IPPNW forum 153/2018 – Die Zeitschrift der IPPNW

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Foto: © Kumar Sundaram

ippnw forum

das magazin der ippnw nr153 märz 2018 3,50€ internationale ärzte für die verhütung des atomkrieges – ärzte in sozialer verantwortung

– Gute und schlechte Nachrichten zu Atomwaffen – Die EU und das Iran-Atomabkommen – Unwort „Alterfeststellung“

Don‘t nuke the Climate! Kein Klimageld für die Atomkraft


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Liebe Mitglieder,


EDITORIAL Ewald Feige arbeitet in der IPPNWGeschäftsstelle.

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on‘t nuke the Climate! In einer Situation, in der sich die Welt falsche Investitionen nicht leisten kann, versucht die Atomindustrie, sich als Klimaretter darzustellen und an Gelder aus dem Green Climate Fund zu gelangen. Dieser Fonds wird von den Vereinten Nationen bereitgestellt, um die Länder zu unterstützen, die von den Auswirkungen des Klimawandels am härtesten betroffen sind. Wir brauchen den schnellen Ausstieg aus Atomstrom und Kohle. Die Atomenergie ist keine Lösung für das Klima. Ihre wahren Kosten, die vom Anfang bis zum Ende der nuklearen Kette entstehen, fallen in den geschönten Bilanzen unter den Tisch. Der IPPNWVorsitzende Alex Rosen gibt uns prägnante Argumente an die Hand, warum Atomenergie keine Antwort auf den Klimawandel sein kann, sondern im Gegenteil die Lösung blockiert. Angelika Claußen, europäische IPPNW-Präsidentin, stellt die Kampagne „Don‘t nuke the Climate“ vor, die weltweit auf dieses Problem aufmerksam macht. Mit einem Wissenschaftsappell und Protestaktionen waren internationale Mitglieder der Kampagne im November 2017 auf dem Klimagipfel in Bonn präsent. Die türkische Journalistin Pinar Demircan berichtet über die Situation in ihrem Land. Hier sollen drei Atomkraftwerke in Kooperation u.a. mit Russland und Japan gebaut werden, da die Türkei selbst über keine kerntechnische Infrastruktur verfügt. Anti-Atom- und Umweltinitiativen setzen sich vor Ort für mehr Transparenz der Verfahren ein. Auch der indische Aktivist Kumar Sundaram sprach auf der Pressekonferenz in Bonn. Die ländliche Bevölkerung in Indien, die mit Dürre und Wassermangel zu kämpfen hat, setzt sich mit großem Elan gegen den Bau von Atomanlagen zur Wehr, die die Klima-Auswirkungen vor Ort drastisch verschlimmern würden. Prof. Dr. Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung stellt im Interview klar, dass die Durchsetzung der kostenintensiven Atomenergie in Schwellenländern immer auch mit dem Streben nach Macht und Atomwaffen zu tun hat. Wasserkraft, Geothermie, Solarenergie, Biomasse und Windenergie seien – im Verbund mit preiswerteren Speichertechnologien – die Zukunft der Energieversorgung. 3


INHALT Die Bestrafung: EU-Sanktionen richten sich gegen die Syrerinnen und Syrer

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THEMEN Gute und schlechte Nachrichten zu Atomwaffen...............................8 Woran erkennt man Propaganda?.............................................................10 Die Verantwortung der EU für das Iran-Atomabkommen.......... 12 Die Bestrafung: Die wirtschaftlichen Sanktionen der EU richten sich gegen alle SyrerInnen ........................................14

Foto: Karin Leukefeld

Nach Trumps Jerusalemerklärung: Gibt es noch

Falsche Klimaretter entlarven: Don‘t nuke the Climate

Hoffnung auf Frieden?.....................................................................................16 Frieden geht. Geh mit! Aufwärmen für den Staffelauf............... 18 Unwort „Altersfeststellung“........................................................................ 19

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SCHWERPUNKT Falsche Klimaretter entlarven.................................................................... 20 Don‘t nuke the Climate: Kein Klimageld für die Atomindustrie ................................................. 22 Warum Atomenergie keine Antwort auf den

Foto: © Jasmine Bright / NIRS

Klimawandel ist: Die wichtigsten Argumente ..................................24

Aufwärmen für den Staffellauf: Frieden geht

Eine Frage der Gerechtigkeit: Klimawandel in Indien................. 26 Atomenergie: Kontroverse in der Türkei.............................................. 28

WELT 18

Internationale IPPNW: Charles Johnson stellt sich vor............... 30

RUBRIKEN Editorial.......................................................................................................................3 Meinung......................................................................................................................5 Nachrichten..............................................................................................................6 Aktion........................................................................................................................31

Foto: Uwe Hiksch

Gelesen, Gesehen.............................................................................................. 32 Gedruckt, Geplant, Termine........................................................................ 33 Gefragt..................................................................................................................... 34 Impressum/Bildnachweis.............................................................................. 33


MEINUNG

Sabine Farrouh ist Mitglied des Vorstandes der deutschen IPPNW.

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Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD ist eine friedenspolitische Bankrotterklärung. Statt zivile Konfliktprävention zu stärken, droht massive Aufrüstung und Militarisierung.

üstungsexporte in Kriegs- und Krisengebiete, deren dramatische Folgen sich gerade einmal wieder in Nordsyrien zeigen, werden nicht verboten, wie es die Rüstungsexportrichtlinien eigentlich vorschreiben. Stattdessen sollen sogar noch Altaufträge an Kriegsparteien wie Saudi-Arabien umgesetzt werden. Auch die Bundeswehr-Einsätze in Mali, Afghanistan und im Irak werden fortgeführt. Mit den Euphemismen „Friedenssicherung, Entspannung und zivile Krisenprävention“ wird im Koalitionsvertrag der Auf- und Ausbau des EU-Militärbündnisses PESCO beschrieben. Dabei steht das neue Bündnis vor allem dafür, europäische Interessen in Zukunft auch weltweit mit Waffengewalt durchsetzen zu können. Skandalös ist zudem, dass SPD und CDU das von der NATO geforderte Militärbudget von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erfüllen wollen. Das bedeutet nahezu eine Verdoppelung der Militärausgaben. Hier fließen riesige Summen in Aufrüstung anstatt in Diplomatie und zivile Konfliktbearbeitung. Als IPPNW kritisieren wir zudem die Vorfestlegung auf die Anschaffung bewaffnungsfähiger Drohnen im Koalitionsvertrag. Die Prüfung der völkerrechtlichen, verfassungsrechtlichen und ethischen Fragen zu Anschaffung, Entwicklung und Einsatz von Kampfdrohnen soll erst später erfolgen.

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nd last but not least: Die atomare Abrüstung spielt im Koalitionsvertrag keine ernstzunehmende Rolle. Stattdessen halten Union und SPD an den US-Atomwaffen in Deutschland fest. In einer brandgefährlichen weltpolitischen Situation fehlt der Großen Koalition der Mut, das internationale Atomwaffenverbot zu unterschreiben. Angesichts des weltweiten Wettrüstens ist das fahrlässig. Gerade erst hat Donald Trump die US-Nuklearstrategie verschärft. Er will neue Atomwaffen entwickeln lassen, mit kleinerer Sprengkraft, für die Möglichkeit eines „begrenzten Atomschlags“. Allein die SPD-Mitglieder haben es jetzt noch in der Hand, zu verhindern, dass dieses friedenspolitische Desaster Wirklichkeit wird. Aber was käme statt dessen? Zur Zeit scheint es nur die Wahl zwischen Pest und Cholera zu geben. GroKo, Minderheitsregierung oder Neuwahlen. Angesichts der wirklich bedrohlichen Weltlage schaue ich ziemlich ratlos in die Zukunft. Die Zivilgesellschaft müsste geschlossen gegen dieses Zündeln auf dem Pulverfass auf die Straße gehen. Aber wie können wir das bewirken?

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Foto: Gunnar Ries zwo/CC BY-SA 2.0

N ACHRICHTEN

Block B des AKW Gundremmingen endlich abgeschaltet

Türkische Ärzte: Inhaftiert, weil sie Frieden forderten

Medizinisches Symposium zu gering radioaktiver Strahlung

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m 31. Dezember 2017 wurde Block B des Atomkraftwerkes Gundremmingen in Bayern endgültig abgeschaltet, nachdem die Berechtigung zur Stromerzeugung gemäß dem Atomgesetz endete. In Deutschlands ehemals leistungsfähigstem Atomkraftwerk ist nun nur noch Block C am Netz, der planmäßig an Silvester 2021 stillgelegt werden soll. Der Siedewasserreaktor befindet sich seit 1984 im Betrieb, doch in den letzten Jahren kam es immer wieder zu Brennelementschäden. Der Betreibergesellschaft RWE wird eine unzureichende Aufklärung der Vorfälle vorgeworfen. Im Juli und im Dezember 2016 musste Gundremmingen C beispielsweise zweimal vom Netz genommen werden, da wegen festgestellter Brennelementdefekte ein unplanmäßiger Brennelementewechsel notwendig war. Deshalb fordern verschiedene Organisationen, darunter die IPPNW, das Umweltinstitut München und Ausgestrahlt eine umgehende Abschaltung des am Netz verbliebenen Reaktors. „Auch wenn das Risiko von Block B wegfällt, steigt das reale Risiko bei einem immer älter und immer störanfälliger werdenden Block C“, sagte Reinhold Thiel von der Ulmer Ärzteinitiative (IPPNW). Der Einsatz für eine vorgezogene Reaktorschließung erhält zusätzliche Unterstützung aus der Politik. So kritisieren die SPD-Fraktion im bayerischen Landtag und die Grünen die risikobehaftete Stromerzeugung und die anhaltende Produktion von Atommüll.

achdem sich der Türkische Ärzteverband TTB kritisch zur türkischen Offensive gegen syrische KurdInnen geäußert hatte, verhafteten die Behörden elf führende Mitglieder des Verbandes. Inzwischen wurden sie wieder freigelassen, aber ein Ende des Drucks auf die Ärzteschaft bedeutet das wohl kaum. Der Ärzteverband hatte den Militäreinsatz in Syrien als ein „Problem der öffentlichen Gesundheit“ bezeichnet und vor „irreparablen Schäden“ gewarnt. Die IPPNW wie auch der Marburger Bund appellierten an die Bundesregierung, sich bei der türkischen Regierung für die Freilassung der ÄrztInnen einzusetzen. Die Bundesärztekammer (BÄK) forderte in einem Brief an den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan die sofortige Freilassung der Kolleginnen und Kollegen. „Wer Frieden fordert, gehört nicht hinter Gitter. Umso mehr entsetzt uns das maßlose Vorgehen der türkischen Regierung“, so BÄK-Präsident Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery. Ähnlich äußern sich die internationalen Organisationen Weltärztebund, Physicians for Human Rights, das Standing Committee of European Doctors, das Europäische Forum der Ärzteverbände und das International Rehabilitation Council for Torture Victims. In einer gemeinsamen Erklärung fordern sie einen sofortigen Stopp der Einschüchterungsversuche auf allen Ebenen: „Der Türkische Ärzteverband hat sich zugunsten von Menschenrechten und Frieden geäußert. Das ist keine strafbare Handlung.“

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ie Landesärztekammer Baden-Württemberg veranstaltete am 3. Februar 2018 in Stuttgart ein Symposium zu den gesundheitlichen Risiken gering radioaktiver Strahlung beim Rückbau von Atomkraftwerken und in Folge medizinischer Behandlung. Bei der Veranstaltung wurden insbesondere das Freimessverfahren und die geltenden Strahlenschutzkonzepte kontrovers diskutiert. Das Freimessverfahren kommt beim Rückbau von Atomkraftwerken zum Einsatz, um die Strahlung radioaktiven Restmülls zu messen. Solange diese unter einem gesetzlich festgelegten Schwellenwert bleibt, können die Materialien als normaler Abfall in konventionellen Bauschuttdeponien eingebaut oder wiederverwertet werden. Bereits bei der Vertreterversammlung der Landesärztekammer Baden-Württemberg und beim Deutschen Ärztetag 2016 und 2017 wurde vor der Verharmlosung möglicher Strahlenschäden durch diesen Restmüll gewarnt. Das diesjährige Symposium kam zu einem ähnlichen Ergebnis und stellte fest, dass die Wiederverwendung und Deponierung von Restmüll mit niedriger Strahlung zwar ein geringes, aber dennoch zusätzliches Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung darstelle. Ähnlich wie bei medizinischen Behandlungen müsse folglich auch hier das Minimierungsgebot des Strahlenschutzes gelten. Hierzu informierte Dr. Alex Rosen (IPPNW) über alternative Rückbaukonzepte, die Bevölkerung und Personal besser vor Strahlung schützen können.


N ACHRICHTEN

SIKO in München: Kritik an nuklearer Aufrüstungspolitik

Weltuntergangs-Uhr steht auf zwei Minuten vor Zwölf

Deutsche Waffenlieferungen an Saudi-Arabien

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nlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz vom 16. bis 18. Februar 2018 kritisierten IPPNW und ICAN die Atomwaffenpolitik der neuen Bundesregierung. Sie forderten stattdessen, ein deutliches Zeichen für Abrüstung und Deeskalation zu setzen und dem Verbotsvertrag von Atomwaffen beizutreten. Viele Atomwaffenstaaten modernisieren derzeit ihre Arsenale: Die USA wollen in den nächsten zehn Jahren über 400 Milliarden Dollar investieren, unter anderem in kleinere, leichter einsetzbare Atomwaffen. Russland testet neue Interkontinentalraketen, China, Indien und Pakistan rüsten ebenfalls atomar auf. Auch die französische Regierung hat angekündigt, den Etat für ihre Atomwaffen innerhalb der nächsten sieben Jahre auf 37 Milliarden Euro fast zu verdoppeln. Diese Entwicklungen waren auch auf der Sicherheitskonferenz ein wichtiges Thema. ICAN-Direktorin Beatrice Fihn sprach auf der Veranstaltung über Waffenkontrolle und zu Möglichkeiten, der nuklearen Proliferation und Aufrüstungsspirale entgegenzuwirken. Parallel zur Tagung von NATO-PolitikerInnen und RüstungslobbyistInnen fand die internationale Friedenskonferenz statt, auf der zahlreiche Konfliktforscher aus aller Welt für eine Entspannungspolitik plädierten. Rund 350 Menschen nahmen teil. Etwa 4.000 Menschen demonstrierten für das Ende deutscher Rüstungsexporte und Auslandseinsätze der Bundeswehr. Infos zur SIKO: www.antisiko.de

as Bulletin of the Atomic Scientists hat die „Weltuntergangsuhr” auf zwei Minuten vor Zwölf gestellt. Erst einmal stand die Welt so kurz vor dem Untergang, mahnen die ForscherInnen. Ihre Entscheidung begründen sie mit den Spannungen zwischen atomar bewaffneten Staaten und dem erhöhten Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen. Mit dem Vorrücken der Zeiger drücken die Wissenschaftler die gesunkenen Chancen der Menschheit aus, einem Atomkrieg oder der Klimakatastrophe noch zu entgehen. Die Uhrzeit wird von einem wissenschaftlichen Gremium, darunter 15 NobelpreisträgerInnen, festgelegt. Sie kritisieren in ihrem jüngsten Bericht unter anderem das Versagen von Trump und „anderen Weltführern, sich angemessen mit Atomkrieg und Klimawandel auseinanderzusetzen“. Internationale Diplomatie sei zu „Beschimpfungen“ verkommen. Das Bulletin würdigte bei seiner Einschätzung aber den Atomwaffenverbotsvertrag, dem im Juli letzten Jahres 122 Nationen zugestimmt hatten. Bereits im vergangenen Jahr hatten die ForscherInnen die „Doomsday Clock“ um 30 Sekunden vorgestellt. Die Uhr erscheint seit 1947 und soll zeigen, wie nah die Menschheit an der Vernichtung durch Atomwaffen und Umweltgefahren ist. Bei ihrer Einführung zu Hochzeiten des Kalten Krieges stand sie auf sieben vor zwölf. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 war die Zeit auf 17 Minuten vor Zwölf zurückgestellt worden. Mehr unter: https://thebulletin.org/2018doomsday-clock-statement 7

er Rüstungsexportbericht 2017 wurde am 18. Dezember 2017 durch die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung vorgestellt. In der Kritik stehen unter anderem die deutschen Waffenexporte in die Golfregion. Die Große Koalition habe zwischen Januar 2014 und April 2017 Rüstungsexporte von über einer Milliarde Euro an Saudi-Arabien genehmigt – darunter Patrouillenboote und Komponenten für Tornado- und Eurofighter-Kampfflugzeuge. Die deutsche IPPNW-Sektion forderte die Bundesregierung in einer Stellungnahme erneut auf, sämtliche Waffenlieferungen an Saudi-Arabien auszusetzen und keine weiteren Genehmigungen mehr zu erteilen. Seit März 2015 führt eine von Saudi-Arabien angeführte Militärallianz Krieg im Jemen, der nach Angaben der UNO bisher mehr als zehntausend Opfer gefordert hat, ein Großteil von ihnen ZivilistInnen. Gleichzeitig wurde die ohnehin marode Infrastruktur des verarmten Landes weitgehend zerstört, so dass Gesundheitswesen, Müllabfuhr, Wasser- und Abwassersysteme zusammengebrochen sind. Laut WHO sind bis Ende Januar 2018 mehr als eine Million Menschen an Cholera erkrankt. Mehr als 2.200 Menschen starben bereits an der Krankheit. Gleichzeitig hält eine saudi-arabische Seeblockade an, die die Versorgungslage weiter verschärft und ein effizientes Intervenieren in der humanitären Krise erschwert. Weitere Informationen: http://www3.gkke.org


ATOMWAFFEN

Gute und schlechte Nachrichten zu Atomwaffen Zwei vor zwölf: Bundespolitik setzt auf Eskalation statt Abrüstung

Das Thema lässt uns wahrlich nicht los. Trotz des Friedensnobelpreises für ICAN gibt es leider wenig Ermutigendes zu berichten. Auch wenn die Bewegung in Deutschland sich stärker hinter dem Preis und dem Namen „ICAN“ vereint, lassen sich die PolitikerInnen hier in Deutschland und anderswo in der Welt davon wenig beeindrucken.

