Regelung gegeben habe. Zwar seien die internationalen Flüchtlingskonventionen ratifiziert, aber nicht im Inneren umgesetzt worden. Seit 2006 habe es lediglich eine Verwaltungsanweisung für Gesundheit und Unterbringung gegeben, ansonsten hätten sich Flüchtlinge quasi in den Händen der Polizei befunden.
Zuletzt trafen wir Herrn Cin als damaliger Bürgermeister im März 2009 vor der großen Verhaftungswelle (KCK-Prozesse) gegen kurdische RepräsentantInnen, Journalisten, Minderjährige, Demonstranten. Als kämpferischer Demokrat berichtete er uns damals von den erfolgreichen Verbesserungen für die Menschen in Viranşehir und seinen Plänen nach seiner Amtszeit. Mit seiner Verhaftung 2009 wurde er wie über 5000 andere Menschen aus seinen politischen wie privaten Plänen, seinem Amt und seiner Familie abrupt herausgerissen. Diese Verhaftungen stehen für die Willkür eines Krieges „auf niedrigem Niveau“ und die systematische Verhinderung des Friedensprozesses im türkisch-kurdischen Konflikt.
Mit dem neuen Gesetz werde bedingt ein Asylrecht für außereuropäische Flüchtlinge eingeführt und damit eine Rechtsgrundlage für ihre Arbeit geschaffen. Herr Onur Varol und seine Kollegen nennen das eine „revolutionäre Grundlage“. Immerhin bekämen jetzt viele Menschen einen Status, bis ein sicheres Drittland ihnen Aufnahme gewährt. Zwar erhielten diese Flüchtlinge weiterhin kein Arbeitsrecht, müssten aber immerhin keine „Aufenthaltsgebühren“ mehr zahlen und sich wie früher verschulden. Wie immer liegt die Tücke im Detail und wir sind schnell in fachliche Diskussionen vertieft.
In ihrer Haftzeit hinterließen die Gefangenen eine Lücke in ihren Familien, der Gesellschaft und dem Friedensprozess. Wenn Emrullah Cin jetzt von seinen vier Jahren und 46 Tagen in Untersuchungshaft (F-Typ-Gefängnis) berichtet, sind wir Zaungäste eines tief gehenden Prozesses. Sein Bericht ist auch ein Bericht über das türkische Rechtssystem. So habe er zwei Jahre in U-Haft nicht einmal gewusst, 14
BERICHT 2014
Gesprächspartner und Schwerpunkte Viranşehir, Nusaybin
ist ebenso wie der Flughafen von Qamishli in der Hand der Syrischen Armee. Auf unsere Frage, wohin die Hilfsgüter gebracht werden, bekommen wir keine klare Antwort. UNO-Mitarbeiter seien seit einiger Zeit auf der syrischen Seite und hätten Verteilstationen aufgebaut und Listen der Bedürftigkeit erstellt. Mit dem kurdischen Roten Halbmond in Qamishli oder den Vertretern der Autonomieregierung hätten sie keine Kontakte. Das sei alles sehr delikat und fragil.
was die offizielle Anklage war. Seine amtierende Bürgermeisterkollegin Leyla Güven sitzt immer noch in Haft. Von Rückzug aus der Politik besteht bei Herrn Cin keine Spur. Er erscheint noch stiller und nachdenklicher als 2009, aber ungebrochen dynamisch in seinen Plänen für Viranşehir, seiner Kandidatur als Bürgermeister und in seiner Analyse des kurdisch-türkischen Konfliktes. Er bringt mehrfach zum Ausdruck, dass der Friedensprozess unumkehrbar sei. Als Aspekte der Hoffnung erwähnt er den Waffenstillstand, die neue Rolle der Frauen und die Entwicklung in Rojava. Nicht nur für ihn, auch für andere Gesprächspartner ist die autonome Entwicklung in den drei kurdischen Enklaven inmitten des syrischen Krieges Hoffnung, nicht nur für den syrischen Friedensprozess. (Ausführlichere Informationen zum Thema finden Sie im Bericht der Delegationsreise in die kurdischen Gebiete im Norden Syriens im Januar 2014: issuu.com/ippnw/docs/ippnw-akzente-syrien-2014)
Freundlicherweise stellt uns die dortige Bürgermeisterin Ayse Gökhan im Rathaus für den ganzen Tag einen Besprechungsraum und Fachunterstützung zur Versendung einer Pressemitteilung zur Verfügung. Frau Gökhan berichtet uns von der traditionellen Verbundenheit der Menschen in der Grenzregion und der Betroffenheit über den Krieg in Syrien und das Embargo, das die Menschen dort treffe. Auch die junge assyrische Kollegin, die am 30.3. in Doppelspitze mit Ahmet Türk in Mardin kandidiere, habe Familie in Syrien. Mehrfach habe Frau Gökhan als Bürgermeisterin hier in Nusaybin Hilfslieferungen direkt zur Grenze gebracht.
So antwortet er auf die Frage, ob ein Verzicht auf einen Nationalstaat unter Kurden mehrheitsfähig sei: „Für uns als BDP schon. Beispiel Rojava. Sie hätten dort Kleinstaaten ausrufen können, haben aber Kantone (innerhalb eines syrischen Staates A. d. V.) eingerichtet. Wir hoffen, dass hier überall lokale Strukturen entstehen. Vielleicht eines Tages in der ganzen Welt. Wir wissen, dass die Gründe für die Kriege in Europa die Nationalstaaten waren. Durchlässige Grenzen sind ein Friedensprozess.“
Inzwischen sei das zu gefährlich, obwohl sie über Fernsehen und Telefon von der Not der Menschen in Syrien wissen. Sie war in Finnland und Norwegen, um um Hilfe zu bitten. Selbst um Medikamente müsse sie auf türkischer Seite betteln, da vieles unter das Betäubungsmittelgesetz falle oder unter das Gesetz zur Verhinderung von Waffenherstellung. „Als Narkosemittel gebraucht wurden, haben wir hier vor dem Krankenhaus demonstriert, um von hier welche zu bekommen. Ich kam mir vor wie ein Dieb und fragte mich, was mache ich hier? Wir haben für Blutbeutel demonstriert und sie persönlich zur Grenze gebracht. Ich dachte, wenn wir erschossen werden, dann als Menschen. Aber ist das noch normal?“ Als zusätzlich zum Embargo eine Grenzbefestigung von türkischer Seite – die „Mauer der Schande“ – gebaut werden sollte, habe sie am 6.10.2013 aus der Presse davon erfahren. Bis zum 30.10. sei mit verschiedenen Aktionen an einem Stop gearbeitet worden, dann habe sie sich mit anderen zu einem Hungerstreik an der Grenze entschlossen. Als Einzige blieb sie übrig. Gelassen und doch eindrücklich schildert Frau Gökhan uns, wie sie mit allen Mitteln eingeschüchtert werden sollte. Soldaten hätten ihr ihre Penisse gezeigt, mit Kalaschnikows auf sie gezielt. Sie habe auch nachts keine Toilette gehabt, da man mit Taschenlampen auf sie gezielt habe. Darum habe sie vier Tage kein Wasser getrunken und sich geweigert, sich von staatlichen Ärzten untersuchen zu lassen. „Als die Schikanen begannen, hatte ich nur noch meinen Körper. Sie haben Panzer vor mich gestellt, damit die Steinewerferkinder mich treffen, eine Gasbombe geworfen und es als Unfall dargestellt.“ Nach vier Tagen ohne Wasser war sie bewegungsunfähig. Erst da sei aus Decken eine Toilette für sie gebaut worden. Am fünften Tag wurde ihr Blutdruck durch eine Ärztekommission gemessen. „Ich konnte da aber kein Wasser mehr aufnehmen.“
Als Ausdruck der Verbundenheit berichtet er, dass allein in Deutschland 37.000 Menschen aus Viranşehir leben. Davon haben sich kurz nach seiner Freilassung 4000 in Bielefeld versammelt und gefeiert. „Fühlt euch nicht so weit weg. Wir sind auch so verbunden.“
◊ Gespräche in Nusaybin Bürgermeisterin Ayse Gökhan Nachdem wir an diesem sonnigen Tag Urfa und auf Anregung eines einzelnen Herren mit reichlich Geologiekenntnissen die Ausgrabungsstätte Göbekli Tepe besucht haben, steht uns ein Abstecher an die syrische Grenze bevor. In Nusaybin werden wir am nächsten Morgen am Grenzpunkt Zeugen eines UN-Hilfseinsatzes. Es ist der erste UN-Transport auf dem Landweg und alle sind sehr aufgeregt. Der Leiter der Mission setzt sich schließlich mit uns unter einen Baum zum Gespräch. Die Grenze 15
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Gesprächspartner und Schwerpunkte Nusaybin, Midyat, Mardin
Schließlich unterschrieb Herr Aranc, der stellvertretende Ministerpräsident, dass keine Mauer gebaut werde. Sondern nur ein Gebilde von einem Meter Höhe, das keine Mauer sei. Da war die Nachricht von Ayse Gökhans Aktion schon um die Welt gegangen.
Ihr Resümee: „Ohne Kampf geht gar nichts. Wir sind es gewöhnt. Wir kommen aus dieser Befreiungsbewegung. Diese Proteste sind Therapie für uns.“ Gegen sie laufen sowieso schon 150 Anklagen von staatlicher Seite.
Herzenswarm und vital wie ein Stehaufmännchen pendelt Frau Gökhan zwischen uns und ihren anderen Aufgaben. Sie vermittelt uns einen Vertreter der hiesigen Ärztekommission, Dr. Ramazan Kaya, der das Bild von der humanitären Notlage der Menschen jenseits der Grenze zusammen mit einem Z ahnar z tkollegen Dr. Ramazan Kaya vervollständigt. Dazu gehören Fälle von Polio und Tollwut, und als das noch ging, Impfungen direkt durch den alten Grenzzaun hindurch. Das türkische Au f f an gla ger f ür 4.000 der 8.000 syrischen Flüchtlinge in Nusaybin verwehre Zahnarztkollege von Dr. Kaya ihnen aber den Zutritt. Es werde von offizieller Seite „Gästehaus“ genannt. Beide Ärzte freuen sich auf den 6. Mesopotamischen Ärztetag, der am 15.5.2014 in Mardin stattfinden soll und zu dem auch KollegInnen aus Damaskus eingeladen sind. Ihre ärztliche Kommission aus Nusaybin habe einen Bericht auf der Konferenz der Ärztekammer Ankara zur Situation in Rojava vorgelegt. Der wichtigste Punkt sei ein sofortiger Stop des Embargos. Aus Rojava flüchten weitaus weniger Menschen als aus den übrigen Gebieten. Ganz im Gegenteil fliehen viele Syrier/ Innen in diese Gebiete. Es gäbe keinen Mangel an Fachkräften aber absolut an Material und Medikamenten, inzwischen auch an Nahrungsmitteln. Die Selbstverwaltung schreite voran, aber die Lage unter den Angriffen der Islamisten sei bedrohlich.
Zwischendrin bringt ihr ihre Assistentin unaufgefordert eine Packung Zigaretten. Als sich Frau Gökhan davon kommentarlos eine Zigarette anzündet, ist Helmut Schmidt dagegen Schnee von gestern.
◊ Gespräche in Midyat Im Kloster Mor Gabriel sprechen wir mit dem Sohn von Isa Garis. Er vertritt seinen Vater, der zur Behandlung in Deutschland ist. Im Büro der BDP liegt das Wahlprogramm in vier Sprachen aus, kurdisch, arabisch, türkisch und aramäisch. Außerdem Probewahlzettel, mit denen sie mit den of t analphabetischen Wählern das Ankreuzen üben.
