A competition and a meetingJAHRBUCH dedicated YEARBOOk to worldwide2013 exchange in new opera and music theatre. Music Theatre Now
Internationales Theaterinstitut Zentrum Bundesrepublik Deutschland German Centre of the International Theatre Institute
jahrbuch yearbook 2013
was bleibt
jahrbuch yearbook 2013
was bleibt what remains
Internationales Theaterinstitut Zentrum Bundesrepublik Deutschland German Centre of the International Theatre Institute
02 editorial
bilder Einige der verwendeten Bilder im Buch wurden uns von Susanne Fern zur Verfügung gestellt. Diese entstanden unter folgenden besonderen Umständen: Als am 11. Februar 2008 ein Feuer den Dachstuhl des denkmalgeschützten Hauptgebäudes der Folkwang Universität in Essen zerstörte, blieb das Archiv der Tanzabteilung der Hochschule wie durch ein Wunder nahezu unversehrt. Die Kölner Fotografin Susanne Fern hat das Archiv, das dank
JAHRBUCH ITI YEARBOOK editorial
der Unterstützung des Deutschen Tanzarchivs Köln vorübergehend in Köln untergebracht werden konnte, nun mit der Kamera porträtiert. Entstanden ist dabei, in Zusammenarbeit mit Thomas Thorausch vom Deutschen Tanzarchiv Köln, ein fotografischer Essay zum Thema "Archiv", bei dem einmal nicht der Inhalt, sondern die ästhetische Anmutung und Erscheinungsweise eines Archivs im Vordergrund stehen.
Liebe Leserinnen und Leser, zum Abschluss eines ereignisreichen Jahres sind wir stolz und dankbar, Ihnen das erste Jahrbuch des Internationalen Theaterinstituts präsentieren zu können. Dieses Jahrbuch markiert eine Zäsur unserer Informationsmedien – indem es das bisherige, halbjährliche Impuls-Magazin ersetzt und gleichzeitig erweitert. Mit seinem ausgeweiteten Umfang und der komplexeren redaktionellen Erarbeitung soll uns das Buch ermöglichen, stärker und umfassender inhaltlichen Fragestellungen der ITI-Arbeit und gegenwärtigen Diskursen nachzugehen. Aktuelle Informationen und News hingegen finden ihre zeitnahe Verbreitung nun vorwiegend durch Newsletter, Facebook und ITI-Website. Die Zäsur haben wir als Anlass für eine Bestandsaufnahme gefasst: Was bleibt? steht für die leitmotivische Annäherung und den Duktus der Selbstbefragung über dieser ersten Ausgabe. Hierbei folgt die Betrachtungsweise einem Dreischritt: Akteure halten Rückschau vereinigt das Thema Erinnerung – sowohl die persönliche Perspektive auf das eigene Wirken und Schaffen, wie auch das Nachzeichnen von Gedächtnisspuren im Tanz durch Akteure. Kritische Betrachtungen und Befragungen, wie zur Arbeit in den ITI-Komitees, zum Sinn internationalen Arbeitens oder zu den Möglichkeiten von Erinnern per se stellt die Rubrik Unterm Strich – Bestandsaufnahme dem Leser vor. Sich materialisierende Erinnerung und die Frage nach den Potentialen und Notwendigkeiten von Archiven für die flüchtige Kunst des Theaters, bündelt die Rubrik Orte des Verbleibens. Themen wie Theaterarchive, Tanzarchive in Deutschland und Afrika, Archive für das freie Theater und Theaterfotografie schaffen hier einen Einblick in gegenwärtige Diskurse und Entwicklungen. Was also bleibt? Und in welcher Form? Was lohnt es, festzuhalten, was loszulassen oder zu verändern? Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre, die Sie in ein fruchtbares Nachdenken über Flüchtigkeit und Sinnhaftigkeit hineinnimmt. Die Redaktion
images Some of the images used in the book have been provided by Susanne Fern and were created under the following special circumstances: When a fire destroyed the roof of the historic main building of the Folkwang University in Essen on February 11, 2008, the archive of the dance department miraculously remained almost completely intact. Cologne-based photographer Susanne Fern then used her camera to portray the archive, which, thanks to the support of the German Dance Archives Cologne, was temporarily moved to Cologne. In collaboration with Thomas Thorausch from the German Dance Archives Cologne, this resulted in a photographic essay on “archives” which for once focuses not on the content but instead on the aesthetic impression and appearance of an archive.