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dass Kim Jong-un bereit ist viel zu opfern, nicht aber seine Macht. Gegenüber Russland soll die Abschreckung zur russischen Strategie des „begrenzten“ Einsatzes von Atomwaffen passen. Die USA müssen Russland glaubhaft machen, dass auch der Einsatz weniger Atomwaffen „unkalkulierbare und intolerable“ Konsequenzen hätte. Entsprechend gibt es auch für China und Iran Szenarien und Strategien.

eginnen wir mit den schlechten Nachrichten: Im Februar 2018 hat die Trump-Administration eine neue Atomwaffendoktrin veröffentlicht. Nach wie vor werden Lippenbekenntnisse für das langfristige Ziel der Eliminierung der Atomwaffen abgegeben. Doch die tatsächlichen Pläne sind erschreckend. Demnach brauchen die USA „moderne, flexible und belastbare“ nukleare Streitkräfte, bis Atomwaffen abgeschafft werden können, so das Papier. Wie lange es bis zur Abschaffung dauert und wie die USA dahin kommen wollen, ist nicht Teil der Doktrin.

Was die Rüstungskontrolle betrifft, setzen die USA allein auf den Atomwaffensperrvertrag, wobei auch hier nur die Rede von „Nichtverbreitung“ und nicht von Abrüstung ist. In dem Abschnitt über die Nichtverbreitung wird explizit die „erweiterte Abschreckung“ bzw. der nukleare „Schirm“ für 30 Bündnispartner genannt. Das ist interessant, weil damit transparent wird, dass dieser Schirm eher als Nichtverbreitungsmaßnahme gesehen wird statt als „Schutz“ für die Alliierten. Die USA haben Sorge, dass Südkorea, Japan oder die Türkei ohne US-Atomwaffen selbst Atomwaffen entwickeln würden. Die Debatte über eigene deutsche Atomwaffen im letzten Jahr nährte diese Sorge.

Trump will mehr Atomwaffen – und diese sollen „glaubwürdige“ Abschreckung leisten. Anders gesagt: Russland, Nordkorea und China sollen glauben, dass die USA bereit sind, Atomwaffen einzusetzen. Dafür sollen Atomwaffen mit niedriger Sprengkraft entwickelt werden. Die Diskussion über solche „kleinen“ Atomwaffen gibt es seit vielen Jahren. Sie wurde immer wieder im Keim erstickt wegen der Befürchtung, dass die Schwelle für einen Einsatz sinkt. In der neuen Atomwaffendoktrin wird dieses Argument jedoch einfach beiseite gewischt.

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urz vor der offiziellen Veröffentlichung der Doktrin stellten die Wissenschaftler des Bulletin of the Atomic Scientists die „Doomsday Clock“ neu. Die Weltuntergangsuhr rückte auf zwei Minuten vor Zwölf vor – das ist so nah am Weltuntergang wie zuletzt 1953, als die ersten Wasserstoffbomben detonierten. Seine Entscheidung begründete das Komitee mit den Spannungen zwischen atomar bewaffneten Staaten und dem erhöhten Risiko eines Einsatzes von Atomwaffen. Dieses erhöhte Risiko wurde kurz zuvor sehr deutlich, als in Hawaii ein Fehlalarm Panik auslöste. Alle BürgerInnen erhielten eine Warnung auf ihre Mobiltelefone, sie müssten sofort die Schutzbunker aufsuchen, weil ein Raketenangriff unmittelbar bevorstehe. Menschen suchten ver-

Die USA wollen eine „maßgeschneiderte“ und „flexible“ nukleare Abschreckung entwickeln. Beinhaltet im Begriff „maßgeschneidert“ („tailored“) ist die gewählte Rhetorik, um dem Feind die Konsequenzen seiner „Aggression“ deutlich zu kommunizieren, passend zur Einschätzung der Wahrnehmung der Risiken des Gegenübers. Wie hoch ist zum Beispiel seine Schwelle, wenn es um den „akzeptablen“ Schaden geht? Zu welchen Opfern ist er bereit? Trump führt uns diese neue Strategie mit Nordkorea vor, wenn er von einer „Auslöschung des Staates“ redet. Die USA glauben, 8


SENATSEMPFANG: ICAN VOR DEM HAMBURGER RATHAUS, FEBRUAR 2018

zweifelt ihre Familienmitglieder, schrieben letzte Nachrichten und bangten 40 Minuten lang, bevor die Entwarnung kam. Das erinnerte viele von uns stark an die achtziger Jahre.

stärken und dem jungen Team in der IPPNW-Geschäftsstelle eine Notunterkunft gegeben. Nun räumen wir einen Teil des alten Büros und Lagers im Erdgeschoss frei, so dass ICAN von dort aus arbeiten kann. Im siebenköpfigen Vorstand von ICAN Deutschland sind zwei junge IPPNWler aktiv, sowie ich selbst.

Schlechte Nachrichten kommen auch aus Deutschland: Der Koalitionsvertrag steht, aber zur atomaren Abrüstung enthält er nichts Substantielles. Der Satz „Rüstungskontrolle und Abrüstung bleiben prioritäre Ziele deutscher Außen- und Sicherheitspolitik“ hinterlässt einen schalen Beigeschmack, wenn man als Abürstungsreferentin arbeitet und weiß, dass sich kaum noch ein Politiker ernsthaft diesem Thema widmet. Wiederholt kommt der abgenutzte Wunsch nach „neuen Initiativen“ – ohne diese näher zu definieren. Auch 2013 war die Rede davon. Jetzt, vier Jahre später, ist die GroKo nicht konkreter geworden. Kein einziges Wort über das Atomwaffenverbot. Es wird sang- und klanglos ausgeklammert, obwohl atomwaffenfreie Zonen weiterhin unterstützt werden – in anderen Teilen der Welt, aber nicht bei uns. Im Text wird der Vorwurf der USA, dass Russland gegen den INF-Vertrag verstößt, übernommen. „Erhebliche Auswirkungen“ sollen die Konsequenz sein.

Bei der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit arbeiten wir gemeinsam mit ICAN Deutschland. IPPNW-Mitglieder gehören zu den AbrüstungsexpertInnen, wenn die Medien Interviewpartner suchen. Seit letztem Oktober sind wir gefragt wie noch nie. Auch in den Städten – Frankfurt/Main (Prof. Ulrich Gottstein), Bremen (Lars Pohlmeier) und Hamburg (Inga Blum) – sind wir von den Bürgermeistern zu Veranstaltungen in die Rathäuser eingeladen worden. In Frankfurt und Bremen durften wir uns sogar als VertreterInnen von IPPNW und ICAN ins goldene Buch der Stadt eintragen.

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udem ist auf Landesebene eine neue Initiative entstanden. Durch einen Antrag der Bremischen Bürgerschaft zur Unterstützung des Verbotsvertrags kam die Idee auf, andere Bundesländer zu bewegen, ähnliche Beschlüsse zu verabschieden. Dafür macht sich der Bremer Bürgermeister Carsten Sieling stark. Am 7. Februar 2018 hat ICAN Hamburg einen Brief mit den Unterschriften vieler IPPNW-Mitglieder an Bürgermeister Olaf Scholz überreicht. Dieser wurde durch die zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank vertreten. Inga Blum hielt eine hervorragende, auf die Stadt Hamburg bezogene Rede. Die ICAN-Erklärung für Abgeordnete wurde im Januar gestartet und kann von IPPNW-Mitgliedern an Bundestags- und Landtagsabgeordnete weitergeleitet werden, am besten immer persönlich.

Und dann heißt es weiter: „Solange Kernwaffen als Instrument der Abschreckung im strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.“ Damit wird die Idee, dass Deutschland als Vorreiter für die Abrüstung in der NATO fungiert, endgültig aufgegeben. Zum Schluss wird auch der Abzug der Atomwaffen aus Deutschland erneut hinter den nächsten START-Vertrag mit Russland zu Atomwaffen verschoben – das ist immer noch die alte Strategie von Walter Steinmeier. Erst müssen die Russen ihre taktischen Atomwaffen aufgeben. Solange bleiben die US-Atombomben in Büchel. Von der geplanten Aufrüstung und Neustationierung dieser Bomben ist keine Rede. Kurz gesagt: Der Koalitionsvertrag enthält keine guten Nachrichten, er beinhaltet sogar ein gewisses Rollback.

Mehr zu dieser und weiteren Aktionen finden Sie unter: www.nuclearban.de Mehr zu den Nobelpreis-Feiern in den Regionalgruppen: Forum intern S. 10

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enn wir uns nach guten Nachrichten umschauen, müssen wir in unsere eigenen Reihen schauen. Denn wir werden immer stärker und die Arbeit läuft bundesweit und weltweit hervorragend. Die IPPNW hat nach dem Friedensnobelpreis entschieden, ICAN in Deutschland weiterhin zu

Xanthe Hall ist Atomwaffencampaignerin der IPPNW Deutschland. 9


FRIEDEN

DIE SOWJETARMEE ALS BEFREIER. DANKBARER BAUER KÜSST SOLDATEN, GEDENKMARKE DER UDSSR

Woran erkennt man Propaganda? Ein Beitrag auf dem IALANA-Kongress „Krieg und Frieden in den Medien“

„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“ Dieser Ausspruch geht auf Arthur Ponsonby (1871-1946) zurück, einen britischen Politiker, Schriftsteller und Friedensaktivisten, der 1928 die Methoden der Kriegspropaganda aller Beteiligten am Ersten Weltkrieg beschrieb. Ponsonby erkannte zehn Prinzipien: 1. Wir wollen den Krieg nicht. 2. Das gegnerische Lager trägt die Verantwortung.

dem weltanschaulichen Gegner einfach um die Ohren schlägt, wenn einem dessen Meinung oder dessen Narrativ nicht passt? Wie ist Propaganda ganz sachlich und nicht-wertend, als beschreibender oder analytischer Begriff zu verstehen?

3. Der Führer des Gegners ist ein Teufel. 4. Wir kämpfen für eine gute Sache. 5. Der Gegner kämpft mit unerlaubten Waffen. 6. Der Gegner begeht mit Absicht Grausamkeiten, wir nur versehentlich. 7. Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm. 8. Künstler und Intellektuelle unterstützen unsere Sache. 9. Unsere Mission ist heilig. 10. Wer unsere Berichterstattung in Zweifel zieht, ist ein Verräter.

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och Propaganda kann mehr sein als Kriegspropaganda, die den Hass gegen einen Feind mobilisieren, die Freundschaft mit den Verbündeten stärken und den Feind demoralisieren will. Es gibt sie auch in Friedenszeiten, und sie kann genauso gut dazu dienen, die Interessen von Wenigen, zum Beispiel wenigen Reichen, auf Kosten von Vielen, zum Beispiel vielen Armen, zu legitimieren. Was also ist Propaganda, wenn man das Wort nicht als reinen Kampfbegriff verstehen will, das man

Drei Arbeiten aus der jüngeren Kommunikationswissenschaft, die sich mit der Definition und den Erkennungsmerkmalen von Propaganda beschäftigen, seien hier herangezogen. Thymian Bussemer versteht Propaganda „als die in der Regel medienvermittelte Formierung handlungsrelevanter Meinungen und Einstellungen politischer oder sozialer Großgruppen durch symbolische Kommunikation und als Herstellung von Öffentlichkeit zugunsten bestimmter Interessen (...). Propaganda zeichnet sich durch die Komplementarität vom überhöhten Selbst- und denunzierenden Fremdbild aus und ordnet Wahrheit dem instrumentellen Kriterium der Effizienz unter. Ihre Botschaften und Handlungsaufforderungen versucht sie zu naturalisieren, so dass diese als selbstverständliche und naheliegende Schlussfolgerungen erscheinen.“ (Bussemer 2008) Propaganda arbeite mit dem Trick, Sprache und Bilder so zu manipulieren, „dass im Rezeptionsprozess neue Verknüpfungen zwischen vorhandenen positiven oder negativen Einstellungen und bestimmten Sachverhalten hergestellt werden“. Sie 10

lässt bestimmte Handlungsoptionen als alternativlos erscheinen und belegt Zuwiderhandlungen und Nichtbefolgung mit Sanktionen; überdies „strebt sie einen Alleinstellungsanspruch an. Propaganda will nicht mit konkurrierenden Botschaften in einen Diskurs um die beste Lösung eingehen, sondern den Menschen ihre Handlungsprogramme aufzwingen.“

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lorian Zollmann hat jüngst versucht, eine Art Werkzeugkasten zur Erkennung von Propaganda in Medientexten zusammenzustellen. Es sei vorausgeschickt, dass Zollmann nicht glaubt, dass Journalisten absichtlich Propaganda machen, also ihr Publikum manipulieren wollen. Aber er glaubt, dass die großen Medien aufgrund ihrer politischen Ökonomie von Geld und Macht geformt sind und dass die Journalisten häufig unbewusst und unbeabsichtigt die Propaganda anderer Akteure übernehmen, da sie abhängig von Informationsquellen aus Regierung und Wirtschaft sind und unter Zeitdruck stehen. Laut Zollmann (2017) deuten folgende Anzeichen auf Propaganda in journalistischer Berichterstattung hin: 1. Wenn Ereignisse, Themen oder Akteure so gerahmt sind, dass bestimmte Interessen bedient und andere Perspektiven ausgeblendet werden (Beispiel: Die Außenpolitik des Westens als moralisch gut und mildtätig darzustellen, aber damit verbundene ökonomische Interessen zu verschweigen). 2. Wenn Ereignisse und Handlungen mit „umstrittenen ideologischen Konzepten“ wie „Krieg“, „Verbrechen“, „Massaker“, „Völkermord“, „Terrorismus“, „Demokratie“ oder „Sozialismus“ verbunden werden (z. B. wenn Kriegsverbrechen oder Staats-


Foto: Wir. Dienen. Deutschland / CC BY-ND 2.0

ÖFFENTLICHKEITSARBEIT DER BUNDESWEHR: FREUDESTRAHLENDE JUGENDLICHE IN AFGHANISTAN (2012)

terrorismus als „Krieg“ beschönigt oder – andersherum – Kampfhandlungen unangemessen zu „Massakern“ oder „Völkermorden“ werden). 3. Wenn Berichterstattung durch Empörung zu politischem oder militärischem Eingreifen auffordert. 4. Wenn Kritik auf taktisch-prozedurale Fragen beschränkt wird, während die grundsätzliche Legitimation der Strategie und der Ziele nicht hinterfragt wird. 5. Wenn Fakten über ein Thema verwendet werden, aber gleichzeitig andere wichtige Fakten ignoriert oder marginalisiert werden. 6. Wenn Fakten in einen bestimmten Frame (Rahmen) eingeordnet werden, aber andere Frames, die ebenfalls zu den Fakten passen, nicht verwendet werden. 7. Wenn Fakten oder Statements heruntergespielt werden durch Platzierung (ganz hinten ganz klein), durch Wiederholungsfrequenz (ganz selten) oder durch die Art ihrer Interpretation bzw. Einordnung. 8. Wenn Akteure wie gegnerische Staatschefs oder Oppositionsgruppen im eigenen Land dämonisiert, beschimpft oder negativ assoziiert werden bzw. Etiketten bekommen, die nicht zur Faktenlage passen (wie: Hitler-Vergleich). 9. Wenn Gräueltaten von Feindstaaten betont oder übertrieben werden, auch bei unsicherer Faktenlage, und wenn Empörung, grausame Details und die Verantwortung für Gräueltaten überproportional und selektiv betont werden, verglichen mit ähnlichen Handlungen anderer Akteure oder Staaten.