◊ Gespräch in Mardin Prof. Kadri Yildirim, Leiter des Fachbereiches Kurdologie der Universität Mardin Wir treffen in Mardin den Leiter des neuen Faches Kurdologie der dortigen Universität Prof. Kadri Yildirim und drei seiner Dozenten. Zwar haben sich die Hoffnungen nicht erfüllt, dass die ersten Jahrgangsabgänger auch in den Schuldienst übernommen werden. Man habe ihnen lediglich kleine Honorarverträge für stundenweisen Fremdsprachenunterricht angeboten. Davon könne niemand leben und die zunächst massenhaften Einschreibungszahlen sind rückläu-
Nachdem wir noch den Filmregisseur Ruhi Karadag (Filmprojekt „Simurg“) in ihren Räumen empfangen können, verabschieden wir uns von Frau Gökhan. Sie erzählt uns, wie schnell sich auf der Straße Menschen um sie sammelten. Sie werde Aktivistin der Grenzregion bleiben, auch wenn ihre Amtszeit jetzt ausläuft. Als die Polizei neulich sämtliche vertrauliche Aufzeichnungen über ratsuchende Frauen aus dem hiesigen Frauenhaus beschlagnahmt und entführt habe, habe sie kurzerhand per Fax Ankara mit ihrer Selbstverbrennung gedroht. Keine der Akten sei angerührt worden.
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BERICHT 2014
Gesprächspartner und Schwerpunkte Diyarbakır
Gesundheitsreform, die mehr einer Quantität als Qualität zuarbeite. Auf einen Arzt kommen in der Türkei ca. 4.000 Patienten. Inzwischen sei ein Honorarsystem nach Punktzahl eingeführt worden und „die Patienten werden als Futter angesehen. Die Patienten werden sauer über schnelle Abfertigung und Art ihrer Behandlung.“ Früher durften Privatkliniken nur 30 % mehr einnehmen als staatliche Kliniken. Jetzt sind es 200 %. Jungen Kollegen werde das Leben nicht nur mit Staffelgehältern und Fristverträgen erschwert. Zusätzlich zu der Pflichtzeit und Zwangsversetzung in unterversorgte Gebiete direkt nach dem Studium wäre jetzt auch die Pflichtzeit zur Erlangung eines Facharzttitels von sechs Monaten auf zwei Jahre nebst Zwangszuteilung verlängert worden.
fig. Dennoch ist es gelungen, ein mit 40 Akademiker/Innen weltweit größtes Team in Kurdologie aufzubauen. In kurzer Zeit seien zuerst Curricula und dann kurdische Schulbücher für die Klassen 1.–5. erstellt worden. Die für Gymnasien stünden vor der Fertigstellung. Außerdem bestehen schon Curricula für eine Kurzausbildung sowie ein Masterstudium. Natürlich seien sie auch an der Ausrichtung des Mesopotamischen Ärztetages beteiligt. Die Abschlussfeier des ersten Jahrganges mit großem Presseinteresse sowie dem Besuch des nordirakischen Kultusminister, sei ein sehr emotionales Ereignis gewesen. Viele Menschen haben geweint. Der Anteil der Studentinnen sei 50 %, unter den 14 Dozenten vorerst aber nur eine Frau.
Insgesamt stehen aber politische Themen im Vordergrund. Herr Günay war nicht nur in Cobani/Rojava und berichtet von unhaltbaren Gesundheitszuständen. „Die Leute dort sagen, sie wollen nichts als ein Ende der Blockade und offene Grenzen, damit sie nicht betteln müssen.“ Auch leiste die hiesige Ärztekammer ganz praktische Gesundheitshilfe und stehe in Kontakt mit syrischen Kollegen.
Auf die Frage nach Angst vor der Regierung antwortet Herr Yildirim: „Sie wissen, dass außer uns niemand diese Arbeit machen kann. Sie brauchen uns und wir brauchen sie“. Drittmittel gäbe es keine. „Wenn das Kind nicht weint, kann die Mutter es nicht stillen. Die Kurden haben geweint und geweint.“
Es sei sensationell, dass die türkische Industrie- und Handelskammer inzwischen Druck gegen das Embargo mache, weil es nicht nur für die Menschen, sondern auch für die Wirtschaft schädlich sei.
◊ Gespräche in Diyarbakır TUHAD-DER (Angehörigengruppe der kranken Gefangenen)
Zu den kranken Gefangenen berichtet er, dass die Gefängnisärzte regelmäßig für Gefangene, Soldaten und Wärter nebst Familien zuständig wären. Dadurch käme es regelhaft zu einer Vernachlässigung der Gefangenen. Als 2013 ein Arztkollege in Diyarbakır sich weigerte, Gefangene in Handschellen zu behandeln, sei er zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt worden. Über diese Art der Behandlung gäbe es ein Dreierprotokoll von Justiz-, Innen- und Gesundheitsministerium sowie wohl auch die Anweisung durch leitende Ärzte. Auch wenn dies nach dem Istanbul Protokoll verboten sei. Immerhin gäbe es jetzt in Diyarbakır in der Klinik einen angemessenen Behandlungsraum, sodass Gefangene nicht mehr grundsätzlich im Keller behandelt werden müssen.
Bei der Angehörigengruppe der kranken Gefangenen Diyarbakır treffen wir Derya Us und verschiedene Familienangehörige. Ihr Bericht deckt sich mit den bisherigen Ber ic hten. W ir b e schließen, gemeinsam mit ihnen mit IPPNW-Plakaten an einer Mahnwache vor dem Gefängnis teilzunehmen und eine Presseerklärung zu verlesen (im Anhang).
Herr Günay berichtet von den jüngsten Richtungsentscheidungen des kurdischen Widerstandes genauso interessiert und gut informiert wie von den medizinischen Fakten. Seine Kollegen schließen sich an und tragen eigene Erfahrungen und Fragen bei.
Ärztekammer Überrascht sind wir, als uns abends bei einem Treffen mit der Ärztekammer Diyarbakır das gleiche Thema erwartet. Die Räume sind noch die gleichen, aber von eher konservativen, älteren Standesvertretern kann gar keine Rede mehr sein. Der Vorsitzende Cengiz Günay und seine Kollegen berichten zwar auch von den Folgen der
Am nächsten Tag treffen wir sie bei der Mahnwache. IHD (Menschenrechtsverein) Beim IHD empfängt uns der Sekretär Herr Abdul Selam. Er lobt den Friedens- und Toleranzaufruf aus Imrali. Der Waffenstillstand sei eine große Freude. Zur Frage eines Gefangenenaustausches mit der Guerilla betont er, das dürfe man nicht missverstehen, das habe es nicht gegeben. Die PKK habe Gefangene freigelassen und an den IHD übergeben. „In manchen Fällen haben sich Familien an uns gewendet und wir uns an die PKK. Es gab auch Freilassungen ohne unsere 17
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Gesprächspartner und Schwerpunkte Diyarbakır
Hilfe. Wir haben keine Meldungen von PKK Gefangenen.“ Zur Frage der Folter sagt er: „Ja, es gibt Verbesserungen der Menschenrechtssituation. Das hat aber mit dem Waffenstillstand zu tun und damit, dass die Menschen weniger auf die Straßen gehen. Die Haltung (der Regierung, A. d. V.) hat sich nicht geändert. Aller Fortschritt kam nur mit Kampf und Protest. Wenn die Regierung oder Erdoğan vom Friedensprozess reden, ist das ohne Rechtsgrundlage unverbindlich. Im Nahen Osten ändern sich die Grenzen und die Verhältnisse. Es gibt ein enormes Änderungspotenzial. Es gibt auch Zwänge, warum Erdoğan das macht.“
Gesetzen soll U-Haft auch in der Türkei nur bei Flucht- und Verdunklungsgefahr vollzogen werden. Dies betrifft die kranken Gefangenen umso mehr. Warum sind sie krank geworden? Viele sind seit über 10 Jahren in Haft. Es gibt Tricks. Bei Doppelanklage wird U-Haft addiert. Bei unmittelbarer Todesgefahr ist Haftverschonung vorgesehen. Aber der Begriff unmittelbar ist umstritten und alles ist aufgehoben bei Gefahr für die Öffentlichkeit. Die Bescheinigung von Gefährlichkeit für die Öffentlichkeit liegt bei den lokalen Polizeichefs.“ Zwar seien die Sondergerichte abgeschafft, 270 Richter wurden am 24.3.2014 intern versetzt. Komischerweise wurden Richter der Sondergerichte weit versetzt, aber die aus Diyarbakır nicht. Zur Frage der syrischen Flüchtlinge berichtet er, dass diese schwer zu vertreten seien. Die meisten haben keine Papiere. Die türkischen Botschaften in Syrien sind geschlossen. Es gäbe eine Rojava-Kommission. Flüchtlinge von dort sind aber weniger, weil die Strukturen dort intakt seien.
KA-MER (Frauenberatungsstelle) In der KA-MER-Frauenberatungsstelle Diyarbakır finden wir wie früher auch beeindruckend engagierte Fachfrauen, nur hat sic h ihr Arbeitsschwerpunkt um die syrischen Flüchtlingsfamilien erweitert. Bei ihrer aufsuchenden Arbeit in den Stadtteilen stellen sie fest, dass „die Menschen in armen Vierteln mehr teilen, was sie haben, als in reichen.“
Herr Yilmaz hält Rechtsanwälte für eine wichtige Säule des Rechtsstaates. Leider seien viele Anwaltskammern sehr nationalistisch wie in Ankara und Istanbul. Er berichtet von dem Fall des Dorfes Kuskonar bei Siirt, das er vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof vertreten habe. Am 26.3.1994 seien dort bei einem Luftangriff des türkischen Militärs 40 Zivilisten getötet worden. Alle Überlebenden flohen und erst nach 10 Jahre habe sich der Dorfchef mit der Bitte um Vertretung an ihn gewandt. Nach einem Vertuschungsversuch habe das Militär die Flüge vier Jahre später zugeben müssen. Die Verurteilung erfolgte durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nach der Genfer Konvention, was bisher einmalig sei. Das Urteil wurde im November 2013 erlassen. Es sei ein Meilenstein. Denn es ist „die Anerkennung, dass hier Krieg ist“.
Anwaltskammer In der Anwaltskammer Diyarbakır treffen wir Tahir Elçi, Vorsitzender der Anwaltskammer und seinen Kollegen Herrn Yilmaz. Herr Elçi fasst die Rechtsl a g e z u s a m m e n: „Das Problem hier ist die lange Untersuchungshaft. Das ist eine Menschenrechtsverletzung. Normalerweise lässt auch die türkische Verfassung diese Verletzung der Individualrechte nicht zu, sowenig wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof.
Nachrichtenagentur DIHA, Mahmut Ali Die Räume der Agent u r s i n d d u n ke l, überfüllt und mit Geräten vollgestopft. Herr Ali klagt über die Behinderung der Arbeit kurdischer und linker Journalisten. Sie würden von der Berichterstattung ausgeschlossen. Selbst für den Besuch Erdoğans in der Stadt und trotz des Wahlkampfs habe niemand von ihnen eine Akkreditierung bekommen. Außerdem würden sie immer wieder verhaftet und auf jede erdenkliche Weise schikaniert.
Dieser hat immer wieder türkischen Gerichtsbeschlüssen widersprochen. Wie auch das türkische Verfassungsgericht. Nach Theorie und 18
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◊ Fazit Es gibt weiterhin Justizwillkür und Repression in Kurdistan/Türkei. Aber wir sind in vielen Gruppen und Einrichtungen auf einen ermutigenden Wandel gestoßen. Der höhere Frauenanteil im politischen und öffentlichen Leben hat schon Tradition. Ebrü Ökmen, Referentin für ausländische Kontakte der Stadt
Auffallend sind jetzt die vielen jungen, gut ausgebildeten Fachleute mit kurdischer Identität. Unsere Gesprächspartner in den Ärzteund Anwaltskammern sind gute Beispiele hierfür. Offensichtlich haben Krieg und Repression gegen die Eltern- und Großelterngeneration nicht zur Entpolitisierung der jetzt Nachwachsenden geführt.
Ebrü Ökmen, die wir von früheren Besuchen kennen, kommt zu einem inoffiziellen Freundschaf t sbe such ins Hotel. Schnell ist sie dann doch in eine dienstliche Diskussion mit uns verwickelt über die großen Veränderungen, die wir in der Altstadt bemerkt haben. Entlang der Mauer sind schon viele Gebäude abgerissen. Ebrü berichtet, dass die staatliche Baugesellschaft TOKI große Areale gekauft habe und dort Shopping-Malls errichten wollte. Die Stadtverwaltung habe in harten Verhandlungen erreicht, dass innerhalb der historischen Mauern nur in einem historischen Stil gebaut werden dürfe, wie er sich auf den ältesten erhaltenen Postkarten aus den 6oer Jahren findet. Außerdem sollen historische Gebäude restauriert oder wieder aufgebaut werden und so der multiethnische, multikulturelle und multireligiöse Charakter der Stadt erhalten bleiben. Die Umsiedlung der Bewohner solle mit deren Einverständnis erfolgen und die Entschädigung für den Verlust ihrer Häuser ausreichend sein für den Erwerb einer TOKI-Wohnung außerhalb der Mauer.