Dear reader, at the end of an eventful year, we are proud and grateful to be able to present you the first yearbook of the International Theatre Institute. This yearbook marks a turning point for our information media - by replacing and at the same time expanding on the six-monthly Impulse magazine. With its wider scope and more complex editorial work, the book is intended to allow us to pursue contemporary discourses and substantive issues related to the work of the ITI in a more comprehensive manner. Current information and news, however, are now mainly disseminated through the newsletter, Facebook, and the ITI website to ensure that such material is always up-to-date. We see this turning point as an opportunity to take stock: What remains? stands for the leitmotif approach and the characteristic style of self-examination through this first edition. Here, the approach is trifold: Actors look back incorporates the topic of memory – both the personal perspective with regard to the actors’ own work and the tracing of memories by the actors through dance. The section Bottom line – an inventory introduces critical observations and questions on topics such as the work being done within the ITI committees, the importance of international work, or ways of remembering per se. Places for Remnants combines materialising memory and the question of the potential and need for archives for the ephemeral art of theatre. Topics such as theatre archives, dance archives in Germany and Africa, archives for the free theatre and theatre photography provide an insight into contemporary discourses and development. So what remains? And in what form? What is worth retaining, letting go of, or changing? We wish you a stimulating read that will lead you to fruitful contemplation of fleetingness and meaningfulness. The editorial team
03 inhalt/index/2013 Vorwort
05 andere archive other archives ein Essay von Dr. Jan Lazardzig
1
38 Mark tpl at zkultur in Afrik a ein Interview mit Renate Klett
41 ist das deutsche theater halb tot? is german theatre half dead? eine Warnung von Dr. Martin Roeder
44 der künstler und die geschichte Mojca Puncer über Slowenien
akteure halten rückschau
3
10 „du br auchst die persönliche begegnung"
orte des verbleibens
actors look back
ein Interview mit Hedda Kage und Alexander Stillmark
13 wir bleiben fremde unter fremden we remain str angers among str angers das Theater an der Ruhr
20 wenn archive funken schl agen when archives offer a spark Michael Freundt und Detlev Schneider über transforming acts
2 unterm strich – bestandsaufnahme bot tomline – an inventory
24 ein komit tee ist ein komitee ist ein komitee a commit tee is a commit tee is a commit tee Statements deutscher ITI-Mitglieder
pl aces for remnants
50 theatergeschichte per mausklick theatre history via mouseclick eine Vision von Stephan Dörschel
52 tanzl and deutschl and tanzl and germany die Digitalisierung der Deutschen Tanzarchive
55 Wie organisieren wir unseren zugang zur kunst? how do we organise our approach to art? ein Gespräch mit Alex Moussa Sawadogo
58 orte des wissens für das freie theater pl aces of knowledge for independent theatre von Dr. Stefanie Wenner
60 erhit zung und beschleunigung heating and speeding up Katrin Bettina Müller über Theaterfotografie
30 internationalität als l abel internationalit y as a l abel
64 theaterdokumentation als diskursive medienpr a xis
eine Polemik von Sven Schlötcke
von Dr. Erhard Ertel
32 perspek tiven einer neuen kooper ationskultur in den künsten perspectives for a new culture of cooper ation in the arts
70 vom versuch, das flüchtige zu materialisieren
von Annika Hampel
Theaterhistoriografie rezensiert von Andrea Specht
71 impressum imprint
JAHRBUCH ITI YEARBOOK inhalt
04 keine zukunf t ohne vergangenheit no future without a past
04 Keine Zukunft ohne Vergangenheit
JAHRBUCH ITI YEARBOOK intro