Zollmann hat diese Kriterien aus einer Forschungstätigkeit heraus entwickelt, die sich auf die Berichterstattung über sogenannte „humanitäre Interventionen“ des Westens mit der Begründung der „Schutzverantwortung“ bezog. Theoretische Basis seiner Arbeit ist das „Propaganda-Modell“ von Edward Herman und Noam Chomsky, das beschreibt, wie die großen US-Medien doppelte Standards bei der Berichterstattung über Außenpolitik anlegen. Dessen wichtigste These lautet, dass die Medien nicht alle Opfer von staatlicher Repression und Gewalt gleich behandeln, sondern zwischen „wertvollen“ und „wertlosen“ Opfern unterscheiden – je nachdem, ob die Gewalt von den USA, Kanada, anderen kapitalistischen Demokratien oder befreundeten Regimes ausgeht – oder aber von offiziellen Feindstaaten der USA. Herman und Chomsky nehmen an, dass es gravierende Unterschiede in Umfang und Art der Berichterstattung gibt:

„Wir erwarten bei den Gräueltaten unserer und befreundeter Regierungen, dass sich die Berichterstattung sehr stark auf offizielle Quellen aus den USA und ihrer Vasallenstaaten stützt, während Flüchtlinge und Regimekritiker dann stark zu Wort kommen, wenn es um die Schandtaten unserer Feinde geht. Wir erwarten unkritische Akzeptanz von bestimmten Prämissen, wenn es um uns und unsere Freunde geht – etwa, dass wir Frieden und Demokratie wollen, Terrorismus bekämpfen und die Wahrheit sagen – Prämissen, die bei Feindstaaten nicht angenommen warden.” (Herman/Chomsky 2002)

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ohlgemerkt: Dies sind alles Thesen und Theorien. In einer Reihe von Fallstudien wurden solche Berichterstattungsmuster bestätigt, doch gibt es im deutschsprachigen Raum derzeit keine kommunikationswissenschaftliche Propagandaforschung in nennenswertem Umfang. Das ändert sich womöglich bald, hat sich doch im vergangenen Jahr ein neues „Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft“ gegründet, das verstärkt Augenmerk auf Themen wie Ideologiekritik legen möchte. Einstweilen mögen die geschilderten Kriterien den Leserinnen und Lesern helfen, bei ihrem individuellen Medienkonsum Abstand zu entsprechender Berichterstattung zu gewinnen und sich intellektuell gegen Überredungs-, Überrumpelungs- und Entmündigungsstrategien zu wappnen. Lesetips: T. Bussemer: Propaganda. Konzepte und Theorien | F. Zollmann: Bringing Propaganda Back into News Media Studies | E.S. Herman / N. Chomsky: Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media

Dr. Uwe Krüger ist Journalismusforscher und Journalistenausbilder an der Universität Leipzig.


FRIEDEN

Verantwortung der EU für das Iran-Atomabkommen Erpressungspolitik der USA: Countdown zu einem neuen internationalen Konflikt

Mit der Bekanntgabe seiner Iran-Strategie hat Donald Trump das IranAtomabkommen im Herbst 2017 massiv in Frage gestellt. Ein für Iran entscheidendes Element dieses Abkommens ist die Aussetzung der Wirtschaftssanktionen. Dieses bedarf allerdings der jährlichen Überprüfung durch den US-Präsidenten, ob der Iran gegen das Abkommen verstoßen hat.

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bwohl die internationale Atomenergiebehörde keine Verstöße des Iran festgestellt hat, entschied sich Trump im November 2017, die Aussetzung der Sanktionen zunächst zu verschieben. Erst am 12. Januar dieses Jahres erklärte der US-Präsident, die Iran-Sanktionen vorerst auszusetzen, allerdings letztmalig. Den europäischen Verhandlungspartnern Großbritannien, Frankreich und Deutschland sollte dadurch Gelegenheit gegeben werden, binnen 120 Tagen „die schrecklichen Mängel“ im Abkommen zu beseitigen und den Iran von Nachverhandlungen zu überzeugen. Bei den Mängeln geht es dem US-Präsidenten – ganz im Sinne der US-Verbündeten im Mittleren und Nahen Osten, Israel und Saudi-Arabien – um den „Verzicht Irans auf Raketentests und Unterstützung der Terrorgruppen.“

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o gesehen läuft seit Mitte Januar der Countdown zu einem neuen internationalen Konflikt, der das Potential hat, die Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. Die US-Sanktionen sind trotz des Abkommens, auch durch Obama, de facto nie aufgehoben worden. Das Sanktionsregime wirkt entgegen der klaren Vereinbarungen im Iran-Atomabkommen weiter. Für Iran stellen sich Trumps zusätzliche Forderungen als Beginn einer neuen und ernst zu nehmenden Eskalation dar. Denn

diese kommen einer inakzeptablen Einmischung in die Souveränität Irans gleich. Das iranische Raketenprogramm diene, so die iranische Regierung, der Verteidigung des Landes. Die USA zielten darauf ab, Irans Abschreckungspotential zu zerstören und das Land gegenüber seinen Feinden schutzlos zu machen. Sollte Trump nunmehr auch offiziell Sanktionen gegen den Iran verhängen und damit den Atomdeal aufkündigen, würde Iran „innerhalb von Minuten sein nukleares Programm reaktivieren“, erklärte der iranische Präsident Hassan Rouhani. Trump verfolgt das Ziel, den Iran zur Aufkündigung des Abkommens zu provozieren. Damit wäre der gefährliche Nuklearkonflikt, der schon 2006 beinahe zu einem Krieg des Westens gegen den Iran geführt hätte, in vollem Umfang wieder auf der Weltbühne. George W. Bush benutzte damals das iranische Atomprogramm als Vorwand, um einen Regime Change im Iran herbeizuführen, notfalls auch gewaltsam. Nun nimmt Trump das völkerrechtlich bindende Abkommen mit Iran selbst zum Anlass, um den Iran als Regionalmacht auszuschalten, notfalls durch einen neuen Krieg im Mittleren Osten. Die EU und die deutsche Bundesregierung, die starken Anteil am Zustandekommen des Iran-Atomabkommens hatten, wider12

sprachen der Absicht des US-Präsidenten, das Atomabkommen mit Iran in Frage zu stellen, umgehend und unmissverständlich. So warnte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel davor, das Iran-Abkommen aufs Spiel zu setzen, es handele sich „um ein beispielhaftes Abkommen gegen die nukleare Weiterverbreitung“. Demonstrativ trafen die drei EU-Außenminister von Großbritannien, Frankreich, Deutschland und die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini am 11. Januar 2018 – einen Tag vor Trumps neuer Stellungnahme – den iranischen Außenminister Mohammed Dschawad Sarif in Brüssel, um ihre Unterstützung des Iran-Atomdeals zu unterstreichen.

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iese gegenwärtige Haltung der Bundesregierung und der EU verdient die Unterstützung der Friedensbewegung. Dennoch bleibt nicht zu vergessen, dass die EU in der Vergangenheit die Strategie der US-Regierung unter George W. Bush im Iran-Atomkonflikt aktiv mitgetragen und teilweise sogar verstärkt hat. Es darf auch nicht übersehen werden, mit welcher Intensität die Regierungen der meisten NATOStaaten, einschließlich der EU und ihrer „Leitmedien“, das Feindbild Iran aufgebaut und damit eine regelrechte psychologische Kriegsvorbereitung betrieben haben. Dreh- und Angelpunkt des Atomdeals mit Iran bildet die Aufhebung der US-Sanktionen, vor allem gegen die iranische Wirtschaft. Nur dadurch ließen sich die massiv gegen das Abkommen opponierenden Hardliner der Islamischen Republik überhaupt für den Deal einbinden. Bei den US-Sanktionen gegen den Iran handelt es sich jedoch um ein „exterritoriales“ Instrument, das nicht nur die US-Firmen bei


SCHON 2012 WAR EINE IPPNW-DELEGATION IN TEHERAN, UM SICH ÜBER DIE SANKTIONEN ZU INFORMIEREN – HIER: ZU BESUCH IM TEHRAN PEACE MUSEUM. jeglichen Wirtschaftsbeziehungen mit Iran mit Geldstrafen in astronomischer Höhe belegt, sondern auch sämtliche globale Unternehmen und Banken, die mit den USA Geschäftsbeziehungen unterhalten. Um negativen Auswirkungen für die eigene Wirtschaft vorzubeugen, hatte die EU ihre eigenen Iran-Sanktionen ab 2012 denen der USA weitgehend angepasst. Nach dem Inkrafttreten des Iran-Atomabkommens hat die EU zwar die eigenen Sanktionen formal aufgehoben, hält sich jedoch – offensichtlich aus Angst vor den Auswirkungen der Sekundärsanktionen der USA – faktisch weiterhin an die US-Sanktionspolitik. (Sekundärsanktionen: Strafen gegen Akteure außerhalb der USA, die mit Iran handeln) So liegen sämtliche Absichtserklärungen der EU-Unternehmen gegenüber der iranischen Regierung, die nach der Atomvereinbarung mit Iran zustande gekommen sind, bis heute auf Eis. Die EU steht somit vor einem offensichtlich unauflösbaren Dilemma: Entweder lässt sie sich auf Trumps erpresserische Forderung ein, das Atomabkommen mit dem Iran nachzuverhandeln. Oder aber die EU beharrt auf der Verteidigung des Iran-Abkommens und zwar ohne Nachverhandlung des Raketenproblems und riskiert dabei, dass Trump seine Drohung spätestens im Mai wahr macht und die US-Sanktionen gegen Iran auch formell wieder in Gang setzt. In beiden Fällen ist das Ergebnis dasselbe: das Ausscheren Irans aus dem Nuklearabkommen, weil die Hardliner im Iran sich hinsichtlich ihres Misstrauens gegenüber den USA und der EU bestätigt sähen und ihre Zustimmung zum Abkommen zurücknehmen würden.

Dieses schwerwiegende Dilemma resultiert übrigens aus der blinden US-Gefolgschaft der EU bei der bisherigen US-Mittel- und Nahostpolitik. Gerade der Konflikt um den Umgang mit dem Iran-Atomabkommen zeigt, wie dringend es für die EU geworden ist, eine aus den eigenen langfristigen Interessen abgeleitete und an eine friedliche Kooperation mit allen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens angelehnte Politik zu entwickeln und sie auch offensiv durchzusetzen. Dazu bietet dieser Konflikt der EU vielleicht auch die historische Chance, ihre Iran- und Mittelostpolitik auf neue und von den Vereinigten Staaten unabhängige Gleise zu stellen. Ein neuer Krieg im Mittleren Osten muss auf jeden Fall verhindert werden. Folgende Schritte könnten helfen, diese Perspektive aktiv voranzutreiben:

Krieg gegen Iran ablehnt und sich nicht an ihm beteiligen wird. Schließlich und endlich wäre es anlässlich des Konflikts um das Iran-Atomabkommen angebracht, dass die EU ankündigt, alsbald die UN-Konferenz für eine massenvernichtungswaffenfreie Zone im Mittleren und Nahen Osten zu aktivieren, die 2014 durch die USA und Israel blockiert worden war. Dafür müsste aber erst der Strukturfehler des UN-Beschlusses behoben werden, wonach alle betroffenen Staaten der Konferenz zustimmen müssten. Gerade weil diese Vorbedingung durch die USA und Israel als Veto zur Verhinderung der Konferenz missbraucht wurde, könnte die UN-Konferenz zuerst durch Teilnahme von willigen Staaten beginnen und erst in einem späteren Stadium um sämtliche betroffene Staaten erweitert werden.

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Diese Perspektive bietet sich auch geradezu für die Aufarbeitung und Regelung vieler anderer Konflikte im Mittleren und Nahen Osten an, beispielsweise den Syrienkonflikt. Damit könnte die seit langem von außen in die Region hineingetragene Politik der Spaltung und Vertiefung von religiösen und ethnischen Feindschaften, des regionalen Wettrüstens und zahlreicher Kriege endlich ein Ende gesetzt werden.

m die unheilige Allianz zwischen Trump und inneriranischen Gegnern des Atomdeals zu durchbrechen, müsste die EU alles unternehmen, um mögliche US-Sanktionen gegen Iran zu unterminieren. Dazu könnte die EU-Kommission alle Unternehmen und Banken, die mit Iran Geschäftsbeziehungen pflegen wollen, notfalls durch Übernahme des zu erwartenden Schadensersatzes als Folge der von den USA verhängten Bußgelder unterstützen. Ferner müsste die EU den Haager Gerichtshof anrufen, um das Erpressungsinstrument „Exterritoriale Sekundärsanktionen“ als völkerrechtswidrig zu verurteilen. Es dürfte Trump schwer fallen, in den USA einen innenpolitischen Konsens für einen Krieg gegen Iran herzustellen, wenn klar ist, dass er sich eine massive Ablehnung der EU einhandeln würde. Deshalb müsste die EU schon jetzt erklären, dass sie einen 13

Die ausführliche Version dieses Artikels finden Sie unter: ippnw.de/bit/iran Mohssen Massarat ist em. Professor für Politik und Wirtschaft, Nahostexperte und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der IPPNW.


FRIEDEN

Die Bestrafung Die einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen der EU (Sanktionen) richten sich gegen alle SyrerInnen BESUCH IM AL-RAJAAKRANKENHAUS, ALEPPO Foto: Karin Leukefeld

„Sehen Sie hier, alles ist neu: das Wartezimmer, der Untersuchungsraum, die Intensivstation.“ Dr. Emile Katti ist Chefchirurg im Al-Rajaa-Krankenhaus in Aleppo. Die private Klinik wurde 2002 gegründet und wird vom Franziskanerorden unterstützt. Seit Beginn des Krieges waren die ÄrztInnen oft rund um die Uhr im Einsatz. Dr. Katti zeigt Bilder auf seinem Handy, mit dem die Operationen umfassend dokumentiert werden. Man sieht die Verletzungen vor, während und nach der Operation. Nicht immer konnten die Patienten gerettet werden. Das Engagement von ÄrztInnen, Schwestern und Pflegepersonal sei bewundernswert, sagt Dr. Katti. Einmal gab es keine Blutreserven für die seltene Blutgruppe eines Patienten. Doch einer der Ärzte, der die gleiche Blutgruppe hatte, spendete auf der Stelle Blut, die Operation verlief erfolgreich.

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is Ende 2016 wurde die Klinik auch von einer deutschen kirchlichen Hilfsorganisation unterstützt. Anfang 2017 wurde die Hilfe abrupt eingestellt, erinnert sich Dr. Katti. Dabei hatte man gerade alle Voraussetzungen geschaffen, um ein Röntgengerät zu installieren, das von der Hilfsorganisation gespendet und über eine Medizintechnikfirma (in Deutschland)

geliefert worden war. Nun also zeigt Dr. Emile stolz die Umbauten: Modernes Design, sauber und hell, doch bisher konnte kein Patient untersucht werden. Das Gerät funktioniert nicht, weil die mitgelieferte Computer-Software unvollständig und/ oder fehlerhaft ist. Die von der EU und den USA einseitig verhängten „wirtschaftlichen Strafmaßnahmen“ gegen Syrien verschärfen das Problem. Software darf nicht geliefert werden, ausländische Techniker werden nicht geschickt, syrische ExpertInnen haben zu Tausenden das Land verlassen.

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icht weit von der Al-Rajaa-Klinik entfernt lernen Kriegsversehrte in einem Zentrum für Behinderte laufen. Dem Zentrum, das mit Unterstützung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) unterhalten wird, ist eine Prothesenwerkstatt angeschlossen. Weil es keine Prothesentechniker (mehr) in Aleppo gab, wurde ein Experte eingeflogen, der zunächst Ausbildungskurse anbot, um junge AleppinerInnen umzuschulen. Inzwischen werden in der Werkstatt die eigenen Prothesen hergestellt, angepasst und mit den Patienten wird trainiert. Weil die Lieferung von Gehhilfen aufgrund der von der EU und den USA einseitig verhängten „wirtschaftlichen Strafmaßnahmen“ gegen Syrien bis zu einem Jahr dauert, begann man die Gehhilfen selber zu produzieren. „Enthält ein Produkt oder ein Bestandteil des Produkts mehr als zehn Prozent Material, das in den USA lizensiert ist, darf es nicht an Syrien geliefert werden“, erläutert ein Lieferant für orthopädische Produkte in Damaskus, der seinen Namen nicht 14

nennen möchte. Das gleiche gelte für medizinisches Zubehör für Operationen, für Dialysegeräte, Röntgengeräte, für die Chemotherapie. Und wenn doch etwas geliefert werden könnte, müssen Formulare, so genannte „Endabnehmer-Zeugnisse“ ausgefüllt und die Bezahlung akzeptiert werden. Ist der Endabnehmer der Staat oder ein staatlich geführtes Krankenhaus oder eine staatliche Firma, die Krankenhäuser ausstattet, wird der Auftrag abgelehnt. Bei der Bezahlung gibt es ebenfalls Probleme, sagt der Lieferant: „Deutsche Banken weisen Zahlungen aus Syrien zurück, selbst wenn aus dem Libanon oder aus den Golfstaaten überwiesen wird. Ist die Ware, die bezahlt werden soll, für Syrien bestimmt, wird das Geld zurückgewiesen.“ Die einst gut und weitgehend staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung in Syrien ist nicht nur Opfer der militärischen Konfrontationen geworden, sie ist auch ein Opfer der seit 2011 von der EU und den USA verhängten „einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen“ geworden. In einem von der UN-Kommission für Wirtschaft und Soziales in Westasien (ESCWA) in Auftrag gegebenen Untersuchung über die „Humanitären Folgen der einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen“ gegen Syrien werden die Sanktionen als die „kompliziertesten und weitreichendsten Sanktionsmaßnahmen“ bezeichnet, „die jemals verhängt wurden“. Jeder Syrer und jede Syrerin sei betroffen, Regierung und Hilfsorganisationen würden in der Ausübung ihrer humanitären Verpflichtungen behindert. Unter den acht Punkten, die in dem Bericht als besonders besorgniserre-


DR. EMILE KATTI VOR DEM AL-RAJAA-KRANKENHAUS IN ALEPPO, OKTOBER 2017 Foto: Karin Leukefeld

gend genannt werden ist, dass der Privatsektor (besonders Banken und Exporteure der westlichen Welt) kaum humanitäre Güter nach Syrien lieferten. Der Grund sei die Gefahr, gegen die Sanktionen zu verstoßen und finanziell bestraft zu werden. Ein weiterer Punkt sei, dass viele medizinische Geräte heute computergesteuert seien und entsprechende Software benötigten. Die komplizierte und langwierige Genehmigungsprozedur schwäche die gesamte Gesundheitsversorgung. Die Sanktionen behinderten de facto auch dringend notwendige Reparaturen im Bereich von Transport, Kommunikation, Krankenhäusern, Wasser- und Stromversorgung und beim Häuserbau. Darauf angesprochen, erklärte eine EU-Sprecherin lediglich, es läge nicht an den Sanktionen, wenn Firmen sich aus dem Geschäft mit Syrien zurückgezogen hätten. Gründe seien „Sicherheit, der Firmenruf, wirtschaftliche Erwägungen, Maßnahmen gegen Geldwäsche“.