Wenn z. B. wie vom Zentrum Vans aus gut sichtbar immer noch drohend „Ne mutlu türküm diyene – Was für ein Glücklicher, der sagen kann, ich bin Türke“ an den umliegenden Berghängen prangt, dann könnte dieser Versuch einer Gehirnwäsche zu einem Symbol paradoxer Wirkung werden. Die Farbe der Inschrift verblasst in Van zusehens. Aber als Demütigung der Eltern hat es in einem komplexen System das Seine getan, eine kurdische Identität in der Nachfolgegeneration zu festigen. Hier wird Widerstand zur Therapie (Zitat Ayse Gökhan u. a.). Politik kann zur Heilung beitragen. Die jungen Leute, die nach ihrer Ausbildung jetzt lieber im Osten bleiben und Abstriche an Einkommen und Infrastruktur hinnehmen, geben als Begründung kein diffuses Heimatgefühl an. Sie berichten, dass es ihnen wichtig ist, sich nicht verstecken und unterordnen zu müssen, wie oft noch im Westen der Türkei erforderlich. Im klassischen Nationalismus des Landes war ethnische Zuschreibung auch immer eine Abwertung und Ausgrenzung. Die jungen Leute wollen von solchen Zuschreibungen frei und in ihrer Identität selbstbewusst sein. Muttersprache oder Mehrsprachigkeit sind integrale Bestandteile davon. Mit einer öffentlich erkennbaren kurdischen Identität entstehen neue Freiräume. Es kommt zu einem Strukturwandel, der über die Bildung einer Mittelschicht hinaus geht. Anstatt zu polarisieren, schafft ein hoher Politisierungsgrad gesellschaftliche und nachbarschaftliche Brücken.
Av. Aydin Altac, Vorsitzender der AKP Diyarbakır Es war der Wunsch vieler Delegationsteilnehmer, mit einem Vertreter der Regierung oder der außerkurdischen Opposition zu sprechen. Auf früheren Reisen hatten wir damit immer wieder schlechte Erfahrung gemacht. Wenn wir einen Termin bekamen, wurden wir mit einer wohlgesetzten Rede zugetextet und hatten keine Gelegenheit, Fragen zu stellen.
Der ausgesprochene Laizismus und eine Friedenspolitik der kurdischen Bewegung und Partei BDP spielen eine spürbare Rolle. Sie geben (jungen) Menschen Raum, sich regional und mental zu verorten, ohne sich der relativen Fremde der Ausgrenzung einerseits oder religiös und feudal begründeten Traditionen andererseits anpassen zu müssen. (Ohne sich entweder unterzuordnen oder in die Berge gehen zu müssen.)
Herr Altac, der Vorsitzende der AKP in Diyarbakır und Bürgermeisterkandidat bei der Kommunalwahl empfing uns freundlich und stellte sich unseren Fragen. Er interessierte sich für unsere Erfahrungen und geriet erst in die Defensive, als wir ihn nach den kranken Gefangenen und den inhaftierten Kindern fragten. Er verstieg sich zu der Behauptung, dass die Kinder selbst den Vollzug bei den Erwachsenen beantragen würden. Und die Unterbringung in weit entfernten Gefängnissen sei der großen Zahl der Gefangenen geschuldet. So hatten wir zwar diesmal ein Gespräch, aber es verlief für beide Seiten unbefriedigend.
Demütigungen funktionieren gut in hierarchischen Systemen. In egalitären Systemen laufen sie ins Leere. Die Entwicklungen in Rojava oder ein mesopotamischer Kongress waren dabei Hoffnungszeichen für viele Menschen, die wir trafen. In dem Maße wie in einer demokratischen Bewegung Frauen und Männer, Stadt- und Landbevölkerung, verschiedene Sprachen und Religionen, Transsexuelle und andere Minderheiten sich in einer kurdischen Identität wiederfinden können, entsteht ein Friedens- und Versöhnungsprozess. Es braucht starke PolitikerInnen auf beiden Seiten, um diesen Prozess voranzubringen. 19
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in diesem Stadtviertel eine Bleibe gefunden haben. So wird Newroz vor dem blassblauen Horizont des neuen Diyarbakır gefeiert. Das hat Symbolkraft: Denn die neuen Trabanten, die den berühmten alten Stadtkern des stolzen Amed umkreisen, stehen für die Entwicklung einer kurdischen Mittelklasse. Freiheit heißt für sie nicht nur Freiheit von Unterdrückung, sondern Freiheit zu kultureller und wirtschaftlicher Selbstbestimmung. Entsprechend heiter und kraftvoll wird Newroz 2014 gefeiert.
Eindrücke aus einem verwundeten Land, das im Aufbruch ist Margit Iffert Mildes Klima und Skepsis Diyarbakır, Newroz 2014 – „Zwei Millionen!“, sagt der junge Kurde stolz: „Zwei Millionen sind hier. Für die Freiheit.“ Im gleichen Atemzug fragt er, wie er nach Deutschland kommen kann.
Die Konfrontation mit der Staatsmacht wird von beiden Seiten vermieden. Der Friedensprozess soll um keinen Preis gefährdet werden. Das wird sich, wie die Wahlen eine Woche später zeigen, für beide Parteien bezahlt machen. Sowohl die regierende AKP als auch die BDP werden in den Regionen des Ostens und Südostens Stimmen dazugewinnen. Allerdings wird es nur der BDP gelingen, zusätzliche Rathäuser zu erobern.
Die Freiheit wird in der Osttürkei immer noch als brüchiger Traum empfunden. Zu tief sind die Wunden, zu frisch die Narben, zu groß das Misstrauen der Kurden, dass bald das böse Erwachen kommt und der türkische Staat sein altes, wahres Gesicht zeigt, die hässliche Fratze der Macht mit ihrem Absolutheitsanspruch und der Verachtung und Verfolgung ihres Volkes, ihrer Sprache, ihrer Kultur.
Frauen im Aufbruch Freiheit heißt, dass Macht infrage gestellt werden darf. Die kurdischen Frauen sind, was ihre Rolle angeht, mit dem Begriff vorsichtig. Aber auch sie zeigen wachsendes Selbstbewusstsein. „Glauben Sie mir“, sagt eine junge Kurdin, „wir Frauen sind nicht mehr am Anfang des Weges. Wir sind viel weiter. Die Frauen werden dieses Land verändern. In fünf Jahren werden Sie die kurdische Gesellschaft nicht wiedererkennen.“ Mag sein, dass sie, die in Kanada exzellent ausgebildete Akademikerin, schon zu weit weg ist von der Lebenswirklichkeit der Frauen in den entlegenen kurdischen Bergdörfern. Oder vom Leben der jungen Mütter in den Etagenwohnungen der Hochhausblocks der Vorstädte, die den Stimmungen ihrer Ehemänner ausgeliefert sind. Häusliche Gewalt nennen alle Frauenorganisationen als Problem Nummer Eins.
Friedliches Open Air Aber heute, am 21. März 2014, an diesem warmen Frühlingstag in Diyarbakır, entzieht sich die Staatsmacht der Wahrnehmung. Sie verzichtet auf augenscheinliche Präsenz. Fast demonstrativ, scheint es, denn wo gibt es das, eine politische Massenkundgebung mit weit über einer Million Menschen, auf der fast keine Sicherheitskräfte zu sehen sind? Vor zwei Jahren, als die zentrale Newroz-Feier noch verboten war, rückte die Polizei mit Wasserwerfern an. Jetzt stehen am Rande des Kundgebungsgeländes nur einige kleine Polizeifahrzeuge und es bietet sich kein anderes Bild als bei irgendeinem friedlichen Open-Air-Festival an irgendeinem anderen friedlichen Ort der Welt. Freiheit ist das Wort dieses Tages. Oben auf der Bühne bei den Vertretern der BDP, die die Gelegenheit nutzen, sich eine Woche vor der Kommunalwahl engagiert und kämpferisch zu zeigen. Und unten – bei der Masse, die zuhört, die jubelt, die tanzt oder sich einfach mit der Familie zum Picknick trifft. „Keine Terroristen“ Frei wollen die Menschen auch vom Stigma des Terrorismus sein. Ein alter Mann balanciert ein Tablett mit Sesamkringeln auf dem Kopf. Seine Botschaft ist ihm wichtiger als die Ware feilzubieten: „Wir sind keine Terroristen. Sag das den Menschen in Deutschland!“, wiederholt er ein ums andere Mal. Er ist nicht der Einzige, der die Besucher aus Almanya beschwört, gegen dieses Image anzugehen. Es ist ein Makel, an dem die Kurden schwer tragen. Als ungerecht empfinden sie ihn, als falsch, ihren Kampf historisch verzerrend, als Produkt einer vom Staat gelenkten Presse und brutalen Regierungspropaganda.
Und doch: Der lange politische Kampf der Kurden hat die Rolle der Frau verändert, neben den Einflussfaktoren der multimedialen Gesellschaft. Junge Frauen stehen professionell und eloquent bei den Wahlkundgebungen auf den Bühnen, ergreifen das Wort in den Treffen mit der deutschen Delegation, managen die Aktivitäten von Vereinen wie z. B. bei TUHAD-DER in Diyarbakır. In der Osttürkei sieht man nur wenige Frauen im Tschador, dagegen mehr und mehr im globalen Outfit Jeans und T-Shirt. Dass die Rolle der Frau am Kopftuch festgemacht wird, würde die junge Rechtsanwältin in Hakkâri ohnehin mit spöttischem Lächeln kommentieren. Beim Treffen in dieser abgelegenen Gebirgsstadt sitzt sie kerzengrade mit akkurat gebundenem Kopftuch, knappem Blazer, langem schwarzen Rock und Ankle-Boots – streng nach der Kleiderordnung einer muslimischen Frau, doch elegant und zweifellos souverän und äußerst selbstbewusst. Ihre Freiheit fußt auf ihrer Bildung und ihrer hohen Qualifikation.
Im Hintergrund der Menschenmassen erstreckt sich die Vorstadt von Diyarbakır. Architekten konnten sich hier verwirklichen in den letzten zehn Jahren: Ein Wohnblock nach dem anderen ist entstanden. Hunderttausend Menschen, so die grobe Schätzung, dürften allein
Ein Stück Freiheit im Sinne von Unabhängigkeit erhoffen sich viele Frauen von Projekten wie dem in Van, wo Anfang des Jahres ein Frauenzentrum in Betrieb gegangen ist. Dort sollen die Frauen lernen, wie sie sich mit handwerklichen Produkten selbstständig ma20
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Diyarbakır, Newroz 2014
terpräsidenten in Diyarbakır eine Woche nach Newroz wird eine Ansprache in Kurdisch gehalten. Ist es das, was die Masse unter Freiheit versteht? Oder ist es der erfolgreiche Versuch Erdoğans die kurdischen Massen einzulullen, die er für seine Vision einer Großmacht Türkei unter seiner autoritären Führung braucht?
chen können. Der Ansturm ist groß. Zwei Monate nach Start des Projektes haben sich bereits 300 Frauen gemeldet – kein Zweifel: Die Frauen sind auf dem Weg. Entspanntes Klima So frei wie nie zuvor kann sich die Delegation im Kurdengebiet bewegen: Keine einzige Militärkontrolle, kein Polizist fragt nach Ausweisen. Die kurdischen Gesprächspartner sehen entspannter als früher aus. „Ja, es stimmt“, sagen sie, „das Klima ist besser geworden.“ In der lauen Frühlingsluft Diyarbakırs tanzen junge Frauen und Männer ausgelassen zu kurdischen Klängen, am Newroz-Wochenende sind Hunderte von Ausflüglern auf der alten Stadtmauer unterwegs, um den Blick auf den Tigris zu genießen.
