Medizin und Gewissen: Reden für eine menschlichere Welt

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Horst-Eberhard Richter

Medizin und Gewissen Reden für eine menschlichere Welt

Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.



Horst-Eberhard Richter

Medizin und Gewissen Reden für eine menschlichere Welt

Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.


INHALT

5 Vorwort Stephan Kolb

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»Mit Dir wird bestimmt jeder Tag ein Abenteuer« Bergrun Richter

11 Psychosoziale Medizin und Prävention von Militarisierungsbereitschaft Rede auf dem 1 »Medizinischen Kongress zur Verhütung des Atomkrieges«, Hamburg, 19./20. September 1981

25 Erinnerungsarbeit und Zukunftserwartung der Deutschen Rede auf der am 20.1.1992 vom Berliner Senat ausgerichteten Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Wannsee-Konferenz

39 Medizin und Gewissen Eröffnungsvortrag zum gleichnahmigen IPPNW-Kongress 50 Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen, Nürnberg 25.10.1996

55 Ist eine andere Welt möglich? Psychoanalyse und Politik Universität Frankfurt, Aula, 3.12.02

69 Atomgefahr und Menschlichkeit SGI-D, Urania, Berlin, 14.10.2011

79 Brief an die Urenkel Gießen, 22.8.2011


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Vorwort Horst-Eberhard Richter hat in Deutschland mehrere Generationen beeinflusst. Er hat Einzelne inspiriert, Gruppen bestärkt oder ganze Be­­ wegungen geprägt. Ein halbes Jahrhundert lang war Richter als Psy­ chiater und Psychoanalytiker, als viel gelesener Sozialphilosoph und Friedensdenker wichtig für die Diskurse unseres Landes und hat in vielen Debatten bleibende Spuren hinterlassen. Deshalb wundert es nicht, dass eine seiner Bewegungen, die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung (IPPNW), zu seinem 90. Geburtstag diese Sammlung vorlegt, die wieder viele Leserinnen und Lesern und Gleichgesinnte erreichen wird. Fünf Reden zwischen 1981 und 2011. Fünf Reden zu einem Lebens­ thema von Horst-Eberhard Richter: Medizin und Gewissen. Richter hat diesen Titel Mitte der 1990er Jahre für einen Kongress zu Fragen der Medizingeschichte, Medizinethik und Gesundheitspolitik vorgeschlagen – 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozess. Heute verbinden die beide Begriffe Medizin und Gewissen eine Reihe von Vorträgen und Texten, die inhaltlich weit über die Themen der Kongressreihe Medizin und Gewissen hinausgehen. Das Erlebnis des Krieges, das Überleben von Stalingrad sind für Richter die Beweggründe gewesen, sich zeit seines Lebens gegen den Krieg und für eine Kultur des Friedens einzusetzen. Gern zitierte er Willy Brandt: »Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.« In allen fünf Reden zeigt sich ein Grundmotiv Richters: das enge Verwobensein von ärztlicher und politischer Arbeit und Argumentation. Als Arzt hielt er der Gesellschaft den Spiegel vor. Gerade seine Rede auf dem 1. Medizinischen Kongress zur Verhütung des Atomkrieges 1981 in Hamburg zeugt davon. Ein Text übrigens, dessen Entstehung schon damals


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Vorwort

mit starkem Widerstand aus Teilen der Ärzteschaft verbunden war. Aber er drückt eben die eigentliche Stärke der IPPNW aus: ihre ärztliche Expertise. Den Abschluss seiner Beiträge in diesem Band bildet Horst-Eberhard Richter selbst. Seine Frau Bergrun und die Familie haben dafür ein sehr persönliches Dokument zur Verfügung gestellt, einen Brief an seine Urenkel, den er erst wenige Monate vor seinem Tod im Dezember 2011 geschrieben hat. Ein berührender Brief, der viele bedenkenswerte Botschaften an uns alle enthält. Das Werk von Horst Eberhard Richter ist sehr ungewöhnlich und umfangreich. Es wird daher nur eine Frage der Zeit sein, bis auch die wissenschaftliche Aufarbeitung und Analyse seiner Schriften beginnt bzw. intensiviert wird. Seine Frau Bergrun und die Familie haben sein Werk aus mehreren Jahrzehnten ärztlicher, wissenschaftlicher und friedenspolitischer Arbeit in weiser Voraussicht in die Obhut der Universität Gießen gegeben. Es dürfte daher anregend und spannend werden, welche Spurensuchen Horst Eberhard Richter selbst auslösen wird, etwa zu seiner Biografie und Motivation, seinem ärztlichen Selbstverständnis oder der Wirkung auf Einzelne, Gruppen und die Gesellschaft. Horst-Eberhard Richter hat viele von uns mit seinen Worten und seiner Sprache erreicht. Weniger laut und impulsiv, als konzentriert und nachdenklich. So auch über den Gräbern russischer Kriegsgefangener auf einem Friedhof in Stukenbrock, irgendwann 1986 nach einem Gedenkmarsch der IPPNW: Wir waren mit einer Gruppe junger Studierender aus Aachen angereist, Erstsemester, hatten kurz zuvor die IPPNW überhaupt kennengelernt. Jetzt standen wir in weißen Kitteln in großer Runde und lauschten zum ersten Mal den Worten des bekannten Analytikers. Unvergesslich sein Ton: versöhnlich, mahnend und voller Zuversicht. So angesteckt las ich kurz darauf »Die Chance des Gewissens«. Ich war begeistertet davon, wie es ihm und seiner Frau gelang, ihre therapeutischen, pädagogischen und politischen Interessen in konkreten Projekten zu


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verwirklichen, zum Beispiel im Berliner Wedding. Meine Reaktion darauf war klar: Dies war genau jenes ärztliche und politische Selbstverständnis, das mich ansprach und überzeugte. Dafür müsste es sich lohnen, Medizin zu studieren! Auch wenn mein eigener Werdegang anders verlief, haben mich die Visionen Richters nie losgelassen. Im Gegenteil. Sie wurden verstärkt durch die persönlichen Begegnungen mit Horst Eberhard in der IPPNW: bei Kongressen, auf Demonstrationen oder in kleiner Diskussionsrunde. Wir konnten uns an ihm orientieren, mit ihm streiten und gemeinsam Pläne schmieden. »Horst Eberhard Richter war einer der Großen in der Frie­ dens­ bewegung, doch er verhielt sich wie jemand, der ganz und gar zur Basis dieser sozialen Bewegung gehörte. Im Auftrag der Friedensbewegung wende ich mich nun noch einmal an ihn ... Lieber Horst, Du hast uns in Deinen Schriften und Überlegungen ein großes Erbe hinterlassen. Wir werden versuchen, dem gerecht zu werden. Wir hätten Dich auch gerne noch zu dem einen oder anderen befragt. Jetzt müssen wir selbst damit zurechtkommen. Doch Du hast uns dazu sehr ermutigt. Danke, Horst!« Ganz im Geiste Richters schließt der Bürgerrechtler Andreas Buro seine Erinnerungen an den Freund in der Gedenkveranstaltung im Januar 2012 zuversichtlich. Und in diesem Sinne kann auch die folgende Lektüre vor allem dies sein: Erinnerung an eine bedeutende Persönlichkeit und Ermutigung, ihr politisches Engagement fortzusetzen. Daran ist uns Freunden, Wegbegleitern, Initiativen und Organisationen gelegen, allen voran seiner Familie und seiner Frau Bergrun, der wir diese Sammlung verdanken. Wie kein anderer Mensch kennt sie aus über 60 Jahren Partnerschaft und Ehe sein und ihr bewegtes persönliches wie politisches Leben. Wir danken ihr dafür, dass sie die folgenden Texte mit einer eigenen Erinnerung einleitet. Stephan Kolb


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Mit dir wird bestimmt jeder Tag ein Abenteuer


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»Mit dir wird bestimmt jeder Tag ein Abenteuer«

Im Frühjahr 1946 gründete mein Vater, Professor der Philosophie und Pädagogik, von den Nazis drangsaliert und kaltgestellt, ein Symposion. In der teilzerstörten Wohnung meiner Eltern trafen wir uns regelmäßig interessierte junge Menschen, die gedemütigt, seelisch verletzt und vom Krieg gezeichnet waren. Diese Gesprächsrunde bot uns allen die Chance, Erfahrungen unter der Gewaltherrschaft Hitlers auszutauschen. Zu einem dieser Treffen kam Horst-Eberhard dazu. Der umstrittene Nietzsche war Thema dieses Abends. Eine lebendige Debatte entstand. Gespannt verfolgte ich die widersprüchlichen Meinungen. Dann wurde ich sprachlos: Eine sanfte Stimme, durchdrungen von enormer Ausdruckskraft, berührte mich sehr. Ich schaute mich um und sah einen von Leid gezeichneten jungen Mann. Ich war erstaunt über das Charisma eines 22jährigen. Trotz der Kriegs- und Nach-Kriegschocks hatte er seine Sensibilität und Menschlichkeit bewahrt. Später kamen wir beide in ein intensives Gespräch. Da ahnte ich noch nichts von einer schicksalhaften Wendung für uns. Wir waren uns sehr schnell einig für ein gemeinsames Leben: »Mit dir wird bestimmt jeder Tag ein Abenteuer!« waren meine Worte. So war es, dieses Abenteuer währte 65 Jahre. Bergrun Richter


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Berlin 1983


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Psychosoziale Medizin und Prävention von Militarisierungsbereitschaft Noch immer ist es weithin üblich, absolute politische Abstinenz für ein nahezu selbstverständliches Gebot ärztlicher Ethik zu halten. Es heißt, nur wer sich von politischen Kontroversen fernhalte, könne der gesellschaftlichen Rolle eines Helfers für alle gerecht werden. Als Patienten seien alle Menschen gleich. Und jedermann, wo er auch immer politisch stehe, habe denselben Anspruch auf engagierte ärztliche Zuwendung. Aber setzt die Erfüllung dieses Anspruchs, deren Notwendigkeit niemand ernstlich bestreiten kann, tatsächlich beim Arzt die Vermeidung politischer Stellungnahme voraus? Verlangt nicht vielmehr umgekehrt diese Verantwortung für das Wohl der Gesamtheit eine stetige kritische Anteilnahme an solchen politischen Entscheidungen, von denen die gesundheitlichen Interessen großer Gruppen oder gar der gesamten Bevölkerung unmittelbar berührt werden? Sind wir nicht aufgrund unserer Kompetenz diejenige Berufsgruppe, die unablässig darüber zu wachen hätte, daß die Gesundheitsvorsorge für die Menschen nicht laufend hinter angebliche ökonomische, technische oder gar militärische Sachzwänge zurückgestellt wird, in welchen das Wohlbefinden der Menschen oft genug ganz anderen Interessen geopfert wird? Die Meinung, ein so hochspezialisierter Berufsstand sollte sich zu schade sein, um Zeit in dererlei profanen und mühseligen politischen Geschäften zu vergeuden, ist gefährlich und gewiß auch eher Rationalisierung jener Realitätsblindheit und Konfliktscheu, wie sie sich leicht in Tätigkeiten ein­ stellen, die sich in abgeschirmten privilegierten sozialen Feldern abspielen. Was am Ende geschehen kann, wenn die Ärzteschaft die ihr aufgegebene besondere politische Mitverantwortung verkennt, darüber sind wir ja gerade in unserem Lande noch unlängst wahrlich furchtbar belehrt wor-


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den. Da ließen sich bekanntlich Teile einer sich als unpolitisch verstehenden Medizin für die unheilvollsten Zwecke instrumentalisieren. Nahezu kampflos fügte man sich in die verordnete Mitwirkung bei den Massensterilisationen und schließlich gar bei dem entsetzlichen Euthanasieprogramm. Es mag in gewisser Hinsicht berechtigt sein, diejenigen Ärzte, die damals konformistisch viel Böses mittaten, als die wehrlosen Opfer eines diabolischen Systems zu sehen. Aber eben diese Wehrlosigkeit war selbst verschuldet. Vor der Möglichkeit ahnungsloser Anpassung an inhumane Zumutungen vermag sich in der Tat dauerhaft nur eine Ärzteschaft zu schützen, die sich mit geschärftem Sinn und in mutiger Konfliktbereitschaft kontinuierlich überall dort in Politik einmischt, wo das physische, das psychische und das soziale Wohlbe­finden der Menschen auf dem Spiele stehen. Als ich mich kürzlich in einer Rede zum 30. Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für ärztliche Fortbildung in diesem Sinne äußerte, wurde ich nachträglich aus gewissen Kollegenkreisen heftig angegriffen. Die Kritiker beharrten auf der Forderung, der Arzt als Hüter der Gesundheit aller habe nach wie vor eine gesellschaftliche Sonderstellung zu wahren. Jede Verwicklung in politische Streitfragen bedeute eine unzulässige Gefährdung des allseitigen Vertrauens, um das er jederzeit bemüht sein müsse. Andere Kritiker berufen sich auf die für sie selbstverständliche traditionelle Rollenaufteilung zwischen wissenschaftlichen Experten und politischen Praktikern. Es sei Sache der Medizin, ihre Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen, wie das gesundheitliche Allgemeinwohl am besten geschützt oder verbessert werden könne. Der Arzt könne hier publizistisch, gutachterlich oder beratend tätig werden. Aber im Widerstreit der verschiedenen gesellschaftlichen Interessen müßten die gewählten politischen Gremien unabhängig entscheiden, inwieweit sie den Expertenerkenntnissen folgen können und wollen. Die Ärzteschaft habe sich still zu fügen, wenn die offizielle Politik im Konfliktfall das gesundheitliche Wohl größerer Gruppen oder gar der Gesamtheit zugunsten anderer als höher bewerteter Ziele zurückstelle.


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Was hier wie eine noble Selbstbescheidung in der Definition der ärzt­lich akademischen Rolle anmutet und von den entsprechenden Ver­ tretern auch so erklärt wird, beruht auf einer totalen Verkennung der gesellschaftlichen Entwicklungen, die von uns eine neue Definition unseres Verantwortungsbereiches verlangen. Fast täglich können wir aus der Presse entnehmen, wie sehr unser aller gesundheitliche Gefährdung durch ungünstige Umweltfaktoren zunimmt. Achtlos produzierte Schadstoffe verunreinigen die Atemluft und vergiften Wasser und Boden. Von dort gelangen sie in die Pflanzen und Tiere, die unsere Nahrung bilden. Um kurzfristiger Vorteile für die Wirtschaft willen nehmen wir langfristig schon heute nicht mehr tragbare gesundheitliche Dauerbelastungen in Kauf, deren Folgen erst in Zukunft erschreckend hervortreten werden. Aber die meisten Menschen wissen gar nicht, was sie da in Kauf nehmen. Es wäre unsere Aufgabe, mit der ganzen Autorität unseres Standes dafür Sorge zu tragen, daß die Öffentlichkeit und die Parteien viel mehr aufgerüttelt würden, um den ungesunden Veränderungen unserer Lebensbedingungen Einhalt zu gebieten. Die sogenannten Sachzwänge wirtschaftlicher, technischer, militäri­ scher Zweckmäßigkeiten wirken auf die Hirne der politischen Entschei­ dungsträger wie eine unbezweifelbare höhere Autorität. Die gesundheitlichen Bedrohungen durch die Umweltzerstörung erscheinen noch immer wie ein zweitrangiges Argument, solange sie nicht unmittelbar sichtbar werden wie etwa eine Epidemie oder eine spektakuläre akute Massenvergiftung. Ich meine, daß wir Hunderttausende aus den Medizinberufen und speziell wir Ärzte endlich lernen müssen, daß die Medizin der Zukunft neben der Therapie auf Prävention ein Vielfaches der Energien verwenden muß, die wir bisher dafür aufgebracht haben. Es genügt nicht, daß einzelne von uns in Enqueten, Gutachten, Forschungsberichten oder auch gelegentlichen populär-medizinischen Publikationen darüber aufklären, was eine immer noch sträflich nachlässige Umweltpolitik und vor allem die fatale atomare Rüstungspolitik an neuen gesundheitlichen Risiken produziert. Wir müssen laut werden, müssen uns einmischen. Das gesundheitliche Argument muß zu einem erstrangigen politischen Machtfaktor werden.


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Das bedeutet aber, daß wir uns exponieren und kämpfen müssen. Aber damit ist freilich ein partielles Heraustreten aus dem geschützten und für das Laienpublikum tabuisierten Areal der Praxis, der Klinik und des Labors verbunden. Man kann nicht politisch eingreifen und zugleich die Unangreifbarkeit eines geheiligten gesellschaftlichen Sonderstatus bewahren. Die konservativen Verfechter einer ärztlichen Abstinenzethik haben durchaus recht, wenn sie als Folge politischen Engagements eine schwerwiegende Veränderung der ärztlichen Rolle in der Gesellschaft voraussehen. Es ist indessen an der Zeit zu begreifen, daß unser traditioneller beruflicher Sonderstatus ein Anachronismus ist. Natürlich wäre es uns allen lieber, wenn die Politiker in allen Konfliktfällen von sich aus bereit wären, die von uns verdeutlichten gesundheitlichen Belange jeweils obenan zu stellen und ohne, daß wir besonderen Druck machten müßten, gegen konkurrierende Interessen durchsetzen würden. Aber dem ist eben nicht so. Somit steht es gar nicht in unserem freien Belieben, unsere Aktivitäten für das gesundheitliche Wohl der Bevölkerung zu erweitern oder nicht. Wir werden durch den gesellschaftlichen Wandel einfach dazu gezwungen, sofern wir uns nicht zu Erfüllungsgehilfen einer für die Gesundheit und für das Überleben der Menschen höchst verhängnisvollen Politik degradieren lassen wollen. Im übrigen bin ich sicher, daß das zunächst irritierte Publikum uns längerfristig nicht Vertrauen entziehen, sondern um so mehr Vertrauen spenden wird, je nachdrücklicher und kämpferischer wir für die politische Abwendung von medizinischen Gefahren eintreten, die wir durch unseren Vorsprung an Expertenwissen früher und besser als die übrige Bevölkerung einschätzen können. Nun möchte ich auf einen speziellen Bereich der Prävention zu sprechen kommen, der in mein eigenes Feld der Psychosomatik und der psychosozialen Medizin fällt. Wir lernen in unserem Fach, daß eine Wech­ selbeziehung besteht zwischen der psychischen Verfassung eines Men­ schen und der Art und Weise, wie er sein Umweltverhältnis und sein Zusammenleben mit anderen Menschen gestaltet. Menschen, die ihre Ge­ fühle durchlassen, sich nach innen und außen offen verhalten und mit hoher Sensibilität auf die Qualität der Lebensumstände reagieren, sind


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eher als andere dazu imstande, in der Familie, am Arbeitsplatz und wo sie auch immer sozial aktiv sind, für gedeihliche Verhältnisse zu sorgen. Die Kehrseite dieser Sensibilität ist jedoch eine besondere psychische und psychosomatische Anfälligkeit, wenn diese Menschen in eine inhumane und entfremdende Zwangslage geraten. Wenn es nicht in ihrer Macht liegt, diese Lage zu ändern, reagieren sie eher als andere mit psychischen oder psychosomatischen Gleichgewichtsstörungen. Diese Empfindlichkeit ist nicht etwa gleichbedeutend mit einer eingeschränkten Leistungsfähigkeit oder einer allgemeinen gesundheitlichen Schwäche. Sie hat nicht das mindeste mit Hysterie oder einer sonstigen psychopathologischen Abweichung zu tun. Es handelt sich im Gegenteil, so meine ich, um die wünschbare psychosoziale Gesundheit schlechthin. Wenn eine solche psychosomatische Verfassung einen besonders verläßlichen Orientierungsmaßstab für eine humane Strukturierung der subjektiven und der sozialen Lebensformen darstellt, so kommt ihr ein höherer Gesundheitswert zu als jener Robustheit, die landläufig als Idealnorm propagiert wird. Das ist eine Einsicht von bedeutender Tragweite und letztlich auch erheblichen praktischen Konsequenzen. Mächtige Gruppen infiltrieren uns mit der Ideologie, wir sollten uns an dem Leitbild des jederzeit und unter allen Umständen maximal belastbaren und funktionsfähigen Individuums orientieren. Das ist der Mensch, der noch so bedrückende Wohnumstände, Arbeitsverhältnisse, Isolation, Unrecht, Unterdrückung, Überanstrengung klaglos erträgt, der jederzeit fit ist, wie inhuman auch die Beanspruchungen sein mögen, denen man ihn aussetzt. Diese abgestumpfte Robustheit verklärt man als gesunde Härte, Elastizität, vitale Energie usw. Umgekehrt diffamiert man die Störbarkeit einer sensibleren und offeneren Persönlichkeit als Schwächlichkeit oder Labilität, kurz als konstitutionelle Minusvariante. Eigenartiger- oder besser bezeichnenderweise sympathisiert ein Großteil der Mediziner immer noch mit diesem rein mechanischen und letztlich inhumanen Gesundheitsideal. Über die tief kulturell verankerte Grundhaltung, die darin zum Ausdruck kommt, möchte ich mich hier nicht näher auslassen. Das habe ich an anderer Stelle zur Genüge getan.