No future without a past Das deutsche ITI-Zentrum gibt zum ersten Mal ein Jahrbuch heraus. Es nimmt damit die Verlagerung von reiner Informationsverbreitung auf schnellere und aktuellere elektronische Medien zum Anlass, sich künftig mit einer gedruckten Publikation den komplexeren Inhalten und Themen seiner Arbeit zu widmen, sie zu befragen und aus unterschiedlichen Perspektiven zur Debatte zu stellen. „Was bleibt?“ ist im Theater, dessen Wesensmerkmal gerade von der Flüchtigkeit seiner Erscheinungsform – der Aufführung – bestimmt wird, eine scheinbar überflüssige Frage. Und als Kunstform und kulturelle Praxis weilt das Theater schließlich seit über 2000 Jahren unter uns. Und doch kann das Theater seiner Gegenwart keinen Spiegel vorhalten, wenn es sich nicht gleichzeitig der Geschichte, auch seiner eigenen, versichert. „Was bleibt?“. Neben der Literatur, dem Text, bleiben vom Theaterabend die Erinnerungen der unmittelbar Beteiligten und Fragmente der Aufführung: Regie- und Dramaturgiematerial, Kostüme, Fotos, Filme. Für die, die nicht dabei waren, der einzige Zugang. Theatermacher haben sich immer auch mit Theater anderer Kulturen und anderer Zeiten auseinandergesetzt und doch hat nur wenige beschäftigt, was sie selbst den kommenden Theatergenerationen hinterlassen. Und da liegt das Problem. Niemand kann und will sich mit einer Materialflut lückenlos überlieferter Theaterartefakte konfrontiert sehen. Aber wenn Kulturverbreitung, wie Peter Sloterdijk formuliert, als eine Serie infektiöser Nachahmungsakte, als „mimetische Infektion“ funktioniert, so obliegt uns als Theatermachern doch eine gewisse Verantwortung über Beschaffenheit und Resistenz der dabei verbreiteten Keime. Schon heute wird es in der Nachbarschaft der sich ständig vergrößernden und stabilisierenden Erinnerungsspeicher immer enger, so dass die mimetische Infektion tendenziell eher Missmut erzeugt: Der exponentiell wuchernden Menge von Hinterlassenschaften stehen unzureichende Filter- und Verarbeitungsmechanismen gegenüber. Immer öfter kommt es mangels Kapazitäten zur pauschalen Vergangenheitsentsorgung – die Theater bilden da keine Ausnahme. „Was bleibt?“ stellt somit Fragen nach unserer Verantwortung für den Dialog der Generationen, beleuchtet verschiedene Problem- und Arbeitsfelder, sieht sich dafür in der internationalen Theaterszene um und versucht, in einer wichtigen Debatte Anregungen zu geben.
The German ITI Centre is publishing a yearbook for the first time. In doing so, it is taking the shift of the pure dissemination of information to faster and newer electronic media as an opportunity to devote itself to the more complex content and themes of its work in the future by means of a printed publication. To question them and to open them up for debate from various perspectives. “What remains?” is a seemingly superfluous question in theatre, the distinguishing characteristic of which is determined by the fleetingness of the form in which it appears – the performance. And, after all, the theatre has been in our midst as an art form and cultural practice for more than 2000 years. Yet the theatre cannot hold up a mirror to its presence without simultaneously assuring itself of a history, even its own. “What remains?”. In addition to the literature, the text, that which remains of an evening at the theatre includes the memories of the people directly involved and fragments of the performance; stage directions and script, costumes, photos, films. These constitute the only means of access to the performance for those, who were not there. Theatre makers have always also had dealings with theatre from other cultures and times and yet, only a few have considered what they themselves leave behind for coming theatre generations. And therein lies the problem. No one can or wants to be confronted with a flood of material made up of theatrical artefacts that have been passed down consistently over the years, but if cultural dissemination, as Peter Sloterdijk puts it, functions as a series of infectious acts of imitation, as “mimetic infection”, we as theatre makers have a certain responsibility regarding the quality and resistance of the ‘germs’ transmitted. Even today, the neighbourhood of ever-expanding and stabilizing memory stores is becoming more and more cramped, so that the mimetic infection tends to generate discontent: The exponentially growing number of legacies is pitted against insufficient filtering and processing mechanisms. Time and again, the result is a wholesale disposal of material from the past, due to a shortage of capacity – and theatres are no exception. “What remains?” thus raises questions about our responsibility for the intergenerational dialogue, examines various problem areas and fields of work, explores the international theatre scene and tries to offer suggestions in an important debate.