Keine Rechtssicherheit „Erdoğan versucht diese Land nach seiner Vorstellung zu formen. Er sieht sich selbst als Architekt der Gesellschaft. Aber damit behindert er die Entwicklung zu einer selbstbestimmten Gesellschaft.“ Die Analyse vom Vertreter der Menschenrechtsorganisation IHD ist scharfsinnig. Ob in Van, in Diyarbakır, in Viranşehir, in Nusaybin oder Hakkâri – Politiker, Anwälte, IHD-Vertreter stimmen in ihrer Beschreibung der politischen Wetterlage im Osten der Türkei überein. „Gut – aber unsicher.“ Denn vor einer „Klimaänderung“ fühlen sie sich nicht geschützt. „Die Reformen sind nicht gesetzlich verankert“, beklagt der Anwaltsverein in Van. Es fehle, so der IHD in Diyarbakır, an Rechtssicherheit. Als intransparent und korrupt wird das politische System charakterisiert. Ausgeliefert fühlen viele kurdische Intellektuelle und politische Kämpfer sich der Willkür Ankaras unter der Meinungsführerschaft Erdoğans und seiner AKP. Frieden herrscht für sie vordergründig – aus politischem Kalkül der Zentralregierung. Der Weg einer wirklichen Friedens- und Demokratiegestaltung ist für sie noch nicht beschritten. Es geht ihnen um Selbstbestimmung.
Diejenigen, die Diyarbakır schon so oft besucht haben, staunen: „So haben wir es hier noch nie erlebt. Es gab Zeiten, da waren wir hier ganz alleine.“ Die durch den Friedensprozess eingeleitete Entspannung ist in diesen Märztagen in Diyarbakır greifbar. Die Menschen im Kurdengebiet feiern, sind offen, gehen nach draußen, demonstrieren selbstbewusst kurdische Identität. Auffällig, wie jung diese Gesellschaft ist. Mehr als die Hälfte ist unter 30. Es ist eine Aufbruchstimmung und ganz offenbar genießen die Kurden in diesem Frühling ein bisher ungekanntes Maß an Freiheit. Wahlplakate hängen öffentlich in ihrer Sprache und selbst auf der Wahlkundgebung des türkischen Minis21
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Reiseimpressionen Newroz in Diyarbakır
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Reiseimpressionen Newroz in Diyarbak覺r
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Berichte
lige Menschen aus dem Irak und aus dem Iran war Van die erste Großstadt nach der mühsamen Flucht über 2500 Meter hohe Pässe und das erste, wichtige Ziel. Nicht umsonst hatte UNHCR hier über viele Jahre ein eigenes Büro.
Unaufhaltsamer Flüchtlingsstrom in die Türkei
Aber im März 2014 ist es um das Thema Flüchtlinge ruhig – entgegen allen Erwartungen. Denn eigentlich wird die Türkei von so vielen Flüchtlingen angesteuert wie nie zuvor – vor allem aus Syrien, aber nach wie vor auch aus Afghanistan, dem Iran, dem Irak, selbst aus China und Afrika. Sie gilt als aktuell wichtigstes Transitland. Für Afrikaner gewinnt die Türkei als Zwischenziel auf ihrer Fluchtroute zunehmend an Bedeutung. Das liegt an den Frontex-Operationen im Mittelmeer und dem verstärkten Grenzschutz westafrikanischer Staaten. Viele Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea versuchen über Ägypten, Jordanien, Syrien in die Türkei zu gelangen und von dort per Boot auf eine der griechischen Inseln überzusetzen.
Margit Iffert Mehr Schutz durch das neue Gesetz? „Für die Türkei ist das ein revolutionäres Gesetz“, sagt der Vorsitzende der Flüchtlingskommission des Anwaltsvereins in Van, Onur Varol. Aus der Sicht eines Juristen ist diese Bewertung verständlich. Erstmals gibt es mit dem „Gesetz zu Ausländern und internationalem Asyl“ eine Rechtsgrundlage für den Aufenthalt von Flüchtlingen in der Türkei. Im April vergangenen Jahres wurde das Gesetz verabschiedet, in die Umsetzung soll es ab Mai 2014 gehen. Bisher war die Möglichkeit des Asyls im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention in der Türkei auf Menschen aus europäischen Staaten beschränkt. Mit dem neuen Gesetz soll es auch ein eigenes Schutzsystem für die anderen geben. Sie werden als „vorbehaltliche Flüchtlinge“ definiert, verbunden mit einem Aufenthaltsrecht und Abschiebeschutz. Auf Juristen könnte damit Arbeit zukommen: Denn das Gesetz regelt auch das Recht des Einzelnen auf die Anfechtung von Abschiebungen vor türkischen Gerichten. Bislang ist das Theorie. Eine entsprechendes Verfahren hat der Anwalt noch nicht geführt. Allerdings gilt nach wie vor: Vollen Schutz erhalten nur Europäer, alle anderen sind Flüchtlinge zweiter Klasse.
Bei allen Gesprächen der Delegation in Van – ob mit Rechtsanwälten, der stellvertretenden Bürgermeisterin, dem Sozialdezernenten, der Menschenrechtsorganisation IHD – spielt das Thema keine zentrale Rolle. UNHCR hat das Büro in der Stadt aufgegeben. Und von den einst 3.600 Flüchtlingen, die sich in der Stadt aufhielten, seien die meisten mittlerweile in andere Orte weitergeleitet, wird berichtet. Aktuell sind nach Angaben der Kommune in Van 750 Flüchtlinge registriert. „Die Bevölkerung ist seit Jahrzehnten an Flüchtlinge gewöhnt. Es gibt keine Ablehnung“, so der Vertreter der Anwaltskammer. Er berichtet von einem Lager für ca. 750 Menschen, das vor den Toren Vans gebaut werde. Dabei gab es Zeiten, in denen das Bild in der Stadt anders war: Verzweifelte Menschen kampierten in den Jahren 2010/2011 vor dem UNHCR-Büro, einige traten in Hungerstreik.
Weniger Macht für die Polizei Bei der näheren Betrachtung zeigt sich, dass die Veränderungsprozesse im Land mehr als zäh sind. Die Anwaltskammer in Van weiß nicht, wie die Paragrafen mit Leben gefüllt werden und welche Schritte konkret unternommen werden. Und niemand wagt eine Einschätzung, ob sich die Lage der vielen Hunderttausend Flüchtlinge in der Türkei wirklich bessern wird. Denn was nutzt es, wenn sie formaljuristisch nicht länger „Gäste“ sind, aber dennoch in den Camps und den Altstadtruinen und Kellerlöchern der Großstädte dahin vegetieren, belegt mit einem de-facto-Arbeitsverbot und gleichzeitig auf sich gestellt, ohne irgendeine Art von Sozialleistungen?
Fokus syrische Grenze Dass es um die Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten Iran und Irak in Van ruhig geworden ist, mag auch daran liegen, dass der Fokus der öffentlichen Wahrnehmung jetzt woanders liegt: weiter südwestlich, Richtung syrische Grenze. Dort sieht die Situation anders aus. Rund 900 km lang ist die Grenze der Türkei zu Syrien. Wie viele sich aus dem Krieg bereits vor allem ins türkische Kurdengebiet gerettet haben, weiß niemand ganz genau: „Eine Million Syrer sind hier“, heißt es im März bei den Gesprächen. Vier Wochen später wird der türkische Ministerpräsident Recep Erdoğan beim Besuch des deutschen Bundespräsidenten in der Türkei ebenfalls diese Zahl nennen.
Was für den Juristen ein Quantensprung in der Asylgesetzgebung der Türkei ist, ist die Verlagerung der Verantwortlichkeit und des Verfahrens von der Polizei auf eine von der Regierung in Ankara geschaffene neue Behörde, eine „Generaldirektion für Asyl und Migration“. Neben dem seit langem in der Türkei tätigen UNHCR soll diese Behörde die Flüchtlinge registrieren und über den Aufenthalt entscheiden. Die Behörde solle auch die Gesundheitsversorgung und die Bedürftigkeit der einzelnen Flüchtlinge überprüfen, berichtet Varol: „Nur wie, das weiß noch keiner.“
Unterstützung durch die Familien Wie groß die Leistung der kurdischen Familien bei der Hilfe für die Flüchtlinge aus dem Nachbarland ist, lässt sich nur erahnen. Unzählige Menschen aus Syrien haben sich zu den Verwandten im Grenzgebiet geflüchtet und harren dort aus. Sie sind nicht registriert, sie dürfen offiziell nicht arbeiten, die Kinder dürfen nicht zur Schule gehen. „Das lässt das staatliche Schulsystem nicht zu“, beklagt Aise Gökkan von der BDP. Sie ist Bürgermeisterin der Grenzstadt Nusaybin und anders als bei ihrer Kollegin in Van steht das Thema der
Entspannung in Van Van, 100 km von der Grenze zum Iran entfernt, 285 km von der armenischen Hauptstadt Eriwan, ca. 200 km Luftlinie vom Irak und von Syrien, ist seit vielen Jahren Anlaufpunkt für Flüchtlinge. Für unzäh24
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Verhältnisse in den Flüchtlingscamps kann niemand aus eigener Anschauung schildern. Der türkische Staat riegelt die Camps ab und entzieht sie erfolgreich dem Blick der Öffentlichkeit. So berichtet auch ein Redakteur der Nachrichtenagentur DIHA: „Wir haben keinen Zugang zu den Flüchtlingscamps.“
Flüchtlinge ganz oben auf der Agenda. Denn hier ist die Not ganz nah. In Sichtweite liegt die Stadt Kamisli jenseits der Grenze in Syrien. Die Kommune helfe den Familien, die Flüchtlinge aufgenommen haben, im Rahmen ihrer wenigen Möglichkeiten. So habe die Stadt für diese Haushalte die Kosten für das Wasser reduziert. Bei der Strom- und Gasversorgung gehe das leider nicht, die sei staatlich. Allein in der Kleinstadt Nusaybin leben nach Angaben Gökkans rund 8.000 Menschen aus Syrien bei ihren Verwandten.
Syrische „Zweitfrauen“ Von der Arbeit mit syrischen Flüchtlingsfamilien kann die Frauenorganisation KA-MER in Diyarbakır berichten. Ihre Mitarbeiterinnen haben in den vergangenen zwei Jahren 270 Familien besucht. „Die meisten sind illegal hier. Es geht den Familien sehr schlecht.“ Bei KAMER wird ein Gerücht erwähnt, dass auch schon im Frauenbüro in Hakkâri und bei Gesprächen in Van die Runde machte: Junge Frauen aus Syrien werden von türkischen Männern als „Zweitfrauen“ genommen, auf Zeit ...
Unzugängliche Flüchtlingslager Rund 4.000 Menschen, berichtet Gökkan, seien wenige Kilometer entfernt in einem Flüchtlingscamp untergebracht. Ein geheimnisvoller Ort. Selbst sie, die Bürgermeisterin, habe bisher keinen Zugang erhalten. Was sie erzählt, klingt schlimm: Suizidversuche von mehreren Frauen, katastrophale hygienische Bedingungen ... Gökkan kann nur vom Hörensagen berichten, valide Informationen sind es nicht. Der Versuch der IPPNW-Delegation sich selbst ein Bild zu machen, misslingt. Die Bitte um eine Besuchserlaubnis beim Bezirksgouverneur wird abgeblockt. Vielleicht war sie zu kurzfristig, vielleicht auch zu heikel ...
Auch KA-MER hat trotz der schlimmen Bedingungen eine große Solidarität unter der Bevölkerung beobachtet. Die meisten syrischen Flüchtlinge leben in den „sehr armen Vierteln“. „Aber“, so erzählt die Sozialarbeiterin in Diyarbakır, „dort erfahren sie mehr Unterstützung als bei den Besserverdienenden.“
Kein Wahlkampfthema „Syria“ ist das Stichwort vieler Bettler in den Städten des Ostens. Es sind vor allem Frauen mit Kindern, die an den Straßenrändern sitzen. „Syria“ soll der Schlüssel zum Gewissen der vorbeigehenden Einheimischen und Touristen sein. Noch scheint dies zu wirken. Noch arrangiert sich die kurdische Gesellschaft im Osten der Türkei offenbar mit dem unaufhaltsamen Flüchtlingsstrom aus Syrien, noch ist das Mitgefühl besonders mit den Notleidenden in den kurdischen Kantonen in Syrien, in Rojava, groß.