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Aber ich möchte an einem konkreten Beispiel die Folgen aufzeigen, wenn die psychosoziale Medizin den Gesundheitsbegriff aus ihrem Bewußtsein verdrängt, den zu verteidigen sie verpflichtet ist. In einem 1961, also 16 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen psychiatrischen Sammelwerk berichtete ein ärztlicher Psychotherapeut über seine Erfahrungen mit 1400 Kriegsneurosen in einem westdeutschen Lazarett. Er gesteht zu, daß er seine Behandlung zumeist gegen die Wünsche der betroffenen Soldaten durchsetzen mußte, die auf belastende Kriegserfahrungen mit psychischen oder psychosomatischen Beschwerden reagiert hatten. Kernstück der Behandlung war die Anwendung einer sogenannten Elektrosuggestivtherapie mit einem intensiven galvanischen Strom. »Im Selbstversuch hat sich mir gezeigt«, – so berichtete der namhafte Autor – »daß der galvanische Strom in dieser Stärke ein höchst eindrucksvolles, den ganzen Körper aufwühlendes Erlebnis ist, bei dem jedoch der schmerzhafte Hautreiz wohl doch an erster Stelle steht.« In der Beschreibung der Behandlung heißt es u. a.: »Der Arzt erklärte zu Beginn dem Patienten in ruhiger, aber eindringlicher Form, daß die psychogenen Störungen durch die Stromanwendung mit Sicherheit beseitigt werden könnten. Die Wiederherstellung hänge allerdings auch wesentlich von der tätigen Mithilfe des Patienten ab. Wenn diese vorhanden sei, brauche der schmerzhafte Strom gewiß nur einmal und nur kurze Zeit einzuwirken.« »Man mag nun fragen«, so schrieb der Autor an anderer Stelle, »ob sich eine so unangenehme Behandlung wirklich nicht umgehen ließ.« Er verneinte diese Frage, weil milderes Faradisieren, Aussprachen, Ermahnungen, Bäder usw. sich als unzureichend wirksam erwiesen hätten. Tatsächlich gelangte der Therapeut mit seiner, wie er es nannte, höchst aufwühlenden, schmerzhaften und von den Soldaten unerwünschten Elektrobehandlung zu einer imponierenden Erfolgsstatistik. Aber waren nun diese Soldaten tatsächlich nicht in Ordnung, die aus dem Gleichgewicht gerieten, nachdem sie tagaus, tagein nur mit dem Geschäft des Tötens und Zerstörens beschäftigt gewesen waren? Ist es nicht


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in humanem Sinne gesünder, unter solchen lebensfeindlichen Umständen Symptome zu bekommen und aus dem psychosomatischen Gleichgewicht zu geraten? Und was war das für eine sogenannte Therapie, deren Beschreibung überdeutlich an einschüchternde Foltermethoden erinnert? Sollte die aufwühlende qualvolle Strombehandlung nicht nur Willfährigkeit für das Mittun in einer organisierten Orgie der Grausamkeit erzeugen? Ich möchte dieses Beispiel hier nicht als Anprangerung eines einzelnen Kollegen verstanden wissen. Unter dem Druck der Verhältnisse hatte sich die Kriegspsychiatrie ganz allgemein und auf allen Seiten auf das Ziel eingestellt, Therapie oder was man als solche erklärte auf das Ziel der Kriegsverwendungsfähigkeit der Menschen auszurichten. Erschreckend ist aber, wie wenig von Scham und Einsicht in der psychiatrischen Nachkriegsliteratur darüber sichtbar geworden ist, was die Kriegsanpassung an medizinischen Verirrungen und Pervertierungen bewirkt hat. So hat z. B. der Autor in dem zitierten Artikel über die Kriegsneurotiker 16 Jahre nach dem Kriege kein Wort darüber verloren, daß seine rigorose Schmerztherapie ihm seinerzeit oder zumindest nachträglich irgendeinen Konflikt bereitet hätte. Viele andere Beispiele, auch aus der angelsächsischen Nachkriegsliteratur, ließen sich beibringen, in denen kriegspsychiatrische Erfahrungen genauso unkritisch berichtet werden. Bei amerikanischen Autoren kommt gelegentlich sogar so etwas wie Scham darüber zum Ausdruck, daß amerikanische junge Männer in relativ hoher Zahl aus psychischen bzw. psychosomatischen Gründen als kriegsdienstuntauglich zurückgestellt oder vom Militärdienst entlassen werden mußten. Und man hat von psychiatrischer Seite der amerikanischen Erziehung vorgeworfen, sie sei durch zu große Verweichlichung an der mangelnden Kriegstauglichkeit ihrer männlichen Jugend schuld gewesen. Solche Bewertungen kommen zustande, wenn die psychosoziale Medizin an dem alten rein mechanischen Gesundheitsbegriff festhält oder wenn sie sich autoritätsergeben von der Obrigkeit vorschreiben läßt, an welche nach Belieben festgesetzten Bedingungen sich die Menschen gefälligst beschwerdefrei anpassen sollen. Demgegenüber müssen wir verlan-


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gen, daß Staat und Wirtschaft in dem Sinne gesunde Lebensbedingungen schaffen, daß sich die Menschen, die mit jener als maßstäblich geschilderten Sensibilität ausgestattet sind, wohl befinden können. Wir brauchen aber nicht Menschen, die in einem künftigen schrecklichen Krieg – so lange sie in ihm überleben – möglichst beschwerdefrei und psychosomatisch stabil funktionieren, vielmehr eine Stärkung des Widerstandswillens der Massen sensibler Menschen, die schon jetzt Mühe haben, die mit einer fatalen Hochrüstungspolitik verbundenen mörderischen Risiken nervlich zu ertragen. Auf das Schärfste müssen wir uns gegen die Versuche maßgeblicher Politiker und einer gewissen Publizistik verwahren, die jene als Angsthasen oder als labile Schwächlinge verunglimpfen, die aus einer bis ins Physische hineinreichenden Beunruhigung heraus die neue Friedensbewegung mittragen. Vielmehr sollten sich die abgestumpften Macher, die als delegierte Entscheidungsträger das Leben von Hunderten von Millionen unnötig in Gefahr bringen, ihre eigene psychophysiologische Intaktheit in Zweifel ziehen. Denn ihre Verdrängungskunst ist der eigentlich psychopathologisch relevante Faktor, dessen Einfluß soweit als möglich ausgeschaltet werden müßte. Die Hirne der Stärkepolitiker und gerade auch diejenigen der gefühlsverdrängenden Technokraten sind, wenn man schon so will, die ungesunden Träger einer ungesunden Politik. Das Dilemma besteht nur darin, daß die neurotisch überkompensierenden Machtmenschen und auch die verkrusteten, von Zwangsmechanismen beherrschten Technokraten ihre Pathologie nicht nur nicht begreifen, sondern die relative Wehrlosigkeit der Massen von Weicheren, Sanfteren und Sensibleren manipulativ ausnutzen. Freilich tragen die ausgenutzten Gesünderen reichlich Mitschuld an dieser Entwicklung, indem sie sich bislang von den traditionellen expansionistischen Leitbildern einschüchtern ließen, denen zufolge sie sich selbst entwerten und zurückhalten zu müssen glaubten. Immerhin ist es nunmehr ein ermutigendes Zeichen, daß in den Massen der Friedensbewegung so etwas wie ein neues Selbstbewußtsein heranreift. Die Leute lassen sich nicht mehr mundtot machen, indem man sie als


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kompromissbereite Feiglinge, als infantile Träumer, als labile Illusionisten oder knieweiche Kapitulanten quasi psychopathologisch brandmarkt. Viele der Geschmähten haben gelernt, die brüchige Abwehrstruktur ihrer sich so selbstsicher und autoritär gebärdenden Ankläger in Frage zu stellen. In der Tat verrät sich ja bereits unmittelbar in der Maßlosigkeit zahlreicher Angriffe gegen die Friedensbewegung einiges von den unverarbeiteten psychischen Spannungen derer, die sich unkritisch als Repräsentanten souveräner Besonnenheit und sozialer Reife aufspielen. Lassen Sie mich als Psychoanalytiker dazu noch eine erläuternde Bemerkung machen. In unserem Beruf haben wir in besonderem Maße Gelegenheit, den psychosozialen Hintergrund einer Haltung zu durchschauen, die einerseits durch Begeisterung für eine forcierte Stärkepolitik, andererseits durch ein extremes Freund-Feind-Denken charakterisiert ist. In der Mehrzahl handelt es sich um Männer, denen das Ideal eingeimpft worden ist, sich besonders heldenhaft mutig und stark zu verhalten, die jedoch unter starkem Autoritätsdruck zu besonders gefügigen Anpasslern geworden sind. Im Grunde leiden diese Männer an furchtbarer Selbstverachtung, weil sie nahezu pausenlos ihr ldeal verraten. Zur Rettung ihrer Selbstachtung bedeutet es nun für sie eine erwünschte Chance, daß sie anstelle des Widerstandes gegen die realen Autoritäten, vor denen sie täglich zu Kreuze kriechen, sich in eine unerbittliche Feindschaft gegen ein fiktives Verfolgersystem hineinphantasieren. An dem können sie ersatzweise den Haß abreagieren, den sie sonst immer ängstlich herunterschlucken. Und so spielen sie sich in die heroische Pose sei es eines antikommunistischen, sei es eines antiameri­kanischen Scharfmachers hinein, die für sie relativ gefahrlos ist. Sie suchen dabei meistens Halt in einer entsprechend eingestimmten fanatisierten Menge, so daß sie wiederum keine persönliche kritische Widerstandsbereitschaft beweisen müssen, sondern in einer kollektiven Strömung mitschwimmen können. So wimmelt es unter den besonders militanten Gegnern der echten Friedensbewegung von autoritätsergebenen Feiglingen, die für das Scheitern an ihrem geheimen Heldenideal in ihrer aufgesetzten Hexenjägerpose


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eine beschwichtigende Entschädigung gefunden haben. Wenn ich »echte Friedensbewegung« sage, so meine ich damit eine Haltung, die nicht zwischen bösen, teuflischen Bomben der einen Seite und gerechten, notwendigen und guten Bomben der anderen Seite unterscheidet. Allerdings ist diese Form von Überkompensation weniger als indivi­ dualpsychologisches Phänomen, sondern vielmehr als eine gesellschaftlich bedingte Reaktion einzuschätzen. Der Konflikt zwischen einem anerzogenen Heldenideal und den Anpassungszwängen immer totalerer hierarchisch durchorganisierter sozialer Verhältnisse ist strukturell vorgegeben. Es handelt sich also im Grunde um ein sozialpathologisches Phänomen. Dieses zu verdeutlichen, scheint mir in Beantwortung der fortwährenden Diskriminierung der Motive der Friedensbewegung als infantil, realitätsblind, angstgetrieben usw. unerläßlich. Wenn längerfristig nur eine echte Abrüstungspolitik den Frieden zu sichern vermag, so kann eine solche Politik aber nur von Menschen und Gremien getragen werden, die auch in psychologischem Sinne abzurüsten vermögen. Das bedeutet den Mut zu einer Haltung der Versöhnlichkeit, der Vertrauensbereitschaft und der Offenheit. Die Politik kann nur in dem Maße menschlicher werden, als in ihr Persönlichkeiten von jener Menschlichkeit wirksam werden können, die sich in etwa mit dem deckt, was wir unter psychosozialer Gesundheit verstehen. Damit ist noch einmal die Stelle bezeichnet, die unsere fachliche Verantwortung berührt. Eine präventive psychosoziale Medizin muß sich entschieden und offen an die Seite derer stellen, die nicht eine Anpassung der Menschen an eine wie immer rationalisierte Risikopolitik, sondern umgekehrt eine Anpassung der Politik daran verlangen, was für Menschen von unzerstörter Sensibilität einerseits wünschbar, andererseits zumutbar ist. Das ist im Grunde keine einseitige Parteinahme, sondern ein Enga­ gement für das gesundheitliche Gemeinwohl. Ich trete überhaupt dafür ein, daß wir die Forderung nach Überparteilichkeit in einem viel umfassenderen Sinne ernstzunehmen haben, als er gewissen konservativen Stan­


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despolitikern vorschwebt. Für uns Ärzte müssen die Gesundheit und das Leben aller Menschen, ob sie nun im Osten, im Westen oder in der Dritten Welt wohnen, gleich viel wert sein. Nicht erst im Falle von Therapiebedarf, sondern schon vorher in präventiver Sicht dürfen wir prinzipiell keinen Unterschied machen zwischen den gesundheitlichen Interessen der Angehörigen verschiedener Nationen, Rassen oder politischen Systeme. Es hinzunehmen, daß Hunderte von Millionen teils von Ausrottung, teils von qualvollem Siechtum bedroht werden, nur weil sie in einem politischen System leben, das vielen auf der Gegenseite mißfällt, widerspricht bereits kraß einer ärztlichen Ethik, wie ich sie verstehe. Alle Leute waren nach dem letzten Krieg gerührt über Tatsachenbe­rich­ te, Romane und Filme, in denen Ärzte oder Krankenschwestern aufopfernd für Verwundete oder Kranke aus dem sogenannten feindlichen Lager sorgten bzw. gesorgt hatten. Es gab Hoffnung, daß wenigstens im medizinischen Bereich zu jeder Zeit eine Überwindung der Freund-Feind-Perspektive und der Vorrang eines übergreifenden menschlichen Solidaritätsbewußtseins nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Im Grunde wurde da nur etwas vorgeführt, was uns allen selbstverständlich sein sollte, aber eben nicht nur in besonderen thera­peutischen Zwangslagen. Allerdings ist ja eine solche Zwangslage ohnehin bereits durch die neuen Waffensysteme eingetreten. Günther Anders hat geschrieben: »Ra­ dio­aktive Wolken kümmern sich nicht um Meilensteine, Nationalgrenzen oder Vorhänge. Also gibt es in der Situation der Endzeit keine Entfernungen mehr. Jeder kann jeden treffen, jeder von jedem getroffen werden.« Infolgedessen »haben wir dafür zu sorgen, daß der Horizont dessen, was uns betrifft, also unser Verantwortungs-Horizont, so weit reiche wie der Horizont, innerhalb dessen wir treffen oder getroffen werden können; also daß er global werde. Es gibt nur noch >Nächste<.« Im gleichen Sinne hat sich Albert Einstein geäußert: »Die entfesselte Macht des Atoms hat alles verändert, nur nicht unsere Denkweise ... Wir brauchen eine wesentliche neue Denkungsart, wenn die Menschheit am Leben bleiben soll.«


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»Die Menschen müssen ihre Haltung gegeneinander und ihre Auf­ fassung von der Zukunft grundlegend ändern.« Ohne Zweifel ist als Ziel dieser Haltungsänderung ein globales Zusam­ men­gehörigkeitsbewußtsein gemeint, wie es an sich in der wahren Ethik unseres Standes seit je vorgegeben ist. Also steht es uns Ärzten auch wohl an, uns dafür einzusetzen, daß das Bekenntnis zur Notwendigkeit einer grenzüberschreitenden Solidarität um sich greift und Schritt für Schritt die paranoide Verfolgungsmentalität überwindet, die heute noch weithin herrscht. Differenzen und Konflikte zwischen politischen Systemen mögen auch in Zukunft so schwerwiegend sein, wie sie wollen, eine Rechtfertigung für eine wechselseitige Bedrohung mit totaler Vernichtung oder den grauenhaften chronischen Beschädigungen durch die neuen Waffensysteme dürfen sie nie mehr sein. Nun leben wir aber in einer politischen Realität, die dieser Forderung widerspricht. Das heißt, die maßgebliche Politik vermehrt durch die anhaltende Rüstungseskalation genau die eben angeprangerte Bedrohung. Noch immer hinkt das Umdenken, das in der Friedensbewegung und durch diese stattfindet, im Tempo hinter der Rüstungsbeschleunigung her, die zumal in diesem Jahr – erst zuletzt wieder durch die Produktion der Neutronenbombe – ein wahrhaft gespenstisches Ausmaß angenommen hat. Die Frage ist also, wie läßt sich dieses Umdenken fördern, und was können, was müssen wir Ärzte dazu tun? Aus den Erfahrungen der Psychoanalyse und der psychosozialen Me­ dizin wissen wir, daß die eigenartige selbstschädigende Stumpfheit und Anpassung der Massen an eine sich stetig verschärfende Risikopolitik mit einer Verdrängung zu tun hat, deren Abbau wir gezielt verfolgen sollten. Es liegt im Wesen unserer psychophysiologischen Natur, daß wir zur Erhaltung unseres Gleichgewichtes und unseres momentanen Wohlbefindens Ge­ fahren ausblenden, die schlechthin unerträglich sind. Karl Jaspers hat bereits 1959 geschrieben: »Wie der Kranke sein Karzinom vergißt, der Ge­ sunde, daß er sterben wird, der Bankrotteur, daß kein Ausweg mehr ist,


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verhalten wir uns gegenüber der Atombombe und machen, den Horizont unseres Daseins verdeckend, gedankenlos noch eine Weile fort?« Es geht also darum, daß speziell wir Ärzte dafür sorgen, daß mit den Erkenntnissen über die Folgen von Atomexplosionen und NeutronenwaffenEinsätzen anders umgegangen wird, als dies bisher weithin geschieht. Wir sollten mithelfen, daß entsprechende Dokumentationen, vor allem instruktive Filme, immer wieder präsentiert werden, um das Ausmaß des Grauens sichtbar zu machen, das mit den neuen Waffen verbunden ist. Wir müssen uns aber nicht minder um die Ängste kümmern, die jeweils wieder ein Verdrängen des fatalen Wissens bewirken können. Niemand kann diese Ängste allein für sich tragen, wenn er sich nicht Gruppen anschließt, in denen man sich durch gemeinsame Gespräche entlasten kann und sich zugleich zu gemeinsamen politischen Aktivitäten verbündet, die in irgendeiner Weise die Friedensbewegung zu stärken versprechen. Da es schon heute nahezu in allen mittleren Gemeinden Gruppen der Friedensbewegung gibt, hat praktisch jeder die Chance, sich am eigenen Ort mit einer dieser Initiativen zu verbinden, deren überregionales Zusammenwirken längerfristig mehr an politischem Effekt erzielen dürfte, als viele glauben. Ich begrüße es aber darüber hinaus besonders dankbar, daß durch die Initiative der veranstaltenden Kollegen nun auch in unserem Land eine spezielle Ärzteinitiative gegen die Atomrüstung in Gang kommt. Und ich erwarte, daß diese Tagung uns in der anschließenden Gruppenarbeit noch hinreichend Gelegenheit geben wird, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir als Ärzte gemeinsam mit den Angehörigen uns benachbarter Heilberufe von unserer Kompetenz den sinnvollsten Gebrauch machen können, um jenes radikale Umdenken zu fördern, das Albert Einstein als unerläßliche Voraussetzung für eine wahre Friedenspolitik gefordert hat. (Rede auf dem 1 »Medizinischen Kongress zur Verhütung des Atomkrieges«, Hamburg, 19./20. September 1981)


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Essen 1987

Moskau 1987


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Erinnerungsarbeit und Zukunftserwartung der Deutschen

1966 schrieb Karl Jaspers in einem Aufsatz Aspekte der Bundes­ republik: »Heute droht kein Hitler und kein Auschwitz und nichts Ähnliches. Aber die Deutschen scheinen durchweg noch nicht die Umkehr vollzogen zu haben aus einer Denkungsart, die die Herrschaft Hitlers ermöglichte... Um unseren sittlich-politischen Zustand zu durchschauen, dazu bedarf es der Kenntnis der Geschichte im Tatsächlichen und im Verstehbaren.« Diese Worte fielen zwei Jahrzehnte nach dem Ende des Hitlerregimes. In der Tat war immer noch verbreitetes Widerstreben bemerkbar, genauer zu ergründen, was im Tatsächlichen vorgefallen und wie es möglich geworden war. Die Experten für Zeitgeschichte zögerten noch, Planung und Durchführung des Holocaust systematisch zu untersuchen und zu dokumentieren. Sie befanden sich in stillschweigender Übereinkunft mit einer großen Mehrheit, die dieses furchtbarste nationalsozialistische Verbrechen – wie auch andere – als unbegreiflich und unverstehbar von sich fortrückte. Es galt als eine unergründliche und unvorhersehbare Wahnsinnstat Hitlers und Heydrichs, gemeinsam mit einigen SS-Spießgesellen geplant und verübt, als hätte es keine Vorbereitung durch eine systematische rassistische Diskriminierungspolitik, durch inszenierte Pogrome, schließlich durch das offiziell verkündete Kriegsziel gegeben, wonach die jüdisch-bolschewistische bzw. die jüdisch-plutokratische Weltverschwörung für alle Zeiten vernichtet werden müsse; und als hätte der Völkermord nicht der tätigen Mitwirkung Zigtausender in den Verwaltungen, bei Bahn, Polizei und anderen Diensten in Deutschland selbst und den besetzten Gebieten bedurft. Einbezogen waren Massen von Helfershelfern, von Menschen, ausgestattet mit normalen Sinnen, mit der Anlage zum Mitfühlen und Mitleid, mit einem Empfinden für Recht und Unrecht, für Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Was war es, das diese elementaren humanen Eigenschaften bei ihnen außer Kraft