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er UN-Sicherheitsrat hat die Sanktionen gegen Syrien nie unterstützt. Die UNO-Vollversammlung hat im Dezember 2013 in der Resolution A/RES/68/200 Sanktionen gegen ein Entwicklungsland explizit zurückgewiesen. Vor dem Krieg war Syrien zwar aufstrebend, aber ein Entwicklungsland und stand 2010 auf dem Index der menschlichen Entwicklung (UNDP) von 188 Staaten auf Platz 149. Syrische Geschäftsleute haben täglich mit der restriktiven Sanktionspolitik gegen ihr Land zu kämpfen. Aban N., der mit seinem Bruder, einem Apotheker, eine pharmazeutische Firma leitet, lieferte vor dem

Krieg Insulin für Diabetiker und Krebsmedikamente. Heute warteten Krebspatienten, Diabetiker und Nierenkranke „in langen Schlangen auf Medikamente“, sagt er mir in Damaskus. Das sei „entwürdigend.“

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eil sie die notwendigen Medikamente nicht mehr aus Europa einführen konnten, haben die Brüder sich „kriegsbedingt“ auf die Behandlung von Explosionen und Verbrennungen spezialisiert. „Die PatientInnen haben einen Teil ihrer Haut, haben Gewebe verloren. Sie wurden nicht steril behandelt oder operiert. Die Wunden infizierten sich und mussten wieder geöffnet und neu behandelt werden.“ Seine Firma importiert Bestandteile, die für die speziellen Medikamente gebraucht werden: Alkohol, Cremes, Öle, Pasten, Gallertmasse, Vaseline, zählt er auf. Importieren könnten sie aus der Tschechischen Republik und aus den Niederlanden, die Firmen seien sehr hilfsbereit und kooperativ gewesen: „Wir konnten Leben, Gliedmaßen retten. Und wenn amputiert werden muß, können wir die Wunden gut heilen.“

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trümmerten Gewehrkugeln die Hüfte, die Blase und kamen auf der anderen Seite des Körpers wieder heraus, wo sie seine Hand durchschlugen. Mousa überlebte die Infektionen nicht. Die 17jährige Sumayya verlor ein Bein durch Mörsergranaten, der 21jährige Haydar wurde von einer Mörsergranate getroffen und verlor Gewebe und Haut an beiden Oberschenkeln. Doch auch diese Wunden konnten behandelt, die Entzündungen geheilt und Hauttransplantationen vorgenommen werden. Ein Nachtrag: Die EU-Sanktionen richten sich offiziell gegen das syrische „Regime“, Einzelpersonen und Organisationen, denen im Zusammenhang mit dem Krieg die Unterdrückung der Bevölkerung vorgeworfen wird. Am 3. April 2017 gab der Europäische Rat eine Erklärung zu seiner Syrien-Strategie ab: bit.ly/2BDeq3x Unter Punkt 2 heißt es: „Die EU wird weitere restriktive Maßnahmen gegen Syrien in Betracht ziehen, solange die Repressionen anhalten. Die EU erinnert daran, dass es unter dem derzeitigen Regime keinen dauerhaften Frieden in Syrien geben kann.“

ind sie tapfer?, fragt Aban N., als er auf seinem Handy Bilder von einigen Ver- ESCWA-Studie: Humanitarian Impact of Syletzungen aufruft, die sie behandelt haben. ria-Related Unilateral Restrictive Measures Zu sehen sind klaffende Fleischwunden, antikrieg.com/aktuell/un_study_syria.pdf verursacht durch Mörsergranaten, Explosionen, Gewehrkugeln. Die jüngste Patientin auf den Bildern ist vier Jahre, sie verlor ein Bein und ihr kleiner Körper zeigt eine Karin Leukefeld große offene Wunde an ihrem Unterleib. ist freie JournaliSie überlebte die Infektionen, Operationen stin, Buchautorin, und Hauttransplantationen. Die orthopädi- Nahost-Expertin und berichtet dersche Behandlung mit einem neuen Bein zeit aus Aleppo soll folgen. Dem fünfjährigen Mousa zerund Damaskus. 15


FRIEDEN

Nach Trumps Jerusalemerklärung Gibt es noch Hoffnung auf Frieden?

Foto: David Orthmann / CC BY-NC 2.0

George Rashmawi vom Vorstand der palästinensischen Gemeinde Deutschlands fürchtet nach der Jerusalemerklärung von Donald Trump eine neue Welle der Gewalt im Nahen Osten.

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nfang Dezember 2017 erklärte der amerikanische Präsident Donald Trump überraschend, dass Jerusalem (Ost und West) die Hauptstadt des israelischen Staates sei und er beabsichtige, die Botschaft der USA von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen. Diese Ankündigung traf die Weltgemeinschaft wie eine politische Bombe, die gleichsam eine Kriegserklärung an das palästinensische Volk ist. Die Erklärung hat eine globale Welle der Wut und Protestbewegungen gegen die neue US-amerikanische Ausrichtung der Nahost-Politik ausgelöst.

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arum hat die Welt auf Trumps Erklärung derart empört reagiert? Trump widersprach damit allen UN- und Weltsicherheitsrats-Resolutionen, die Ostjerusalem als Teil des besetzten palästinensischen Gebietes sehen. Vor allem der letzten UN-Resolution vom 23. Dezember 2016, die die israelische Siedlungspolitik scharf verurteilt und die Grenzen für den zukünftigen Staat Palästina nochmals bestätigt: Gazastreifen, Westbank und Ost-Jerusalem. Damals stimmten die USA zum ersten Mal in der Geschichte des palästinensisch-israelischen Konfliktes einer Resolution zu, die die illegale Siedlungspolitik Israels kritisiert. Trumps Erklärung schließt die Tür des seit 25 Jahren propagierten Friedens auf der Grundlage der Zwei-Staatenlösung und öffnet den Weg für einen binationalen Staat, einen „Apartheidstaat“, der Israel heißt. Mit dieser Aussage hat sich die US-Politik klar und deutlich auf Seiten Israels positioniert und seine Rolle des ehrlichen und objektiven Vermittlers verloren, so die Aussage mancher palästinensischer Kreise, die das Oslo-Abkommen unterstützen.

Stimmen bei einer Gegenstimme (USA) gegen Trumps Erklärung, die UNO stimmte mit 129 gegen und 19 Stimmen dafür. Auch die Europäische Union, darunter die Bundesrepublik Deutschland, stellte sich gegen Trump.

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Trump ignoriert zudem die Sensibilität der Jerusalemfrage für das palästinensische Volk, Muslime sowie Christen. Die geschichtliche, kulturelle und religiöse Bedeutung Jerusalems für Millionen von Muslimen und Christen auf der Welt wird komplett ausgeblendet. Trump lenkt damit den palästinensisch-isrealischen Konflikt auf die Ebene einer religiösen Auseinandersetzung, was die Region noch instabiler macht, als sie zur Zeit bereits ist. Diese Entscheidung könnte den Weg freimachen für einen religiösen Krieg, der den Nahen Osten in Schutt und Asche verwandelt.

as Bild der arabischen Zerrissenheit hat sich als Reaktion auf die Erklärung deutlich manifestiert: Das Treffen von nur sechs arabischen Außenministern in Jordanien, einen Monat nach Trumps Erklärung, sowie der Rang der offiziellen diplomatischen Vertreter zeigt, wie das Interesse der arabischen Staaten an Palästina gesunken ist. Die Außenminister waren noch nicht einmal in der Lage, ein gemeinsames Kommuniqué zu verabschieden. Auf der Konferenz wurde keinerlei politischer Druck ausgeübt, wie z.B. die Abberufung der arabischen Botschafter aus den USA oder ein Boykott von US-Produkten, um Trump zu veranlassen, seine Entscheidung zu überdenken.

Die Weltgemeinschaft hat Trumps Erklärung eine klare Absage erteilt. Der Weltsicherheitsrat votierte im Dezember 2017 mit 14 16


als Luftblase erwiesen. Präsident Abbas wetterte in der Sitzung gegen Trumps Erklärung. Gleichzeitig passte er genau auf, dass die Formulierung der Abschlusserklärung mehrere Interpretationen zulässt.

Im Gegensatz zu den arabischen Regierungen zeigte sich die arabische Bevölkerung bereit, sich Trumps Erklärung zu widersetzen. Das palästinensische Volk verstand Trumps Erklärung als Kriegserklärung gegen seine nationalen Rechte. In seinen Augen bezweckt er „einen religiösen Krieg vom Zaun zu brechen“. Seit dem Oslo-Abkommen von 1993 wird täglich palästinensisches Land enteignet, werden Siedlungen gebaut und neue Siedler angesiedelt. Während des Oslo-Abkommens von 1993 lebten 100.000 bis 110.000 Siedler auf 1,5% des besetzten Gebietes, in der Westbank (einschließlich Ostjerusalem) und im Gazastreifen. Jetzt leben allein in der Westbank (einschließlich Ostjerusalem) 650.000 bis 700.000 Siedler.

Was können wir nach dieser katastrophalen Ankündigung tun? Ein Eckpfeiler einer neuen politischen Orientierung könnte zum Beispiel sein, die Oslo-Verträge zu annullieren und das Sicherheits- und Wirtschaftsabkommen mit Israel zu kündigen. Für palästinensische Arbeitskräfte sollten alternative Jobs geschaffen werden, damit sie nicht mehr in den Siedlungen arbeiten müssen. Die palästinensische Bewegung könnte die Boykott-Bewegung (BDS) gegen Israel unterstützen und zum Boykott amerikanischer Produkte aufrufen. Zudem müsste der Versöhnungsprozess zwischen Fatah und Hamas intensiviert werden, damit die Wiederherstellung der palästinensischen Einheit endlich Erfolg hat. Dann könnten endlich Wahlen für die Präsidentschaft und für den Legislativen Rat in den besetzten Gebieten sowie für die Vertreter des palästinensischen Nationalkongresses stattfinden. Dringend erforderlich ist zudem wirtschaftliche und humanitäre Hilfe für den Gazastreifen.

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ach Trumps Erklärung hat das israelische Kabinett den Beschluss gefasst, Millionen neuer Wohneinheiten in der Westbank zu bauen, davon allein 300.000 in Jerusalem. Das palästinensische Volk sieht, wie die Apartheidmauer große Teile seines Landes verschlingt und zerstückelt und Familien voneinander trennt: Kinder von ihren Schulen, Arbeiter von ihrem Arbeitsplatz, Bauern von ihren Ländereien, kranke Menschen von Krankenhäusern etc. Außerdem erschweren Checkpoints das Leben des palästinensischen Volkes noch mehr. Die Repressalien der israelischen Besatzungsmacht wurden immer aggressiver. Nach Trumps Erklärung wurden bereits 18 jugendliche Palästinenser getötet und mehrere Hundert inhaftiert oder verletzt.

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ölkerrechtsverletzungen und Verbrechen wie Siedlungsbau, Massenverhaftungen, Tötungen, Kriege gegen Gaza, kollektive Bestrafung, Zerstörung von Häusern und die Gaza-Blockade müssen dem internationalen Strafgerichtshof angezeigt und Israel zur Rechenschaft gezogen werden. Wünschenswert wäre zudem eine Internationalisierung des Palästina/Israel-Konflikts im Rahmen der Einberufung einer internationalen Friedenskonferenz unter der Schirmherrschaft der UNO und auf der Grundlage der zahlreichen UN-Resolutionen, mit Beteiligung der ständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrats. Und schließlich würde eine Beantragung der vollen Mitgliedschaft des Staates Palästina in der UNO und von UN-Schutztruppen für die palästinensische Bevölkerung, Schutz gegen die Siedlungen und die Siedler und Schutz für Jerusalem und unsere Heiligtümer bieten.

Präsident Mahmud Abbas und seine Minister stecken in einer großen politischen Krise. Seit dem Osloer-Vertrag 1993 hat Abbas nur auf eine politische Karte gesetzt, nämlich Verhandlungen unter Führung der „objektiven und ehrlichen Vermittler“ der USA. Erst einen Monat nach Trumps Erklärung lud er die Führung des palästinensischen Volkes, das Exekutiv-Komitee der PLO, zu einer Sitzung ein. Seine Rede auf der Zentralratssitzung in Ramallah Mitte Januar spiegelte wider, in welchem politischen Dilemma seine einseitige Politik steckt. Sein Versprechen von Anfang 2017, motiviert von Trumps „Deal des Jahrhunderts“, lautete: „Dieses Jahr wird uns den unabhängigen Staat Palästina bringen.“ Es hat sich

ippnw-reise im Herbst 2018 Die IPPNW-Begegnungsreise Palästina-Israel wird voraussichtlich im Herbst 2018 stattfinden. Haben Sie Interesse, teilzunehmen? Mehr Infos finden Sie auf Seite 35.

Der Mediziner George Rashmawi ist Mitglied des Sprecherkreises von KOPI sowie des Vorstandes der palästinensischen Gemeinde Deutschland (PGD). 17

Foto: Terrazzoo / CC BY 2.0

Saudi-Arabien, unterstützt und motiviert von den USA, hat seine politischen Prioritäten gewechselt. Der erste Feind ist nun der Nachbar Iran. Die neue Allianz heißt USA-Israel-Saudi-Arabien gegen den Hauptfeind Iran und die Hisbollah im Libanon. Diese politische, wirtschaftliche und militärische Allianz hat die Hauptaufgabe, die Stellvertreter-Kriege in Syrien, Jemen, Irak und Libyen weiter zu eskalieren, unter dem Deckmantel der „Terrorismus“-Bekämpfung. Ihr Ziel ist die Schwächung aller arabischen Staaten. Im Ergebnis könnten die USA ihre militärische und wirtschaftliche Kontrolle über die Golfregion weiter fortsetzen.


FRIEDEN

Frieden geht. Geh mit! Aufwärmen für den bundesweiten Staffelauf vom 21. Mai bis 2. Juni 2018

Die letzten 100 Tage sind angebrochen – die Vorbereitungen für den Staffellauf gegen Rüstungsexporte Frieden geht!, der vom 21. Mai bis zum 2. Juni 2018 quer durch Deutschland führt, laufen auf Hochtouren.

Von Deutschland exportierte Leopard-IIPanzer, aber auch Mercedes-Unimogs und -transporter sowie G36-Sturmgewehre von Heckler & Koch werden dort eingesetzt. Wie paradox die Situation ist, zeigt sich am aktuellen Beispiel Nordsyrien. Künftig könnten türkische SoldatInnen in deutschen Leopard-Panzern mit ebenfalls aus Deutschland gelieferten Waffen der Peschmerga, der Verbündeten der YPG, beschossen werden. Was muss noch passieren, damit die Bundesregierung ihre bisherige Rüstungsexportpolitik aufgibt? Die OrganisatorInnen von Frieden geht! meinen: Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, zu handeln. Deshalb fordern wir einen Stopp deutscher Rüstungsexporte.

Foto: Uwe Hiksch

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ie ersten Fotoaktionen haben friedensbewegte Menschen in ganz Deutschland zusammengeführt, die ersten Pressemitteilungen und Artikel sind veröffentlicht und fast täglich finden regionale Besprechungen statt. Es ist „höchstwahrscheinlich das ambitionierteste Projekt der Friedensbewegung in diesem Jahr“ – so das Netzwerk Friedenskooperative. Tagesaktueller könnte das Thema des Staffellaufes nicht sein. Die Bundesrepublik Deutschland ist weltweit der drittgrößte Exporteur von Kleinwaffen und der fünftgrößte Exporteur von Großwaffensystemen (wie Kriegsschiffen, Kampfflugzeugen und Kampfpanzern). Rüstungsexporte, die Deutschland in den letzten Monaten und Jahren geliefert hat, werden in vielen Kriegs- und Konfliktregionen eingesetzt: So kommen deutsche Waffen beispielsweise in dem völkerrechtswidrigen Krieg der Türkei gegen KurdInnen in der Region Afrin (Syrien) zum Einsatz.

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m den Forderungen Ausdruck zu verleihen, wollen wir mit möglichst vielen Menschen in ganz Deutschland für Frieden und gegen Rüstungsexporte auf die Straße gehen! Jede und jeder kann sich daran beteiligen: Die Wegstrecke führt von Oberndorf am Neckar bis nach Berlin. Dort wird am 2. Juni 2018 die große Abschlussdemonstration stattfinden. Die Strecke ist unterteilt in Geh- und Joggingabschnitte sowie Halbmarathons und Marathons. Der Staffellauf macht unter anderem Station in Karlsruhe, Mannheim, Frankfurt, Kassel, Jena und Potsdam und führt neben vielen weiteren Städten durch Freiburg, Heidelberg und Erfurt.

sind mit dabei! An den Übernachtungsorten und entlang der Strecke finden weitere Treffen statt. Dabei gilt: Jeder Mensch ist herzlich willkommen – sei es bei der Planung, als MultiplikatorIn oder als HelferIn vor Ort am Tag des Staffellaufs.

Möglichkeiten, sich einzubringen

Wir freuen uns über viele kreative Aktionen entlang der Strecke, Zuläufe zur Hauptroute und DemonstrantInnen am 2. Juni in Berlin!