Mobile Grenzkommandos Wenn der Rechtsanwalt aus Van das neue Flüchtlingsgesetz als „revolutionär“ bezeichnet, interpretiert er es als großen Fortschritt im Rechtssystem seines Landes. Als Jurist ist er froh, eine Rechtsgrundlage zu erhalten. Ob sich die Lage derjenigen, die es in die Türkei geschafft haben, verbessern wird, bleibt abzuwarten und ob die Türkei ein funktionierendes Schutzsystem aufbaut, mehr als fraglich. Für die vielen bedrohten Menschen in den Krisenregionen der Welt macht das neue türkische Gesetz den Weg nach Europa noch schwerer. Denn das auch von der EU außerordentlich gelobte Gesetz ist Teil ihrer Abschottung und der Strategie, das Flüchtlingsproblem an die Außengrenzen Europas zu verschieben. Es steht in Zusammenhang mit den EU-Verhandlungen über die Rücknahme von Flüchtlingen im Tausch gegen die Visumfreiheit für türkische Staatsbürger. Zur Strategie der Abschottung dürfte auch die militärische Verstärkung der türkisch-iranischen Grenze gehören, von der der IHD in Hakkâri berichtet. Seit Anfang Februar werden entlang der Grenze mehr Militärposten installiert, mobile Militärbasen sind im Einsatz. Das ist ganz im Sinne der perfiden EU-Flüchtlingspolitik.
Angesichts der vielen Schutzsuchenden aus Syrien und der dadurch entstehenden sozialen Probleme ist es erstaunlich, dass das Thema offenbar im Kommunalwahlkampf im März 2014 ausgespart bleibt. Unisono antworten alle kurdischen Gesprächspartner, dass die Aufnahme der Menschen sicher große Probleme mit sich bringe, dass es aber keine Feindseligkeit der Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen gebe. Allerdings wird in den Gesprächen deutlich, dass nur die wenigsten „Offiziellen“ im direkten Kontakt mit den Flüchtlingen stehen. Die 25
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Berichte
Je mehr die Straße die Ebene rund um Diyarbakır verließ und sich dem Gebirge näherte, desto tiefer senkten sich die Wolken, die sich in dem allmählich steil ansteigenden Gebirge immer dichter um die Gipfel der Berge drängten, bis diese in einem weißen Schleier versanken. Düstere Gedanken drängten sich auf, Erinnerungen an die Hunderte von Opfern staatlicher und nicht staatlicher Gewalt in den 90er Jahren in der Region Bitlis, an die tödlichen Überfälle durch nie bekannt gewordene Täter, an die Fälle von Verschwindenlassen in Polizeihaft, abgefackelte Dörfer, Angriffe gegen Guerillakämpfer mit chemischen Waffen, noch immer ungeöffnete Massengräber usw. Im Gedächtnis blieb die Entführung von Ferhat Tepe im Jahr 1993 haften, einem jungen Korrespondenten der Zeitung „Gündem“, die nie aufgeklärt wurde trotz der weltweiten Appelle von amnesty international. Wie er wurden auch andere Politiker, Gründungsmitglieder kurdischer Parteien und sogar Unbeteiligte verschleppt in diesem Landstrich, in dem die Organisation JITEM bis heute ihre blutige Spur hinterlassen hat, denn die Verbrechen sind ja immer noch nicht gesühnt.
Kommunalwahl 2014 Eva Klippenstein
Vorbemerkung Eigentlich ging es am 30.3.2014 nur um eine Kommunalwahl, denn alle 4 Jahre werden die Ortsvorsteher, Bürgermeister, Vorsitzende und Mitglieder der Gemeinderäte sowie der Stadt- und Provinzparlamente neu gewählt – aber trotzdem ging es um alles. Wie immer kreisten mit Parteianhängern besetzte Autokorsos mit dröhnender Musik dicht hintereinander durch die engen Straßen, über denen Millionen von bunten Fähnchen aller bekannten und unbekannten Parteien flatterten. Auf den Massenversammlungen und im Fernsehen: überall heiligste Versprechen, böseste Prophezeiungen, Racheschwüre – die Politiker waren unentwegt auf Sendung, allen voran der Ministerpräsident, angetan mit rotem Schal wie ein Matador im Stadion oder besser: mit dem Gestus eines Cäsaren. Für ihn, obwohl er selbst nicht zur Wahl stand, ging es gleichwohl um alles: um seine Verfassungsreform, mit der er sich im August zum Staatspräsidenten wählen lassen möchte, und zwar mit hegemonialen Vollmachten. Von der versprochenen Versöhnung im Kurdenkonflikt dagegen war im Wahlkampf ebenso wenig die Rede wie vom Krieg in Syrien und dem Flüchtlingselend. Im Gegenteil, die Fassade der Macht soll die Erinnerung an die Korruption in der Regierungspartei, ihre Skandale und an die peinlichen Enthüllungen der letzten Monate vergessen lassen.
Bereits im Dunkeln in Bitlis angekommen, stießen wir in einem viel zu kleinen Parteibüro auf eine unübersehbare Menge von Menschen, die emsig beschäftigt waren, uns aber dennoch der Reihe nach höflich begrüßten. In der anschließenden Versammlung wurde der Ablauf des Wahlprozesses dargelegt und Verhaltensregeln angemahnt; ein gemessenes und würdiges Verhalten, die absolute Vermeidung von Aggression und jeder parteipolitischen Äußerung wurde empfohlen. Die Regeln wurden mit großem Ernst vorgetragen und genauso ernst und ohne jeden Widerspruch und Kommentar angehört, sogar die Bereitschaft, sich als ein Mitglied der Zivilgesellschaft zu verhalten, war zu spüren. Es konnte der Eindruck entstehen, dass die Demokratie, auch wenn sie in noch so kleinen Portionen erteilt wird, schon ein Geschenk sein kann.
Wahlbeobachtung Am Vortag der Wahl versammelten sich in der Mehrzahl aus Deutschland angereiste potenzielle „Beobachter“ in einem Theater in Diyarbakır, um von den Mitgliedern der kurdischen Parteien mit Informationen über die aktuelle Situation versorgt und anschließend auf die verschiedenen östlichen Regionen verteilt zu werden. Vorab muss gesagt werden, dass es sich hier nicht um einen offiziellen Einsatz im Sinne der OSZE-Richtlinien, sondern um eine Aktion handelte, die von der Sympathie für die kurdische Sache getragen, also nicht-neutral, aber friedlich war. Die kurdischen Parteien hatten eingeladen, zumeist über ihre Organisationen und Vereine im Exil. Keine Krawattenträger mit Diplomatenpass waren diesem Aufruf gefolgt, sondern ein buntes Völkchen auf Erkundungsreise, das jedes Frühjahr in den Tagen der Newrozfeiern dort anzutreffen ist.
Spätabends wurden wir zu dritt von einer kurdischen Familie in Tatvan aufgenommen. Die Reise von Bitlis nach Tatvan ist nicht sehr weit, sie führte am Ufer des Vansees vorbei, der aber in der Dunkelheit und im Sturm und Regen nicht zu erkennen war. Wir saßen bei Kerzenlicht zusammen und nahmen das Abendessen auf dem Fußboden ein. Dazu wurde der Tisch weggetragen und die Tischdecke auf dem Teppich ausgebreitet, mit der Bemerkung, dass man eigentlich am Tisch essen würde, die ganze Familie am Tisch aber keinen Platz hätte. Da war es an uns als Gäste zu bestätigen, dass wir diese Form der Gastfreundschaft ganz besonders schätzten. Es wurde sogar ein besonders lustiger Abend, denn es gab ja keinen Strom, also auch keine Seifenoper im Fernsehen zu verfolgen, dafür griff der jüngere Sohn zur Gitarre und seine Schwestern sangen dazu türkische Popmusik.
Die Instruktionen ergingen von den Mitgliedern der Stadtverwaltung von Diyarbakır. Zum Einsatz in der Provinz Bitlis wurden mehrfach die Freiwilligen aufgefordert, schließlich ist die Region nicht gerade spektakulär. Aber weil gerade dort Wahlfälschungen befürchtetet wurden, und die Beobachtung deshalb als besonders wichtig dargestellt wurde, entschloss sich eine kleine 3erGruppe, bestehend aus zwei schwedischen Staatsbürgern mit türkischen Wurzeln und mir zur gemeinsamen Reise nach Bitlis.
Beim frühen Aufbruch am Wahlsonntag lag bereits viel Schnee und es herrschte weiterhin der Sturm, der schon in der vorangegangen Nacht an den Türen und Fenstern gerüttelt hatte. Von der Stadt Tatvan war auch am Tag fast nichts zu sehen wegen des dichten Schnees und der beschlagenen Autoscheiben, aber der Eindruck großer Aus26
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dehnung und zahlreicher verstreuter Schulen blieb. Wir absolvierten unsere Tour unter Führung unserer Begleiter und erlebten das feiertägliche, gemessene Verhalten der örtlichen Wähler in der Warteschlange vor der Wahlurne wie am Vortag, wie sie ihren Personalausweis vorlegten, dann mehrere Stimmzettel samt Briefumschlag und einen Wahlstempel mit dem Wort „evet“ in Empfang nahmen, um damit in der abgeschirmten Wahlkabine zu verschwinden. Alte und gebrechliche Menschen mussten teilweise die Treppen zu den Klassenzimmern hinaufgetragen werden, für sie standen Stühle im Wahllokal bereit, Hilfe in der Wahlkabine im Bedarfsfall war ausdrücklich erlaubt. In einer Schule nach der andern absolvierten wir also das gleiche Ritual: Begrüßung der Anwesenden, kurze Vorstellung, Feststellung der Ordnungsmäßigkeit des Wahlprozesses. Nach einem kurzen Aufenthalt nahmen wir dann grüßend Abschied und kehrten zum inzwischen vom Schnee zugewehten Auto unseres Freundes zurück, der für unseren Weitertransport sorgte. Erst gegen Mittag wagten wir die Rückkehr nach Bitlis; der Schnee war noch dichter geworden und es stürmte auch unvermindert weiter, sodass wir die Fahrt öfters unterbrechen mussten, weil das Auto auf der vereisten Straße stecken geblieben war. Alle im Parteibüro der BDP Bitlis Anwesenden hatten sich inzwischen dort eingerichtet, und da die Weiterfahrt in die örtlichen Wahllokale nicht mehr möglich war, verging auch für uns, wie für alle anderen, die dann folgende Zeit mit Warten. Am späten Nachmittag – es war schon dunkel, und da das Licht wieder nicht funktionierte, mussten Kerzen herhalten, machte eine Nachricht die Runde, dass in Tatvan in der Wahlurne 1009, die wir am Morgen besucht und nichts Beanstandenswertes gefunden hatten, im Dämmerlicht der Kerzen, denn auch dort war das Licht ausgefallen, mehrere durch den Wahlvorstand bereits vorab präparierte Stimmzettel samt zugehörigen Briefumschlägen in die Wahlurne geschmuggelt wurden. Später wurde ein von den übrigen fünf Wahlhelfern unterschriebenes „Protokoll“ herumgereicht, dessen Text ich im Dämmerlicht nur mühsam enträtselt konnte. Auch in Bitlis gab
es Unregelmäßigkeiten: Im Wahllokal 1083 wurde einem Wähler ein Stimmzettel überreicht, der bereits für die AKP gestempelt war. Auch diese Unregelmäßigkeit konnte von den Wahlbeobachtern nicht verhindert werden. Am späten Nachmittag, während draußen im Land die Stimmen gezählt wurden, stieg die Spannung im Wahllokal der BDP. Jeder telefonierte mit jedem, alle liefen durcheinander, die Luft wurde dick und schwer. Als die ersten Ergebnisse eintrafen, stieg Jubel auf, aber auch die Enttäuschung war groß, weil die Stadt Tatvan verloren ging und wie der Ort Adilcevaz an die AKP gefallen war. Dass aber die Provinz Bitlis dennoch insgesamt von der BDP erobert wurde und ganz besonders in der Stadt selbst der BDP-Bewerber Hüseyin Olan gewonnen hat, wurde mit großer Genugtuung quittiert.