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setzte? Es war keine Psychose, keine Bewusstseinsstörung, auch kein sonstiger psychopathologischer Ausnahmezustand. Was aber denn? Diese Frage nach dem Verstehbaren, die Jaspers forderte, musste geklärt werden. Nicht nur die Fakten mussten wissenschaftlich zusammengetragen und ausgewertet, sondern auch die Beweggründe der Täter, der willfährig Mitwissenden, der verantwortungslos Wegsehenden waren zu untersuchen. Aber eben dazu fehlte vorerst die Kraft. Alexander und Margarete Mitscherlich beschrieben 1967 »Die Unfähigkeit zu trauern«. Nach ihrer Feststellung schreckten die Deutschen vor der vernichtenden Kränkung ihres Selbstwertbewusstseins zurück, die mit einer trauernden Verarbeitung des Verlustes des idealisierten Hitler verbunden gewesen wäre. Dem vollständigen Zusammenbruch der Identität habe man durch Verleugnung, durch Flucht vor der Erinnerung entgehen wollen. Viele gab es aber auch, die Hitler keineswegs als verinnerlichtes Ideal mit sich getragen, aber in hörigem Gehorsam mitgemacht hatten, was immer man ihnen vorgeschrieben hatte. In der Verlorenheit und Verlassenheit nach dem Zusammenbruch des Systems suchten sie nun verzweifelt nach neuem Halt. Den fanden sie im Westen prompt bei der großen amerikanischen Siegermacht, die ihnen zu einer rettenden Identitätsstütze wurde. Wäre ihre innere Hitlerbindung von der Stärke gewesen, wie sie die Mitscherlichs annahmen, hätten sie kaum in Windeseile die Umstellung fertiggebracht, die allen Prognosen prominenter Psychologen wie etwa Kurt Lewins widersprach, wonach es Jahrzehnte dauern würde, ehe die von Hitler indoktrinierte und verdorbene Jugend zu demokratischem Denken fähig werden würde. Stattdessen sog auch diese Generation der Westdeutschen geradezu begierig auf, was ihr Amerika an politischen und wirtschaftlichen Rezepten, an Verhaltensmustern und Moden lieferte. Gestern noch Hitler bis zum grausigen Ende folgsam, präsentierten sie sich bald darauf als geistige Halbamerikaner, die verständnislos auf ihr Gestern zurückblickten, als seien sie dies gar nicht selbst gewesen. Dieser verblüffend schnelle Wandel lässt sich kaum anders deuten, als dass eine hörige Abhängigkeit sich nach Verlust der alten an eine neue


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Autorität angekoppelt hatte. Zum Glück war die neue Autorität nun von solcher Art, dass sie diese Ergebenheit nicht missbrauchte, vielmehr den Weg für das Hineinwachsen in demokratische Strukturen freimachte. Momentan war die tiefsitzende Gehorsamsbereitschaft also der äußeren Erneuerung im Westen durchaus förderlich. Es passte den Siegern, in den Besiegten eifrige Musterschüler vorzufinden, die getreulich übernahmen, was man ihnen anbot und die nach kurzer Zeit keine Zweifel mehr daran ließen, sich verlässlich auf westlicher Seite in die Front gegen den neu erstandenen östlichen Gegner im Kalten Krieg zu integrieren. Den Besiegten wiederum erleichterte die Geborgenheit in der Obhut der Siegermacht einen relativ spannungsfreien Wiederaufbau, aber eben auch ein Verdrängen der Vergangenheit: Was wir gestern angerichtet haben, das ist mit uns gegen unser wahres Wesen gemacht worden. Da waren wir nur hilflose Werkzeuge. Jetzt, von der Diktatur befreit, können wir unser eigentliches Selbst zeigen. Man verwechsle uns also bitte nicht mit denen, die gestern als Entmündigte missbraucht wurden. Aber dieses schonende Selbstporträt hatte einen schweren Fehler, nämlich die Unterschlagung des eigenen Beitrags zu der beklagten Entmündigung. Wenn Jaspers von einer Denkungsart sprach, die Hitler möglich gemacht habe, so meinte er ganz speziell auch diese Auslieferungsbereitschaft, nämlich ein Abhängigkeitsbedürfnis, das der Manipulierbarkeit Tor und Tür öffnete. Mit diesem Bewusstsein präsentierten sich zahlreiche Angeklagte in Naziverbrecher-Prozessen. Typisch war etwa die von Hannah Arend zitierte Antwort des mächtigen Hitlergenerals Jodl, als er erklären sollte, warum er und die anderen ehrbewussten Generäle mit unkritischer Loyalität einem Mörder gehorcht hätten: Es sei doch nicht die Aufgabe des Soldaten, sich zum Richter über seinen Oberbefehlshaber aufzuwerfen. Das möge die Geschichte tun oder Gott im Himmel. Ohne dass sie es ähnlich pathetisch hätten ausdrücken können, erlebten sich Massen von kleinen Tätern unter einem ähnlichen für sie selbstverständlichen Gehorsamszwang, der freilich zur Tugend ehrenhafter Treue umetikettiert worden war.


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Diese wie selbstverständliche Ausschaltung des Gewissens zugunsten eines Hörigkeits-Automatismus stellt eines der Phänomene dar, deren Erhellung und Aufarbeitung ein besonderes Augenmerk verdienen. Es beruht auf einem zumal in Gesellschaften mit autoritärer Tradition wie der deutschen schon in der Kindheit gebahnten Mechanismus. Gelernt wird, Gewissensangst in Strafangst zu verwandeln. Innerlich gefühlte moralische Skrupel werden unterdrückt, wenn sie mit äußeren Vorschriften von Autoritäten kollidieren, die das Sagen in sozialen Strukturen haben, in die man eingebunden ist. Es vollzieht sich damit eine Externalisierung des Gewissens, die kaum oder gar nicht bewusst wird. Denn im Kopf bleiben die moralischen Wertvorstellungen ja erhalten, auf die sich auch die Gehorsam fordernden Autoritäten umso nachdrücklicher zu berufen pflegen, je weniger sie diese selbst achten. So schrumpfen die Wertvorstellungen von verbindlichen Forderungen zu kraftlosen abstrakten Gebilden. Niemals hätte eine noch so massive rassistische Hetze mit dem Schreckgespenst einer angeblichen antideutschen Verschwörung des Weltjudentums den Holocaust durchführbar gemacht, hätten sich die Anstifter und Organisatoren nicht des Gehorsams-Automatismus von Massen selbstentmündigter Helfershelfer sicher sein und bedienen können. Zur Aufhellung des Verstehbaren hätte es also nach dem Krieg des Mutes bedurft, sich von der pauschal exkulpierenden Werkzeugtheorie zu lösen und die Schuld für die Enteignung der Verantwortung anzuerkennen. Aber von diesem Mut war längere Zeit wenig vorhanden. Er reichte ja vorerst nicht einmal, um über das Geschehene auch nur offen zu sprechen. Was die Kriegs- und KZ-Verbrecher-Prozesse und die formelle Entnazifizierungsaktion aufwühlten, wollte man schnell hinter sich lassen. Es kam zu einer Übereinkunft des Schweigens, die bis in die Familien hineinreichte. Die Eltern redeten nicht. Die Söhne und Töchter zögerten mit dem Fragen. Aber sie spürten das unverarbeitete Verdrängte und mit der Zeit ein Unbehagen darüber, dass die Elterngeneration ihnen unbewusst einen Berg eigener unerledigter Probleme zuschob. Immerhin dauerte es über zwei Jahrzehnte, ehe die Heranwachsenden aufbegehrten.


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Das geschah dann 1968 in der Studentenrebellion. Väter, Mütter, Lehrer, Professoren, Chefs wurden zur Rede, genauer gesagt gleich an den Pranger gestellt. Gestehen sollten sie, dass sie noch durch und durch vom Nazigeist verseucht und finster entschlossen seien, überall faschistische Strukturen zu erhalten oder wiederzubeleben. Obwohl er vom Marxismus kaum Genaueres wusste, begeisterte sich ein großer Teil der studentischen Jugend spontan für diese Heilslehre in der Gewissheit, damit die amerikagläubige Mehrheit der älteren Generation besonders wirksam provozieren zu können. Man gab vor, endlich eine Diskussion mit den Älteren und insbesondere mit der Machtelite erzwingen zu wollen. Stattdessen geriet die Revolte schnell zu einem Tribunal, in dem man die Angegriffenen kaum mehr zu Wort kommen ließ. Der Aufstand überschlug sich und nahm, wie Herbert Marcuse bemerkte, die Form eines pubertär ödipalen Kampfes an und konfrontierte schließlich die Rebellen mit der Erkenntnis, dass sie vieles von dem Autoritarismus reproduzierten, den zu demaskieren sie angetreten waren. Dennoch hinterließ die Bewegung nach ihrem Zusammenbruch Nachwirkungen, die erst in späterer Rückschau in ihrer Bedeutung voll erkennbar wurden. Einiges an Verdrängung war aufgebrochen. Es war der Versuch gescheitert, die Gesellschaft durch frontalen Angriff auf ihre Strukturen zu verändern, aber es machte sich eine neue soziale Sensibilität bemerkbar, eine Welle der Solidarität mit den Schwachen und den sozial Benachteiligten. Zahlreiche Aktivisten der Protestgeneration strömten zur Psychoanalyse, also zu einem Verfahren, das auf Heilung durch Rekonstruktion von Erinnerungen baut. Vorbilder waren politisch engagierte Psychoanalytiker wie Reich, Fromm, Bernfeld. Aber es kam zutage, dass es speziell in der deutschen Psychoanalyse auch Versäumnisse, Uneindeutigkeit und Opportunismus in der Nazizeit gegeben hatte, was nun zu harten Auseinandersetzungen innerhalb der Zunft führte. Humangenetiker und Mediziner publizierten über die Ärzteverbrechen in den KZs und in der Psychiatrie, verfolgten die Biographien von Tätern und machten den inneren Zusammenhang zwischen den Massentötungen psychisch Kranker und dem Völkermord an den Juden deutlich. In diversen


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Berufsgruppen erwachte allmählich ein Bedürfnis, die Geschichte des eigenen Standes zu besichtigen. Wie standhaft, wie korrupt hatten sich die Kollegen seinerzeit benommen? Wie steht es heute um die nachwirkenden Einflüsse nationalsozialistischen Denkens in der eigenen Berufsgruppe? Sind sie überwunden oder immer noch virulent? In Hunderten von Gemeinden machten sich Interessierte an kritische lokalgeschichtliche Studien. Wie hatten Verwaltung und Bürger auf die Machtergreifung Hitlers, auf die Diskriminierung und Verfolgung der Juden reagiert? Welches Schicksal hatten die Juden erlitten? Wer hatte sie drangsaliert, wer ihnen geholfen? Was ist nach dem Krieg unter den Tisch gekehrt, was offen ausgetragen worden? So zeigten diese diversen Projekte, dass inzwischen – unter wesentlicher Initiative und Mithilfe der ersten und später der zweiten Folgegeneration – der Mut doch gewachsen war, die aufgeschobene Erinnerungsarbeit in Angriff zu nehmen. Freilich stießen viele solcher Bemühungen auch auf heftige Widerstände. Nicht wenige der Initiatoren mussten sich gefallen lassen, als Nestbeschmutzer, Störenfriede, Denunzianten beschimpft zu werden. Aber solche Spannungen waren und sind unausbleiblich, wenn mit dem Aufdecken von Verdrängungen eben auch das Verdrängte wieder zum Vorschein kommt. Das Erinnern muss den Widerständen abgerungen werden, die aus den Beharrungskräften des alten Denkens resultieren. Es sind schmerzliche Auseinandersetzungen, die dennoch, wenn sie durchgehalten werden, die Genugtuung hinterlassen können, miteinander ein Stück unterdrückte Wahrheit befreit zu haben. Was im einzelnen, in Familien und in Gruppen abläuft, die sich der Erinnerungsarbeit gestellt haben und weiter stellen, ist schwer differenziert zu erfassen, da es sich um sehr komplexe Prozesse handelt, je nach dem Grad des persönlichen Verwickeltseins, unterschiedlich bei Älteren und Jüngeren, unterschiedlich auch je nach der Weite des persönlichen psychischen Horizontes. Den Einen bedrückt nur die Schuld persönlichen Versagens, während in das Verantwortungsgefühl eines Anderen alles hineinragt, was in Gemeinschaften vorfällt und vorgefallen ist, denen er sich zugehörig fühlt. Wie weit diese sensible Identifizierung reichen kann, hat


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einmal Stefan Zweig demonstriert, verfolgter und geflohener Jude, inzwischen englischer Staatsbürger, als er 1941 vor dem PEN-Club in New York ausführte: »...obwohl wir den Deutschen längst nicht mehr als Deutsche gelten, habe ich das Gefühl, ich müsse hier vor jedem Einzelnen meiner französischen, englischen, belgischen, norwegischen, polnischen, holländischen Freunde Abbitte leisten für all das, was heute seinem Volk im Namen des deutschen Geistes angetan wird.« – Von verschiedenen Deutschen, die unter Naziverfolgung gelitten haben, weiß ich, dass sie ein Gefühl der Mitverantwortung für die großen Verbrechen der anderen zu tragen mehr bedrückte als die Verarbeitung der eigenen leidvollen Erfahrungen. Was immer bei Erinnerungsarbeit geschieht oder geleistet wird, – eines ist sicher: Der schon beinahe offiziell gewordene Begriff der Vergangenheitsbewältigung ist so unpassend wie nur denkbar. Bewältigen kommt, wie man in Grimms Wörterbuch nachlesen kann, von Bewaltigen oder auch Begewaltigen, was einst so viel hieß wie Überwältigen oder bezwingen, auch ganz speziell »frowenbewaltigen und schwechen«, also vergewaltigen im engsten Sinne. Es scheint, als verrate sich also bereits in dem Terminus Vergangenheitsbewältigung per Fehlleistung die Vorstellung, die Erinnerung wie einen Gegner, wie ein Hindernis niederzuringen und zu bezwingen. Wer indessen von den Älteren lernte, sich der Vergangenheit auszusetzen und sich einzugestehen, dass er sich da oder dort, statt sich anzupassen, hätte verweigern oder Bedrohten beistehen können, dass er mehr hätte wissen können, wenn er nicht weggesehen hätte, wer sich darüber zu offenbaren wagte und die Kränkung ertrug, die er sich damit bereitete, der vollbrachte damit wahrlich kein Bezwingen oder Bewältigen, eher ein Durchleiden. Der lernte, sich seiner Mitschuld zu stellen, allerdings in der Absicht und Hoffnung, daraus Energien zu schöpfen, um die Zukunft wachsamer und widerstandsbereiter bestehen zu können. Denn die Anstrengung solcher Erinnerungsarbeit folgt ja nicht, wie manche weismachen wollen, aus masochistischen Motiven, vielmehr aus einem Drang nach Integrität, nach Offenheit, zugleich aus dem Willen zum Vorbeugen.


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Aus einer mehrjährigen eigenen Untersuchung zu dem Thema, wie die Hitlerzeit über drei Generationen verarbeitet wurde, konnten wir entnehmen, dass die Enkel inzwischen vielfach dazu beitragen, das Gespräch über die Hitlerzeit zu erleichtern. Ist es nun nur ein vager Eindruck oder eine Tatsache, dass auch und gerade in der Jugend noch ein Interesse an einer Vergangenheit lebendig ist, von der sie vielfach bereits in der zweiten Generation entfernt ist? Darüber haben wir an unserem Giessener Psychosomatischen Zen­ trum vor zwei Jahren eine aufschlussreiche Erhebung durchgeführt. Wir fragten 1.450 Studentinnen und Studenten unter anderem, ob es für die Deutschen eine wichtige oder eher überflüssige Aufgabe sei, sich noch mit der Hitlerzeit auseinander zu setzen. Zu unserer Überraschung lauteten die Antworten von 86% der übrigens anonym schriftlich Befragten: Diese Auseinandersetzung sei wich­ tig bis sehr wichtig. Vorausgegangen waren allerdings in Giessen Akti­ vi­­ tä­ ten verschiedener studentischer Gruppen, die sich intensiv mit der Nazigeschichte der hiesigen Universität beschäftigt und darüber öffentliche Veranstaltungen abgehalten hatten. Sie hatten das Eindringen des Nazigeistes in Doktor- und Habilitationsschriften verfolgt, das Schicksal jüdischer Professoren recherchiert, Prozesse gegen Nazigegner an der Universität dokumentiert und überlebende Zeitzeugen interviewt. Aber selbst wenn man diese besonderen Umstände in Rechnung stellt und einräumt, dass die Zahl von 86% nicht für die Generation der Altersgenossen repräsentativ ist, so spricht dieser Befund doch dafür, dass die Jugend der Beschäftigung mit der Nazivergangenheit mehr Bedeutung beimisst, als von vielen Älteren angenommen wird. Warum ist das so? In Hesekiel 18 heißt es an einer Stelle: »Unsere Väter haben saure Trauben gegessen, und uns sind die Zähne davon stumpf geworden.« Im dritten Buch Moses ist sogar ausgesagt, dass die Missetat der Väter die Kinder und Kindeskinder bis ins dritte und vierte Glied verfolge. Es sind Weisheiten, die in der Psychoanalyse und in der Familiendynamik immer


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wieder zu bestätigen sind. Die Suche nach Verankerung der Identität in der Geschichte der Vorfahren ist ein unbewusster und gerade bei differenzierten Jugendlichen häufig zu beobachtender Vorgang, den bereits der Freud-Schüler Kurt Eisler näher beschrieben hat. In einem Seminar mit Studenten habe ich wiederholt von einzelnen zu hören bekommen: »Auch wenn es uns nicht passt, müssen wir noch die Geschichte unserer Väter und Großväter ergründen, die sie uns zum großen Teil verheimlicht haben. Wir können erst verlässlich wissen, wer wir sind und was wir wollen, wenn wir genauer erfahren haben, wer sie waren und was sie gemacht haben.« »Wir wollen sie nicht verletzen, aber wir fühlen uns solange selbst unklar und unfrei, als wir ihre Unklarheit nicht beseitigt haben.« Ich komme noch einmal auf unsere Erhebung an den 1.450 Giessener Studenten zurück. Mit Hilfe eines ausführlichen skalierten Fragebogens konnten wir den Zusammenhang zwischen verschiedenen Äußerungen untersuchen und beispielsweise überprüfen, wie sich die Studenten im übrigen beschrieben, denen an einer Auseinandersetzung mit der Hitlerzeit noch besonders gelegen war. Es ergab sich: Je wichtiger den von uns untersuchten Studentinnen und Studenten die Erinnerung an die Nazizeit erschien, •

um so offener zeigten sie sich für eine kritische Wahrnehmung sozialer Ungerechtigkeiten in der eigenen Gesellschaft (z. B. Benachteiligung alter Leute und Kinder),

um so mehr verrieten sie von sozialer Sensibilität (nämlich Bereitschaft, anderen zu vertrauen und sich um andere zu sorgen)

um so weniger zeigten sie negative soziale Vorurteile. Ersichtlich ist also, dass sich die Bereitschaft zu kritischer Erinnerung

mit einer besonderen Neigung zu Vertrauen und Versöhnlichkeit paart. Wie dabei das Eine das Andere fördert, ist nicht unmittelbar abzulesen. Jedenfalls passt der Befund zu der psychoanalytischen Erfahrung, dass Menschen um so weniger versucht sind, sich vermittels negativer Projektionen an


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anderen abzureagieren, je mutiger sie eigene Schuldkonflikte aufzuarbeiten lernen. Mit der Fähigkeit zur Selbstkritik nimmt die Neigung zu Misstrauen ab. Da jedes irrationale Feindbilddenken wie Antisemitismus und Rassismus überhaupt mit unterdrückten Minderwertigkeitsgefühlen einherzugehen pflegt, erscheint es überaus plausibel, dass die besonders kritisch Erinnerungsbereiten unter unseren Befragten sich als überdurchschnittlich vertrauensbereit und versöhnlich beschreiben. übrigens kommt das Wort versöhnen von versuenen, was noch zur Zeit Luthers gleichbedeutend mit entsündigen war. Margarete Mitscherlich, 1967 Koautorin des Buches Die Unfähigkeit zu trauern, schrieb unlängst: »Bisher hatte ich den Eindruck, die Verdrängung der Vergangenheit sei erfolgreich gewesen, wir seien unfähig zum trauernden und erinnernden Rückblick, zur Konfrontation mit unserer historischen Schuld. Das scheint sich jetzt zu ändern. Die Vergangenheit ist den Deutschen heute präsenter als je zuvor.« Jürgen Habermas zitiert den tschechischen Historiker Jan Kren mit der Äußerung, die »Vergangenheitsbewältigung« in der Bundesrepublik sei eine der »großen Leistungen« des Jahrhunderts. Dies sei freilich eine mehr beschwörend als deskriptiv gemeinte Aussage gewesen, kommentiert Habermas und fügt mit Recht hinzu: Würden Deutsche sich in dieser Weise loben, würden sie die Aussage damit schon wieder widerlegen. Die genannten 86% unserer befragten Studenten meinen ja auch keineswegs, die Erinnerungsarbeit sei abgeschlossen, vielmehr sei wichtig, sie fortzusetzen. Womit sie jenen prominenten Politikern widersprechen, die dazu auffordern, die Jugend endlich mit den alten Geschehnissen in Ruhe zu lassen, da diese Generation damit doch persönlich nichts mehr zu tun habe. Tatsächlich haben zumal die letzten Monate bewiesen, dass der alte Ungeist noch keineswegs überwunden ist. 34% der Deutschen bekundeten kürzlich noch laut Emnid Verständnis für rechtsradikale Reaktionen auf das Flüchtlingsproblem. Auf ihre geheime Zustimmung stützen sich Skinheads mit ihren brutalen Anschlägen auf Ausländer und Flüchtlinge. Höchste Wachsamkeit ist angesagt. Auch Hellhörigkeit gegenüber zweideu-