So vielseitig die Ideen zum Staffellauf schon sind, so viel Raum bleibt, um eigene Ideen einzubringen. Seit einigen Wochen finden Regionalbesprechungen entlang der Laufstrecke statt. Menschen aus ganz verschiedenen Kreisen kommen dabei zusammen und es formt sich ein breites zivilgesellschaftliches Netz von KooperationspartnerInnen: Neben RüstungsexportgegnerInnen und Friedensbewegten sind KirchenvertreterInnen, Kulturschaffende und SportlerInnen aktiv. Auch regionale Gruppen der IPPNW 18

Der Trägerkreis besteht aus sechzehn Organisationen: Neben der IPPNW sind unter anderem die „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“, Attac Deutschland, die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden Bundesverband, die Evangelische Landeskirche in Baden und die NaturFreunde Deutschland mit dabei.

Weitere Infos: http://frieden-geht.de Fotogalerie: http://bit.ly/2EB5wpk Max Weber ist Co-Koordinator von Frieden geht!


SOZIALE VERANTWORTUNG

Unwort „Altersfeststellung“ Zur öffentlichen Debatte über Methoden der Altersdiagnostik

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eit Monaten werden Forderungen zur medizinischen Alterseinschätzung diskutiert, die der Öffentlichkeit suggerieren, hier fehle eine gesetzliche Grundlage. Die Vermengung des hochkomplexen Themas mit dem Thema „Kriminalität von Geflüchteten“ und der Ruf nach „schnellen und verlässlichen Lösungen“ haben eine Stimmung erzeugt, die einer sachlichen Debatte abträglich ist. Die CDU/CSU-Fraktion etwa forderte gesetzliche Neuerungen und möchte das Verfahren der Alterseinschätzung zukünftig in „zentralen Aufnahme-, Entscheidungs- und Rückführungseinrichtungen“ vornehmen lassen. Erst nach der Alterseinschätzung in diesen Zentren sollen Kinder und Jugendliche durch Jugendämter in Obhut genommen werden. Viele Kinder und Jugendliche, die nach Europa flüchten, haben keine gültigen Identitäts- oder Passdokumente, da diese vor oder während ihrer Reise verloren gegangen sind oder konfisziert wurden. Außerdem existiert in zahlreichen Ländern Südasiens und Afrikas keine „amtliche“ Geburtenregistrierung. Jedes Jahr kommen mindestens 50 Millionen Kinder zur Welt, für die niemand eine Geburtsurkunde ausstellt. Wenn diese Kinder älter werden und einige von ihnen wegen Krieg, Verfolgung, Hunger, fehlender Lebensperspektive fliehen, können sie ihr Alter selbstverständlich nicht nachweisen. Europäische Beamte können sich das üblicherweise nicht vorstellen. Sie glauben diesen Unbegleiteten Minderjährigen Flüchtlingen nicht und verdächtigen sie, ihre Geburtsurkunden weggeworfen zu haben. Wenn beim ersten Kontakt mit dem zuständigen Jugendamt kein Zweifel am angegebenen Alter aufkommt, wird ein junger Flüchtling „in Obhut genommen“, erhält einen Vormund, darf zur Schule gehen und findet meistens einen Platz in einer besonderen Unterkunft für Jugendliche. Wenn aber MitarbeiterInnen des Jugendamtes anlässlich einer „Inaugenscheinnahme“, oder FamilienrichterInnen bei der Bestellung eines Vormunds vermuten, dass ein junger Flüchtling doch schon volljährig sein könn-

te, wird eine „Altersfeststellung“ veranlasst. Dieses Wort wird in der Regel unkritisch verwendet, obwohl allen Beteiligten doch eigentlich klar sein muss, dass niemand das unbekannte Alter eines Menschen feststellen oder bestimmen kann. Mit welchen aufwändigen Methoden auch immer – das Alter kann nur grob geschätzt werden.

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it den Altersgutachten werden oft gerichtsmedizinische Institute beauftragt. Der Weg zu diesen Instituten ist gebahnt, weil z.B. in Kriminalfällen jung wirkende unbekannte Tote seitens der Gerichtsmediziner post mortem untersucht werden. Der gleiche Weg wird auch dann beschritten, wenn lebende junge Menschen, die ihr Alter nicht wissen oder nicht preisgeben, straffällig wurden. Und so werden die Gerichtsmediziner auch nach dem Alter junger Menschen gefragt, die sich gar nichts haben zuschulden kommen lassen, außer, dass sie hierzulande „aufgetaucht“ sind. Die Gerichtsmediziner, die sich mit Altersdiagnostik beschäftigen, haben sich in der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik zusammengeschlossen. Es stellt sich die Frage, was Gerichtsmediziner eigentlich mit diesen jungen Flüchtlingen zu tun haben. Normalerweise gehört deren Untersuchung und Behandlung ins Fachgebiet der Kinder- und Jugendärzte. Über die bei der Altersdiagnostik anzuwendenden Methoden gibt es denn auch sehr unterschiedliche Vorstellungen. In den gerichtsmedizinischen Instituten werden die „Probanden“ nach einer kurzen körperlichen Untersuchung, die meistens auch die Entwicklung des äußeren Genitale einschließt, üblicherweise zum Röntgen geschickt, wo man Aufnahmen der linken Hand, des Gebisses und, bei ausgereiftem Handskelett, auch der SchlüsselbeinBrustbeingelenke erstellt – letztere mittels Computertomografie. Auf ein persönliches Gespräch mit Familien- und Schul-Anamnese, Erfragen der Fluchtgründe und des Fluchtweges, mit Erkundigungen über die aktuelle Situation, sowie auch mit Interesse an Ausbildungs- und Berufswünschen wird in der Regel verzichtet. 19

Nach der Berufsauffassung der Kinder- und Jugendärzte gehören all diese zu erfragenden Details jedoch zwingend zu einer gutachterlichen Stellungnahme. Wenn man einen jungen Menschen auf sein Knochenund Genitalalter reduziert, kann man seiner Persönlichkeit nicht gerecht werden, gewinnt keinen Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit, seiner intellektuellen, kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung. Alle diese Erkenntnisse sind aber erforderlich, um die Reife und schließlich auch das Alter eines jungen Flüchtlings einschätzen zu können. Diese Herangehensweise nennen wir die „holistische Methode“, die sehr viel mehr Zeit erfordert als das bloße Anschauen und Röntgen. Bei einiger Erfahrung und genauer Beobachtung kann das Alter mittels der holistischen Methode mindestens genau so gut eingeschätzt werden wie mit den aufwändigsten Röntgenuntersuchungen.

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ürzlich haben Politiker gefordert, bei allen ankommenden jungen Flüchtlingen eine Röntgenaufnahme der Hand anzufertigen mit der Vorstellung, so die Frage der Volljährigkeit klären zu können. Das ist aber nicht möglich, denn bei 61% der Menschen ist das Handskelett schon vor dem 18. Lebensjahr ausgereift. Die Röntgenuntersuchungen des Gebisses und das CT der Sternoclaviculargelenke können ebenfalls nicht die Volljährigkeit beweisen. Darüber hinaus sind Röntgenuntersuchungen ohne „rechtfertigende Indikation“ (RöV § 23) eine besondere Art der Körperverletzung. Das gilt insbesondere für die CT-Untersuchung mit ihrer hohen Strahlenbelastung. Auch die Dokumentation der Entwicklung des äußeren Genitale ist für die Frage der Volljährigkeit ohne Belang. 13-jährige Jungen können ein voll entwickeltes Genitale, 12-jährige Mädchen eine reife Brust haben. Dazu kommt, dass diese Untersuchung ohne ärztliche Indikation eine Missachtung von Artikel 1 unseres Grundgesetzes darstellt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Junge Menschen aus anderen Kulturkreisen empfinden die ohne medizinischen Grund erzwungene Nacktheit als besonders diskriminierend und verletzend. Siehe auch intern S. 7 Winfrid Eisenberg


DON´T NUKE THE CLIMATE

W

Foto: © Katja Becker, ujuzi.media

hitwatersrand, Südafrika: Internationale AktivistInnen von Don‘t nuke the Climate auf dem internationalen Symposium zu den gesundheitlichen und sozialen Folgen des Uranabbaus in Afrika. Die Kampagne gründete sich 2015 im Vorfeld des Pariser Klimagipfels.


Die Website der Kampagne finden Sie unter: www.dont-nuke-the-climate.org

Falsche Klimaretter entlarven Weltweites Bündnis „Don‘t nuke the Climate“ fordert konsequenten Atomausstieg

WEST-AUSTRALIEN

Foto: Marcus Atkinson

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ur ein schneller, gerechter Übergang zu einem Energiesystem ohne Atomkraft und Kohle kann die Klimakrise lösen. Deshalb macht die weltweite Kampagne „Don‘t nuke the Climate“ darauf aufmerksam, dass die Atomenergie nicht zukunftsfähig ist. Günter Hermeyer von der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg war mit der Kampagne in verschiedenen Ländern unterwegs: „Bei aller Schönrederei der Atomindustrie lässt sich nicht abstreiten, dass diese Industrie extraktiv ist. Genau wie die Kohleindustrie beginnt die nukleare Kette mit Bergbau – Uranbergbau, der zu 70 bis 80 Prozent auf dem Land indigener Völker stattfindet, Land und Menschenrechtsgrundlagen verletzt, immense Wasserreserven verschwendet und für Jahrzehntausende Emissionen freisetzt, die das Leben in diesen Gebieten unmöglich machen.“ So protestiert die Kampagne dort, wo Uran abgebaut wird und wo neue AKWs geplant sind. Auf dem COP23 in Bonn standen internationale Gäste wie Kumar Sundaram (Indien), Pinar Demircan (Türkei) und Vladimir Slivyak (Russland), Leona Morgan (USA) und Makoma Lekalakala (Südafrika) der Presse Rede und Antwort, um über die schwerwiegende Einflussnahme der Atomindustrie in ihren Ländern zu berichten.

Foto: © Stop Uranio Plataforma del Campo Charro

SPANIEN: BEI SALAMANCA PLANT DIE AUSTRALISCHE FIRMA BERKELEY DIE GRÖSSTE URANMINE EUROPAS.

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DON´T NUKE THE CLIMATE

Don‘t nuke the Climate Keine Klimaschutzgelder für die Atomindustrie

Die Lösungen für die Klimakrise und für den Erhalt von Mensch und Umwelt auf unserem Planeten sind eindeutig: Um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen, ist unter anderem ein schneller, gerechter Übergang zu einem Energiesystem ohne Atomkraft und ohne Kohlenstoff nötig.

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ir brauchen den schnellen Ausstieg aus Atomstrom und Kohle – einschließlich Kohleförderung. Der einzig sichere Weg, die Einflüsse des Energieverbrauchs auf die globale Erwärmung zu stoppen, besteht darin, so schnell wie möglich von den antiquierten Energiemodellen des 20. Jahrhunderts und deren verschmutzenden Technologien überzugehen zu sicheren, sauberen, bezahlbaren und nachhaltigen erneuerbaren, effizienten und cleveren Technologien des 21. Jahrhunderts.

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ie Mehrheit der Bürger Deutschlands steht hinter den Zielen Atom- und Kohleausstieg, auch wenn die Regierung sich bisher weigert, einen konkreten und zügigen Kohleausstiegsplan zu beschließen. Europaweit und weltweit sind allerdings die Mehrheiten nicht so sicher. Gleichzeitig befindet sich die Atomindustrie weltweit im wirtschaftlichen Niedergang und versucht, an neue Subventionen zu kommen. So hatte sich im Vorfeld der Klimakonferenz COP 23 in Bonn eine Gruppe von acht internationalen Organisationen einschließlich der IPPNW unter dem Logo „Don‘t nuke the Climate“ zusammengeschlossen, um der Propaganda der pronuklearen Vertreter entgegenzutreten. Dazu hatten sie einen Appell der Wissenschaftler an die Klimakonferenz

vorbereitet, in dem die wichtigsten wissenschaftlichen Argumente, Fakten und Daten aus medizinischer, umweltbiologischer und menschenrechtlicher sowie ökonomischer Perspektive dargestellt waren. Den von 69 WissenschaftlerInnen unterzeichneten Appell und die WISE-Studie „Climate Change and Nuclear Power“ übergaben wir am 16. November 2017 an Bundesumweltministerin Barbara Hendricks.

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uf der Klimakonferenz selbst und dem „People’s Climate Summit“ stellten wir mit Pressekonferenzen und verschiedenen Workshops die Sichtweise von VertreterInnen aus Südafrika, Indien, der Türkei, Russland, Australien und der indigenen Völker in den USA, Australien und Indien dar. Schon auf dem Klimagipfel in Paris 2015 hatten Vertreter der Atomindustrie um Geldmittel aus dem Green Climate Fund geworben. Dieser Fonds, über den im Zeitraum von 2020 bis 2030 jährlich 100 Milliarden US-Dollar verteilt werden sollen, soll wirtschaftlich ärmere Länder dabei unterstützen, sich auf den Klimawandel einzustellen und Maßnahmen zu finanzieren, damit diese Länder auf ihrem Weg der nachholenden Entwicklung nicht wie die heutigen Industriestaaten auf fossile Energien, sondern emissionsarme, erneuerbare Energien bauen. 22

69 WissenschaftlerInnen wandten sich angesichts des COP23 in Bonn mit sieben Argumenten an den Klimagipfel und die UNFCCC, die Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen: 1) Atomenergie ist weder CO2-frei noch CO2-arm. 2) Zur Reduktion globaler Emissionen kann die Atomenergie nur sehr wenig beitragen. 3­ ) Atomenergie blockiert die Erneuerbaren – keine Subventionen für Atomstrom! 4) Atomenergie kann mit den Erneuerbaren nicht konkurrieren. 5) Die versteckten Kosten der Atomenergie werden nicht einbezogen. 6) Atomenergie ist unkalkulierbar. 7) Atomenergie schadet unserer Gesundheit. Vollständiger Appell unter: ippnw.de/bit/appeal_COP23


BONN, 11. NOVEMBER 2017 Foto: © Jasmine Bright / NIRS

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uf dem Klimagipfel in Marrakesch 2016 habe Russland begonnen, die Atomenergie als Lösung des Klimaproblems zu propagieren, so Vladimir Slivyak von der russischen Umweltorganisation Ecodefense. Moskau übe „starken Druck auf Entwicklungsländer“ aus, damit sie russische Atomtechnologie erwürben. „Russland hat eine Reihe von Verträgen mit zahlreichen Ländern abgeschlossen, unter anderem mit der Türkei, aber nicht das Geld, um die Reaktoren zu bauen. Deshalb sucht es nach anderen Geldquellen.“ Um Zugriff auf Gelder aus dem Green Climate Fund zu erhalten, wolle Russland Entwicklungsländer als Brückenkopf instrumentalisieren, weil deren Zugang zu dem Fonds wahrscheinlich einfacher sei. Slivyak sagte voraus, dass pronukleare US-Vertreter die Atomkraft auf dem COP23 wieder einmal als Klimaretter darstellen würden.

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nd so kam es dann. Michael Shellenberger, Präsident der pronuklearen US-Organisation „Environmental Progress“, aber als Klimaschützer in den USA bekannt und James Hansen, USamerikanischer Klimaforscher und Professor für Umwelt- und Erdstudien an der Columbia University, vertraten die These, dass die Welt Atomkraft brauche, um das Klima zu retten. Dabei benutzten sie den

Trick, in ihren Aussagen lediglich die Auswirkungen von Atomkraft mit Kohlekraft zu vergleichen oder die CO2-Emissionen von Atomkraft mit denen von Autos. So Hansen in der Studie: „Prevented Mortality and Greenhouse Gas Emissions from Historical and Projected Nuclear Power“ (Pushker / Kharecha / Hansen 2013). Auch der Politiker und „Umweltexperte„ Michael Shellenberger wirbt auf seiner Webseite damit, dass er geholfen habe, die Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke in Illinois und New York durchzusetzen. Damit habe er dazu beigetragen, einen Anstieg von CO2-Emissionen zu verhindern, die dem Ausstoß von 5,7 Millionen Autos entsprächen. Es ist richtig, darüber zu streiten, mit welchen Technologien der Energiesektor dekarbonisiert werden soll. Wir müssen aber auch die macht- und industriepolitischen Interessen der jeweiligen Akteure erfassen. Einflussreiche global wirksame Akteure wie die EU und die Internationale Ener-

gieagentur (IEA) gehen davon aus, dass Atomkraft bei der Dekarbonisierung des Energiesektors eine wesentliche Rolle spielen soll (IEA World Energy Outlook/ Reference Scenario der EU-Kommission 2016). Doch wir dürfen die zivil-militärischen Zusammenhänge von Atomkraft und Atomwaffen nicht aus dem Auge verlieren. Die Atomwaffenstaaten halten hauptsächlich aus militärischen Interessen an der angeblich notwendigen Rolle der Atomkraft fest (so etwa im Fall des von Großbritannien und Frankreich gemeinsam geplanten AKW Hinkley Point). Für die zivile Nutzung ist längst bewiesen, dass Atomkraft gegenüber den erneuerbaren Energien längst nicht mehr wettbewerbsfähig ist, so eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW-Wochenbericht 47 / 2017). Pronukleare Wissenschaftler wie Shellenberger und Hansen blenden solche Fakten systematisch aus. Siehe auch „6 Fragen“ auf S. 34

Zum Nachlesen Die WISE-Studie „Climate Change and Nuclear Power finden Sie hier: wiseinternational.org/sites/default/files/u93/climatenuclear.pdf (auf Englisch)

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Dr. Angelika Claußen ist seit 2014 Europäische IPPNWPräsidentin.