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Die Wahlergebnisse in den Großstädten, in den Provinzen sowie türkeiweit Der Wahlsieg in der Provinz Bitlis steht leider nicht für die gesamte Republik, denn dort hat die AKP haushoch gewonnen. Allerdings weisen die vorläufig ermittelten Ergebnisse einen Bruch mit den früheren Zahlen auf und sind mit diesen nicht direkt zu vergleichen: Bei den bisherigen Kommunalwahlen 2004 und 2009 wurde das landesweite Endergebnis aus den Stimmen ermittelt, die die Wähler für die Mitglieder der Parlamente oder Vertretungen in den 81 Provinzen (il meclisi) abgegeben haben. Durch den Bevölkerungszuwachs wurde aber inzwischen die Zahl der Großstädte auf 30 erhöht und bei dieser Kommunalwahl zunächst lediglich die Stimmen der 30 Großstadt- sowie der verbliebenen 51 Provinzparlamente getrennt ausgezählt und dann das prozentuale Gesamtergebnis ermittelt.
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Berichte
Von den Parteien gewonnene Großstädte, Provinzen und Kreise Parteien
Oberbürgermeister 2004 2009
2014
Vorsitzende von Provinz- und Kreisversammlungen 2004 2009 2014 2004 2009
AKP
12
10
17
46
36
28
483
447
CHP
2
3
7
6
10
10
130
169
1
3
4
8
6
72
127
1
1
3
4
7
7
32
50
MHP DTP/BDP Saadet Partisi
1
Dem. Partisi
1
1
89
36
1
2
5
10
3
3
Dem. Sol Part.
1
1
Büyük Birl. P. sonstige Summe
16
16
30
2
1
65
65
51
78
50
892
892
Gaziantep nach Diyarbakır wechselt und ihren Platz für Fatma Şahın, Bewerberin der AKP freigemacht hat. In Aydin siegte Özlem Cerçioğlu von der CHP mit einem knappen Vorsprung vor ihrem Konkurrenten und Dilek Hatipoğlu wurde Oberbürgermeisterin in Hakkâri.
16 der insgesamt 30 Großstädte wurden von der AKP gewonnen, darunter die heftig umkämpften Metropolen İstanbul und Ankara sowie außerdem Balıkesir, Bursa, Denizli, Erzurum, Gaziantep, Kayseri, Kocaeli, Konya, Şanlıurfa, Malatya, Kahramanmaraş, Ordu, Sakarya, Samsun und Trabzon. Die CHP eroberte neben İzmir die Städte Antalya, Aydın, Eskişehir, Hatay, Muğla und Tekirdağ. Die MHP gewann Adana, Manisa und Mersin, während sich die BDP in Diyarbakır, in Van und in Mardın regiert, wo sich Ahmet Türk als Unabhängiger durchsetzte.
Trotz aller Unsicherheiten, die unter den gegebenen Umständen mit einem vorläufigen Wahlergebnis verbunden sind, ist festzustellen, dass die geografische Parteienlandschaft im Zeitverlauf fast unverändert ist: Die CHP beherrscht weiter ihre Hochburgen im Westen, die kurdische BDP/HDP gewinnt einige der östlichen Provinzen, die rechtsorientierte MHP verteidigt sich im Süden, das anatolische Hochland aber beherrscht die AKP.
Die Zahl Oberbürgermeisterinnen hat sich gegenüber 2009 von 2 auf 4 erhöht durch Gültan Kışanak von der BDP, die von ihrem Posten in
Orange: AKP Gelb: BDP Blau: MHP Rot: CHP
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BERICHT 2014
Berichte
kemalistischen Militärs und der Bürokratie ging, funktionierte die Koalition dieser zwei Hauptgruppen der islamischen Kräfte in der AKP, trotz einiger taktischer Widersprüche gut.
Zur Auseinandersetzung zwischen der AKP und der Gülen Gemeinde
Nachdem die Gefahren eines Militärputsches gegen die AKP-Regierung minimiert waren und die Staatsmacht nun in der Hauptsache in der Hand der islamischen Kräfte lag, entbrannte der Machtkampf unter ihnen. Wer sollte die Politik bestimmen: Die „Erneuerer-Fraktion der Milli Görüş“ oder die „Fürsorge-Bewegung“? Erdoğan oder Gülen? Zunächst kamen die Widersprüche nur zaghaft zutage und wurde nicht weiterverfolgt. Die ersten Missstimmungen betrafen die Innenpolitik, konkret das Vorgehen gegen die kemalistische Opposition. Der von der Gülen-Bewegung kontrollierte Polizei- und Justizapparat ging bei den Ermittlungen und Prozessen gegen die kemalistische Armee und Bürokratie sehr radikal und revanchistisch vor. Überlange Haftzeiten, die Festnahme des ehemaligen Generalstabchefs als „Chef einer terroristischen Vereinigung“ aufgrund zweifelhafter Beweise, wurden auch von vielen AKP-Parlamentariern, selbst von Erdoğan kritisiert und schwächten die Position der AKP-Regierung, die für diese Prozesse die politische Verantwortung trug.
Mehmet Desde Die AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) wurde am 14. August 2001 gegründet. Am 3. November 2002 fanden in der Türkei allgemeine Wahlen statt. Die AKP gewann 326 Sitze und kam an die Regierung. Zu dem internen Machtkampf zwischen der kemalistischen bürokratischen Elite und der AKP-Regierung, der in den letzten Jahren zugunsten der AKP entschieden schien, flammte Ende 2013 ein neuer Machtkampf offen auf. Die AKP war seit ihrer Gründung faktisch eine Koalition zwischen unterschiedlichen „moderat islamisch“ genannten Kräften, die zwar kulturell islamisch-konservativ, aber zu einer Zusammenarbeit mit dem Westen bereit sind. Die Hauptgruppen in dieser Koalition waren einerseits die „ErneuererFraktion“ der „Nationalen Sicht“ (Milli Görüş) um Erdoğan & Gül, andererseits die Anhänger Fetullah Gülens. Während die „Erneuerer Fraktion“ die Eroberung der Macht durch eine offen politische Bewegung/politische Partei ansteuerte, ging die Gülen Bewegung einen anderen Weg. Die Gülen-Bewegung definiert sich als „überparteilich“, sowie als „Aufklärungsbewegung“, oder auch als „Fürsorge-Bewegung der Freiwilligen“. Ihre Strategie ist, den Staat langfristig von unten durch Infiltration mit ihren „Fürsorgekadern“, zu erobern. Diese werden in den Schulen der Bewegung, auf über 130 Staaten der Erde verteilt, und in den Nachhilfeinstitutionen in der Türkei rekrutiert und ausgebildet.
Während die offensichtlich nach rechtstaatlichen Normen zurecht kritisierten Methoden von Polizei und Justiz von der kemalistischen Opposition dazu verwendet wurden, zu behaupten „es gäbe überhaupt keine Putschpläne und Putschvorbereitungen“, alles sei ein abgekartetes Spiel der AKP, um die „ruhmreiche türkische Armee zu schwächen“ und die kemalistisch-laizistische, demokratische, recht staatliche Türkei in eine „faschistische Einmanndiktatur“ zu verwandeln, wurden sie von der EU als Vorwand genutzt, um die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu verschleppen.
Die AKP, die kurz nach ihrer Gründung bei den ersten Wahlen die Parlamentsmehrheit (2002) eroberte, stützte sich im Kampf gegen die kemalistische Elite auch auf die Kader der Gülen-Bewegung. Im Polizei- und Justizapparat wurden die kemalistischen Kader vor allem durch deren Kader ersetzt. Solange es um die Zurückdrängung des
Der Streit zwischen der Gülen-Gemeinde und der AKP trat zuerst beim Vorfall „one minute“ und dann bei der „Mavi Marmara-Aktion“ zutage. 29
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
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angeordnet. Gekontert hat die Regierung mit einem Gesetz, wonach eine Ermittlung gegen den MIT-Präsidenten eine Zustimmung des Ministerpräsidenten voraussetzt. Erdoğan hat die politische Verantwortung für die Gespräche mit der PKK übernommen, und hat klargestellt: Wer Ermittlungen in diesem Fall will, soll gegen mich ermitteln!
Auf einer Podiumsdiskussion zum Frieden im Nahen Osten in Davos am 29. Januar 2009, an der auch der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und der israelische Staatspräsident Simon Peres teilnahmen, hatte der Ministerpräsident der Türkei, Erdoğan dagegen protestiert, dass seine Redezeit im Vergleich zu der von Peres begrenzt wurde. Wütend hatte er das Podium verlassen. Zuvor hatte er den Präsidenten von Israel angegriffen und mit den lauten Worten „One Minute“ auf sein Rederecht gepocht.
Auch in der Außenpolitik traten zwischen Gülen-Gemeinde und AKPRegierung verstärkt Widersprüche auf. Für Gülen ist die Großmachtvision von Erdoğans AKP-Regierung nicht realistisch. Die türkische Außenpolitik soll ihre Ambitionen nicht so offensiv darlegen und verfolgen. Wichtigste Aufgabe ist die Außenpolitik im Weltmaßstab mit den USA abzustimmen. „Unsere Beziehungen mit den USA nicht gefährden“ ist das außenpolitische Mantra von Gülen selbst.
Der „Mavi Marmara“-Vorfall bezieht sich auf sechs Schiffe, die im Namen der İHH (İnsan Hak ve Hürriyetleri ve İnsani Yardım Vakfı, deutsch: Stiftung für Menschenrechte, Freiheit und Humanitäre Hilfe) und des Free-Gaza-Movement Hilfsgüter in den Gazastreifen bringen wollten und den Eingriff von israelischen Streitkräften in internationalen Gewässern des Mittelmeeres am 31. Mai 2010. Der Vorfall endete mit der Tötung und Verletzung eines Teils der Aktivisten auf den Schiffen, der Geiselnahme der Passagiere und der Beschlagnahme der Schiffe. Die Gülen-Gemeinde kritisierte die AKP für eine Aktion, die die Beziehungen zu Israel und den USA gefährde. Dies war die erste offene Kritik der Gülen-Gemeinde an der AKP.
Vor allem wegen des außenpolitischen Kurses und der Vision der AKP, die die Türkei im Nahen Osten als einen ebenbürtigen Partner der imperialistischen Mächte positionieren will, haben die westlichen Imperialisten angefangen, nach möglichen Alternativen zu Erdoğan zu suchen. Der ehemalige Co-Vorsitzende des US-Projekts „Größerer Naher Osten“ ist nicht mehr so vertrauenswürdig wie am Anfang seiner Herrschaft. Aufgrund dieser sich zuspitzenden, politischen Widersprüche befürchtet die Gülen-Bewegung, dass Erdoğan wahrscheinlich der erste vom Volk gewählte Präsident wird und zudem langfristig die Möglichkeit besteht, dass das politische System durch ein Referendum zu einer Präsidialdemokratie umgewandelt wird. Das würde das massive Zurückdrängen des politischen Einflusses Gülens bedeuten.
Erdoğan selbst hat eine eigene „Türkei-Vision“ entwickelt: Die AKP soll mindestens bis 2024 alleine, mit dem vom Volk gewählten Präsidenten Erdoğan mittels einer Präsidialdemokratie herrschen, wobei am Ende dieser Periode die Türkei unter den 10 größten Volkswirtschaften der Welt ihren Platz haben soll. Die Türkei soll sich in diesem Zeitraum zu einer Großmacht im Nahen Osten entwickeln und zum Modell für die islamische, vor allem sunnitische Welt werden und an die „ruhmreichen Zeiten des osmanischen Imperiums“ anknüpfen. Dazu soll das Kurdenproblem in Nordkurdistan/Türkei gelöst werden. Der Krieg soll beendet werden. Die Kurden sollen möglichst mit einigen Zugeständnissen befriedet und als Anhängsel der türkischen Politik, an der Seite der Türkei, im neuen Mittelosten ihre Rolle spielen. So entstand der sog. „Lösungsprozess“ in der Kurdischen Frage. In diesem Zusammenhang hat die türkische Regierung über den MIT (Nationale Nachrichtenorganisation – Geheimdienst) 2012 parallel zu den Gesprächen mit dem zu lebenslanger Haft verurteilten und in einem Sondergefängnis einsitzenden Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan erste Sondierungsgespräche mit Vertretern der PKK in Oslo geführt. Dies war innenpolitisch die zweite Bruchstelle zwischen der Gülen-Gemeinde und der Erdoğan-Regierung. Die Gülen-Bewegung war prinzipiell gegen diesen Versuch der Lösung der Frage, d. h. einem Agreement zwischen der AKP-Regierung und der PKK, in den die imperialistischen Mächte, vor allem die USA und auch die Gülen-Bewegung selbst, nicht eingebunden waren.