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tigen Tönen, mit denen manche Politiker offensichtlich den Kontakt zu jenen 34% suchen. Da malte der Leiter der Verfassungsabteilung des Bonner Innenministeriums in einer Rede das Gespenst der Überfremdung der deutschen Heimat an die Wand und warnte vor der Gefahr, die Deutschen könnten ihren Wir-Zusammenhang auflösen und durch die Ausländer ihre kulturellen Wertvorstellungen aufgeben. Hier sollte das Erinnern helfen, solche Wendungen zu unterlassen, die wir Älteren noch in anderem fatalen Zusammenhang im Ohr haben. Zum Glück sieht es so aus, als verfüge eine Mehrheit bereits dank eines fortgeschrittenen Lernprozesses über hinreichende Widerstandskraft gegen Ressentiments, die sich heute vor allem gegen Flüchtlinge aus den Armutsländern, morgen vielleicht auch wieder vermehrt gegen Juden richten könnten. Aber der Test, der diese Diagnose hoffentlich bestätigt, hat erst begonnen. Erst jetzt kommen die Menschen in Ostdeutschland dazu, ihre ihnen zuvor verordneten Meinungen selbst zu definieren. Im deutschen Westen muss sich offenbaren, was sich an nationalistischen Ressentiments bislang hinter dem offiziellen Antikommunismus verbergen konnte, dem jetzt die Grundlage entzogen ist. Entledigt vom Anpassungsdruck der Blockkonfrontation und durch die Vereinigung ist uns eine neue Eigenverantwortung zugewachsen. Dabei ist es nicht nur die Frage, wie weit wir mit der Überwindung der Reste des alten Ungeistes fertig geworden sind, sondern ob uns die Lehre aus unserem furchtbaren Scheitern vielleicht sogar positiv dazu befähigt, spezielle konstruktive Beiträge zur internationalen Friedenspolitik zu leisten. Ich teile die Zuversicht von Margarete Mitscherlich und anderen, die feststellen zu können glauben, dass hierzulande aus den Trümmern von nationalistischem Größen- und Machtwahn, von paranoidem Rassismus und aggressivem Militarismus eine Sensibilität gewachsen ist, die der erweiterten deutschen Verantwortung einen verheißungsvollen Inhalt geben könnte. Das hieße z. B., uns deutlich an die Seite der Kräfte in der Welt zu stellen, die an friedlichen Konfliktlösungen, am Abbau von Rüstung zugunsten sozialer und ökologischer Verbesserungen und an einem erweiterten internationalen Schutz der Menschenrechte arbeiten. Ohne in Nahost den Friedensprozess direkt aktiv fördern zu können,


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müssen wir klarmachen, dass uns der Schutz der Lebensinteressen Israels unmittelbar angeht. Was wir aus unserem nationalen Scheitern auch immer hoffentlich an heilvollen Einsichten gelernt haben mögen, – es geziemt uns nicht, uns damit hervorzutun. Mir gefällt eine Formel von Jürgen Habermas, der gesagt hat: »Man kann mit spezifisch deutschen Erfahrungen reflektiert umgehen, ohne sich eine Sonderrolle zuzuschreiben.« Ein Wort noch zu einer momentanen Sorge. Unter Verkennung des Unterschiedes zwischen dem Urheberstaat des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges einerseits und dem SED-Staat andererseits erscheint es vielen so, als lösten hier zur Zeit zwei weitgehend identische Verarbeitungsprobleme einander ab, so dass zu dem unschönen Begriff Vergangenheitsbewältigung oft nur noch der Umgang mit den Stasiakten assoziiert wird. Richtig ist wohl, dass beide Regime als Diktaturen die Bevölkerung in ähnlicher Weise mit gewaltigen Spitzelsystemen eingeschüchtert und drangsaliert und damit nach ihrem Fall die Aufgabe hinterlassen haben, zerstörerisches Misstrauen vor einer Fortsetzung unter entgegengesetzten Vorzeichen zu bewahren. Aber die Aufgaben der Verarbeitung gehen ineinander nicht auf. Dass die Auseinandersetzung mit dem Stasisystem bedeutende Anstrengungen fordert, ist unmittelbar einsichtig. Aber es sind zwei Lasten zu tragen, und die Ältere ist die schwerere. Keines der noch so gravierenden Verbrechen des SED-Regimes darf den Blick auf Auschwitz verstellen. Hier entlarvt sich jeder Versuch eines relativierenden Vergleichs als Ansatz zu neuerlicher Verdrängung und zum Rückfall in jene von Jaspers seinerzeit kritisierte Verlogenheit. Zu Ende ist die Zeit, da ein Teil Deutschlands dem anderen zuschieben konnte, was er sich an eigenem peinlichem Erinnern ersparte. Was immer die Menschen in Ost und West zur Zeit noch an wechselseitiger Entfremdung und an Trennendem entdecken, – zu dem, was sie fest aneinander bindet, gehört die gemeinsame Geschichte und darin insbesondere auch das Stück, dessen furchtbarste Entscheidung am Wannsee vor 50 Jahren gefällt wurde. Aus dem Tatsächlichen und dem Verstehbaren jener Geschehnisse gemeinsam weiter zu lernen, ist notwendig, um das Vertrauen der anderen


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in uns Deutsche zu festigen, noch wichtiger aber f端r uns selbst und den vielversprechenden Teil der Jugend in Ost und West, der sagt: Um zu wissen, wer wir sind und wo wir hinwollen, m端ssen wir erst klar sehen, wo wir herkommen. (Rede auf der am 20.1.1992 vom Berliner Senat ausgerichteten Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Wannsee-Konferenz)


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N端rnberg 1996

Stukenbrock 1986


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Medizin und Gewissen Wie immer diese Tagung auch verlaufen mag – ein Erfolg ist ihr schon nicht mehr zu nehmen. Das ist der in diesem Maße unerwartete Zuspruch von Interessenten. Er läßt sich hoffentlich als ein Zeichen dafür interpretieren, daß endlich die Verdrängung eines zutiefst beschämenden Anteils der Geschichte des ärztlichen Berufsstandes schwindet. Schon daß sich der diesjährige Ärztetag erstmalig dazu aufraffte, sich selbstkritisch mit dem Beitrag deutscher Ärzte zu den Unmenschlichkeiten des Nationalsozialismus zu befassen, war ein ermutigendes Zeichen. Das Bedürfnis nach offener Konfrontation mit dem Geschehenen meldet sich unabweisbar, seitdem diejenige Generation allmählich abtritt, die aus Uneinsichtigkeit, Scham oder Angst die Vergangenheit nicht beredet haben wollte. Sie machte es pionierhaften Aufklärern wie Alexander Mitscherlich, Fred Mielke, Alice Riciardi von Platen, Gerhard Schmidt, Klaus Dörner, Friedrich Karl Kaul, Ernst Klee, Benno Müller-Hill, Götz Aly und anderen unter uns überaus schwer, mit ihren rückblickenden Enthüllungen unsere Berufsgruppe aufzurütteln. Abweichend von den Gepflogenheiten möchte ich bereits jetzt den Nürnberger Veranstaltern herzlichen Dank dafür sagen, daß sie uns durch ihre Einladung und ihre engagierte Vorarbeit die Gelegenheit zur breiten Diskussion dieses Themas bieten, zusammen mit kompetenten internationalen Gästen, auf deren Beiträge wir besonders gespannt sind. Wir haben uns zu erinnern, daß es ärztliche Erbforscher und Psychiater waren, die Hitler 1933 als Partner für die Umsetzung einer Heilslehre begrüßten, die zur Ausschaltung angeblich schädlichen Erbgutes aus dem sogenannten Volkskörper führen sollte. Sie waren die geistigen Väter eines Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses, das Hitler bei seinem Machtantritt übernahm. Erbgesundheitsgerichte, in denen jeweils zwei Ärzte neben einem Richter wirkten, verurteilten in den Folgejahren 350.000 bis 400.000 Menschen zur Zwangssterilisierung. Ärzte waren es, die nach 1939 für die im Geheimen und ohne Gesetz verfügte Ermordung von


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5.000 geistig behinderten oder gelähmten Kindern und später von mehr als 100.000 erwachsenen psychisch Kranken und sogenannten Asozialen sorgten. Ärztliche Wissenschaftler führten an KZ-Gefangenen jene grauenhaften Menschenversuche durch, die unter anderem Gegenstand des Nürnberger Ärzteprozesses vor 50 Jahren wurden, an den unsere Tagung erinnert. Es läßt sich nicht ohne Entsetzen ins Auge fassen, was Ärzte, die zum Schutz von Gesundheit und Leben verpflichtet sind, zur Vernichtung von Gesundheit und Leben beigetragen haben. Aber Entsetzen und Entrüstung genügen nicht zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit. Auch nicht, daß wir uns gegenseitig versichern, jene abscheulichen Konzepte und Taten seien uns unfaßbar. Unserer Resistenz können wir uns nur dadurch versichern, daß wir Einsicht in die seinerzeit wirksamen Motive gewinnen und erst dadurch erkennen, auf welche möglichen eigenen Anfälligkeiten wir zur Prävention zu achten haben.

Aber wo lagen die Motive? Wir finden unter den Tätern, zumal unter den in Nürnberg verurteilten, grausame, skrupellose Menschen. Aber in ihrer großen Mehrheit boten die schuldig gewordenen Ärzte keine auffallenden disponierenden Persönlichkeitsmerkmale. Sie versagten aus überindividuellen geistigen und sozialen Zusammenhängen heraus. Sie übernahmen gemeinsam eine tragende Rolle in einer Gesellschaft, die sich einer zutiefst inhumanen Ideologie verschrieben hatte. Wie große Scharen anderer Berufsgruppen spielten sie willig ihren Part in einem von vornherein auf Destruktivität ausgerichteten System, zum Teil in vorderster Front als geistige Wegbereiter, zum Teil in dumpfer Gleichschaltung. Zu den Wegbereitern gehörten jene schon zitierten medizinisch pro­ movierten Anthropologen, die Hitler halfen, seine rassistischen Ver­ nichtungspläne als ein quasi medizinisches Heilsrezept auszugeben. Sie lieferten die Idee von dem vermeintlich kranken Volkskörper, der durch


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Entfernung von schädlichen Erbanlagen kuriert werden müsse. Zwei der drei Autoren des Standardwerkes Menschliche Erblehre und Rassenhygiene, das Hitler 1923 in Landsberg las und das er für sein Vernichtungsprogramm nutzbar machte, wurden später führende Helfershelfer für seine Ausmer­ zungspolitik. Die Geschichte dieses Buches gibt übrigens einen beispielhaften Hinweis für die Verschmelzung eugenischer und antisemitischer Vorstellungen. Fritz Lenz, Mitautor jenes Lehrbuches, hatte in dessen dritter Auflage 1931 noch geschrieben: »Den einseitigen ‚Antisemitismus‘ des Nationalsozialismus wird man natürlich bedauern müssen. Es scheint leider, daß die politischen Massen solche Anti-Gefühle brauchen...« In einer früheren Auflage hatte er die Juden sogar ausdrücklich gegen den Vorwurf ihres angeblich zersetzenden Einflusses verteidigt und verkündet: »Der jüdische Geist ist neben dem germanischen die hauptsächlichst treibende Kraft der modernen abendländischen Kultur!« Aber nach Hitlers Machtantritt klang es in der nächsten Auflage prompt 1936 ganz anders. Jetzt plötzlich warnte er vor dem schweren Schaden, den die Juden einem Wirtsvolk durch Zersetzung bereiten könnten, und wörtlich: »Ein Lebewesen gedeiht besser ohne Parasiten«. Bis in die entmenschlichende Wortwahl hatte er den Schulterschluß mit dem Regime geschafft. Man kann bei ihm und führenden anthropologischen Kollegen rätseln, was an solchen Wandlungen echt, was opportunistische Anpassung war, entscheidend war, daß sie fortan den rassistischen Verfolgern engagiert zur Seite standen. Daß seinerzeit eine wie immer biologisch rationalisierte Vernich­ tungspolitik in der Bevölkerung Anklang finden konnte, mag durch eine düstere Zeitstimmung gefördert worden sein, durch die untergründige Wirkung von massenpsychologischen Ressentiments, von heimlicher Bereitschaft zu einem auf den Zivilsektor verlagerten Ersatzkrieg, der es erlaubte, an so heterogenen ohnmächtigen Minderheiten wie psychisch Kranken, Juden und Zigeunern Kränkungs- und Minderwertigkeitsgefühle abzureagieren, die sich nach der kürzlichen militärischen und moralischen Demütigung angestaut hatten. Aber wenn diese sozialpsychologische Interpretation stimmen sollte, träfe der Vorwurf die verantwortlichen Ärzte um so härter, nämlich daß sie ihre zu jeder Zeit eindeutige Helfer-Ethik


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zugunsten einer willfährigen Mittäterschaft verrieten. Was aber trieb sie scharenweise zu dieser geistigen Korrumpierung?

Wie aus einer helfenden eine vernichtende Medizin wurde Es hat den Anschein, daß viele sich tatsächlich von einem neu erfundenen, im Grunde pervertierten ärztlichen Pflichtbegriff beeindrucken ließen. Dem neuen Volksarzt obliege es, so hieß es, zuallererst dem Schutz der völkischen Blutsgemeinschaft zu dienen, der im Zweifelsfall die Interessen der einzelnen zu opfern seien. Diese Idee, das Ganze höher als das Individuum zu stellen, gab sich den Anschein, die Verantwortung des Arztes auf eine höhere sittliche Ebene zu heben und den ihm abgeforderten Verrat von Scharen schutzwürdiger Individuen in ein edelsinniges Opfer zu verkehren. Die präziseste Formulierung dieses scheinmoralischen Denkmodells fand 1940 der spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz, der ausführte: »Aus der weitgehenden biologischen Analyse des Verhältnisses zwischen Körper und Krebsgeschwulst einerseits und einem Volk und seinem durch Ausfälle asozial gewordenen Mitgliedern andererseits ergeben sich große Parallelen in den notwendigen Maßnahmen.« Zum Glück, so fuhr er fort, sei die Ausmerzung schädlicher Elemente für den Volksarzt leichter und für den überindividuellen Organismus weniger gefährlich als der Eingriff am Einzelkörper. Dieser Gedanke enthielt die Täuschung, der Medizin zwar einen Heilungsauftrag für das Ganze einzureden, aber eben nicht das Ganze zu meinen, sondern nur einen vermeintlich lebenswerten Teil, zu dessen Gunsten sie helfen sollte, den angeblich lebensunwerten Teil unschädlich zu machen. Tatsächlich kollidiert ärztliche Hilfe für Kranke, Behinderte oder Schwache indessen niemals mit dem Wohl einer humanen Kulturgesellschaft. Deshalb ist der ureigene Platz des Arztes stets an der Seite der hilfsbedürftigen Menschen, deren Rechte er, gerade wenn er das Gesamtwohl, was er sollte, mitbedenkt, ganz besonders gegen Stigmatisierung schützen sollte. Denn nur eine helfende und gegen Entsolidarisierung wachsame Gesellschaft ist intakt und psychisch gesund.


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Aber die Gesellschaft, die sich Hitler ergab, war in diesem Sinne schon nicht mehr intakt. Die sofort begonnene Massensterilisierung war neben den prompt einsetzenden Maßnahmen gegen die Juden ein erster Schritt zur anbrechenden Entsolidarisierung. Die psychisch Kranken wurden dabei neben den Juden zu einer Hauptzielgruppe der Ausmerzungsstrategie, und ausgerechnet Ärzte sorgten dafür, daß diese Strategie unter dem Tarnnamen Euthanasie später zu einer in der Geschichte einzigartigen ärztlich gesteuerten Massenmordaktion führen konnte. Die Schwächsten und Hilflosesten der Gesellschaft wurden in furchtbarer Weise von denen verraten, die sich speziell zu ihrer Hilfe ausgebildet und verpflichtet hatten. Die Ungeheuerlichkeit dieses Geschehens hinterließ nach dem Krieg eine lange Phase der Sprachlosigkeit. Wer sprechen wollte und sich bemühte, Licht in das Unheimliche zu bringen, stieß auf eine Mauer des Widerstandes. Aber das Unheimliche darf nicht unverstanden bleiben, damit es nicht unerkannt wiederkehrt. Alles modische Reden über medizinische Ethik bleibt unverbindlich, wenn es sich der Erinnerung an jene Geschehnisse versagt. Daniel J. Goldhagen hat kürzlich beträchtliche Aufregung mit seiner These gestiftet, eine noch so große Gehorsamkeitsbereitschaft der Deutschen hätte den Holocaust nicht möglich gemacht, wenn nicht eine wie immer auch propagandistisch angeheizte antisemitische Stimmung den Boden dafür bereitet hätte. Ähnlich kann man fragen, ob die industriemäßige Massentötung psychisch Kranker und anderer sozial Unerwünschter nicht ein zumindest halbherziges Einvernehmen von Teilen der Psychiatrie voraussetzte. Die deutsche antipsychoanalytisch und überwiegend antipsychotherapeutisch eingestellte Psychiatrie hatte zum Unterschied von anderen Ländern keinen wissenschaftlich ermutigenden Weg zum Verständnis psychisch Kranker gefunden. Viele Psychiater fühlten sich ihren Patienten nicht besonders nahe, erlebten sie eher als unangenehmen Vorwurf gegen die eigene therapeutische Erfolglosigkeit. Die Sterilisierungskampagne hatte die Entwertung speziell der psychotisch Kranken bereits besiegelt. Wenn dann die leitenden Psychiater fast geschlossen der sogenannten EuthanasieAktion den Weg frei machten, für die es nicht einmal eine gesetzliche


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Grundlage gab – mußte das nicht heißen, daß sie nicht ernstlich widerstehen wollten? Von einem einzigen Psychiatrie-Ordinarius, dem Göttinger Professor Ewald, ist bekannt, daß er in einer Vorbesprechung protestierend Stellung nahm gegen eine so wörtlich: »Euthanasie, die mit Euthanasie nichts zu tun hat.« Es ist ihm nichts weiter passiert, als daß man ihn nicht mehr in die Planungsgespräche einbezog. Hätten seine Ordinarien-Kollegen sich ihm mit ähnlicher Entschiedenheit angeschlossen, wäre die gesamte Aktion kaum durchführbar gewesen. Für die Überwindung der Hemmschwelle zur direkten Ausführung des Programms bedienten sich die Leiter zweier Mittel: Erstens einer ausgeklügelten Bürokratisierung des Ausleseprozesses mit Hilfe von unverfänglichen Meldebögen, die fern von den Anstalten gutachtlich und noch einmal obergutachtlich bearbeitet wurden. Die Opfer wurden so systematisch zu bürokratischen Objekten entmenschlicht. Die letztlich Ausführenden wurden unterwiesen, ein inneres Sträuben als Feigheit und Schwäche zu begreifen. Als Hitlers Kanzleichef Brack die höchsten Rechtswahrer des Reiches über die Massenmordaktion ins Bild setzte, sprach er in diesem Sinne von der Notwendigkeit, »Männer zu finden, die den Mut zur Ausführung und die Nerven zum Aushalten hatten.« Also kaltes Morden als Heroismus der Selbstüberwindung. Genauso hieß es dann ja auch 1943 in Himmlers berüchtigter Ansprache an die SS-Vernichtungskommandos. Für den ärztlichen Leiter der Aktion, Professor Heyde, PsychiatrieOrdinarius in Würzburg, war dieser Mut offenbar kein Problem. Er hatte die Massentötung mitverantwortlich organisiert, verhängte höchstpersönlich als Obergutachter Tausende von Todesurteilen und leitete später eine Ärztekommission, die Konzentrationslager ‚durchkämmte‘, um Kranke, angebliche Psychopathen und Arbeitsunfähige in Liquidationsanstalten umbringen zu lassen. Man mag diesen Mann als extremen Sonderfall ansehen. Das war er aber nicht mehr, als sich um ihn in den Nachkriegsjahren ein bemerkenswerter Schutzwall von kollegialer Solidarität bildete. Dadurch erst wurde der Fall des SS-Standartenführers Professor Heyde ein Lehrstück zum Thema Medizin und Gewissen.