November 2013
November 2013
DR. Manfred Beilhar z Präsident / President
DR. Thomas Engel Leiter / Director
05 Andere Archive – ein essay Jan Lazardzig beschreibt eine archivalische Praxis, die den Produktionsbedingungen von Theater als Bedingungen des Erinnerns Raum verschafft. des „Scenario“ eine alternative Archivpraxis vor, die den Unterschied zwischen textbasierten und nicht-textbasierten Memorialkulturen thematisiert. Und Rebecca Schneider machte jüngst in ihrer Beschäftigung mit dem Phänomen der Historical Reenactments darauf aufmerksam, inwiefern die zur ästhetischen Kategorie der performativen Künste stilisierte Flüchtigkeit im Weg steht, Performances selbst als etwas Bleibendes zu denken, als ‚Erinnerungsorte’ (Pierre Nora).7
Gotthold Ephraim Lessings Charakterisierung der Schauspielkunst als „transitorisch“1, als, im Wortsinn des lateinischen transitorius, vergehend, hat, daran muss zunächst erinnert werden, ihren Ursprung in der Literarisierung des Theaters, der Einrichtung einer stehenden Bühne. Mimik, Gestik und Duktus des Schauspielers sind flüchtig im Verhältnis zum dramatischen Werk und dessen Spielort. Erst durch die Verpflichtung des Theaters auf den Text und die Institution (wie sie die II. Theaterreformer seit Gottsched propagierten), lässt sich das Vergehende vom Stehenden, das Flüchtige vom Bleibenden unterscheiden. Lessings Distinktion der Schauspielkunst ließe Bestand die emanzipative Geste alternativer Theaterformen im 20. Jahrhundert immer wieder darin, das Flüchtige als radisich (in Anlehnung an Roland Barthes) in die Gleichung brinkale Erfahrung in das Körpergedächtnis einzuschreiben (etwa gen ‚Transitorik ist Schauspiel minus Text’.2 Die Textgeburt des Transitorischen betreibt seither ihre eigene Erinnerungsim Happening) und damit eine radikale Differenz zu etablierpolitik: ‚Text/Institution’ und ‚Transitorik’ entsprechen dabei ten Formen eines repertoirebasierten Theatergedächtnisses den kulturellen Praktiken des ‚Erinnerns’ und ‚Vergessens’. Der zu markieren, verschleifen sich heute die Differenzen. Unter Text als Medium der Erinnerung wird privilegiert gegenüber den gegenwärtigen Produktionsbedingungen von Theater den nicht-sprachlichen, körperbezogenen Hervorbringungen verliert das Archiv, so scheint es, zunehmend seine Distinktides Schauspielers, die (potentiell) dem Vergessen zugeschlaonsgewalt. Zwar fungieren große Theaterarchive nach wie vor gen werden. Dies kommt einer Art memorialer Selbst-Imals ausgelagertes Gedächtnis der institutionellen Theater (mit munisierung gegenüber jenen Theaterformen gleich, die als ihren Erschließungskriterien wie Stücktext, Aufführungsort nicht-textbasiertes, improvisatorisches, körperbasiertes Spiel oder Schauspielernamen würde auch Lessing gut zurechtkomjenseits des stehenden Theaters existieren, z.B. Gaukler, Jokumen). Doch hat die Netzwerk- und Projektkultur des „freien latoren, Pantomimen, Puppenspieler und Scharlatane.3 Theaters“ die Selbst-Archivierung zu einer regelrechten Die Identifizierung des TranVerpflichtung werden lassen. Für die sitorischen mit dem Akt des Vergessens Arbeit in Projekten scheint die Archivie„Die Archivierung der erscheint uns gleichsam natürlich, denn rung der eigenen künstlerischen Praxis eigenen künstlerischen sie steht in Einklang mit unserer textbuchstäblich überlebensnotwendig, Praxis erscheint basierten Archiv- und Memorialkultur.4 denn sie entscheidet über die Sichtbarüberlebensnotwendig.