Der vierte Widerspruch trat bei den Nachhilfe-Schulen zutage. Mit dem Projekt der AKP, die Nachhilfe-Schulen, die für die Gemeinde eine wichtige Einnahmequelle waren, zu schließen, verschärfte sich der Streit. Ein wichtiger Teil der Nachhilfe-Schulen in der Türkei ist in den Händen der Gülen-Gemeinde. Daneben haben sie noch Privatschulen, Kindergärten und sogenannte Lichthäuser. Hier werden die Kader geschult und es wird Geld verdient. Ein Angriff auf sie kommt einem Ende der Gülen-Gemeinde gleich. Die AKP hatte angekündigt, dass die Nachhilfe-Schulen innerhalb von zwei Jahren geschlossen werden, falls sie bis dahin nicht in Privatschulen umgewandelt sind. Um eine Privatschule eröffnen zu können, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. So muss der staatliche Lehrplan umgesetzt werden. Das galt für die Nachhilfe-Schulen nicht. Die Gülen-Gemeinde konnte in den Wohnheimen, Nachhilfe-Schulen und Kitas machen, was sie wollte. Die AKP wandte sich mit der Argumentation eines einheitlichen Unterrichtssystems gegen die Nachhilfe-Schulen. Das war der wichtigste Streitpunkt. Die Gülen-Gemeinde nahm den Kampf auf und veröffentlichte Dokumente, die der AKP schaden sollten. Durch ihren Einfluss in Polizei und Justiz hatte sie Zugang zu geheimen Dokumenten und Absprachen. Die nächste Stufe war die Veröffentlichung von Dokumenten und Telefonmitschnitten, die die Söhne wichtiger Minister, die Minister und schließlich Erdoğan selbst der Korruption überführten.
Den dritten offenen Bruch stellt die Vorladung des Chefs des MIT, Hakan Fidan, dar, der direkt dem Ministerpräsidenten Erdoğan unterstellt ist, und nach seinen Anweisungen handelt, zu einer Befragung wegen Ermittlungen hinsichtlich Landesverrats durch einen Staatsanwalt, Anhänger der Gülen-Bewegung, am 7. Februar 2012. Im Falle des Nichterscheinens wurde die zwangsweise Vorführung 30
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sich zu versöhnen. Das ist schwer, aber möglich. Die bürgerlichen Politiker, die sich gegenseitig mit Schmutz bewerfen, werden am Ende gezwungen sein, für ihre Interessen einen Kompromiss zu finden. Das Vergangene wird zurückgelassen und was man über einander gestern sagte, wird morgen vergessen sein. Das Prinzip sind die berühmten Worte von Demirel: „Gestern ist gestern und heute ist heute!“
Erdoğan bezeichnete die Veröffentlichungen als Kampagne einer kollaborierenden Bande gegen die Türkei im Namen ausländischer Kräfte, sprach von Verschwörung und einem Staat im Staate. Er begann, sich in die Arbeit von Staatsanwälten und Polizei einzumischen, und die Gülen-Anhänger zu ersetzen. Tausende Polizisten und Staatsanwälte wurden versetzt und so die Aufklärung der Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfe verhindert. Erdoğan sorgte für eine Änderung des Gesetzes über den Hohen Rat für Richter und Staatsanwälte (HSYK), die auf Kritik der Republikanischen Volkspartei CHP und des Verfassungsgerichts stieß. Einige Änderungen mussten zurückgenommen werden. Am 25.Dezember 2013 kam es zu einer großen Kabinettsumbildung, von der 10 Minister betroffen waren.
Zwischen Mili Görüs der AKP und Gülenanhängern gibt es keine religiösen Unterschiede. Der Unterschied bezieht sich darauf, wer an der Macht ist, wessen Interessen die Macht schützt. Es ist offensichtlich, dass dies zu einem Kompromiss führt, sobald die Gefahr besteht, die Herrschaft vollkommen zu verlieren. Bei der Auseinandersetzung der AKP und der Gülen-Gemeinde um die Herrschaft dürfen wir nicht auf der Seite von Parteien wie der CHP-MHP stehen, die diesen Streit als Mittel ihres eigenen Machtkampfes benutzen. Beim Kampf der Elefanten wird der Rasen platt getreten. Wir müssen auf der Seite des Rasens stehen, wir müssen auf der Seite der Unterdrückten sein.
Es gab weitere für die Regierung unangenehme Veröffentlichungen, wie die von in Adana aufgebrachten LKWs des Geheimdienstes MIT, die voller Waffen für die syrischen Islamisten waren, und dem Mitschnitt eines Gespräches zwischen dem Außenminister, dem Geheimdienstchef, einem Unterstaatssekretär und dem stellvertretenden Armeechef, die sich darüber unterhielten, wie leicht sie einen Kriegsgrund gegen Syrien schaffen könnten, falls das gewünscht oder erforderlich sein sollte. Am 30. März 2014 fanden die regionalen Wahlen statt. Die AKP-Regierung hatte bei den lokalen Wahlen von 2009 38,8 % der Stimmen erhalten. Bei den Wahlen vom 30. März erhöhte sie den Stimmenanteil auf 45,6 %. Seit dem 17. Dezember 2013 findet offenbar der Kampf um die Herrschaft in der Türkei innerhalb der politischen Bewegung statt, die den Islam als Referenz hat. Die anderen politischen Kräfte, wie zum Beispiel die CHP, verhalten sich als Teil des Machtkampfes. Sie haben eigentlich keine eigene Haltung. Unter den islamischen Flügeln findet ein Kampf zwischen den Sunnitische Sekten (tekke) der Nurcus und Nakşibendis statt. Sie haben untereinander aber auch jede Menge Differenzen. Dieser Krieg wird bis zu den Wahlen des Staatspräsidenten im August des Jahres anhalten. Es ist ein ernsthafter Krieg. Die AKP will den Staat vollkommen unter ihre Kontrolle bringen. Um das zu tun, muss sie die Gülen-Mannschaft ausschalten. Die GülenGemeinde möchte wenigstens Erdoğan, wenn nicht die AKP-Regierung, beseitigen. Die Gülen-Gemeinde ist von Grund auf dagegen, dass Erdoğan Staatspräsident wird. Sie möchte ihn zurückdrängen und die Politik selber bestimmen. Der Vorwurf der Unterschlagung wird als Mittel dazu benutzt, die Regierung zu stürzen. In diesem Lande ist es nicht möglich, ohne Bestechung und Betrug Politik zu betreiben. Diebstahl, Bestechung und Betrug sind die unausweichlichen Begleiterscheinungen des Ausbeutungssystems, das auf bezahltem Sklaventum beruht. Mit Erpressungen arbeiten beide Seiten ausgezeichnet daran, die andere Seite zum Rückzug zu bewegen. Es ist zu sehen, dass der Kampf um die Herrschaft noch eine Weile andauern wird. Der Krieg wird an Härte zunehmen, aber am Ende müssen beide Seiten einen Kompromiss finden. Anstatt die Macht durch einen Kampf gegeneinander zu verspielen, werden sie es vorziehen, 31
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Das Leben ist schön! Der Schuhputzer Ömer Öner in Diyarbakır Sigrid Ebritsch
Neben ihm hat sein Vater als Schuhputzer seinen Platz. Mit ihm zusammen hat Ömer Öner mit 13 Jahren, genau an dieser Stelle, mit dem Schuheputzen begonnen.
„Seit 15 Jahren kenne ich schon Dr. Gisela.“ Dies erzählt uns Ömer Öner, einer der ca. 10 bis 15 Schuhputzer an der Gazi Avenue, Diyarbakırs Hauptgeschäftsstraße, direkt vor der Nebi-Moschee. „Ich unterhalte mich immer gern mit ihr, obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen. Jedes Mal nach dem Newroz-Fest kommt sie und lässt ihre verstaubten Schuhe von mir putzen. Sie sagt dann immer, dass ihre Schuhe wieder wie neu wären und dann sagt sie ‚tschüss bis zum nächsten Jahr‘.“
Damals wohnte er mit seinen Eltern und acht Geschwistern in sehr beengten Wohnverhältnissen in Sur, der Altstadt von Diyarbakır, innerhalb der berühmten Mauer, wohin auch viele kurdische Familien, die während des Bürgerkrieges aus ihren Dörfern vertrieben wurden, geflüchtet waren. (Zunehmend wird dieses Viertel saniert, ganze Häuserzeilen abgerissen und die Bewohner in Neubauten am Stadtrand umgesiedelt).
Inzwischen weiß Ömer Öner, dass „Dr. Gisela“ mit weiteren Deutschen jedes Jahr zum Newroz-Fest, dem Fest des Friedens und der Freiheit, nach Diyarbakır kommt, um der kurdischen Bevölkerung ihre Solidarität zu zeigen.
Das Leben und die Kindheit von Ömer Öner spielte sich damals hauptsächlich auf der Straße ab. Es war sehr schwer, und zur Schule ist er nur selten gegangen. Das meiste hat er auf der Straße gelernt – auch seine wenigen Englischkenntnisse hat er hier vertieft.
Er selber geht nicht zum Newroz-Fest – er muss ja arbeiten an seinem angestammten Platz vor der Nebi-Moschee.
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Außer einer 18-monatigen Militärzeit hat er immer als Schuhputzer, genau an seiner angestammten Stelle, hier an der Gazi Avenue gearbeitet. Eine Standmiete wird nicht erhoben. Dem Ruf des Muezzin von der nahen Moschee folgt er nur selten, stattdessen hütet er lieber die Kinder von Kunden, die zum Beten in die Moschee gehen. „Vor 15 Jahren, als ich Dr. Gisela kennenlernte, war ich arm. Jetzt geht es mir gut – auch weil ich viele Freunde und eine große Verwandtschaft habe.“ Ömer Öner ist heute 42 Jahre alt und kann mit seinem Verdienst seine Familie mit vier Kindern ernähren. Vor Kurzem ist er aus dem „Sur – Viertel“ in ein Neubaugebiet umgesiedelt worden. Jetzt wohnt er mit seiner Familie in einer 176 Quadratmeter großen Wohnung, seine Kinder gehen regelmäßig zur Schule, und er ist stolz darauf, ihnen eine bessere Kindheit ermöglichen zu können, als er sie hatte.
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Auf die Frage, ob man sich nicht gegenseitig Konkurrenz mache, antwortet er lachend „nein, wir helfen uns gegenseitig“. Und wie steht es mit Frauen als Schuhputzerinnen? „Wenn sie gut sind, warum nicht“. „Aber“, philosophiert Ömer Öner, „jeder sollte das machen, was er (sie) am besten kann“. Ob er denn zufrieden sei mit seinem jetzigen Leben, wollten wir wissen. „Ja“, meinte er, „das Leben ist zu kurz, um unzufrieden zu sein, wir müssen es nutzen.“ Er sei ein Optimist und fände das Leben schön.