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Als Häftling auf einem Transport entwichen, tauchte Heyde als Dr. Sawade 1950 in Flensburg auf, wo er bald als psychiatrischer Gutachter wirkte. Dem Medizinaldirektor, der ihn für die Landesversicherungsanstalt tätig werden ließ, war seine Identität ebenso bekannt wie zumindest drei Psychiatrie-Professoren, dem Psychiatrie-Chefarzt eines Landes­kran­ kenhauses und einem Obermedizinalrat. Die Kunde von seinem Wie­ derauftauchen drang in weitere Ärztekreise ein. Dennoch erstattete der vermeintliche Dr. Sawade innerhalb von neun Jahren unbehindert nach Schätzungen 6.000 bis 7.000 Gutachten, bis ihn ein Internist, anscheinend aus Verärgerung über einen privaten Konflikt mit der Justiz, auffliegen ließ. Hätte man Heydes direkte oder indirekte Unterstützer gefragt, warum sie dem Massenmörder solange die Stange gehalten oder zumindest Schweigen bewahrt haben, hätte die Antwort vermutlich gelautet, daß man dem Stand habe einen peinlichen Skandal ersparen wollen. Aber weil dieser auf Dauer ohnehin als unvermeidlich voraussehbar war, wollte wohl nur keiner als erster den Verrat begehen. Das Gewissen schlug für den Kollegen, weil er ein Kollege war. Aber was da schlug, war eben weniger das persönliche, das echte, sondern ein enteignetes Gewissen, das den Kollegen höher stellte als den Anstifter zu zigtausend Morden und zum Betrug an zigtausend getäuschten Angehörigen. Was sich subjektiv noch als Gewissen meldete, war in Wahrheit die Gehorsamsbereitschaft im sozialen Zusammenhang eines Standes, der Kollegenverrat als höchste aller Unanständigkeiten verwirft und der deshalb mit seinen Sündern meist glimpflicher als mit seinen internen Kritikern verfährt. Das bekam übrigens Alexander Mitscherlich, der Chronist des Nürnberger Ärzteprozesses, gerade in jenen Jahren weidlich zu spüren, in denen Heyde gut abgedeckt seiner anerkannten Gutachtertätigkeit nachgehen konnte.

Das Gewissen schlägt nicht für Gene Allerdings kostete es den Stand keine besondere Mühe, seine belastete Vergangenheit zu verhüllen. Es war, als wollte auch die Bevölkerung nichts


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davon wissen, was ihr Vertrauen in die von ihr am höchsten idealisierte Berufsgruppe zu erschüttern drohte. Als sie schließlich über den Holocaust reden konnte, sparte sie die ‚Euthanasie‘-Verbrechen immer noch aus, und selbst die Entlarvungen der kritischen Psychiatrie-Bewegung der 70er Jahre errangen nur kurzzeitig öffentliches Interesse. Zu unserer aller Schaden ist eine breite Grundsatzdebatte darüber ausgeblieben, wohin es eine Gesellschaft ganz gleich welcher Ordnung verschlägt, wenn sie erst einmal eine züchterische Selektion zwischen wertem und unwertem Leben durch wen auch immer zuläßt. Die jahrzehntelange Verdrängung des Ausrottungskrieges gegen die psychisch Kranken wird jetzt an einer sonderbaren hermetischen Ab­ ge­ hobenheit der Bio-Ethik-Diskussion erkennbar. Es geht ein spürbares Unbehagen um, sich über die Konsequenzen einer ‚genetifizierten‘ Medizin klarzuwerden. Es ist, als taumelten die Gesellschaft und mit ihr die Medizin in besinnungsloser Automatik einem Machen des je Machbaren entgegen, die Frage nach der Verantwortbarkeit vernachlässigend. Wer zur Orientierung an der Erinnerung aufruft, erlebt sich eher als Störer, der etwas aufrührt, was die Unvoreingenommenheit nimmt. Aber wir müssen voreingenommen sein. Wir müssen entschieden davor warnen, daß das Ministerkomitee des Europarates demnächst, wie geplant, eine im September bereits von der Parlamentarischen Versammlung gebilligte Bioethik-Konvention verab­ schie­det. Danach dürften zum Beispiel in Ausnahmefällen – was heißt das schon – Experimente an nicht einwilligungsfähigen Menschen vorgenommen werden, also an kleinen Kindern oder geistig Gestörten, auch wenn die Versuche ohne direkten Nutzen für die Betroffenen wären. Die Ergebnisse genetischer Tests dürften unter gewissen Umständen weitergegeben werden. Auch sogenannte verbrauchende Embryonenforschung wäre mit Einschränkung erlaubt, was massiven kommerziellen Interessen überaus gelegen käme.


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Der gläserne Embryo ist schon da. Bald werden alle Schwangeren überlegen können, ob sie ein Kind mit diversen absoluten oder relativen Krankheitswahrscheinlichkeiten noch haben wollen. Kaum jemand wird Menschen hindern können, sich durch Vorweis eines günstigen Gentests Vorteile bei Bewerbungen zu verschaffen. Zygmunt Bauman prognostiziert: »Und da wir jetzt die Mittel haben, das Ungeplante zu verhindern, dürfte wohl alles, was als körperliche Deformierung oder bloße Abnormität definiert ist, kriminalisiert werden, während die Liste der Deformitäten und Abnormitäten unaufhaltsam weiter anwachsen wird, je schneller das Verzeichnen der Chromosomen voranschreitet.« Auch wenn sich Baumans Vermutung für unser Land nicht so bald bewahrheiten würde, nämlich daß man mit Gesetzen zur Säuberung der Nation von verhinderbaren genetischen Defekten vorgehen werde, so bliebe immer noch breiter Spielraum für private Initiativen zum manipulativen Mißbrauch gentechnischer Mög­ lichkeiten. Es ginge dabei neuerdings nicht wieder um rassistischen Reinheitswahn à la Hitler, sondern für die Mächtigeren um eigene narzißtische Perfektionierung und für die Ohnmächtigeren um maßgeschneiderte Herstellung von Brauchbarkeit. Keinesfalls aber darf sich die Medizin widerstandslos von einem sogenannten Fortschritt überrennen lassen, durch den Menschen sich die Natur anderer Menschen und die eigene unbegrenzt untertan zu machen anschicken. Wir haben das Thema Medizin und Gewissen für diese Tagung mit Bedacht gewählt, weil wir glauben, daß es vor allem auf die innere Haltung der Menschen ankommt, die in diesem Beruf heilen und forschen. Was wir Gewissen nennen, hat für unseren Beruf eine besondere Bedeutung. Es ist die ursprüngliche Quelle des Mitfühlens und ein unüberhörbarer Ansporn zum Helfen. Ihm liegt eine allgemein menschliche Anlage zugrunde, die Schopenhauer ein Mysterium und ein Urphänomen genannt hat. Das ist die innere Notwendigkeit, gefühlsmäßig an dem Leiden des Anderen Anteil zu nehmen, verbunden unmittelbar mit dem Drang, ihm beizustehen. Im Gewissen steckt eine kategorische Mahnung, aber gleichzeitig ist es ein Wegweiser zu einer tiefen Befriedigung, zur Genugtuung nämlich, wenn das angespornte Helfen stattfinden kann. Diese Genugtuung scheint


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jedenfalls ursprünglich einer Mehrheit derjenigen vorzuschweben, die den Arztberuf erlernen wollen. So haben Beckmann, Moeller, Scheer und ich jedenfalls empirisch ermittelt, daß Bewerber für das Medizinstudium in ihrer Selbstbeschreibung vergleichsweise durch eine im Durchschnitt erhöhte soziale Sensibilität auffallen. Mehr als die Wähler sonstiger Studienfächer heben sie ihre Sorge um das Wohl anderer Menschen hervor, daher offenbar die Bevorzugung eines Berufes, der ihr Engagement für die Partei der Patienten, das heißt der Leidenden, herausfordert. An dieser Stelle möchte ich eine Nebenbemerkung zu einer meines Erachtens abwegigen These einfügen, weil diese vermutlich auch auf diesem Kongreß wieder auftauchen wird. Diese lautet: Gerade das sorgende Mitfühlen, die Sympathie, das Mitleid könnte am Ende auch zum Töten verführen, so wie Hitler beispielsweise den Begriff Gnadentod mißbräuchlich für den Massenmord an den psychisch Kranken verwendet hat. Aber diese Kranken sind natürlich nicht Opfer von Mitleid, sondern eines rücksichtslosen Ausmerzungsdenkens geworden. Sollte die gentechnische Entwicklung eine neue Ausrottungsmentalität aufkommen lassen, so wäre auch in dieser nicht etwa Mitleid, sondern genau umgekehrt gerade dessen aggressive Abwehr wirksam, im Sinne meines Buchtitels Wer nicht leiden will, muß hassen. Der Allmachtsanspruch einer Gesellschaft auf perfekte Leidfreiheit würde die Medizin erneut unter den Druck setzen, wichtiger als die Hilfe für die Leidenden die Hilfe für eine Gesellschaft zu nehmen, die indirekt in den Kranken eine beschwerliche, um jeden Preis zu verringernde Last sähe. Im Augenblick treten wirtschaftliche Argumente in den Vordergrund. Die Politik sagt zur Zeit: Wir müssen – Stichwort Globalisierung – mehr Konkurrenzgesellschaft als helfende Gesellschaft sein. Diese Politik sagt: Die Kranken und Schwachen kosten viel, vielleicht müssen sie, wenn sie mehr Druck zu spüren bekommen, weniger leicht und weniger oft krank werden. Noch wird hierzulande die Keule des sozialen Risikos von Krankheit und Gebrechlichkeit nicht so ungeniert geschwungen wie etwa in den USA. Aber der Kurs ist schon unverkennbar und damit ein Klima, das in der Medizin im Anklang an früheres Denken eine Tendenz wachsen lassen könnte, sich


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zum Beispiel mehr um die Gene, die unerwünschte Krankheiten machen, zu kümmern als um ihre Träger, die in der Sicht von Richard Dawkins ohnehin nur als auswechselbare Hilfsmaschinen anzusehen seien, welche sich die Gene zur Sicherung ihrer ewigen Replikation geschaffen haben. Aber der Arzt ist angetreten, diesen sogenannten Hilfsmaschinen zu dienen, wie immer ihm die Genforschung dabei auch hilfreich werden kann. Das Gewissen, auf das er sich verlassen kann, schlägt nicht für Gene, vielmehr ausschließlich für Menschen und auch nie für deren Benutzung durch noch so wohlmeinend dargestellte Interessen von Wirtschaft oder Staat.

Die Gefahr einer gewissenhaften Gewissenlosigkeit Aber da ist noch eine andere Gefahr moralischer Korruption, die mit dem Kunststück zusammenhängt, daß der Arzt tagtäglich zwei grundverschiedene Sichtweisen vom Mitmenschen in sich verbinden soll. Da ist einerseits die verdinglichende, naturwissenschaftliche, in der er Daten analysiert und ingenieurhaft reparierend in körperliche Funktionen eingreift. Andererseits ist da die personale Sichtweise, die Viktor von Weizsäcker mit der Formel gemeint hat: »Medizin ist eine Weise des Umganges des Menschen mit dem Menschen«. Darin ist der Arzt der sich Einfühlende, der Zuhörende, der am Schicksal und an den Konflikten des Anderen Anteilnehmende. Aber der laufend zunehmende Aufwand für das naturwissenschaftliche Sehen und Denken kann für den Arzt bedeuten, daß die vergegenständlichende Betrachtungsweise in ihm überhand gewinnt. Daß er im beruflichen Handeln seine Gefühle weitgehend abschaltet und sie nur noch kompensatorisch im Privatbereich unterzubringen versucht. Robert J. Lifton hat solche Prozesse der Selbst-Spaltung oder der psychischen Dissoziation beschrieben, als deren Resultat sonst normal empfindende Menschen im professionellen Bereich so denken und handeln, als wären ihre mitmenschlichen Empfindungen abgestorben. Viktor von Weizsäcker gelangte nach Studium der Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses 1947 in seiner Arbeit Euthanasie und Men­


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schenversuche zu dem Fazit: »...es kann wirklich kein Zweifel darüber bestehen, daß die moralische Anästhesie gegenüber den Leiden der zu Euthanasie und Experimenten Ausgewählten begünstigt war durch die Denkweise einer Medizin, welche den Menschen betrachtet wie ein chemisches Molekül oder einen Frosch oder ein Versuchskaninchen.« Ähnlich äußert sich Benno Müller-Hill, der im Einbruch der Wissenschaft in die Ebene des sprechenden und Zeichen gebenden Menschen im 18. Jahrhundert den Anfang einer Entwicklung sieht, die am Ende in eine den Menschen entwürdigende Betrachtungsweise der Forschung mündet. »Denn der Mensch«, so schreibt er, »wird in dieser Betrachtungsweise zum gehorchenden Objekt oder Tier reduziert. Das war es, was Psychiater, Anthropologen und Hitler einte.« Im Nürnberger Ärzteprozess brachte die Verteidigung die Frage auf, ob man dem Forscherarzt nicht die Befolgung des hippokratischen Eides in der strengen Form erlassen könne, wie diese den praktizierenden Arzt binde. Der amerikanische Gutachter Professor Ivy zeigte sogar Verständnis für diesen Gedanken. Aber Mitscherlich und Mielke wandten in ihrem Kommentar, meines Erachtens mit Recht, ein, »...daß die Trennung in Forscher und Praktiker mit verschiedenem Moralkodex nicht allein den Begriff des Arzttums sprengt, sondern auch zu zwei verschiedenen Humanitätsbegriffen führt«. Forschende und helfende Medizin lassen sich weder auf zwei Personen verteilt noch in einer vereint moralisch trennen. Kompliziert wird das Problem dadurch, daß dem Arzt seine professionelle Spaltung leicht entgehen kann, wenn er nämlich eine gewisse fachliche Partialmoral als die eigentliche erlebt, zum Beispiel die penible Einhaltung von Sauberkeit und Exaktheit in der naturwissenschaftlichen Methodik. Verwerfliche Versuche an Menschen wurden zum Teil von Ärzten vorgenommen, die dabei mit aller gebotenen fachlichen Gründlichkeit und Sorgfalt vorgingen. Es gibt demnach auch eine gewissenlose Gewissenhaftigkeit, mit der man sich selbst trügerisch beschwichtigen kann. Aber die Beschwichtigung ist ungesund, und auch schon in der vergleichsweise harmlosen Form der Gefühlsverdrängung im beruflichen Alltag. Diese sollte der Arzt an einem inneren Druck registrieren können,


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wenn er sich professionell nicht mehr als ganzheitliche Person, sondern nur noch als abgestumpfter Datenauswerter und technischer Macher einläßt. Dann ist es nach meinen Beobachtungen oft nicht bloß Überarbeitung und Streß, sondern es sind eben solche Verdrängungsprozesse, die sich bei Medizinern als Hintergrund von Familienkrisen, Alkoholproblemen und vorzeitigen Verschleißkrankheiten auswirken. Wer als Arzt die Emotionen vollständig von sich abprallen läßt, die als Angst, Sorge und Leiden ihm laufend von den Kranken entgegenfluten, der kann irgendwann auch nicht mehr innerlich wahrnehmen und verarbeiten, was in ihm selbst von dem steckt, was er ständig nach außen abwehrt. Was er verdrängt, schlägt sich auf die Dauer dann eben in psychosozialen oder psychosomatischen Problemen nieder. Wenn Sie meinen, daß meine Beobachtungen zutreffen, dann mögen Sie verstehen, daß mein Referat eher in eine hygienische als in eine ethische Empfehlung ausläuft, da ganz offensichtlich eine Wechselbeziehung zwischen der Menschlichkeit bzw. Unmenschlichkeit des Arztes im Umgang mit sich selbst einerseits und im professionellen Wirken andererseits besteht. Nur wenn er ohne Abspaltung nahe bei sich selbst bleibt, kann er die besondere zwischenmenschliche Nähe, die sein Beruf stiftet, heilvoll nutzen. Lebt er gegen die eigene Natur, wird er auch kaum genügend achtungsvoll und behutsam mit der Natur der anderen umgehen, die seinen Beistand suchen. Der Jahrestag, der Anlass zu dieser Tagung ist, nötigte mich dazu, an vielfaches ärztliches Scheitern zu erinnern und über dessen Hintergründe nachzudenken. Aber bei der Bewußtmachung von Scham und Schuld sollte nicht außer acht gelassen werden, daß es in unserem Land auch unter totalitärem Terror eine humanen Grundsätzen treu gebliebene Medizin gegeben hat mit Ärzten, die ungebeugt ihren Dienst am Kranken verrichtet und sogenanntes unwertes Leben vor dem Zugriff des Staates und seiner verantwortungslosen Helfershelfer geschützt haben. Es gab auch Schindlers in der Medizin. So bleibt es eine lohnende Aufgabe für medizinische Zeitgeschichtler, entsprechende Biographien zu sammeln und bekannt zu machen, solange noch Zeitzeugen dabei Hilfestellung leisten können. Das abschreckend Negative darf nicht verdrängt werden. Aber unentbehrlich


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und letztlich erzieherisch am wirksamsten für junge Mediziner sind zusätzlich Hoffnung stärkende Vorbilder. Deshalb hätte ich gern noch einiges von Ärzten erzählt, die ich als solche Vorbilder erlebt habe und an die ich oft dankbar denke. Aber dafür bietet sich vielleicht irgendwann eine anderweitige Gelegenheit. Nur noch ein Gedanke am Ende. Ich habe warnend an jene sogenannten Volksärzte erinnert, die glaubten, das Wohl des Volksganzen verlange unter Umständen die Opferung gesundheitlicher Individualinteressen. Das könnte mißverständlich so aufgenommen werden, als sei der Arzt eben nur für das individuelle Wohl zuständig und, jedenfalls von Berufs wegen, nicht für die Angelegenheiten der Allgemeinheit. Aber bereits zum individuellen Helfen muß er sich, wie erwähnt, mit solchen wirtschaftlichen und politischen Kräften auseinandersetzen, die ihn in der Arbeit korrumpieren oder einschnüren können. Erst recht ist sein Engagement in einer Zeit gefragt, in der die gesellschaftliche Solidarität mit Kranken, insbesondere mit chronischen und armen, nachzulassen droht. Und wenn heute schon eine Mehrheit der älteren Schulkinder und der Jugendlichen nachweislich mit pessimistischen sozialen Erwartungen und großen Umweltängsten heranwächst, so ist es die Sache der Ärzte, auf die destabilisierende Wirkung der gesellschaftlichen Ursachen solcher Bedrückungen hinzuweisen. Die gesundheitlichen Gefahren, insbesondere durch die atomaren Risiken und durch die Naturzerstörung haben die Organisation der IPPNW entstehen lassen, die diese Tagung veranstaltet. Ihr Hauptziel war – gestützt auf die moralische Autorität des Standes – die Öffentlichkeit aufklärend wachzurütteln, und dieses Ziel wird unsere Organisation engagiert und unbeirrt weiterverfolgen. Aber die Selbstgerechtigkeit, mit der wir dabei gelegentlich aufgetreten sind, ist uns allmählich zum Problem geworden. Aus der Erkenntnis des Widerspruchs, fortwährend anderen ins Gewissen zu reden, jedoch die Auseinandersetzung mit der belasteten eigenen Standesgeschichte zu vernachlässigen, ist diese Tagung entstanden. Möge sie uns helfen, an diesem Widerspruch erfolgreich zu arbeiten und unser Bild vor uns selbst und vor der Gesellschaft ein gutes Stück zu klären.