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Warum Atomenergie keine Antwort auf den Klimawandel ist Die wichtigsten Argumente im Überblick

Finanzielle Argumente Atomenergie lohnt sich nicht

Gesundheitsargumente Die Gesundheitsfolgen des Uranabbaus sind immens

Atomstrom ist teuer. Teurer sogar als alle anderen Formen der Energieproduktion. Wenn man die hohen Baukosten von Atomreaktoren, die Produktion von spaltbarem Uran und die Ewigkeitskosten der Atommüllversorgung mit einrechnet, hat Atomstrom wirtschaftlich keine Chance gegenüber erneuerbaren Energien. Während ein Watt aus einer Photovoltaikanlage insgesamt etwa 0,30 US-Dollar kostet, liegt der Preis ein Watt aus einem Atomreaktor mittlerweile bei 7,00 US-Dollar. So werden in verschiedenen Ländern wie etwa Großbritannien die Rufe nach Subventionen für neue Atomkraftwerksprojekte lauter, für die dann Stromkunden und Steuerzahler aufkommen sollen.

Gesundheitsstudien zeigen erhöhte Krebsraten bei Uranbergleuten und ihren Familien sowie Anwohnern. Beim Uranabbau fallen riesige Mengen an radioaktivem Abraum und Taillings an, die ganze Landstriche verstrahlen.

Atomkraftwerke verursachen Krebs Die KIKK-Studie des Mainzer Kinderkrebsregisters hat die Daten von über 6.000 Kindern unter fünf Jahren, die in der Nachbarschaft deutscher AKWs lebten über 23 Jahre untersucht. Sie zeigte, dass das Krebsrisiko bei Kindern in einem 10-km-Radius um 20-40% und in einem 5-km-Radius um 60-75% stieg. Auch bei AKW-Belegschaften konnten Gesundheitsschäden festgestellt werden. Die INWORKS-Studie wies 2015 bei über 600.000 Atomarbeitern erhöhte Leukämieraten nach, die in direkter Verbindung zur beruflich erhaltenen Knochenmarksdosis standen.

Versteckte Kosten fallen aus der Bilanz Die Kosten der Atomenergie werden künstlich kleingerechnet. Die Kosten für Uranabbau und Produktion können nur durch das kriminelle Unterlaufen von Sicherheitsstandards und schwere Menschenrechtsverletzungen gegenüber indigenen Völkern niedrig gehalten werden. Beispiele dafür sind die Erfahrungen der Bevölkerung im kanadischen Saskatchewan oder der australischen Aborigines im Kakadu-Nationalpark. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen: in Südafrika, Niger, Gabun, Indien, Namibia, Kirgistan und den USA – überall sind es vor allem indigene Völker, die unter dem Raubbau von Uran leiden.

Das Unfallrisiko wird unterschlagen Innerhalb von 32 Jahren hat es drei Super-GAUS mit Kernschmelzen gegeben. Das heißt: ein großer Atomunfall alle elf bis zwölf Jahre. In Frankreich mussten vor kurzem rund ein Drittel der 58 Atomreaktoren aus Sicherheitsgründen abgeschaltet werden. Viele andere Reaktoren in der EU sind von massiven Sicherheitsproblemen betroffen, wie zum Beispiel die belgischen Pannenmeiler von Tihange und Doel.

Die Betriebskosten von AKWs werden künstlich vermindert, indem die Atomindustrie ihrer rechtlichen Verantwortung enthoben wird. Gegen einen großen Atomunfall etwa sind die Kraftwerksbetreiber kaum versichert. Auch am Ende der nuklearen Kette fallen für den Rückbau der Atomanlagen sowie die Sicherung und Lagerung des Atommülls in den kommenden Jahrtausenden Unsummen an, deren Ausmaß unkalkulierbar ist. Auch hier gilt: Die Atomindustrie kommt für die Ausgaben nicht auf, Kosten werden auf die Allgemeinheit umgelegt.

Das atomare Erbe schadet zukünftigen Generationen Die Gesundheitsprobleme enden nicht mit dem Rückbau der Reaktoren. Jeder Reaktor setzt Millionen von Tonnen an strahlenden Materialien frei, die zum Teil als Recyclingmaterialien das Alltagsleben zukünftiger Generationen belasten werden. Wie soll eine sichere langfristige Lagerung des hochradioaktiven Atommülls gewährleistet werden und wie kann zukünftigen Generationen dieses überlebenswichtige Wissen um das atomare Erbe vermittelt werden? Noch immer ist die Atomindustrie Antworten auf diese Frage schuldig.

Ausführliches Paper Why nuclear energy is not an answer to global warming: http://bit.ly/2EpFiT3 (auf Englisch) 24


DIE REALEN KOSTEN DER ATOMENERGIE WERDEN ANDEREN AUFGEBÜRDET: DIE URANMINEN IN ARLIT W/ AKOKAN, NIGER.

Umweltargumente Atomenergie blockiert die Erneuerbaren

Solarstromprojekte nutzen. Viele Länder haben Atomenergie verboten oder sind umgestiegen, so zum Beispiel Australien, Österreich, Dänemark, Griechenland, Irland, Italien, Lettland, Malaysia, Neuseeland, Norwegen, die Philippinen, Portugal und Vietnam.

Direkte und indirekte Atomstrom-Subventionen entziehen den Erneuerbaren die Finanzierung. Die Überschusskapazitäten der AKWs fluten geradezu die Stromnetze, so dass sich Erneuerbare Energien entweder nicht richtig entwickeln oder nicht voll genutzt werden. AKWs produzieren unflexibel und lassen sich nicht an den tatsächlichen Bedarf anpassen.

Politische Argumente Atomstrom und Atombombe gehören zusammen Die zivile und militärische Seite der Atomkraft sind nicht voneinander zu trennen – beide sind Teil derselben nuklearen Kette. In vielen Ländern stehen die zivilen Atomprogramme unter dem Einfluss des Militärs und der Zentralregierung – aus offensichtlichen Gründen. Das Interesse an Forschung und Entwicklung sowie die Ausbildung des Personals der beiden Bereiche hat sich schon immer überlappt. So wird vermutet, dass der Neubau des britischen AKW Hinkley Point als versteckte Subvention für das Trident-Atomwaffenprojekt dienen könnte.

Atomenergie ist nicht CO2-frei Nach dem IPCC-Report 2014 produziert die Atomenergie langfristig gesehen denselben CO2-Ausstoß wie die Erneuerbaren. Vielen Wissenschaftlern ist das zu optimistisch. Nach Benjamin Sovacools Analyse von 2008 setzt Atomstrom sechsmal soviel CO2 frei wie Windkraft. Nicht eingerechnet ist dabei, dass sich der Treibhausausstoß der Atomkraft um geschätzte 55-220% erhöhen wird, weil zur Gewinnung von hochkonzentriertem Uran künftig CO2-intensivere Verfahren nötig sein werden. Auch das für die Atommüll-Lagerung in den kommenden Jahrtausenden anfallende CO2 fehlt in der Bilanz.

Die Atomindustrie beeinflusst die öffentliche Meinung

Atomenergie ist für globale Energiestrategien nicht relevant

Angebliche Graswurzelorganisationen wie Nuclear for Climate oder Energy for Humanity versuchen der Bevölkerung mit ihren Kampagnen weiszumachen, dass Atomenergie für den Klimaschutz gebraucht wird. Getragen werden diese Organisationen von der Atomindustrie, die unter dem Deckmantel von NGOs ihr Geschäftsmodell aggressiv verteidigen will. Ziel der globalen Umweltbewegung muss sein, nachhaltige, saubere und gesunde Lösungen für den Energiebedarf der Menschen zu finden. Die Technologien des 19. und 20. Jahrhunderts bieten keine Lösung für das neue Jahrtausend. Eine Energierevolution ist nötig.

Atomenergie macht nur 10% der weltweiten Stromproduktion und 5% der Energieproduktion aus. Rund 25% der Treibhausgase entfallen auf die Stromerzeugung. Das heißt, derzeit kann Atomenergie nur etwa 1,25% des Treibhausgas-Ausstoßes verhindern. Selbst bei einer Verdreifachung der Atomstromproduktion wäre der Einfluss der Atomenergie auf den Klimawandel unerheblich.

Atomenergie ist keine globale Lösung Die zivile Atomenergie beschränkt sich beinahe ausschließlich auf die Atomwaffenstaaten und ihre engsten Verbündeten. So erzeugen etwa die USA und Frankreich zusammen schon mehr als die Hälfte des weltweiten Atomstroms. Die meisten Länder der Welt haben weder Atomstrom noch die Voraussetzungen dafür, was die Finanzierung und Infrastruktur betrifft. Dagegen finden Erneuerbare Energien fast in jeder Region der Erde Anwendung: Von einer Megastadt wie Seoul, die sich 2011 gegen ein neues AKW entschied bis zu den kleinen Inseln in Indonesien, wo ländliche Dörfer

Dr. Alex Rosen ist Vorsitzender der deutschen IPPNW. 25


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Eine Frage der Gerechtigkeit Klimawandel in Indien: Die Atomenergie verschlimmert die Auswirkungen für die betroffenen Kommunen

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on den Auswirkungen des Klimawandels haben die betroffenen Gemeinschaften einen besseren Begriff als selbst Experten. Vielleicht ist das ein Grund, warum die Kampagne „Don‘t nuke the Climate“ in Indien auf so starke Resonanz stößt – bis in die entferntesten indischen Dörfer. Im Vorfeld des Klimagipfels COP23 im November 2017 in Bonn, als „Don‘t nuke the Climate” startete, haben sich die Menschen im indischen Narmada-Tal gleich damit identifiziert. Schon Anfang 2009, als ihr Widerstand gegen die Planungen des AKW Chutka begann, war klar, dass die desaströsen Auswirkungen des Klimawandels durch ein neues Megaprojekt in der Region verschlimmert würden. Am 2. Oktober, dem Geburtstag Mahatma Gandhis, startete das Struggle Committee Against Nuclear Power im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh eine zweimonatige Kampagne, um auf diesen Sachverhalt aufmerksam zu machen. In Indien haben soziale Bewegungen Kampagnen nach dem Direktkontaktprinzip namens „Yatra” (Weg) entwickelt. So bereisten AktivistInnen des Komitees 275 Dörfer, um das Problembewusstsein der Menschen zu wecken. Die Orte in den Distrikten Mandla und Seoni sind Teil der Evakuierungszone, die die indischen Behörden laut Umweltverträglichkeitsgutachten (EIA) für Notfälle vorgsehen haben.

Indische Regierung verkauft Atomkraft als Umweltlösung Neben den Versprechen von preiswerter Elektrizität, Arbeitsplätzen und Entwicklung benutzt das nukleare Establishment vor allem das Verkaufsargument von der

„Atomkraft als Klimalösung”. Eine der Schlüsselstrategien der indischen Regierung ist, die Atomenergie als Lösung der Klimaprobleme darzustellen. „Saubere Energie” wird von der Regierung in den internationalen atomaren Lieferverträgen als Kürzel für Atomenergie benutzt. Sie bietet Atomstrom im Rahmen ihres Klimaziels an, zu dem sie sich vor dem Pariser Gipfel bei der UNFCC verpflichtet hatte.

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ie indische Regierung plant, ihre nuklearen Kapazitäten bis 2032 auf 63 Gigawatt zu erweitern. Momentan sind es 6,8 Gigawatt, nur 1,8 Prozent der indischen Gesamtkapazität. Im Mai 2017 hat der Energieminister zehn neue Reaktoren angekündigt, die die Atomenergie ankurbeln und „helfen sollen, sauberen Strom zu produzieren”. Im Juli 2017 rief der renommierte Atomwissenschaftler Ravi B. Grover vom indischen Atomenergieinstitut (DAE) dazu auf, die „flexible erneuerbare Atomenergie” voranzutreiben, um bis 2030 einen Anteil von 40 Prozent nichtfossiler Energiequellen zu erreichen. Nicht nur innerhalb des Landes, auch nach außen hin propagiert Indien das Atom als saubere Energiequelle. Als Indien mit seiner Unterschrift das von Rosatom in Ruppur (Bangladesch) gebaute AKW unterstützte, bezeichneten WissenschaftlerInnen des indischen Establishments die Atomenergie als „maßgeblich” im Kampf gegen den Klimawandel in einem klimatisch so sensiblen Land. Die Darstellung der Atomkraft als Klima-Lösung genießt in Indien politischen Konsens. Jairam Ramesh, der Minister für Umwelt -und Wald-Angelegenheiten – zeigte sich überrascht, dass Wissenschaftler Widerstand gegen die Atomenergie leisten. Er 26

sagte: „Es ist paradox, dass Umweltexperten gegen Atomstrom sind”, während er Jaitapur ökologische Unbedenklichkeit bescheinigte. In Jaitapur richtet die französische EDF derzeit das größte Atomkraftgelände der Welt ein.

Die Kommunen widersetzen sich falschen Lösungen Die BewohnerInnen des Narmadatals verstehen die Wahrheit solcher falschen Positionen schon fast intuitiv. Sie sitzen auf der Empfängerseite des verzerrten Diskurses über Entwicklung und Klimawandel. Der geplante Reaktor wird die unmittelbare Umsiedelung hunderter Familien in Chutka, Tatighat and Kunda zur Folge haben, deren Land den Zwangskäufen für das Projekt zum Opfer fällt. Ironischerweise ist das ihre zweite Vertreibung: Sie waren in den 1980ern schon einmal aus ihren Dörfern geflohen, als der Bargi-Staudamm im Narmadatal gebaut wurde. Die landwirtschaftlichen Kommunen von 162 Dörfern, die größtenteils zum Gond-Adivasi-Stamm gehören, wurden mit Frauen, Kindern und alten Leuten der Misere ausgeliefert. Bis heute kämpfen sie um eine angemessene Wiedergutmachung und um ihre Landrechte. Sie waren außer sich, als sie 2010 die offizielle Nachricht vom Beginn des Atomprojekts erhielten.

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ür die indische Landbevölkerung ist der Klimawandel ein Gerechtigkeitsthema, besonders für die in den Wäldern lebenden Adivasi. Ressourcenverbrauch und Vertreibung vernichten nicht nur ihre Lebensgrundlagen, sondern auch ihre Kultur und traditionelle Fertigkeiten, die an die empfindlichen natürlichen Lebensräume


Die Umwelt durch ein Projekt schützen zu wollen, das tausende dieser Familien zerstört, ist ein grausamer Witz. Genau so reagierten die Menschen in Chutka, als die Regierung öffentliche Anhörungen organisierte, die gesetzlich zur Umweltverträglichkeitsprüfung (EIA) vorgeschrieben sind. Tausende Menschen versammelten sich, um sich den EIA-Anhörungen zu widersetzen, die wegen intensiver Graswurzelarbeit zweimal abgesagt werden mussten. Schließlich wurden die Anhörungen 2014 unter starker, bewaffneter Polizeipräsenz durchgeführt. Das Einverständnis derjenigen Menschen, die angeblich von dem Projekt profitieren sollen, wurde mit Waffengewalt erzwungen. Es geht nicht nur um direkte Vertreibung von Menschen, die umliegenden Kommunen sind auch dadurch betroffen, dass sie sich im nahen Wald und Wasser nicht mehr frei bewegen können – da rund um das AKW ein massives Sicherungssystem entstehen wird, sobald dieses Form annimmt.

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it dem sich ändernden Klima werden AKW-Standorte wie Chutka auch einen verschärften Kampf um Wasser erleben. Das Wasser im Narmada hat in den letzten Jahren dramatisch abgenommen, und wird im Laufe der Zeit auch am Bargidamm knapp werden. Der Staudamm war ein Versprechen an die lokalen Bauern, die Bewässerung ihrer Felder zu sichern. Die Behörden haben klammheimlich Änderungen gemacht und zugelassen, dass private Industrien wie Heizkraftwerke und Zementfabriken das kostbare Nass aufsaugen. Die rapide Versandung des Damms, mit der die Behörden während des Baus nicht gerechnet hatten, wird die Wasserknapp-

heit verschlimmern. Die Fertigstellung des AKW Chutka wird 12 bis 15 Jahre dauern, wenn man nach der langwierigen Planungszeit anderer Atomprojekte in Indien geht, die dann im Durchschnitt 60 Jahre laufen. Der Bargi-Staudamm, der 1990 in Auftrag gegeben wurde, wird im Niedergang sein, wenn der Wasserverbrauch der Reaktoren, der lokalen Industrien und der Millionen von Menschen u. a. im nahen Jabalpur seinen Höhepunkt erreicht. Lokale AktivistInnen und unabhängige ExpertInnen haben von der Regierung eine umfassende und langfristige Prüfung der Klimafolgen vor dem Baubeginn gefordert. Nicht nur in Chutka, auch von anderen vorhandenen und vorgesehenen AKWs gibt es Ähnliches zu berichten. Deshalb erfuhr die Kampagne „Don‘t nuke the Climate” bei ihrem Start eine gute Resonanz – von Graswurzelgruppen und aus der Zivilgesellschaft. Ich wurde für die Vorsondierungen zu COP23 auf nationaler Ebene nach NeuDelhi eingeladen, um über Atomenergie als falsche Lösung für Indien zu sprechen. Auch bei den Kommunen in Fatehabad – vor Delhis Haustür gelegen – kam die Kampagne gut an. Dort plant die indische Regierung vier Reaktoren, die vom schwankenden Wasserhaushalt eines jahreszeitlich sehr variierenden Kanals abhängig sein sollen. SchülerInnen und Organisatoren der lokalen Gemeinschaften nahmen aktiv an der Kampagne teil. Es wurden Workshops und Treffen an den Unis und in Zusammenarbeit mit Umweltund MenschenrechtsaktivistInnen in verschiedenen Städten durchgeführt – auch in Jabalpur und Dehradun. Die Dorfbevölkerung im Bundesstaat Andhra Pradesh an 27

der indischen Ostküste hat sich auch enthusiastisch beteiligt. Westinghouse-Toshiba bekam dort Lizenzen zum Bau von vier riesigen Reaktoren in Kovvada.