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Reiseimpressionen Gรถbekli Tepe
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BERICHT 2014
Foto: Wikipedia, Teomancimit / creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0
Göbekli Tepe Rainer Kohlhaas „Und dann fangen die Menschen an, erste Siedlungen zu bauen, Friedhöfe, Kultstätten. Sie finden sich nicht ab mit dem, was da ist. Sie steigern die Erträge, mit ungeahnten Werkzeugen manipulieren sie die Natur und verändern die Welt für immer. Sie probieren unermüdlich etwas Neues aus. Erst mit Steinen, dann mit Metall. Es entstehen Kunst und Handwerk, Kulturkontakte, Handel, Kommunikation, aufwendige Opfer und Bauten für die Götter. Die Menschen erfinden Traditionen und Mythen, Erzählungen und Begehrlichkeiten, Reichtum und Krieg. Überall Technik, Aufbruch, Innovation – und Schuld daran waren letztlich die schrecklichen Kinder der Jungsteinzeit.“ So leitet J. Schloemann (SZ 2.7.2014) die Vorstellung der neuen Ausstellung der Vor- und Frühgeschichte im Neuen Museum in Berlin ein. Einen der Orte, an denen genau dies geschah, konnten wir am Rand unserer Reise aufsuchen: Göbekli Tepe. Vom Van-See, am Fuß des Berges Ararat (an dem der Noahs Arche gelandet sein soll) ins Zweistromland über Tigris und Euphrat bis zum Grab Abrahams nach Urfa führte uns die diesjährige Fahrt. Überreste einer hellenistisch-römischen Universität in Nusaybin (Nisibis) lagen am Weg und die durch den Ilisu-Staudamm dem Untergang geweihten Ruinen von Hasankeyf. Alles antike und mittelalterliche Etappen unsrer Zivilisation.
a society of hunters and gatherers to the cultural level of sedentary farmers and animal breeders with an archaeological monument going far beyond everything known.“ (Schmidt, Klaus: Sie bauten die ersten Tempel München 2007, zit. n. Ders.: Göbekli Tepe. A Stone Age Sanctuary in south-eastern Anatolia. Berlin 2012, S.9 – die engl. Version wurde in Ermangelung der deutschen Ausgabe benutzt)
Als Höhepunkt des Eintauchens in die Wurzeln der Menschheitskultur bot sich uns aber am 22.3. der Göbekli Tepe (der bauchige Hügel). Ein unspektakulärer Berg nordöstlich von Urfa, der einen Blick auf die Ebenen Mesopotamiens bot. Darüber hinaus ein Ort, an dem unsere Vorfahren beeindruckende Beweise ihrer handwerklichen Fähigkeiten und ihrer künstlerischen Leistungen hinterlassen haben. „Riesige T-förmige Steinquader mit verzierten Tier- und Menschenreliefs bilden im Oval die Kultstätten, zwei frei stehende Quader stehen zusätzlich in der Mitte. Die Reliefs lassen auf eine hoch entwickelte Bildsprache schließen, meint Schmidt. Und freut sich über den perfekten Zustand der Quader: Die Kultstätten wurden nach längerer Nutzung mit Tierknochen und Feuersteinen aufgefüllt. In dem Ruinenhügel blieben die Räume so perfekt erhalten. In seiner Bedeutung steht Göbekli Tepe Orten wie Stonehenge, Troja oder den Pyramiden in nichts nach – und ist zudem gut 5.000 Jahre älter als die anderen Ritusorte.“ (Der Tagesspiegel, 6.3.2014)
„Klaus Schmidt geht davon aus, dass die Menschengruppen, die das Monument errichteten, sehr viel komplexer organisiert waren, als man dies für Jäger und Sammler bisher annahm. Außerdem verdeutlicht das Fehlen von Hinweisen auf eine Wohnnutzung, dass die Errichtung monumentaler Bauwerke in der Menschheitsgeschichte der sogenannten Neolithisierung vorausging. Immerhin befindet sich der Göbekli Tepe in der Nähe des Karacadağ, in dessen Umfeld der Ursprung des Kulturgetreides verortet wird. Daher wird angenommen, dass dort auch die Neolithisierung begann. Deshalb spekulierte unter anderem Klaus Schmidt, dass dort umherstreifende Gruppen kooperieren mussten, um die frühen Wildgetreidevorkommen vor Wildtieren zu schützen. So seien frühe gesellschaftliche Organisationen diverser Gruppen rund um die Heiligtümer entstanden. Folgt man dieser These, entstanden neolithische Gruppen nicht allmählich in kleinem Stil, sondern gleich in Form großer sozialer Organisationen.“ (Wikipedia, Göbekli Tepe, Zugriff 1.7.2014)
„Was in Sanliurfa steht, fordert uns auf, die frühe Menschheitsgeschichte umzuschreiben“, sagt Friederike Fless, Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI). Seit 1995 erforscht das DAI das auf einem Bergzug nahe der südtürkischen Stadt Sanliurfa gelegene Göbekli Tepe.“ (Tagesspiegel).
Beeindruckt von den Fähigkeiten steinzeitlicher Künstler und den Leistungen steinzeitlicher Gesellschaften kamen uns manche Probleme, die sich der türkische Staat z. B. im Umgang mit seinen Minderheiten heute noch selbst macht, sehr provinziell vor. Mit solchen Pfunden könnte die Türkei vor der Weltöffentlichkeit wuchern.
Der deutsche Chefarchäologe Klaus Schmidt schreibt 2007 nach Abschluss der ersten Grabungsphase „The excavations at Göbekli Tepe confirmed the estimation (...) that this was a place which is without comparison for the time being. It is a monument of the history of mankind (...) Göbekli Tepe provided the research on one of the most important radical changes in the history of mankind (...) called a ‘Neolithic Revolution’ (...) a change which marks the transition from
Ein wirklicher Lichtblick und ähnlich wundersam wie Göbekli Tepe kam mir ein Faltblatt der Kurdenpartei (BDP), ein Aufruf zur Kommunalwahl in Midyat vor: In vier Sprachen Aramäisch, Arabisch, Kurdisch, Türkisch stellte die Partei ihr Programm vor; unbehindert von staatlicher Zensur (!) – und hat auch noch die Wahl am Tag nach unsrer Abreise gewonnen. Das könnte für die Türkei ein echter Schritt in die Zukunft werden. 35
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Reiseimpressionen Hasankeyf
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Reiseimpressionen Akdamar
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IPPNW International Physicians for the Prevention of Nuclear War
Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/ Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. Körtestr. 10 | 10967 Berlin Tel.: +49 (30) / 698 07 40 Fax: +49 (30) / 693 81 66 E-Mail: ippnw@ippnw.de www.ippnw.de
IPPNW e. V. I Körtestr. 10 I 10967 Berlin
Vorstand Dr. Inga Blum Carlotta Conrad Dr. Sabine Farrouh Dr. Katja Goebbels Susanne Grabenhorst Dr. Barbara Hövener Dr. Alex Rosen Dr. Dörte Siedentopf International Councillor Dr. Helmut Lohrer Dr. Eva-Maria Schwienhorst Ehrenvorstandsmitglied Prof. Dr. Ulrich Gottstein
Wissenschaftlicher Beirat Dr. Jan van Aken Prof. Dr. Elmar Altvater Prof. Dr. Andreas Buro Dr. Dieter Deiseroth Dr. Alfred Körblein Dr. Heinz Loquai Prof. Dr. Mohssen Massarrat Prof. Dr. Götz Neuneck Prof. Dr. Norman Paech Prof. Dr. Inge Schmitz-Feuerhake Prof. Dr. Otmar Wassermann
Presseerklärung 27.3.14 vor dem Gefängnis in Diyarbakır Wir stehen hier als deutsche Delegation der IPPNW, der „Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung‟. Als Ärztinnen und Ärzte sind wir in tiefer Sorge über die berichteten Zustände in türkischen Gefängnissen: Nach Gesprächen mit zivilen Organisationen wie IHD, Anwaltskammer, Ärztekammer und TUHAD-DER im März 2014 sind 600 Häftlinge therapiebedürftig, davon 200 schwer krank und 50 unmittelbar vom Tode bedroht. Obwohl Gerichtsmediziner in Gutachten bescheinigten, dass die Kranken aufgrund der schweren Krankheit haftunfähig sind, werden Haftentlassungen bisher abgelehnt. Inzwischen sind Menschen gestorben, nachdem sie im Gefängnis nicht behandelt wurden. Als ärztliche Organisation erschrecken uns diese Informationen sehr. Wir bitten die Verantwortlichen dringend darum, bei erforderlicher medizinischer Therapie außerhalb des Gefängnisses, Haftentlassung zu gewähren und Sterbenden die häusliche Umgebung nicht zu verweigern. Dies würden wir als ein Zeichen der Humanität und Stärke der türkischen Regierung und als Förderung des Friedensprozesses ansehen. Wir grüßen die Gefangenen und ihre Angehörigen. Wir wünschen ihnen Kraft. Azadi, Asiti (Freiheit, Frieden) Im Namen der IPPNW-Delegation: Dr. Gisela Penteker, Plakattexte: Es ist ein Menschenrecht, kranke Gefangene freizulassen und ihnen eine Behandlung in Würde zu ermöglichen. Es ist eine Menschenrechtsverletzung, in den türkischen Gefängnissen kranke Gefangene nicht zu behandeln und sterben zu lassen.
Bank für Sozialwirtschaft Konto 22 222 10 I BLZ 100 205 00 I Gläubiger-ID DE16IPP00000010836 IBAN DE39100205000002222210 I BIC BFSWDE33BER
Ausgezeichnet mit UNESCO-Friedenspreis 1984 Friedensnobelpreis 1985
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Reiseimpressionen Demonstration in Diyarbak覺r
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Reiseimpressionen Hakkâri, Hosap
Frauenzentrum Hakkari
Burg Hoşap in der Provinz Van 40
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Reiseimpressionen Van, Midyat
Burg von Van
Stadt Midyat 41
DELEGATIONSREISE TÜRKEI-KURDISTAN
Presse
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EIN TRAUM DER FREIHEIT UND EINE HOFFNUNG AUF LEBEN.
31. ISTANBULER FILM FESTIVAL WETTBEWERB SEKTION MENSCHENRECHTE IM FILM, WÜRDIGUNG DES FILMES VOM FILMWETTBEWERB DES EUROPARATS (FACE)
18. INTERNATIONALES ADANA ALTIN KOZA FILM FESTIVAL, ZUSCHAUERPREIS 12. INTERNATIONALES FILMFEST IZMIR SONDERPREIS DER JURY ABENDFÜLLENDER SPIELFILM 12. INTERNATIONALES FILMFEST IZMIR PREIS DER FILMKRITIKER, „BESTER FILM“
SIMURG FILM PRÄSENTIERT
PRODUZENT UND REGISSEUR RUHI KARADAG
Simurg – Ein Traum der Freiheit und eine Hoffnung auf Leben In dem Dokumentarfilm „Simurg“ begleitet Regisseur Ruhi Karadag sechs ehemalige politische Häftlinge, die sich 1996 an einem Hungerstreik gegen die Einführung der Typ-F Isolationszellen in der Türkei beteiligten. Der Film zeigt eindrucksvoll den Widerstand gegen den zweiten Versuch der türkischen Regierung im Jahr 2000 die Isolationsgefängnisse einzuführen und die darauffolgenden Jahre des Todesfastenwiderstands, der über 122 Menschenleben kostete. Die Geschichte schlägt eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es gewährt einen Einblick in die Ursachen des Widerstandes und den politischen Rahmenbedingungen. Unter den bisherig unveröffentlichten Aufnahmen befinden sich Szenen aus dem Istanbuler Gefängnis aus den Damm 22 - Kreuzberg Uhr selbst. Diese Kottbusser Jahren 1996 bis 2000, aufgenommen15.00 von den Gefangenen Kinokasse Tel.: 030 6924785 Aufnahmen zeigen Phasen des Widerstands in den ,,Todesfasten-Stationen“. Eintritt: 10,00 € / 6,00 € Ermäßigung
29.06.’14
Anschließende Diskussion Der Film zeigt die letzten LebenstagemitvonRuhi SenayKaradag Hanoglu, Zehra Kulaksiz und Gülsüman Dönmez sowie die Verwandlung des Gefängnisses in Istanbul/Kücükarmutlu in ein sogenanntes ,,Todesfasten-Hause“, nachdem die Operation durchgeführt worden war. 43
Delegationsreise Türkei – März 2014 © IPPNW e.V. / Juli 2014
Bestellmöglichkeit unter: shop.ippnw.de
Zur Delegationsleitung: Dr. Gisela Penteker ist Allgemeinärztin in Otterndorf an der Nordsee und seit 1983 Mitglied der IPPNW. Seit Jahren führt sie Delegationsreisen in die Türkei/Kurdistan durch. Teilnehmer/innen der Reise und AutorInnen des Berichts: Mehmet Bayval, Mehmet Desde, Sigrid Ebritsch, Margit Iffert-Roeingh, Monika Jäger, Eva Klippenstein, Rainer Kohlhaas, Dr. Gisela Penteker, Dr. Elke Schrage, Dr. Friederike Speitling, Friedrich Vetter Endredaktion: Mehmet Bayval, Dr. Gisela Penteker Layout: IPPNW e.V. / Samantha Staudte Titelfoto: Sigrid Ebritsch Weitere Bilder: Mehmet Bayval, Dr. Gisela Penteker, Sigrid Ebritsch
Online -Version unter: www.issuu.com/ippnw
© IPPNW e.V., August 2014 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung möglich. Bestellmöglichkeit unter shop.ippnw.de oder in der IPPNW-Geschäftsstelle: IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs, Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. Körtestr. 10 | 10967 Berlin Tel.: +49/ (0) 30 - 69 80 74 - 0 Fax: +49/ (0) 30 - 683 81 66 ippnw@ippnw.de | www.ippnw.de