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(Eröffnungsvortrag zum gleichnahmigen IPPNW-Kongress 50 Jahre nach den Nürnberger Ärzteprozessen, Nürnberg 25.10.1996)

Literatur Aly, G. (Hg.): Aktion T4 1939 -1945. Die »Euthanasie«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4. Berlin 1989. Aly, G. u. S. Heim: Vordenker der Vernichtung. Hamburg 1991. Baader, G. u. U. Schultz (Hg.): Medizin und Nationalsozialismus. Berlin 1980. Baumann, Z.: Dialektik der Ordnung. Hamburg 1992. Baumann, Z.: Biologie und das Projekt der Moderne. Mittelweg 36 2, 1993. Baur, E. u.a.: Menschliche Erblehre und Rassenhygiene (Eugenik). München, 1. Aufl. 1921, 5. Aufl. 1940. Beckmann, D. u.a.: Studenten, wie sehen sie sich selbst, ihre Arbeit und die Universität? Analysen 1, 1971. Dawkins, R.: Das egoistische Gen. Berlin-Heidelberg-New York 1978. Dörner, K. u.a. (Hg.): Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Rehburg-Loccum 1980. Goldhagen, D.J.: Hitlers willige Vollstrecker. Berlin 1996. Internationale Initiative gegen die geplante Bioethik-Konvention für Europa 1995. Kaul, K. K.. Die Psychiatrie im Strudel der »Euthanasie«. Frankfurt/M. 1979. Klee, E.: »Euthanasie« im NS-Staat. Frankfurt/M. 1983. Lifton, R. J. u. E. Markusen: Die Psychologie des Völkermordes. Stuttgart 1992. Lifton, R.J.: Ärzte im Dritten Reich. Stuttgart 1988. Lorenz, K.: Durch Domestikation verursachte Störungen arteigenen Verhaltens. Zschr. f. Angewandte Psychologie und Charakterkunde 59,2 (1940) zit. nach B. Müller-Hill: Tödliche Wissenschaft. Reinbek 1984. Mitscherlich, A. und F. Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit. Frankfurt/M. 1960. Müller-Hill, B.: Tödliche Wissenschaft. Reinbek 1984. Platen-Hallermund, Alice: Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Frankfurt/M. 1948. Neuauflage Bonn 1993. Richter, H.-E.: Der Gotteskomplex. Reinbek 1986. Richter, H.-E.: Die Chance des Gewissens. Hamburg 1986. Schmidt, G.: Die Selektion in der Heilanstalt 1939-1945. Frankfurt/M. 1983. v. Weizsäcker, V.: »Euthanasie« und Menschenversuche. Psyche 1, 1947.


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Mutlangen 1984


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Ist eine andere Welt möglich? Psychoanalyse und Politik Freud hat einmal gesagt, die Psychoanalytiker könnten nicht vermeiden, die Gesellschaft gegen sich aufzubringen, weil sie ihr ihre eigenen Verdrängungen genau so vorhalten müssten wie jeweils den einzelnen Patienten, die ebenfalls gegen diese Aufdeckung Widerstand leisteten. Man müsse also als Psychoanalytiker die Bezichtigung in Kauf nehmen, dass man gesellschaftliche Illusionen und Ideale in Gefahr bringe. Tatsächlich musste Freud viele Jahre eine Flut von Schmähungen über sich ergehen lassen, weil er mit seiner Sexualtheorie ein Tabu brach und als revolutionärer Pionier einer hemmungslosen Libertinage gefürchtet, aber damit zugleich gründlich missverstanden wurde. Er hatte die Gesellschaft in einem Moment provoziert, da ein Verdrängungsthema zwar schon ans Licht drängte, aber gerade noch von Ängsten und ideologischen Verboten zurückgehalten wurde. Daher anfangs die massiven Widerstände, erst später die Rehabilitation eines der herausragendsten Aufklärer der Neuzeit. Was Freud bewirkte, wurde ihm ähnlich wie in der Einzeltherapie schließlich dadurch erleichtert, dass sich eine Verdrängung in der Gesellschaft schon gelockert hatte, so dass der Anstoß zu ihrer weiteren Erschütterung wirksam werden konnte. Nun kann man fragen, wo sich denn heute etwa ein ähnlich wichtiges gesellschaftliches Verdrängungsthema zu kritischer analytischer Befragung anbiete. Anbieten ist allerdings schon eine gewagte Formulierung, zumal in einer Zeit, da die große Mehrzahl der Psychoanalytiker froh ist, sich einen anerkannten Platz im klinischen Versorgungssystem zu sichern und nachweisen zu können, dass ihre praktische Arbeit hilfreich und notwendig ist. Aber wenn man fast ein halbes Jahrhundert nicht ganz erfolglos bemüht war, einiges zu solchen Nachweisen beizusteuern, so kann man doch dem Bedürfnis nachgeben, sich der genannten Frage zuzuwenden.


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Ist eine andere Welt möglich? Psychoanalyse und Politik

Dabei bin ich auf eine Bemerkung Freuds am Schluss seines Buches Das Unbehagen in der Kultur gestoßen, das er nach langer Arbeit 1930 herausgebracht hat. Da lauten die letzten Sätze: »Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, dass sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, dass die andere der beiden ‚himmlischen Mächte’, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.« Vielleicht erspürte Freud damals schon das Heraufziehen einer Aus­ rottungsmentalität, wie sie demnächst Hitlers Völkermord an den Juden möglich machen würde. Und vielleicht ahnte er auch, dass die Entwicklung wahnwitziger Massenvernichtungswaffen bevorstand und dass es den Menschen schwer fallen würde, sich von diesen Arsenalen je wieder zu trennen. Man denke nur an die vom Pentagon neu entworfene Nuklearstrategie mit der atomaren Bedrohung auch atomwaffenfreier Staaten. Freuds Ein­ fall, wie die gefürchtete Katastrophe abgewendet werden könnte, erschöpfte sich in der Anrufung der »Himmelsmacht« Eros, was aus der Feder des areligiösen Freud eher wie eine hilflose Tröstung anmutete. Niemand dürfte bestreiten, dass die Anhaltspunkte für Freuds apokalyptische Befürchtung inzwischen noch erheblich an Bedrohlichkeit zugenommen haben. Andererseits hat sich die Neigung erkennbar vermindert, ausgerechnet von Vertretern der Psychoanalyse Hilfe zu einem besseren Verständnis des Dilemmas oder gar zu hilfreichen Inter­ ventionsmöglichkeiten zu erhalten. Nun gehöre ich selbst zu der eher bescheidenen Zahl von Psychoanalytikern, die sich auch ungebeten zu kritischer Kommentierung gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen zu Wort melden und auch vor praktischem Engagement nicht zurückscheuen. In der Erinnerung an Freuds Ermutigung, dass die Erregung von Widerstand nicht heißen müsse, dass man falsch liege, riskiere ich es, die folgenden provozierenden Überlegungen vorzutragen.


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Lassen Sie mich mit einem Beispiel aus den letzten Wochen beginnen. Der amerikanische Außenminister Powell erfährt im Gespräch mit seinem französischen Amtskollegen, dass dieser im Zusammenhang mit den IrakKriegsplänen Bedenken gegen den amerikanischen Unilateralismus hegt. Powells überlieferter Kommentar: Der Kollege führe sich schwächlich und weibisch auf. Richard Rorty berichtet von demokratischen Senatoren und Abgeordneten, die sich als »weichliche Europhile« schmähen lassen müssen. Weichlich, schwächlich, weibisch, feige – in Deutschland kommt noch die Titulierung von Friedensaktivisten als Weicheier hinzu, eine weitere Variante von Entmännlichung. Die Entscheidung für Krieg oder Nichtkrieg wäre demnach u.a. ein Test für Männlichkeit oder Unmännlichkeit. Man mag mir nachsehen, dass mir als Psychoanalytiker dazu die kraftmeierische Sprache von Jugendlichen einfällt, die sich in riskanten Mutproben ihrer Potenz versichern zu können glauben. Warum reagiert sogar ein sonst eher zu den Besonnenen zählender Minister Powell so gereizt? Ich meine indessen, dass sein impulsiver Ausbruch repräsentativ ist für die mehrheitliche Verfassung eines Großteils der männlichen Machtelite und dass es dabei nicht nur um den Irak-Krieg oder die augenblickliche Kriegspolitik überhaupt geht, sondern darüber hinaus um die Verteidigung eines männlichen Machtwillens, der sich durch weichliche, weinerliche, weibische Bedenklichkeiten nicht ankränkeln lassen will. Aber die übertriebene Gereiztheit, die auch der deutsche Kanzler bei seiner Distanzierung von den Irak-Kriegsplänen in Amerika zu spüren bekam, verrät doch auch, dass hier etwas getroffen worden ist, was man einen wunden Punkt nennt. Denn am heftigsten wehrt man sich bekanntlich dagegen, was man zugleich im eigenen Innern niederhalten muss. Führt diese Spur vielleicht weiter zu derjenigen zeittypischen Ver­ drängung, an der zu arbeiten sich momentan besonders lohnt? Lohnen allerdings nicht in dem Sinne des Belohntwerdens durch Zustimmung gemeint.


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Ist eine andere Welt möglich? Psychoanalyse und Politik

Wenn ich es richtig sehe, gab Freud selber einen Fingerzeig nicht zur Lösung, aber zur Erklärung des Problems, indem er in der zitierten Arbeit an einem bemerkenswerten Selbstwiderspruch hängen blieb. Im Anfangsteil des Textes hatte er noch eine Einstellung gepriesen, deren Konsequenz ihn am Ende erschreckte. Zunächst hatte er nämlich gemeint, dass man zusammen mit Allen am Glück Aller arbeite, wenn man mit Hilfe der Wissenschaft und Technik die Natur menschlichem Willen unterwerfe. Diese Kulturarbeit sei indessen im wesentlichen den Männern vorbehalten, weil die Frauen – so heißt es in einem späteren Abschnitt – weniger sublimieren könnten und mit ihren Interessen an Familie und Sexualität, also am Eros im weiteren Sinne, den Männern viel Energie rauben könnten, falls diese sich dagegen nicht ausreichend schützten. Man versteht jetzt besser, warum Freud nur den himmlischen Eros gegen den ausufernden männlichen Bemächtigungstrieb zu Hilfe rief, denn wie man sieht, hatte auch er es schwer, die stigmatisierten »weibischen« Bindungsgefühle in das männliche Selbstbild, offenbar zugleich in das eigene, zu integrieren. Ludwig Binswanger schrieb einmal, Freuds Persönlichkeit sei durch einen ungeheuren Willen zur Macht charakterisiert. Dieser meinte dazu, er wisse zwar nichts davon, aber er wolle auch nicht widersprechen, denn das Eigentliche des eigenen Wesens sei wohl unbewusst. Ich habe Freud hier allerdings überhaupt nur als Zeugen für eine ideologisch fixierte Gespaltenheit des kulturellen Menschenbildes zitieren wollen. Diese hat eine lange Geschichte. Dazu nur einige skizzenhafte Bemerkungen. Es begann damit, dass sich in der Renaissance das selbstbewusste Individuum entdeckte und sich aus seiner gehorsamen Unterordnung unter die mittelalterliche Kirchenherrschaft befreien wollte. Philosophen wie Francis Bacon und René Descartes gehörten zu den Pionieren, die im naturwissenschaftlichen Erkennen einen Weg zur Überwindung von Ohnmacht und Unmündigkeit wiesen. Unter den wachsamen Augen der Kirche wollte man das Forschen zunächst noch als unschuldige Neugier erscheinen lassen. Aber von Anfang an ging es um Macht, so wie später Freud


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die Abkunft des Wisstriebes aus dem Bemächtigungstrieb entlarvte. Bereits im 17. Jahrhundert hatten Denker wie Descartes und Spinoza festgestellt, dass jede emotionale Regung, von der das Ich passiv ergriffen werde, den intellektuellen Bemächtigungswillen störe. Der Wille, schrieb Descartes, dürfe sich nur auf den Verstand stützen und sich nicht durch Gefühle und Empfindungen irritieren lassen, die vom Körper und nicht von der Seele her stammten. Descartes beschrieb bereits die Vision, dass der Prozess des Erkennens grenzenlos fortschreiten und bis zur Annäherung an göttliche Vollkommenheit führen könne. Vor den Augen stand jedoch immer nur die eine Seite des Göttlichen, nämlich Allwissenheit und Allmacht. Die andere Seite – Güte, Liebe, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Versöhnung blieb ausgegrenzt, weil sie zu einem Rückfall in mittelalterliche Ergebenheit, Ehrfurcht, Hilflosigkeit und Ohnmacht einzuladen schien. Der im Bunde mit der Naturwissenschaft vorherrschende Bemächtigungswille sorgte somit zur Unterdrückung und Abspaltung derjenigen psychischen Merkmale, die dem Aufstieg zur machtvollen Selbstvergöttlichung des Individuums hinderlich schienen. Ich habe den aus der Psychiatrie herrührenden Terminus der Ma­ nie gewählt, um die Maßlosigkeit des Anspruchs zu kennzeichnen, der von der Illusion geleitet wird, am Ende winke eine gottähnliche absolute Unabhängigkeit bzw. Ungebundenheit. Immer wieder gab es allerdings auch Zwischenphasen, in denen bedeutende Denker Gehör mit der Feststellung fanden, dass der Zusammenhalt menschlicher Gemeinschaften sozialer Antriebe bedürfe, ohne die keine gerechte gesellschaftliche Ord­ nung möglich sei. Rousseaus Sorge war, dass der Fortschritt die Men­ schlichkeit der Herzen ersticke. David Hume bemühte sich, mitmenschlichen, sympathischen Gefühlen als ursprünglichen Motiven moralischen Handelns Anerkennung zu verschaffen. Sogar Adam Smith, Erfinder der liberalen Marktwirtschaft, pries in einem großen Buch über die »Ethischen Gefühle« die Benevolence und die Sympathie als Gegenkräfte gegen überwuchernde selbstsüchtige Interessen. Auf das Entschiedenste bestand dann Schopenhauer darauf, dass allein Mitleid das Fundament für Gerechtigkeit lege. Keiner pochte so entschieden wie er auf das Mitleid als ethisches


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Grundmotiv. Allerdings sah er darin wiederum vorrangig eine Qualität der Frauen, denen er genau so wenig wie später Freud zutraute, im kulturellen Prozess zur Übernahme verantwortlicher kultureller Aufgaben zu taugen. Der folgende beispiellose Aufschwung der Technik wurde dann aber als wunderbare Bestätigung des männlichen Bemächtigungswillens erlebt. Man feierte Nietzsche, der im Bilde des Übermenschen dem Traum der Selbstvergöttlichung Gestalt gab. Dazu passte es, dass Nietzsche die vermeintlich entmännlichenden Gefühle, an der Spitze das Mitleid, in Grund und Boden verdammte. Den Schwachen gebühre kein Beistand. Sie sollten zugrunde gehen. Mitleid sei Gift, weil es erhalte, was zum Untergang reif sei. Der Gute sei der letzte Mensch, die schädlichste Art Mensch. Den Guten habe sich der Mensch des Ressentiments ausgedacht. Das schrieb der Mann in den Jahren einer sehr schmerzhaften Krankheit, in denen er sein eigenes Leiden und sein Mitleiden mit sich selbst niederkämpfte. Aber seine Ethik entfaltete über zwei Jahrhunderte eine gewaltige Wirkung. Und sie lebt bis heute fort, etwa, wie gezeigt, als Waffe gegen europäische oder europhile Weichlinge. Allerdings hat die technische Entwicklung geholfen – sofern man es so zu nennen wagt, die Versuchung zum Mitfühlen und Mitleid ohnehin sehr zu dämpfen. Die nach wie vor in Tausenden von Nuklearwaffen gespeicherte massenmörderische Gewalt ist unsichtbar, und das voraussehbare Leiden der angezielten potentiellen Opfer ist nicht vorausfühlbar. Die Kampfflieger, die in unerreichbarer Höhe mit Knopfdruck Bomben oder Raketen ausklinken, sehen nichts von den zerfetzten und verstümmelten Menschen. Sie hören keine Schreie. Der Krieg ist nur noch selten ein Kampf, eher eine Hinrichtung durch Männer, die aus weiter Ferne in Flugzeugen oder auf Kriegsschiffen den Tod bringen. Überdies sorgen die überwachten Medien seit Vietnam dafür, dass nur solche Grausamkeiten abgebildet werden dürfen, die der Gegner verübt. Joseph Weizenbaum spricht von der riesigen psychologischen Distanz, die wir neuerdings zwischen unserem Tun und dessen Auswirkungen her-


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stellen können. Wir können Brutalitäten planen und verüben, ohne davon das Geringste zu spüren. Das ist u. a. auch ein Erfolg der ComputerWissenschaft. Und es ist nur symptomatisch, dass das bedeutendste Technik-Forschungszentrum der Welt, das MIT, sein Wissen immer zuerst seinem Hauptsponsor, dem Pentagon, zur Verfügung stellt. Man kann es als Triumph des Bemächtigungswillens ansehen, dass er seinen gefährlichsten Gegenspieler, die soziale Sensibilität, mit den neuen technischen Mitteln betäuben kann. Aber was da unterdrückt wird, ist das psychologische Immunsystem, das zur Abwehr einer furchtbaren gemeinsamen Selbstbedrohung unerlässlich ist. So ist es wohl kaum übertrieben zu behaupten, dass die heute gefährlichste Verdrängung genau die Sensibilität betrifft, die allein imstande ist, den weiteren Absturz in eine letztlich tödliche Dehumanisierung aufzuhalten. Und die Psychoanalyse kann sich durchaus dafür zuständig fühlen, zur Aufklärung dieses fatalen gesellschaftlichen Abwehrvorganges beizutragen. Psychoanalytiker, Psychiater und andere Mediziner aus vielen Ländern hatten sich Anfang der 80er Jahre vereint, um dem atomaren Rüstungswettlauf mit Aufklärung über die unübersehbaren medizinischen Folgen atomarer Katastrophen entgegenzutreten. Die Menschen sollten wissen, dass die Medizin in diesem Fall hilflos sei. Man warf uns vor, Angst zu verbreiten. Aber genau das wollten wir, nämlich die Menschen fühlen zu lassen, was ihnen drohte, und ihnen klar machen, dass sie die Verantwortung dafür mittrugen, die Abschreckungsdrohung im Ernstfall möglicherweise wahrmachen zu müssen. Wir Psychoanalytiker wissen, dass mit moralischen Appellen nichts zu erreichen ist. Es lässt sich Verdrängtes nicht bewegen, das sich nicht schon spontan rührt. Aber wenn sich etwas rührt, kann man nachbohren. Zum Beispiel, wenn man spürt, dass es Mühe macht, gewisse peinliche Erinnerungen niederzuhalten. Wir Deutschen können, selbst wenn wir es wollten, nicht der Erinnerung an die Schrecken zweier verschuldeter Weltkriege und des Holocaust entkommen. Die Jugend strömt in Massen zu Filmen wie Schindlers Liste oder Der Pianist, auch in die Ausstellung über


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die Wehrmachtsverbrechen, und erfährt darin Wichtiges über ein beunruhigendes geistiges Erbe, das in den Familien vielfach verheimlicht wurde. Die Jugendlichen spüren durch die Filme Entsetzen, Scham, Mitgefühl – aber auch ein Stück Hoffnung, dass selbst unter der Drohung der schlimmsten Barbarei die Menschlichkeit eine Chance hat. Wenn die gemeinsame schlimme Vergangenheit in diesem Land eine besondere Idosynkrasie gegen kriegerische Gewalt hinterlassen hat, so ist das, meine ich, überhaupt nicht beschämend, und dafür muss sich kein Kanzler entschuldigen. Die Geschichte der Amerikaner ist eine andere. Sie haben entscheidend mitgeholfen, die Welt vom Naziterror zu befreien. Sie waren ein großes Bollwerk gegen den Stalinismus. Aber auch sie haben Schuld zu tragen: Hiroshima mit über 200.000 Opfern; Vietnam, wo das versprühte Dioxin der Menge nach ausgereicht hätte, die gesamte Menschheit zu vergiften. Vietnam bereitete ihnen eine kurze moralische Krise, so dass sie einen Läuterer suchten und den frommen Jimmy Carter als Präsidenten fanden, der ihnen ausgerechnet jetzt, am Rande eines Irak-Krieges, wie ein Mahnmal als Friedensnobelpreisträger vorgehalten wird. Aber um alles in der Welt wollen sie Hiroshima als ruhmwürdiges Heldenstück hochhalten. Eine zum 50. Jahrestag des Bombenabwurfs im Smithonian-Museum in Washington geplante große Ausstellung, die zwar patriotisch ausgerichtet sein, aber auch die Zerstörungen und die Wirkung auf die Menschen zeigen sollte, wurde auf großen Druck hin verboten. Noch immer darf nicht besichtigt werden, was damals angerichtet wurde. Aber Kritiker geben keine Ruhe. Das Buch des Psychiaters Robert J. Lifton Hiroshima in America hat die Verdrängung wieder gestört. Ich habe, wie manche sich vielleicht erinnern, einmal ein Buch mit dem Titel geschrieben: »Wer nicht leiden will, muss hassen«. Man könnte auch hinzufügen: »Wer nicht mitleiden will, muss hassen.« Er muss die anderen hassen, die noch mitleiden können, weil sie ihm wie ein strafender Vorwurf entgegentreten. Der Hass als Abwehr von Schuldgefühl liegt immer bereit, seitdem der Bemächtigungswille seine Hemmungen abgestreift hat. Dennoch bleibt der Hass immer ein wenig von Angst gefärbt, muss es