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ie hohl die schrille Klimawandelrhetorik der Regierung von Narendra Modi ist, zeigt sich unter anderem daran, dass das Umweltministerium bei dubiosen Projekten mit im Bunde ist, die einen wahren Krieg gegen die Umwelt darstellen. Während der indische Pavillon beim COP23 „Yoga als Lösung für den Klimawandel” bewarb, waren in seinen protzigen Displays zu den indischen Klimamaßnahmen auch Bilder des AKW Kudankulam zu sehen. Ironischerweise hat es für Block 1 und 2 dieses AKWs nie eine Umweltverträglichkeitsprüfung gegeben. Nach dem Super-GAU von Fukushima, als Umweltgruppen dies bei den Verhandlungen vor dem obersten Gericht thematisierten, sagte der Staatsanwalt, eine EIA sei nicht notwendig, da das AKW in den 1980ern geplant worden sei, als es noch keine Umweltverordnungen gab. Der Klimawandel ist eine Demokratie- und Gerechtigkeitsfrage für die indischen Kommunen vor Ort. In jüngster Vergangenheit war der Wahlboykott der Dorfbevölkerung in Chutka ein klares Signal, wie realitätsfremd die Behauptungen von der umweltfreundlichen Atomenergie sind.

Kumar Sundaram ist Redakteur von DiaNuke und war ICANCampaigner in Südostasien. Mehr Infos unter: www. dianuke.org

Foto: Kumar Sundaram

gebunden sind. Der Schutz der Stammesrechte ist zentral, wenn es darum geht, die Umwelt zu bewahren, da die Adivasi Wald und Umwelt durch ihre nachhaltige Lebensweise seit Jahrhunderten bewahren.


DON´T NUKE THE CLIMATE

Atomenergie: Kontroverse in der Türkei Ein Interview mit Pinar Demircan von Nükleersiz.org

Dabei scheint eine stärkere Unabhängigkeit von fremden Ressourcen für die türkische Regierung eine wichtige Rolle zu spielen... Die Türkei ist derzeit zu etwa 76% von Energieimporten abhängig. Die Atomenergie wird demgegenüber als „lokal und national“ beworben. Es ist allerdings schwierig, „lokale und nationale“ Energie aus importierter Infrastruktur und importierten Brennstoffen zu gewinnen, da die Türkei selbst weder über Uranvorkommen noch über das für einen AKW-Betrieb nötige technische Knowhow verfügt. Im Fall des AKW Akkuyu ist zum Beispiel geplant, dass die Türkei Rosatom den Strom in den kommenden 15 Jahren zum Festpreis von 12,35 Dollarcent pro kWh abnimmt. Wir wissen, dass er Preis des Atomstroms aus diesen beiden AKWs erheblich über dem derzeitigen Marktpreis liegen wird. So etwa lag der Strompreis, der letzten August bei einem Windenergieprojekt (YEKA) veranschlagt wurde, bei nur 3,48 Dollarcent pro kWh.

Frau Demircan, die Türkei ist ein Land, das sich entwickelt und einen steigenden Energiebedarf verzeichnet. Wie plant die türkische Regierung, diesen zu decken? Wissenschaftliche Prognosen sagen, dass sich der Energiebedarf in der Türkei bis zum Jahr 2023 gegenüber dem Stand von 2011 verdoppeln wird. Die türkische Regierung hat angekündigt, diesen mit fossilen Energien (Kohle, Öl, Gas) sowie Atomstrom und Wasserkraft abzudecken. Es gibt auch Pläne, den Anteil der Erneuerbaren bis 2023 auf 30% des Gesamtenergieverbrauchs zu steigern, was etwa 10% der Gesamtstromproduktion entspricht. In der Türkei gibt es bis jetzt kein AKW, trotzdem plant die Regierung drei solcher Projekte in Akkuyu, Sinop und Igneada. Können Sie uns etwas darüber erzählen? Akkuyu ist das erste türkische AKW, das die Bauphase erreicht und das in Kooperation mit Russland bzw. dem staatlichen Konzern Rosatom entstehen soll. Die Türkei hat außerdem ein bilaterales Abkommen mit Japan für ein zweites AKW in Sinop, das auf einer grünen Halbinsel im Schwarzen Meer liegt. 2016 kündigte die Regierung dann ein drittes Projekt an, das in Kooperation mit dem chinesischen AKW-Bauer CNG entstehen könnte: ein AKW in Igneada. Die Region Igneada an der bulgarischen Grenze, 220 Kilometer von Istanbul entfernt, ist berühmt für ihre Regenwälder.

Was ist hinsichtlich der Entsorgung von Atommüll vorgesehen? Bis jetzt ist unklar, was insbesondere mit abgebrannten Brennstäben und hochradioaktiven Abfällen geschehen soll. In dieser Hinsicht bestehen vor allem Bedenken wegen der hohen Erdbebengefahr überall in der Türkei, die eine sichere unterirdische Lagerung im Prinzip unmöglich macht. Eine Lagerung im Ausland ist auch problematisch. Bei einer Expertenanhörung zum AKW Akkuyu etwa hat der Betreiberkonzern Rosatom schon klargestellt, dass es in Russland nach §12 der russischen Verfassung nicht möglich ist, Atommüll aus dem Ausland endzulagern.

Die Vorarbeiten zum Bau von Akkuyu haben laut Rosatom im Dezember 2017 unter einer eingeschränkten Baugenehmigung begonnen. Institutionen der Zivilgesellschaft machen sich Sorgen um die Umwelt. Das Projekt entsteht an einem abgelegenen Stück der türkischen Mittelmeerküste. KritikerInnen sagen, der Umweltschutz spiele eine zu geringe Rolle. Dabei sind die Feuchtgebiete am Göksu besonders betroffen – ebenso vom Aussterben im Mittelmeer bedrohte Spezies wie die Mönchsrobbe oder die Unechte Karettschildkröte. Weiterhin gibt es Sorgen, wie sich eine Erhöhung der Temperatur um zwei Grad Celsius auf die umgebenden Gewässern auswirken würde, ausgelöst durch die Einleitung des Kühlwassers. Auch geographische Bedenken spielen eine große Rolle: Die Türkei liegt in einer aktiven Erdbebenzone und an ihren Küsten besteht erhöhtes Tsunamirisiko.

Sie waren kürzlich in Sinop. Warum ist der Protest der Bevölkerung in dieser Region so stark? Ein großer Teil des Ärgers richtet sich gegen Japan, das für den Super-GAU von Fukushima verantwortlich ist und seine eignene AKWs schließen musste. In der Region Sinop gibt es – wie überall in der Türkei – schon lange eine starke Anti-Atom-Bewegung. Die Schwarzmeerregion war stark vom Fallout des AKW Tschernobyl betroffen. Man sagt, dass in jeder Familie ein Mensch von Krebs betroffen oder an Krebs gestorben ist. Es wird befürchtet, dass das öffentliche Leben der Stadt Sinop dem Atomprojekt geopfert wird. Parlamentarier, Bürgermeister, Rechtsanwälte und Umweltorganisationen haben sich zur Anti-Atom-Plattform Sinop zusammengeschlossen. 28


Fotos: © Orla Connolly

Können Sie uns sagen, wie die Haltung der Türkei zu den internationalen Klimakonferenzen ist? Was die globale Erwärmung betrifft, haben die türkischen Treibhausgas-Emissionen im Jahr 2010 401,9 Millionen Tonnen erreicht – eine Erhöhung von 115% gegenüber 1990. Diese Erhöhung ist zu 71% auf die Energieproduktion zurückzuführen. Die Türkei hatte die Klimavereinbarungen 2009 unterzeichnet, seitdem aber wenig unternommen, sie umzusetzen. Bei der Unterzeichnung des Abkommens von Paris hat sie Atomenergie auch als Erneuerbare Energie mit eingeführt, um die Erderwärmung auf 2% zu begrenzen.

Der Bau des AKW Sinop verzögert sich, trotzdem haben Anfang Februar 2018 erste Anhörungen zur Umweltverträglichkeit stattgefunden. Unter welchen Bedingungen? Was die Bauplanung von Sinop betrifft, gibt es jetzt schon eine zweijährige Verzögerung. Die geplanten Kosten belaufen sich für Akkuyu und Sinop schon jetzt auf je 20 Milliarden Dollar – durch die Verzögerung sind Kostenerhöhungen zu erwarten. Die Anhörung zur Umweltverträglichkeitsanalyse, die am 6. Februar 2018 stattfand, wurde durch die Behörden erst am 12. Januar angekündigt. Die Anti-Atom-Plattform Sinop erhielt nie eine Antwort auf ihren Antrag, sich an dieser Anhörung zu beteiligen. Institutionen der Zivilgesellschaft wurden durch die Behörden ausgeschlossen und teilweise daran gehindert, den Ort der Anhörung zu erreichen. Parlamentarier und Rechtsanwälte der Plattform protestierten am Tag der Anhörung gegen das Vorgehen des Gouvernements und hielten eine spontane Demonstration ab, ich war auch dabei.

Warum hat sich die Türkei vorläufig vom Klimaprozess abgewendet? Die türkische Regierung hat dem Parlament das Abkommen von Paris nicht zur Ratifizierung vorgelegt, sondern stattdessen weiter in Kohleheizkraftwerke investiert. Im November 2017 wandte sich die Türkei ganz vom Pariser Abkommen ab. Von ihr wird erwartet, dass sie Treibhausgase reduziert. Gleichzeitig fordert sie, als Entwicklungsland finanzielle Unterstützung dabei zu erhalten. Die türkische Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, 60 weitere Kohlekraftwerke zu bauen.

Was für andere Optionen gäbe es neben der Atomenergie? Das ist keine einfache Frage, aber unter anderem hätte die Türkei Möglichkeiten, Energie zu sparen. Insgesamt gibt es Elektrizitätsverluste von geschätzten 30%, unter anderem bei der Stromerzeugung. Es geht auch dadurch viel Energie verloren, dass es in der Türkei keine Zeitumstellung mehr gibt und dauerhaft die Sommerzeit gilt. Bis jetzt hat man sich aber kaum darum gekümmert, Verlusten vorzubeugen oder zu sparen, sondern plant stattdessen, mit den zwei geplanten AKWs Akkuyu und Sinop 15% des zukünftigen Energiebedarfs zu decken.

Angesichts des Klimawandels, der zur Zeit alle wichtigen Entscheidungen berührt, ist es schwer zu verstehen, dass die politische Führung Firmen fördert und unterstützt, die eine umweltschädliche Energiegewinnung betreiben und zu einer Verschlechterung der Lage beitragen. Die Welt benötigt dringend eine Kursänderung. Es ist höchste Zeit, dass wir als ein Land, das reich an Sonne und Wind ist, diese Quellen nutzen und weltweit als Beispiel dienen.

Das Potential von erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne ist sehr hoch. Die Leistung der installierten Solarkraft in der Türkei betrug Ende 2016 nach Regierungsangaben 832 MW – das ist nur ein Bruchteil der tatsächlichen Kapazitäten. Ein positives Beispiel ist die weit verbreitete Verwendung von Thermalwasser in der Türkei: Im Süden des Landes können Sie fast auf allen Hausdächern solarbetriebene Warmwasserbereiter sehen. Da die Türkei auch reich an Wind ist, beträgt die Windkapazität geschätzte 48.000 MW, installiert waren Ende 2016 laut türkischer Regierung 5.751 MW.

Hintergrundartikel zu Atomprojekten in der Türkei: ippnw.de/bit/atom-tuerkei

Pinar Demircan ist Koordinatorin von Nükleersiz.org und Atomenergie-Autorin bei der Yesil Gazete. 29


WELT

„Ich habe Politik auf dem Schoß meines Vaters gelernt.“ Der neue IPPNW-Programmdirektor Charles Johnson stellt sich vor

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ereits im Alter von sieben Jahren forderte Charles Johnson in einem Brief an den Präsidenten John F. Kennedy die Gleichberechtigung der Schwarzen in den USA. Seine Mutter hatte ihn dazu ermutigt, nachdem ihn Martin Luther Kings Rede „I have a dream“ tief bewegt hatte. Seit Januar 2018 setzt sich Charles für unseren Traum bei der IPPNW ein, als Nachfolger von John Loretz in der Geschäftsstelle der internationalen IPPNW. Loretz verabschiedet sich nach über 20 Jahren als Programmdirektor in den Ruhestand. Charles bringt einen lebenslangen Erfahrungsschatz in der NGO-Arbeit mit und ist als Sohn eines Beraters des demokratischen Gouverneurs von Oregon seit Kindertagen mit dem politischen System der USA vertraut. „Mit elf Jahren sammelte ich Unterschriften für die Wahrung des freien, öffentlichen Zugangs zu unseren Stränden“, erinnert er sich. Zur Zeit des Vietnamkrieges engagierte er sich – damals war er ein Schüler – schon in der Friedensbewegung. Auch das Studium der Politikwissenschaften gab ihm ausreichend Zeit, das Leben eines Aktivisten zu führen. Einen Teil seiner Karriere widmete er dem Einsatz für Politiker der Demokratischen Partei – doch immer wieder kehrte er zu seinem Engagement für Umwelt-, Friedens- und Abrüstungsgruppen zurück.

Eines der Themen, das sich durch seine Arbeit zieht, ist die Ablehnung der Atomenergie. Nach dem Reaktorunfall im AKW Three Mile Island half er 1980 bei der Organisation einer Kampagne zur Verhinderung des Baus neuer Kraftwerke in Oregon. Von 1990 bis 1996 war er Geschäftsführer von „Nuclear Free America“, setzte sich auf internationaler Ebene für die „International Nuclear Free Zone Local Authorities“ ein und unterstützte amerikanisch-indigene Umweltorganisationen beim Kampf gegen die Lagerung des Kernbrennstoffes in ihren Stammesterritorien.

dafür. Sicherzustellen, dass dieser Vertrag in Kraft tritt, indem wir helfen, genug Unterschriften für seine Ratifizierung zu sammeln, wird unsere oberste Priorität sein.“

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Viele IPPNW-Mitglieder konnten Charles auf dem Weltkongress in York kennenlernen. Er ist eine erfahrene Persönlichkeit mit einem ruhigen Charakter. Derzeit ist er 62 Jahre alt und hat vor, sich bis zu seinem Ruhestand mit 70 Jahren für die IPPNW einzusetzen. Er hat einen 36 Jahre alten Sohn namens Mackintosh und eine wundervolle Lebenspartnerin, Rebecca Robinson. Charles ist viel gereist; seine Lieblingsstadt außerhalb der Vereinigten Staaten ist das deutsche Bremen.

on 1987 bis 1990 arbeitete er als Regionalkoordinator für die Ärzte in Sozialer Verantwortung der USA (PSR) und unterstützt sie seit 2012 in der Oregonund Washingtongruppe bei ihrer Kampagne für eine atomkraftfreie Zone im Nordwesten des Landes. Charles hat eng zusammengearbeitet mit den IPPNW-Geschäftsführern Michael Christ und John Loretz und hat den IPPNW-Weltkongress in Montreal als Mitglied der PSR besucht. Befragt, was ihn in seiner neuen Rolle erwarte, antwortete er: „Die Arbeit mit Ärzten ähnelt manchmal der mit Politikern, beide können einen starken Charakter haben – das ist mir nicht neu. IPPNWMitglieder haben ein ungemeines Wissen und genießen ein hohes Ansehen in der Gesellschaft.“ Außerdem freue er sich auf seinen neuen Posten: „Angesichts des Fortschritts beim Atomwaffenverbotsvertrag ist es sehr spannend, jetzt Teil der IPPNW zu werden und ich bin dankbar 30

A

uf die Nachfrage, was er tue, um nicht zynisch zu werden, sagte er: „Ich sehe uns nur als kleine Partikel in einem gigantischen Universum. Und das wird sowieso weiterexistieren. Das nimmt den Druck etwas weg, obwohl ich natürlich davon überzeugt bin, dass wir tun müssen, was wir können, um das Leben auf der Erde zu bewahren.“

Lars Pohlmeier ist IPPNWMitglied.


AKTION

FRANKFURT

OSLO

Ein großer Tag Der Friedensnobelpreis wurde würdig gefeiert

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PPNW- und ICAN-Gruppen feierten in ganz Deutschland den Friedensnobelpreis. Eine Gruppe von deutschen IPPNW-Mitgliedern war nach Oslo gefahren, am 10. Dezember 2017 die Nobelpreisverleihung und das anschließende Konzert vor Ort mitzuerleben. Hierzulande bestand die Möglichkeit, per Live-Übertragung dabeizusein. In München stießen Friedensbewegte mit Glühwein auf dem Opernplatz, an, wo sie sich zur Kundgebung zusammengefunden hatten. Die Bürgermeister für den Frieden gratulierten vielerorts, hissten die Friedensflaggen oder luden ICAN- und IPPNW-Mittglieder zu Veranstaltungen ein. Oben links: Prof. Ulrich Gottstein (IPPNW) und Sascha Hach (ICAN) trugen sich bei Oberbürgermeister Peter Feldmann ins Goldene Buch der Stadt Frankfurt ein. Mehr zum Thema im Forum intern S. 10 und S. 15

MÜNCHEN

OSLO 31


G ELESEN

Evakuierte Heimat

Der Kern der Dinge

Ein stiller Film mit nur wenigen, spärlichen Erklärungen. Die Menschen und die Bilder der Landschaft sprechen ganz für sich.