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auch bleiben, denn das Leiden bleibt eine Farbe des Lebens, die sich nicht tilgen lässt, und dies umso weniger, je höher man sich über die anderen erhebt. Das entspricht wiederum dem Verhängnis der Manie, die ständig am Abgrund der Depression und des Selbsthasses wandelt. Nun gab es den 11. September. Der hat zwar nicht die Welt verändert, aber er hat genau dasjenige egomanische Weltbild als Illusion entlarvt, das den hektischen Wettlauf in unserem System unerbittlich antreibt. Es gibt die irdische Freiheit nicht, die mit der erreichten Beinahe-Omnipotenz verbunden sein sollte, deren sich die alles überragende Hegemonialmacht schon fast sicher zu sein glaubte. Ein paar fast unbewaffnete Terroristen vermochten in dem Land der stärksten Wirtschaft, der höchsten Rüstung, der fortgeschrittensten Technik und des teuersten Spionagesystems die Symbole der wirtschaftlichen und der militärischen Macht vernichtend zu treffen. Alle je errungenen Siege als scheinbare Beweise unüberwindbarer Stärke konnten und können nicht das Mindeste an eigener Verletzbarkeit ändern, weil es die erstrebte Unabhängigkeit nicht gibt. Somit bleibt die Verletzlichkeit immer erhalten, was auch Israel zu spüren bekommt, das mit eskalierender militärischer Gewalt nur neue terroristischem Hass und neuen Selbstmord-Anschlägen den Boden bereitet. Das hat der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin Barber seinem Präsidenten nach dem 11. September klar machen wollen, als er ihm schrieb: »Der Terrorismus ist nur die negative und verzerrte Form der wechselseitigen Abhängigkeit, die wir in der positiven und nützlichen Form nicht anzuerkennen bereit sind.« Der Satz enthält die unerhörte Aufforderung zu einer Einsicht, die in Wahrheit ganz simpel und banal ist, stünde ihr eben nicht der neuzeitliche Glaube an die erreichbare Allmacht durch überlegene Stärke entgegen und als Grundlage dafür das wahnhafte Selbstbild eines männlichen Ego, das sich zu unumschränkter Autonomie erheben zu können glaubt. Erlauben Sie mir die kurze Abschweifung zu einer autobiographischen Erfahrung, die mich Schritt für Schritt zum Zweifel an solchen Visionen


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geführt hat. Als ich vor genau einem halben Jahrhundert als Leiter einer Beratungs- und Forschungsstelle für seelische Störungen im Kindes- und Jugendalter in Berlin meine Arbeit begann, fand ich bald bestätigt, was ich als junger Psychoanalytiker gelernt hatte und weiter lernte. Nämlich, dass die psychischen und/oder psychosomatischen Störungen von Kindern ganz überwiegend mit unbewussten Konflikten zusammenhingen. Aber diese Konflikte konnte ich fast immer nur verstehen, wenn ich näher untersuchte, wie das jeweilige Kind in das Netzwerk der Familie oder zumindest der Mutter-Kind-Beziehung verstrickt war. Was liefen da für Dialoge ab? Wie verknüpften sich Ängste, Sehnsüchte, Trotz, Machtwünsche, Eifersüchte, Racheimpulse untereinander? Wie passten die Symptome der Kinder zu den durchschaubaren familiären Dramen? So gelangte ich ganz unplanmäßig zu einer Revision des klassischen Bildes von einem individuell abgekapselten psychischen Apparat, für dessen Entwicklung sich das Kind der Außenwelt mehr oder weniger erfolgreich bemächtige, um seine innere Struktur auszubilden. Vielmehr stützte ich mich bald mehr auf die ungarische psychoanalytische Schule, die von Geburt an die Gegenseitigkeit allen psychischen Geschehens betonte. Und ich sah mich sehr nahe bei Norbert Elias, der sich wunderte, dass wir unter Ich etwas von allen Menschen und Dingen »draußen« Abgeschlossenes verstehen, also den Menschen als einen »Homo clausus« und nicht als eine offene Persönlichkeit, die zwar eine gewisse Autonomie erreichen kann, aber zeitlebens auf andere Menschen ausgerichtet und angewiesen bleibt. Von meinen ersten Büchern der 60er Jahre an, es waren: Eltern, Kinder und Neurose und Patient Familie, verfolgte ich diese Spur weiter und entdeckte, wie von Müttern, Vätern, Schule die Machtkämpfe unseres Systems frühzeitig in die Psyche der Kinder eindringen und in ihnen Barrieren gegen die Anderen und im eigenen Inneren Scheidewände gegen das Andere errichten, insbesondere bei den Jungen. Das innere Andere ist dann das, was schon früh als Potenzbedrohung gefürchtet wird, nämlich das Schwache, die Anhänglichkeit, das AngewiesenSein, die Gebundenheit. In den 70er Jahren suchte ein Großteil der studentischen Jugend genau dieses Andere. Sie gingen in die Jugendheime, Jugendgefängnisse


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und Obdachlosen-Ghettos, zu den psychisch Kranken, und viele brachen in die Dritte Welt auf, um die Benachteiligten zu unterstützen – aber auch in sich selbst das Andere zu integrieren. So wie sie sich gegenüber den Schwachen nicht als Retter von oben her näherten, sondern sich in Ebenbürtigkeit bewähren wollten, so wollten die jungen Männer auch ihre inneren passiven Bedürfnisse und ihre Empfindsamkeit offen ausleben. Eine Idee stand über allem: Wir können uns nicht als Einzelne, sondern nur gemeinschaftlich emanzipieren und unsere Kultur humanisieren. So schossen Selbsthilfegruppen, politisierte Wohngemeinschaften, Eltern-Kindergruppen wie Pilze aus dem Boden. Paar-, Familien- und Gruppentherapie blühten auf. Sorgen um andere, Gemeinschaftsfähigkeit, Integration Fremder, Verantwortungssinn wurden Kriterien von psychischer Gesundheit. Von der Psychoanalyse wurde Hilfe gesucht, aber weniger von der Psychoanalyse des Narzissmus und von der Therapie des hungernden Selbst, sondern vor allem von den Erkenntnissen über unbewusste Interaktions- und Gruppenprozesse. Es war jedoch nur ein kurzlebiger Aufstand gegen die eingewurzelte Ideologie der Egomanie und deren Durchdringung der neoliberalen Strukturen. Der mörderische atomare Wettlauf des Kalten Krieges, den selbst der UN-Generalsekretär einen Wahnsinn nannte, legte sich wie ein eisiger Nebel über die Euphorie des Sozialen. Einige Reformmodelle hielten sich. Mehrheitlich setzte indessen eine große Rückwärtsbewegung ein. Und nicht wenige aus der sozialen Avantgarde begruben eilig ihre Ideale und fanden, um nicht leiden zu müssen, die Zuflucht zu dem Trick mit den sauren Trauben. Heute ist üblich zu denken: Was gescheitert ist, war falsch. Wer siegt, liegt richtig und hat Recht. Tatsächlich war vieles, was in jener Aufbruchphase probiert wurde, übertrieben, überstürzt und unausgegoren. Das Ziel war der Aufschwung auf eine Stufe von höherem erwachsenem Verantwortungssinn. Aber die Kraft und die Besonnenheit reichten nicht aus, um den Anspruch zu erfüllen. Dennoch haben die Experimente eine Entdeckung zu Tage gefördert, die kaum mehr ausgelöscht werden kann.


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Nämlich die Möglichkeit, ein Bewusstsein von Gemeinschaftlichkeit und Bescheidenheit zu entwickeln, das die falsche Idealisierung von Machtwillen und die falsche Entwertung von Sensibilität überwindet. Richard Rorty, der bekannte amerikanische Philosoph, hat die provokante These aufgestellt, die ich als Motto für mein neues Buch übernommen habe: »Der moralische Fortschritt ist davon abhängig, dass die Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird. Er ist nicht davon abhängig, dass man sich über die Empfindsamkeit erhebt und zur Vernunft vordringt.« Empfindsamkeit und Mitfühlen, das klingt unpolitisch. Man denkt an Mutter Theresa, oder an Prinzessin Diana. Aber niemand wird einen Nelson Mandela, der einmal Anführer einer terroristischen Organisation war, unpolitisch nennen, weil der Antrieb zu seiner einzigartigen Ver­ söhnungspolitik aus seinem Glauben an die Überwindbarkeit von Gewalt durch Menschlichkeit herrührte. In 27 Jahren Kerkerhaft hat er in eigenem Leiden und im ohnmächtigen Miterleben der Gräuel der Apartheid gelernt, den blutigen Rachefeldzug zu verhüten, den alle Welt als unvermeidlich erwartet hatte. Der Widerständler Willy Brandt nannte seine Politik einmal eine Politik der Compassion und meinte damit seinen Beweggrund zum Kampf für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Woher rührt in einer christlichen Kultur die Angst, sich zu derjenigen Disposition in unserem Innern zu bekennen, von der unsere Humanität und letztlich unser Streben nach Gerechtigkeit abhängt? Mir scheint, die Angst entstammt der Ahnung, dass Benjamin Barber und Martin Buber mit ihrer Auffassung recht haben, nämlich dass wir alle wechselseitig aneinander gebunden sind und dass wir diese Gebundenheit ebenbürtig und gerecht gestalten müssen. Aber dies würde letztlich heißen, an dem egomanischen Prinzip zu zweifeln, dass es momentan der führenden westlichen Nation möglich macht, aus dringenden Gemeinschaftsverpflichtungen ungeniert auszuscheren, etwa aus einer verbindlichen Klimakonvention oder aus der Unterwerfung unter einen internationalen Strafgerichtshof zum Schutz der Menschenrechte: Damit droht das


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Abgleiten in eine gefährliche imperiale Weltordnung. Andererseits gibt es dagegen vorläufig nur schwachen Widerstand, eben weil die Erringung von Ungebundenheit durch überlegene Stärke auf der Linie eines immer noch tragenden westlichen Irrglaubens liegt. Der ermächtigt nach wie vor zu fortwährenden Spaltungen der Welt, um im Namen des Guten über das Böse siegen zu können, was irgendwann aber in ein Sich-zu-Tode-Siegen einmünden muss, etwa nach dem Muster der Gewaltkette in Israel-Palästina. Ist eine andere Welt möglich? Zu dieser Frage habe ich Sie in diesen Vortrag gelockt. Aber ich hatte schon anfangs gesagt, dass ich mich darauf konzentrieren würde, nach demjenigen Verdrängten zu suchen, dessen Befreiung momentan vordringlich zu wünschen wäre. Dabei bin ich auf verschiedene Abwehrformen gestoßen, gegen die sich der derzeit herrschende Kriegsgeist bisher noch behaupten kann: Das ist u.a. die technische Verschleierung von Brutalität, es ist die ideologische Stigmatisation von Empfindsamkeit, die aggressive Leidensabwehr nach dem Muster: Wer nicht leiden will, muss hassen. Aber es erwies sich, dass die Wurzeln eines fatalen einseitigen Bemächtigungswillens sehr tief reichen, weil dieser unterdrückten Bindungsgefühlen abgerungen ist, die wiederum als Rückfall in Ohnmacht und Unmündigkeit gefürchtet werden. Andererseits bedürfen gerade diese Bindungsgefühle der Rehabilitation mit Hilfe der Wandlung eines individualistischen Menschenbildes zum Bild von Menschen, die von Geburt an aufeinander bezogen und in übergreifende Generationenzusammenhänge eingebunden sind. Auf die Frage, ob eine andere Welt möglich sei, muss ich in Anlehnung an Freuds Sorge von 1930 feststellen, dass die Steuerung der Welt zur Zeit immer noch auf die sich vergrößernde Gefahr einer gemeinsamen Selbstzerstörung hinausläuft. Also muss die Welt anders gemacht werden. Und da regen sich ja nun auch aus der Mitte der Gesellschaften Kräfte, die so etwas im Sinne haben. Ich habe bewusst im Titel meines Vortrages Bezug auf das Motto genommen, unter dem sich die globalisierungskritische Bewegung attac in


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Deutschland gegründet hat. Nämlich: »Eine andere Welt ist möglich«. Ich freue mich über den Mut und das umfassende Verantwortungsbewusstsein dieser rasch wachsenden internationalen Bewegung und unterstütze sie gern. Sie repräsentiert zumindest einen wichtigen und mutigen kreativen Ansatz, der mir einleuchtet. Die Frage nach dem Möglichen verlangt indessen zuallererst immer eine Antwort nach dem eigenen Engagement, an dem Möglich-Machen praktisch mitzuwirken. Da kann ich selbst mit meinen nachlassenden Kräften nicht mehr viel bieten, nur noch eine bescheidene Mitwirkung an der Friedensarbeit der Ärzte für Frieden und soziale Verantwortung. Immerhin ist und bleibt diese Aufgabe ein Kernstück im Programm für eine Veränderung der Welt, entsprechend dem Satz von Willy Brandt: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Universität Frankfurt, Aula, 3.12.02


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Atomgefahr und Menschlichkeit Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, ich bedanke mich bei der buddhistischen Organisation SokaGakkai International Deutschland dafür, dass Sie mich eingeladen haben, zu Ihnen zu sprechen. Ich bin gern gekommen, nachdem ich bereits bei früheren Gelegenheiten bei Ihnen und ihrem Präsidenten Ikeda eine geistige Verwandtschaft im Angesicht des Atomzeitalters gespürt habe. Was führt uns heute zusammen? Die Ausstellung in diesem Hause macht uns klar, atomare Gefahr ist nach wie vor da. Und es tut nicht gut, sie weiterhin zu verdrängen. Die Verdrängung begann bereits mit der Neigung der Amerikaner, die Vernichtung von 200.000 Menschenleben in Hiroshima als patriotische Tat zu rechtfertigen. Als 50 Jahre nach der Schreckenstat in Washington eine große Gedächtnisausstellung geplant war, empörten sich amerikanische Veteranen-Verbände, weil sie fürchteten, Trauer und Schrecken könnten den patriotischen Stolz verletzen. Tatsächlich gelang ihnen, die Ausstellung verbieten zu lassen. Obama ist der erste US-Präsident, der Hiroshima nicht mehr gut heißt. Inzwischen hat sich gegenüber der Atomrüstung weltweit eine unheimliche Zwiespältigkeit herausgebildet. Niemand möchte sich mehr einen atomaren Angriffskrieg à la Hiroshima vorstellen. Aber ist Abschreckung nicht sogar neuerdings die weltweit wirksamste Kriegsverhütungsstrategie? Können wir in Deutschland nicht deshalb ruhiger schlafen, weil die Nato hier in Büchel an der Mosel Atombomben zur Abschreckung bereit hält? Das ist jedoch eine gefährliche Illusion, über die ich eingangs etwas sagen will. Abschreckung ist ein lügnerisches Wort. Es drückt eine Absicht, aber fälschlicherweise gleich deren erreichte Erfüllung aus. Dafür ein bezeichnendes Beispiel: Als Einstein 1939 Präsident Roosevelt den Bau der Bombe empfahl, bewog ihn dazu die Nachricht, Hitler sei bereits mit der Herstellung der Waffe befasst. Also gelte es, ihn zu überholen und vornherein abzu-


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schrecken. Den Empfehlungsbrief in der Hand, fragte Roosevelt noch zur Sicherheit zurück: Ob es wirklich darum gehe, dass Hitler uns nicht in die Luft sprengen könne. Tatsächlich war Einstein einer Fehlinformation erlegen. Hitler war gar nicht mit der Herstellung der Bombe befasst. Dann war die amerikanische Bombe fertig. Hitler war tot, Kriegsgegner Japan war praktisch schon geschlagen. Trotzdem funktionierte Amerika die nur zum Abschrecken bestimmte Bombe kurzerhand um und tötete mit ihr 200.000 Menschen in Hiroshima. Wer wollte heute die Amerikaner hindern, eine der in Büchel gehorteten sogenannten Abschreckungsbomben genauso umzufunktionieren? Die Abschreckungspolitik ist überhaupt nur glaubwürdig, wenn sie entschlossen ist, gegebenenfalls mit der Vernichtungsdrohung Ernst zu machen. Der Philosoph Ikeda, Präsident Ihrer buddhistischen Organisation, nennt diese Bereitschaft bereits mit Recht »kalt und unmenschlich«. Liebe Freundinnen und Freunde, ich habe meinen Vortrag Atomgefahr und Menschlichkeit genannt. Menschlichkeit, das klingt für viele heute nach Blauäugigkeit, Gefühlsduselei, Sentimentalität, also nach einer privaten Innerlichkeit, die nichts mit Politik zu tun habe. Doch als Psychoanalytiker erkenne ich gerade in der Missachtung unserer Innenwelt eine Quelle zunehmender Verrohung der Einzelnen und der Gesellschaft. Durch diese werden wir zu nuklearen Riesen und zu ethischen Zwergen wie es der vormalige US-Stabschef Omar Bradley genannt hat. Wenn wir im Schatten der Atombombe nicht erkennen, dass wir alle Brüder (bzw. Geschwister) sind, ist uns der Untergang beschieden, lautete Einsteins Einsicht in abgekürzter Form. Willy Brandt sprach wörtlich von seiner »Politik der Compassion«, also des Mitgefühls und des Mitleidens. Mit seinem Kniefall vor dem Warschauer Ghettodenkmal und mit seiner Bitte um Vergebung fand er eine Sprache, die zumal den jungen Deutschen wie mir half, uns wieder aufzurichten. Mir war es vergönnt, in Brandt und Gorbatschow zwei Politikern näher zu kommen, die als Menschen von der Humanität beseelt waren bzw. sind, die sich in ihrer Politik widerspiegelte. So erreichten sie zu ihrer Zeit Millionen, die Befreiung von der nukle-


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aren Unmenschlichkeit ersehnten. Echte Friedenspolitik verlangt solche standhaften Charaktere als Führungspersönlichkeiten, die aber ihrerseits auf Gesellschaften angewiesen sind, die sich ihr Gewissen nicht von psychischer Korruption ankränkeln lassen. Das aber ist genau in den 90er Jahren geschehen, als die Kräfte der Friedensbewegung ermatteten und die Anhänger des Stärkekults und die Akteure des Raketenschachs die Überwindung des Kalten Krieges als Sieg für sich reklamierten. Wir haben die Russen totgerüstet, brüsteten sich die Amerikaner und fanden den Beifall von Altkanzler Helmut Schmidt. Seine per Nato-Doppelbeschluss nach Deutschland geholten und auf Moskau gerichteten Pershing-Raketen hätten die Russen auf die Knie gezwungen. Wo war der Versöhnungswille der Millionen geblieben, die zuvor an die Friedenspolitik der Willy Brandt und Gorbatschow geglaubt hatten? Jedenfalls reichte ihre Widerstandskraft nicht aus, sich gegen die von der Rüstungsindustrie angetriebene Remilitarisierung des Denkens zu behaupten. Viele rechtfertigten ihre geistige Rückwende durch Verrat ihrer bisherigen Ideale. Mitte der 90er Jahre setzte die Anti-Gutmenschen-Kampagne so mancher ehemals Antiautoritärer ein, die nunmehr diejenigen verhöhnten, die sie noch unlängst selbst gewesen waren. Sie wechselten ungeniert von der Seite des Gewissens auf die Seite der Macht und schwenkten auf die psychische Korruption ein, die sie zuvor noch heftig bekämpft hatten. Aber standhaft blieben die Engagierten, die nicht passiv von der Friedensbewegung mitgerissen worden waren, sondern aus dem eigenen Innern die Energie zu einem neuen Humanismus schöpften. Ich selbst hatte als junger Familientherapeut viele Jugendliche begleitet, deren Probleme aus der Verwicklung mit Eltern herrührten, die an ihnen eigene Konflikte aus der Hitlerzeit abreagierten. Ich lernte, die Auffälligkeiten dieser Jugend oft als versuchte Selbstbefreiung aus ihrer erlittenen Repression zu verstehen. Weil die heranwachsenden jungen Leute sich in meinen Krankengeschichten wiederfanden, machten sie meine Bücher zu Bestsellern mit astronomischen Erfolgszahlen, und so wurde ich zum en-


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gagierten Begleiter jener emanzipatorischen Reformbewegung, die später den humanistisch aktiven Kern der Grünen und der Friedensbewegung bildete. Hier traf ich viele von jenen wieder, die aus eigenem inneren Antrieb für eine menschlichere Gesellschaft kämpfen wollten und nicht primär der die Sogwirkung einer Bewegung folgten. In dem Einführungstext zu dieser Ausstellung in der Urania findet sich der treffende Satz des Philosophen Ikeda: »Um aus dem Schatten der nuklearen Bedrohung herauszutreten, brauchen wir eine Revolution im Bewusstsein unzähliger Individuen – eine Revolution, die zu der tiefen Überzeugung führt: Ich kann etwas tun.« Der Philosoph sagt mit Bedacht: Ich bin als Person mitverantwortlich für den Frieden des Ganzen. Warum dieser Gedanke für mich selbst so wichtig geworden ist, erlauben Sie mir kurz zu erläutern: Ich musste als 18, 19jähriger Soldat in Hitlers Vernichtungskrieg auf Russen schießen, die ich nicht als meine Feinde empfand. Nach Rückkehr aus Gefangenschaft erfuhr ich, dass zwei russische Besatzungssoldaten meine Eltern erstochen hatten. Meine Mutter hatte sich gegen Gewalt gewehrt, mein 71jähriger Vater hatte sie zu beschützen versucht. Allmählich setzte sich in mir die Idee fest: Ich müsste in meinem Leben persönlich zu einem Verhältnis zwischen Russen und Deutschen beitragen, das solche Barbarei künftig unwiederholbar machen würde. Ich fand, ich kann, ja ich muss etwas tun. Ich gewann Willy Brandts Vertrauen durch öffentliches Eintreten für seine West-Ost-Annäherungspolitik, dann durch einen Essay im SPIEGEL, in dem ich seine Friedenspolitik wie seine Verwundbarkeit aus seinem Charakter heraus erklärte. Seine Einladung zu manchen Gesprächen über die Jahre war die Folge. Bis in sein Todesjahr 1992 war er unserer ärztlichen Friedensbewegung zugetan, die ich in Deutschland mitgegründet hatte. Als Friedensarzt der IPPNW redete ich in Washington wie in Moskau. Von Gorbatschow zu seinem großen Friedensforum im Februar 1987 eingeladen, gelang es mir dort wunderbarerweise, zusammen mit dem Atomphysiker Hans-Peter Dürr einen internationalen Friedenskreis zu


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initiieren, aus dem die International Foundation for the Survival and the Development of Humanity wurde. Gorbatschow betreute uns über 4 Jahre und nahm jedes Mal engagiert teil, wenn wir außer in Triest, Stockholm, Washington und New York in Moskau tagten. Wir starteten eine Reihe von Ost-West-Projekten, ich z. B. eine große vergleichende Erhebung Moskauer und westdeutscher Studenten. Andere Projekte widmeten sich atomarer Abrüstung, Menschenrechtsfragen, großen ökologischen Vorhaben. Vorrang hatte die Unterstützung von Gorbatschows Vorsatz, die Atomwaffen schnellstmöglich zu eliminieren. Zu den Aktivisten unserer Gruppe gehörten McNamara, der gewandelte Befehlshaber im Vietnam-Krieg, David McTaggert, Chef von Greenpeace International, mehrere führende Atomphysiker, an der Spitze Andrej Sacharow, der verzweifelte Kämpfer gegen die von ihm selbst erfundene schrecklichste Nuklearwaffe, die Wasserstoffbombe. Von den Stalinisten verfolgt und geächtet, war er inzwischen Gorbatschows einflussreichster Abrüstungsbotschafter. »Wir können nicht Menschen bleiben, wenn wir weiterhin unter dem Damoklesschwert der atomaren Bedrohung leben wollen.« Diese verzweifelte Mahnung klingt in mir bis heute nach. Die Amerikaner erschraken, nunmehr als Angeklagte vor dem Mann dazustehen, den sie bisher als Partner auf ihrer Seite der Atomwaffenfront gewähnt hatten. Ich habe es in Sacharows Begleitung miterlebt. Eben dieser Sacharow befürwortete die Finanzierung meiner Studenten-Erhebung, die übrigens im Gegensatz zu allen Befürchtungen statt negativer Vorurteile eine große Neigung der Jugendlichen zu gegenseitigem Vertrauen und friedlicher Kooperation ergab. Gorbatschow freute sich, als ich ihm unsere Befunde mitteilte. Gemeinsame Medienauftritte mit Russlands Deutschland-Botschafter Valentin Falin öffneten mir den freundschaftlichen Zugang auch zu diesem Willy Brandt Verehrer auf russischer Seite. So war es doch kein Hirngespinst des 22jährigen gewesen, wie Ikeda daran zu glauben: »Ich kann etwas tun!« Die Friedensbewegung und mein Beruf als Seelenarzt haben mich darin bestätigt, dass ich als Individuum daran weiterarbeiten kann und muss, was mir die, die vor mir da waren, an Traumen, Scham und Schuld, aber auch als Auftrag für eigenes Tun hinter-


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lassen haben. Das ist kein Größenwahn, sondern schlicht das Innewerden einer Verantwortung, die mich mit dem Ganzen verbindet. Mit anderen Worten hat das auch Ikeda in einem Buch gesagt, das er 1998 zusammen mit Gorbatschow herausgebracht hat. Da schreibt er: »Wahrer Optimismus fasst nicht nur die Perspektive ins Auge, die sich unter bestimmten objektiven Voraussetzungen ergibt.« »Er kommt aus dem Menschen selbst und braucht keine Voraussetzungen, um zum Kern des Lebens vorzudringen (...). Er gibt den Menschen die Kraft, auch die schwersten Augenblicke zu überstehen, den Glauben an die Möglichkeiten des Menschen und die Zukunft des Menschengeschlechtes auch dann nicht zu verlieren, wenn er selbst das Leben verliert. Optimismus ist die Quelle jeden Glaubens.« Wo aber war der Versöhnungswille der Millionen geblieben, die sich begeistert in den Versöhnungsvisionen von Brandt und Gorbatschow wiederzufinden geglaubt hatten? Viele hatten ihre Hoffnungen wiedergefunden, aber nicht die Kraft zum Aufbruch. Es erging ihnen ähnlich wie vormals den begeisterten Massen der französischen Revolution. Auch die glaubten sich mit deren Idealen eins. Sogar der alte Kant hatte die internationale Welle der Begeisterung als ein Zeichen dafür gedeutet, dass sich in dem Enthusiasmus die moralische Kraft verberge, die eine Wendung zum Besseren möglich mache. Doch am Ende zeigte sich, dass die Hoffung der Durchsetzungsenergie vorausgeeilt war. Ähnliches geschah Mitte der 90er Jahre. Die Leute hatten sich in der großen Sympathie für Brandts und Gorbatschows Versöhnungsstrategie nicht getäuscht, aber in der eigenen Standfestigkeit. Sie knickten ein, als sie dem Stärkekult der Raketenpolitik hätten trotzen müssen. Ähnliches scheint sich zur Zeit in Amerika vorzubereiten. Den Visionen Obamas vom Ziel einer atomwaffenfreien Welt, von einer Versöhnung mit dem Islam und einer durchgreifenden Politik der sozialen Gerechtigkeit hallt kein »Yes, we can!« mehr entgegen, sondern ein Geballtes rechtes Ressentiment.


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Aber eines fällt auf. Bisher hatte der Westen bei der Begründung seines Herrschaftswillens und seines Militarismus stets einen Weltfeind vor Augen, dem er den Antrieb zu der eigenen Aggressivität entnahm. Das reicht bis ins 13. Jahrhundert zurück, als Papst Innozenz III. entdeckte, dass alle Verderbnis im Volke vom Klerus selbst ausgehe. Da erfand die Kirche zur Entlastung von den eigenen Schuldgefühlen die grausame Ketzerverfolgung. Die Methode erbte sich in der Form der Hexenjagd bis ins 18. Jahrhundert fort und ist als Vorlage für Präsident Bushs Kreuzzug gegen Saddam Hussein immer noch unverkennbar. Dieser besaß weder die ihm angedichteten Massenvernichtungswaffen, noch hatte er etwas mit dem islamistischen Anschlag vom 11. September zu tun. Doch wurde Bush als Präsident wieder gewählt, obwohl seine Kriegslügen inzwischen aufgedeckt waren. Kaum wäre ihm dies gelungen, hätte ihm dazu nicht jene im Westen immer noch schlummernde Inquisitionsmentalität dazu verholfen. Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, ich würde Ihnen den kurzen Rückblick auf 700 Jahre westliche Kreuzzugsmentalität nicht zumuten, lieferte sie nicht eine meines Erachtens unerlässliche Hilfe, um den wahnhaften Charakter eines Denkens zu verstehen, das sich bis zu der modernen atomaren Risikopolitik hinzieht. Das irrationale Festhalten an einer mörderischen wie selbstmörderischen nuklearen Bedrohungspolitik nötigt dazu, einer Geisteshaltung nachzuspüren, die nach Hiroshima zwar erschüttert, aber nicht radikal getilgt wurde. Vielleicht gibt es dennoch ein Anzeichen dafür, das man als Suche nach einem neuen Optimismus deuten könnte. Es scheint, als habe der Westen seinen Vorrat an schurkischen Weltfeinden ausgeschöpft. Nirgends bietet sich momentan ein Herr der Finsternis von Weltformat an, der zur Abreaktion von Sündenbock-Bedürfnissen führen könnte. Kein Saddam Hussein oder Bin Laden schützt länger vor der Einsicht, dass alle momentanen Krisen von uns selbst gemacht sind, die globale Entsolidarisierung, die Verwilderung der Finanzmärkte, eine astronomische Überschuldung, die rücksichtslose Naturzerstörung, das jahrzehntelange Versäumen einer


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überfälligen gründlichen Klimavorsorge und das Verpassen einer echten Friedensordnung. Fehlt es an projektionsgeeigneten Hassobjekten, oder deutet sich das Erschrecken des Papstes Innozenz an: Kein anderer als wir selbst sind die Urheber der Verderbnis. Nicht die Suche nach äußeren Feinden, nur die Befreiung vom eigenen Ungeist kann uns retten. Es liegt allein an uns, die Verantwortungslosigkeit zu überwinden, die uns zur Gefährdung aller Lebensgrundlagen für uns selbst wie Millionen von Arten auf unserem Planeten geführt hat. Zur Bewältigung dieser titanischen Aufgabe müssen wir zu dem Glauben finden oder zurückfinden, dass wir immer noch gut genug sind, uns von unseren Irrungen zu befreien. Wir sind imstande, uns gegen die seit Mitte der 90er Jahre gras­ sierende Anti-Gutmenschen-Kampagne zu wehren. Bezeichnenderweise sind deren Anführer nicht selten identisch mit den Wortführern des 68er Protestes. Heute verhöhnen sie diejenigen, die sie unlängst noch selbst waren. Insgeheim hassen sie sich für den Verrat der eigenen Ideale. »Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind«, das haben wir von Nietzsche gelernt. Also geht es darum, an den Versöhnungshoffnungen von Brandt und Gorbatschow festzuhalten und die Friedfertigkeit gegen den Werteverfall zu verteidigen, der die psychische Korruption zur Mode gemacht hat. Die heutigen gesellschaftlichen Selbstzweifel finden in der Regel überall heraus, was wir falsch machen in der Ökonomie, in der Ökologie, in der Politik generell. Wir können die Amtsträger benennen, die unser generelles Misstrauen erwecken. Aber am Ende müssen wir uns in der Regel eingestehen: Wir haben mit uns geschehen lassen, was die Verantwortlichen mit uns machen. Wir sind weniger die Opfer falschen Machens, sondern haben mit eigenem falschen Denken falschem Machen den Weg geebnet. Also können wir die Zustände nur gründlich verändern, wenn wir uns selbst verändern. Die atomare Bedrohung ist nicht über uns hereingebrochen, sie ist das Resultat unseres falschen Fortschrittsglaubens, der das Gewissen zunehmend von dem Machtwillen abspaltet. So sind wir, wie es Albert Schweitzer ausdrückte, zu Unmenschen statt zu Übermenschen geworden. Hiroshima


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war kein Fehler, sondern eine Unmenschlichkeit. Aus Tschernobyl hätten wir lernen müssen, dass eine zivile Technik mit z.T. über Jahrzehntausende nachwirkenden Risikogefahren menschlicher Bemächtigung verwehrt bleiben muss. Das haben Millionen Menschen mit dem Kopf begriffen, aber ethisch missachtet. Die grüne Bewegung wurde als infantil belächelt oder als technikfeindlich abgetan. Sie stand dem Fortschritt im Wege und wurde mit ihren Demonstrationen vornehmlich zum Thema polizeilicher Ordnungsstiftung. Die Medien erfanden den Wutbürger als einen veränderungsscheuen nörglerischen Menschentyp, der eigenen Unmut an technischen Neuerungen abreagiere. Aber dann kam das als unmöglich Vorausgesagte. Ausgerechnet in dem Hochtechnologie-Land Japan wiederholte sich in neuer Variante Tschernobyl. Erneut zuerst als Unfall klein geredet, wurde Fukushima zum Symbol für die Bestrafung bedenkenloser technischer Selbstvergöttlichung des Menschen, für moralische Taubheit jenseits der Grenzen menschlicher Berechenbarkeit. Erfreulich war, dass der Deutsche Bundestag nicht auf den Plan neuer Sicherheitsberechnungen verfiel, sondern sich für die Regierungsentscheidung von einer EthikKommission beraten ließ, die einen sofort beginnenden Ausstieg aus der Kernenergie rein moralisch begründete. Lassen Sie mich am Ende meiner Rede als Psychoanalytiker und Familientherapeut noch einen bisher nur gestreiften Gesichtspunkt einbringen. Tiefer greifende gesellschaftliche Wandlungsprozesse brauchen Zeit. Zu Beginn meiner Ausbildung vor mehr als einem halben Jahrhundert galt noch Freuds These: Kulturarbeit sei vornehmlich eine Sache der Männer, weil die Frauen angeblich schlecht sublimieren könnten und deshalb eher für Familie und Sexualleben zuständig seien. Seitdem die Frauen das Vorurteil ihrer Sublimationsschwäche gründlich widerlegt haben und in vielen Männerberufen erfolgreich aufsteigen, wenn oft auch noch unterbezahlt, ist klar, dass die Selbstverwirklichung von Frauen und Männern weniger gegeneinander, vielmehr besser gemeinsam stattfinden sollte, von der Erziehung der Kinder angefangen bis zur Kulturgestaltung in allen Bereichen.


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Trotz der Wandlungsprozesse im letzten halben Jahrhundert leben wir zur Zeit immer noch überwiegend in einer herrscherlichen Männerkultur, in der die von den Frauen dominierte Wertewelt der sozialen Sensibilität weniger zur Geltung kommt. Das hat sich zum Teil schon merklich verändert, aber es ist ein Prozess, der immer noch Zeit braucht. Ich habe vorgeschlagen, als Ziel der gemeinsamen Verwirklichung den Begriff Elterlichkeit einzuführen womit nicht nur die Gemeinsamkeit der Kindererziehung gemeint ist, sondern darüber hinaus die Verantwortung für die Zukunft des gesellschaftlichen Ganzen. Auf beide Geschlechter bezogen sollte es also statt ich kann, besser heißen: »Wir können etwas, wir müssen etwas tun.« Blicken meine Frau und ich in die Augen unserer drei Urenkel, glauben wir darin die Erwartung zu lesen, dass wir auch noch mit 88 Jahren an unsere Verantwortung für sie denken. (SGI-D, Urania, Berlin, 14.10.2011)


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Liebes Paulchen, liebe Ida, lieber Emil, liebe Urenkel, warum ich Euch schreibe? Weil ich gerade an zwei Reden arbeite, die mich fort­während an Euch denken lassen. Wie können wir die Welt friedlicher machen? lautet beide Male das Thema in einem Augenblick, da wir immer noch unter ato­marer Bedrohung leben und da in unserer Gesellschaft der Zusammenhalt im Kleinen wie im Großen, rapide schwindet. Warum dieser Brief? Um Euch für Euren Weg Mut und Zuversicht mitzugeben. Denn die Zustände machen mich besorgt, und Ihr werdet alle Eure Kraft brauchen, um dieses gefährdete Leben zu meistern. Erstens möchte ich Euch aber sagen, dass Eure Urgroßmutter Bergrun und ich, uns beinahe jeden Tag darüber freuen, dass Ihr überhaupt da seid und dass wir dies mit 88 Jahren noch erleben dürfen. Denn 88 Jahre sind eine lange Lebens­zeit, und nur wenigen Paaren ist es heutzutage noch vergönnt, sich an Urenkeln erfreuen zu können. Viele junge Paare gehen bald wieder auseinander und neh­men sich die Chance, das Abenteuer einer Ehe mit Konflikten und gemeinsamen Nachkommen über zwei Generationen durchzustehen. Für Bergrun und mich sah das nach dem Desaster des Hitlerkrieges in den 50er Jahren ganz anders aus. Wir waren geradezu begierig darauf, als Familie gemein­ sam an einem gesellschaftlichen Neubeginn nach der Schande der Hitlerjahre teil­zunehmen. Als Soldat in einem falschen Krieg, als Sohn von durch russischer Ge­walt ermordeten Eltern, als Tochter eines von den Nazis drangsalierten Vaters sa­hen Bergrun und ich uns von Anfang an dazu bestimmt, die Vergangenheit durch eigenes Engagement unwiederholbar zu machen. Das war nicht ausgedacht, son­dern von Anfang an wie eine uns mitgegebene Botschaft. So hatten wir schon bald drei Kinder, auf die wir unsere Hoffnungen übertrugen. In diesem Brief an Euch steckt immer noch etwas von diesen Wün­ schen, nämlich der Gedanke, an Euch etwas von dem Glauben weiterzu-


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geben, dass wir die Welt gemeinsam menschlicher machen können. Eure Mütter werden Euch erzählen, dass Uroma Bergrun zusammen mit den Frauen für den Frieden jahrelang ein Flüchtlingslager vertriebener und verfolgter Frauen im Bosnienkrieg unterstützt hat und dafür ausgezeichnet worden ist. Ihr werdet davon hören, dass Bergrun und ich zusammen mit einer Studentengruppe 10 Jahre 120 Bewohner einer Obdachlo­sensiedlung im Kampf um Selbstbefreiung beigestanden haben, die unsere Freunde geworden sind. Gerade feiert eine internationale Ärztegemeinschaft ihr 30jähriges Jubiläum im Kampf für den Frieden, die ich mitgegründet habe. Davon werden Euch Eure Großeltern und Eltern einiges erzählen. Wenn ich richtig vermute, werdet Ihr in eine Gesellschaft hineinwachsen, die eher noch mehr als die heutige durch soziale Ungerechtigkeit und Naturzerstörung Eure bzw. die gemeinsamen Lebensbedingungen auf unserem Planeten weiter er­schweren wird. Lasst Euch von mir sagen: Es ist zwar richtig, diese Verantwor­ tungslosigkeit energisch zu bekämpfen. Aber denkt daran: Dieser Kampf hat es weniger mit einer verdammungswürdigen Unvernunft als mit einer krankhaften Resignation zu tun. Die Menschen glauben nicht mehr an ihre eigene Kraft, sich von ihrer psychischen Korruption zu befreien. Sie nehmen das Auseinanderbre­ chen der Solidarität und die selbstmörderische Naturzerstörung wie ein schicksal­ haftes Verhängnis hin. Insgeheim werfen sie sich ihr Versagen selbst vor, aber vermissen die Energie, um sich aus ihrer trostlosen Lage zu befreien. Auf Euch kommt die Aufgabe zu, das Verhängnis abzuwenden. Aber werdet Ihr dieser Aufgabe gewachsen sein? Kommt mein Brief nicht zu früh? Ihr braucht gewiss Zeit, um Euren Auftrag zu verstehen. Aber heute gibt es kein zu früh, wenn es in das Wecken und Erhalten von Wider­standskräften geht, die im Zeitalter der Anpassung, der psychischen Korruption und ihrer verlogenen Flexibilität schon verkümmern, noch ehe sie sich zu be­haupten gelernt haben.


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Wenn Ihr Euch von mir überfordert fühlt, so haltet mir bitte zu gute, dass ich im Zu­stand meiner ernsten Krankheit die Angst spüre, nicht mehr rechtzeitig sagen zu können, was ich auf dem Herzen habe. Wenn wir uns – hoffentlich – bald wieder begegnen, so ist es ja auch nicht so, dass ich nur fürchte, Euch nicht genug von mir noch mitgeben zu können. Ich be­komme von Euch viel mehr zurück, als ich Euch momentan geben kann. Bergrun ergeht es ähnlich. Eure spürbare Neugier, das Vertrauen in Euren Augen, Eure Zugewandtheit und Signale, die Bergrun und ich sehr wachsam aufnehmen und die mich ermutigen, Euch diesen Brief zu schreiben. Euer Uropa


Impressum Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), Ärzte in sozialer Verantwortung Körtestrasse 10 10967 Berlin www.ippnw.de Redaktion: Frank Uhe Gestaltung: Enrica Hölzinger Bildnachweise: U1, S.8 Andreas Schoelzel U4 Brigitte Friedrich alle weiteren Archiv der IPPNW u. Privatarchiv Bergrun Richter


Horst-Eberhard Richter

(*28.04.1923 in Berlin, † 19.12.2011 in Giessen), Arzt, Psychoanalytiker und Sozialphilosoph, promovierte nach seinem Weltkriegseinsatz in Philosophie und in Medizin in Berlin. Ab 1952 leitete er in Berlin eine Beratungs- und Forschungsstelle für seelisch gestörte Kinder und Jugendliche, bis er 1962 auf den neu eingerichteten Lehrstuhl für Psychosomatik in Giessen berufen wurde. Als Pionier der Psychoanalytischen Familienforschung wurde er inter­ national bekannt, u.a. durch die Bücher »Eltern, Kind und Neurose«, »Gotteskomplex«, »Herzneurose« und den Giessen-Test. Nach seiner Emeritierung leitete er von 1992-2002 das Sigmund-FreudInstitut in Frankfurt am Main. Für sein Wirken erhielt Horst-Eberhard Richter viele Ehrungen und Auszeichnungen, u.a. den Theodor Heuss Preis, die Goetheplakette und die Paracelsusmedaille. Als Mitbegründer der Deutschen Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) gestaltete er deren Engagement für eine Kultur des Friedens über drei Jahrzehnte maßgeblich mit.


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