Dieses kleine Buch über die nukleare Kette ist für Jugendliche und Erwachsene geschrieben.

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W

n ihrem Vorwort wünschen sich der Kinderarzt Winfried Eisenberg und der Physiker Sebastian Pflugbeil, dass auch Eltern und Großeltern die in jedem Kapitel erzählten Geschichten lesen. Die komplizierten Zusammenhänge rund um die Atomenergie lassen sich nur schwerlich in jugendgerechter Sprache – häufig Frage und Antwort – darstellen.

arum leben Menschen in einer Gegend, von der sie wissen, dass von ihr eine tödliche Gefahr ausgeht? Dieser Frage spürt Thorsten Trimpop in seiner auf dem DOK Filmfestival Leipzig mit der Goldenen Taube prämierten Doku „Furusato – Wunde Heimat“ nach. Der Zuschauer wird zum Beobachter, er bekommt Zeit, den eigenen Empfindungen nachzuspüren. Er wird mitgenommen in die Alltäglichkeit der radioaktiven Bedrohung.

Zu Beginn kommt Emmy mit einem Buch von Walt Disney, „Unser Freund, das Atom“ mit vielen Fragen zu „Doktor Eisenberg“, der ihr den Zerfall des Urans, die krankmachende radioaktive Strahlung, ihre Wirkung in der Zelle u.v.m. erklärt. Traurig überlegt Emmy, wie das schöne Märchen aus dem Buch in Wirklichkeit endet.

Die Stadt Minamisoma in der Präfektur Fukushima ist eine geteilte Stadt. Ein Teil liegt in der evakuierten 20-Kilometer-Sperrzone um die havarierten Reaktoren, im übrigen Teil gilt die Stadt trotz viel zu hoher Strahlenwerte weiterhin als bewohnbar. Dort leben noch immer knapp 57.000 Menschen.

Ein kleines „Vögelchen“ fliegt mit ihr in die Welt und gemeinsam besuchen sie sieben Orte, wo Emmy Kinder und deren Familien trifft, und erfährt, wie die Menschen mit den jeweiligen radioaktiven Verseuchungen leben.

Verlassene Geschäfte, gespenstisch im Detail, umgeben von einer idyllischen Landschaft – und dann der verstörende Kontrast: Dekontaminierungsarbeiter im Schutzanzug neben einfachen SpaziergängerInnen, und immer wieder die Dosimeteranzeige der aktuellen Strahlungswerte.

In Arlit im Niger wird der Uranbergbau beleuchtet, die Tailings, die Abraumhalden und das Leben einer Tuareg-Großfamilie. In der Elbmarsch geht es um „radioaktive Kügelchen“, deren Herkunft nie wirklich aufgeklärt wurde. Die Katastrophe von Tschernobyl wird in Weißrussland im Gespräch mit einer umgesiedelten Mutter und ihrer Tochter erfahrbar gemacht und endet beim Besuch der Großmutter, die in einem verstrahlten Dorf wohnen geblieben ist.

Der Kontrast schmerzt: hier die Kinder im Whole Body Counter, dort die Grundschüler beim alljährlichen Staffellauf auf verstrahlten Wegen. Die Eltern werden beruhigt, der Aufklärung fordernde Aktivist wird von der Polizei abgedrängt. Alltag findet weiter statt, trotz der Bedrohung. Man ahnt den dahinterliegenden Verdrängungsprozess. Strahlung ist unsichtbar.

In Japan geht es um das Alltagsleben in nicht evakuierten, verstrahlten Gebieten der Region Fukushima. Sehr berührend ist der Besuch im Irak – in einem Krankenhaus in Basra, wo Kinder an den häufig tödlichen Folgen der im Krieg eingesetzten Uranmunition behandelt werden. In dem Kapitel über Sellafield, ‚eine atomare Albtraum-Stadt’, wie es in der Überschrift heißt, werden Umweltthemen angesprochen und die Wiederaufbereitung. Das letzte Kapitel handelt von der „Endlagerung“. Am Beispiel Asse wird anschaulich vermittelt, dass es für Jahrmillionen keine sichere Lagerung gibt. Eine Projektgruppe trifft sich in der Schule.

Der Film bringt uns den Heimatbegriff in der japanischen Kultur näher: Der kollektive, religiös an den Ahnen ausgerichtete, generativ-familiäre Bezug ist eines der Motive, sich der eigenen Gesundheitsgefährdung auszusetzen – um den Preis ausgeprägter innerer Zerrissenheit. Die Menschen vor Ort sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Wir sollten ihr Schicksal als Mahnung verstehen. Der weltweite Ausstieg aus der Atomenergie ist ein Gebot der Stunde.

Am Ende ermuntert Doktor Eisenberg Emmy, Kernphysik zu studieren, um die ungelösten Probleme, die uns die Nutzung der Atomkraft beschert hat, zu lösen.

Furusato – Wunde Heimat, Regie: Thorsten Trimpop, Dokumentarfilm, D 2015, 94 Minuten. In den Kinos ab 8. März 2018, Verleih über „im-Film“, Kontakt: Inka Milke, inka.milke@im-film.de

Sybille Tetsch: Emmy und der Kern der Dinge. Selbstverlag 2017, 156 S., 14,80 €, bestellbar über die Autorin unter: www.buchrabensalat.de Dörte Siedentopf

Jörg Schmid 32


GEDRUCKT

TERMINE

Neue Publikationen

MÄRZ 10.3. Kazaguruma-Demo zum Jahrestag von Fukushima, Berlin

Für Ostermarsch und Büchertisch

13.3. Feindbild Russland, Vortrag von Dr. Rainer Rothfuß, Eggenfelden

IPPNW-Infoflyer „Rezepte fürs Überleben“. Ein kurzer Überblick über die Themen und Aktivitäten der IPPNW. Dieser Flyer richtet sich an alle Interessierten – essentiell für den Infotisch. DIN lang 4farbig, aktualisierte Auflage 2018, Versand gegen Portokosten

30.3.-2.4. Ostermärsche 20.-21.3. Kongress „Armut & Gesundheit“, Berlin

Infoflyer: „Frieden geht“: informiert über den bundesweiten Staffellauf für eine friedliche Welt vom 21. Mai bis 2. Juni 2018. Es gibt einen Überblick über den Streckenverlauf und Möglichkeiten, sich zu beteiligen. DIN lang 4farbig, Versand gegen Portokosten

26.3.-9.8. Aktionspräsenz in Büchel

APRIL 10.4. Berlin sieben Jahre nach Fukushima. Vortrag und Kunstperformance von Mako Oshidori

ICAN-Broschüre „Atomwaffen ächten“: Diese Broschüre gibt einen Überblick, weshalb Atomwaffen international geächtet werden müssen und wie der UNVerbotsvertrag funktioniert. 12 Seiten DIN A5, aktualisierte Ausgabe 2018, Versand gegen Portokosten

MAI 8.5. Abgabe der Unterschriften zum Atomwaffenverbot 14.5.-16.6. UN High Level Conference on Nuclear Disarmament, New York 17.5. Vortrag „Lasst die Toten ihre Toten begraben.“ Die Kriege in Jugoslawien 1991-99 und ihre Folgen, Eggenfelden

Alle Infomaterialien können Sie in der IPPNW-Geschäftsstelle bestellen: kontakt@ippnw.de – 030 6980 740

GEPLANT

21.5.-2.6. Frieden geht! Staffellauf für eine friedliche Welt von Oberndorf nach Berlin www.frieden-geht.de

Das nächste Heft erscheint im Juni 2018. Das Schwerpunktthema ist:

JUNI

Frieden geht! – Abrüsten statt aufrüsten

9.6. Aktionen z. „Tag der Bundeswehr“

Der Redaktionsschluss für die Ausgabe 154/Juni 2018 ist der 30. April 2018. Das Forum lebt von Ihren Ideen und Beiträgen. Schreiben Sie uns: forum@ippnw.de

IMPRESSUM UND BILDNACHWEIS kel entsprechen nicht unbedingt der Meinung der

tung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-

Redaktion oder des Herausgebers. Nachdrucke

wortung e. V. (IPPNW) Sektion Deutschland

bedürfen der schriftlichen Genehmigung.

Redaktion: Sabine Farrouh (V.i.S.d.P.), Angelika

Redaktionsschluss

Wilmen, Regine Ratke

30. April 2018

Freie Mitarbeit: Jonathan Seel, Samantha Staudte

Gestaltungskonzept: www.buerobock.de, Layout:

Anschrift der Redaktion: IPPNWforum, Körte-

Samantha Staudte; Druck: DDL Druckereidienst-

straße 10, 10967 Berlin, Telefon: 030 / 69 80 740,

leistungen Berlin; Papier: Recystar Polar, Recyc-

das

nächste

Heft:

Fax 030 / 693 8166, E-Mail: ippnw@ippnw.de,

ling & FSC.

www.ippnw.de Bankverbindung: Bank für Sozial-

Bildnachweise: S. 6 li.: Felix König / CC BY-SA

wirtschaft, Kto-Nr. 2222 210, BLZ 10020500,

3.0; S. 6 Mi.: Türkischer Ärzteverband TTB; S. 7

IBAN

DE39 1002 0500 0002 2222 10,

re.: Eurofighter Typhoon der saudischen Airforce,

BIC BFSWDE33BER

Gordon Zammit/GNU Free

Das Forum erscheint viermal im Jahr. Der Be-

Documentation License

zugspreis für Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag

1.2; nicht gekennzeich-

enthalten. Sämtliche namentlich gezeichnete Arti-

nete: privat oder IPPNW. 33

6.8. & 9.8. Jahrestage der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki Informationen und Kontaktdaten: www.ippnw.de/aktiv-werden/termine

Herausgeber: Internationale Ärzte für die Verhü-

für

AUGUST

Vormerk en JUNI 15.-23.6.

!

Time to go. ICAN- und IPPNW-Woche in Büchel ippnw.de/bit/buechel


GEFRAGT

6 Fragen an … Foto: © Roland Horn

Prof. Claudia Kemfert DIW-Ökonomin und Präsidiumsmitglied der deutschen Gesellschaft des Club of Rome

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Frau Kemfert, welche Rolle soll die Atomkraft in zukünftigen Bemühungen um den internationalen Klimaschutz spielen? Sie ist einfach zu teuer und nicht wettbewerbsfähig. Vor allen Dingen werden die Kosten der Atomenergie generell massiv unterschätzt. Sowohl beim Bau als auch beim Rückbau und der Endlagerung entstehen erhebliche Kosten durch die Atomenergie. Gleichzeitig werden in vielen Studien die Kosten der erneuerbaren Energien überschätzt. Gerade im Bereich der erneuerbaren Energien gibt es eine erhebliche Kostendegression, und wenn man das beides gegeneinander rechnet, gibt es gar keine andere Antwort: Die erneuerbaren Energien sind die Zukunft und die Atomenergie ist die Vergangenheit.

Was unterscheidet das Modell GENeSYSMOD, mit dem Sie gerechnet haben, von anderen Rechenmodellen? Wir nutzen ein ganz ähnliches Modell wie alle anderen auch. Das ist ein Standard-Energiesystemmodell, das alle Weltregionen umfasst. Die wesentlichen Unterschiede liegen darin, dass wir realistische Kosten für die Atomenergie annehmen und auch realistische Annahmen für die erneuerbaren Energien und die zukünftig eingesetzten Speichertechnologien einsetzen. Diese Kosten sinken massiv, und das spiegelt sich auch in unseren Modellrechnungen wider.

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Auf welchen fossilen Energieträger werden wir noch am längsten angewiesen sein? Aller Voraussicht nach werden das am ehesten Erdgas und Kohle sein, allerdings mit abnehmender Tendenz. Es geht darum, dass wir, um das Pariser Klimaziel zu erreichen, den größten Teil der fossilen Energieträger im Boden belassen müssen. Für einen begrenzten Zeitraum werden wir noch Kohle und auch Erdgas verfeuern, aber all das wird im Zeitverlauf abnehmen.

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Das Pariser Klimaschutzziel kann also auch ohne Atomkraft erreicht werden? Ganz genau. Das Pariser Klimaziel und die Begrenzung der Erderwärmung auf zwei Grad kann ohne Atomenergie erreicht werden, insbesondere durch den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir haben ein massives Klimaproblem und das CO2-Budget ist sehr begrenzt. Wenn man das sehr ernst nimmt und auch umsetzen will, dann muss man zukunftsweisende Technologien ausbauen, und da gehört die Atomenergie nicht dazu.

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Auf welche Energieformen beziehungsweise welchen Energiemix wird es langfristig hinauslaufen, wenn wir die ZweiGrad-Grenze dauerhaft nicht überschreiten wollen? Es wird langfristig auf die erneuerbaren Energien hinauslaufen, und da sind alle gefragt: die Wasserkraft, die Geothermie, die Solarenergie und die Biomasse genauso wie die Windenergie. All diese Technologien werden zusammen als Teamplayer in allen Regionen der Welt im Einsatz sein, und auch die Speichertechnologien werden immer preiswerter werden. Das ist die Zukunft der Energieversorgung.

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Gilt das auch für große energiehungrige Schwellenländer, wie China und Indien? Gerade in diesen beiden Ländern gibt es erhebliche Potentiale durch die erneuerbaren Energien, und diese sollte man dort auch nutzen. Die erneuerbaren Energien sind kosteneffizient, sie sind relativ preiswert, und sie sind vor allem dezentral und partizipativ. Das alles ist gerade auch in Ländern wie China und Indien von Vorteil. Obwohl sie stark wachsen, können sie auch ihren Energiehunger mit erneuerbaren Energien decken. Die Atomenergie ist einfach wahnsinnig teuer. Man darf aber nicht vergessen: Wenn sie sich in diesen Ländern durchsetzt, geht es hier in erster Linie um Macht und auch um Atomwaffen. Auch das muss man thematisieren.

Prof. Dr. Claudia Kemfert leitet die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Das Gespräch führte Erich Wittenberg. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des DIW Berlin. Quelle: diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.570196.de/17-47-2.pdf 34


Begegnungsfahrt Palästina / Israel

Bei dieser sechsten Begegnungsreise lernen wir das Leben der Palästinenser/innen in der Westbank und in Jerusalem kennen, ihre Hoffnungen und ihre Probleme. Wir informieren uns über die Folgen der israelischen Besiedlungs- und Besatzungspolitik mit Mauern, Zäunen und Kontrollpunkten. Wir werden in Bethlehem als Gäste in Familien wohnen und so den Alltag der Menschen unmittelbar erleben. Wir treffen Friedens- und Menschenrechtsgruppen aus Israel und Palästina, die uns ihre Sicht der Situation erläutern.

Anmeldeschluss: 15. Juni 2018 Information / Anmeldung Dr. Sabine Farrouh farrouhs@gmx.de Tel.: 069 845303 IPPNW – Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V., Körtestraße 10, 10967 Berlin

©istock/mtcurado

23.9.–5.10.2018

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Ein Aufschrei gegen das Vergessen Eine Mahnung für die Welt

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Mit einem Vorwort von Xanthe Hall, Mitbegründerin von ICAN Deutschland und Geschäftsleiterin von IPPNW Deutschland

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Eine neue Ausgabe der Zeitung abrüsten erscheint am 15. März!

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Bestellen könnt ihr sie per E-Mail an info@abruesten.jetzt oder über unsere Webseite: www.abruesten.jetzt

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4.-6. Mai 2018 Mitgliederversammlung & Jahrestreffen fffen in Köln Freitag, 4. Mai

Sonntag, 6. Mai

18.30 Uhr Klönen bei Kölsch und „Halvem Hahn“ (Kölsch für Roggenbrötchen mit Käse) – Markt der Aktionsmöglichkeiten

11.30 Uhr Drei parallele Arbeitsgruppen und Training „Gewaltfreie Kommunikation“ (Anmeldung erforderlich)

20.00 Uhr Öffentliche Veranstaltung: Klima, Umwelt und Gesundheit. Als MedizinerInnen global denken und lokal handeln, mit Andreas Huber, Geschäftsführer der Dt. Gesellschaft Club of Rome

13.00 Uhr Mittagspause

Samstag, 5. Mai ab 8.30 Uhr Anmeldung 10.00 Uhr Vortrag mit anschließender Diskussion: Rassismus und Postkolonialismus, mit Lorenz Narku Laing, Diversity-Trainer und Berater für Antidiskriminierung 11.00 Uhr Kaffeepause

ab 14.00 Uhr IPPNW-Mitgliederversammlung Vorgeschlagene Tagesordnung Berichte: Gemeinsamer Bericht von Vorstand, Geschäftsstelle und Studierenden der Schatzmeisterin Stellungnahme der Revisorinnen der International Councillor

15.30 Uhr Kaffeepause 16.00 Uhr

ab 20.00 Uhr Abendessen und Feier des Friedensnobelpreises an ICAN

9.00 Uhr Fishbowl-Diskussion: Das politische und wissenschaftliche Selbstverständnis der IPPNW 12.00 Uhr Öffentliche Aktion auf der Kölner Domplatte: Macht Frieden – Zivile Lösungen für Syrien

Ort: Karl-Rahner-Akademie Jabachstraße 4-8 50676 Köln Anmeldung & aktuelles Programm: ippnw.de/bit/mv


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