“ Auch das methodologische Instrumenkeit, die Gestaltung des künstlerischen tarium der Geschichtswissenschaft zielt Profils sowie den Erfolg des nächsten seit deren Begründung als eigenständige Projektantrags. Öffentliche Sichtbarkeit universitäre Disziplin im 19. Jahrhundert ganz überwiegend erlangt aus diesen Archiven daher auch nur dasjenige, was darauf ab, menschliche Handlungen aus Dokumenten und für den nächsten Projektantrag Erfolg verspricht. Sie sind Teil Monumenten zu rekonstruieren. Dabei fallen jene Erscheider Produktionsbedingungen von Theater. Die Anlage dieser nungsformen von Theater durch das Raster, die sich jenseits Archive folgt, so könnte man sagen, dem Wertesystem einer der literarisierten Bühne und ihrer Institutionen abspielen. projektbasierten Sozialstruktur oder einer projektbasierten, Mit Nachdruck machte der Theaterhistoriker Rudolf Münz allgemeinen Gesellschaftsorganisation. Deren Imperative daher auf das „andere Theater“ der Lessingzeit aufmerksam, haben die französischen Soziologen Luc Boltanski und Éve ein deutschsprachiges teatro dell‘arte, dessen körperbasierte Chiapello in ihrer viel rezipierten, an Max Weber angelehnImprovisationskunst (kein Spieltext, keine Institution, die sich ten Studie einem Nouvel ésprit du capitalisme (1999) zugeordnet.8 ihrer erinnert) zugleich nach einer anderen Form der Historio- Durch eine umfassende Analyse von Managementratgebern der 1960er bis 1990er Jahre konnten sie zeigen, inwiefern die graphie und des Archivs verlangte.5 Seitens der Performance Studies ist der Konnex von FlüchVerhaltensimperative eines netzwerkbasierten Arbeitens im tigkeit und Geschichtlichkeit in den letzten Jahren vielfach Projekt – Flexibilität, Mobilität und ein gleichsam proteischer diskutiert worden. Diana Taylor zeigt in ihrem Buch The Charakter – eine tief greifende Transformation des kapitaArchive and the Repertoire, inwiefern die westliche textbasierte listischen Arbeitsethos widerspiegeln. An die Stelle religiös Geschichtskultur ignorant ist gegenüber anderen körperbegrundierter ethischer Imperative weltlicher Askese zum Zweck zogenen Formen des Erinnerns.6 Sie schlägt mit dem Konzept der Wertschöpfung, wie sie den Weber’schen Produktionspro-
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I.
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zess charakterisieren, tritt in den post-fordistischen Arbeitsrealitäten die virtuose Aktivität als Wert an sich.9 Unter den Bedingungen der immateriellen Produktion (die nicht auf einer Wertschöpfung durch die Optimierung der Dingproduktion basiert, sondern auf der Perfektibilität des Tätigseins) sind Herstellung und Erinnerung, Produktion und Archiv nicht voneinander geschieden. Im Gegensatz zu einer Konzeption des Archivs als Ablage (von Monumenten und Dokumenten) steht hier das Archiv als Produktionsmittel des tätigen Selbst.
zu filmen und diese dann – in Antizipation des geplanten Fünfsternehotels – in die Raumfluchten der ehemaligen Staatsbank zu projizieren. Damit war das kommende Projekt als eine von den Spuren der jüngeren Vergangenheit bereinigte Luxusarchitektur sichtbar. Jörg Lukas Matthaei (matthaei & konsorten) beschäftigte sich mit dem Gedächtnis projektbasierter Kunstproduktion. Seine Installation mit dem Titel saldo sbb – 48 Stunden begehbare Realienforschung zu den ökonomischen Bedingungen künstlerischer Produktion war eine Befragung des Archivs projektbasierter Arbeit. Ein spartanischer Wohnund Arbeitsbereich des StaatsbankIII. Künstlers (am Fenster ein Krankenbett, „Das Archiv als in den Regalen Bücher zur Geschichte Produktionsmittel des Wie wäre aber ein Theater-Archiv zu dendes Bankraubs) öffnete sich zu einer tätigen Selbst.“ ken, welches weder in die Lessing’schen Fotogalerie, die in individuellen PorDichotomien zurückfällt noch den Impetraits jene Verwaltungsangestellten rativen einer projektbasierten Netzwerkund Entscheidungsträger ausstellte, kultur gehorcht? Einige Anhaltspunkte für ein solches Archiv die über Anträge auf Projektförderung für die Staatsbank verbinden sich mit meiner Erinnerung an eine ehemalige befunden hatten. Die großformatigen Bilder in Petersburger Spielstätte mitten in Berlin, die zwischen 1999 und 2003 im Hängung wurden durch Interviewmaterial ergänzt. Es folgte Stammhaus der Dresdner Bank am Gendarmenmarkt (bis 1990 ein durch sechs Abspielgeräte zum Tonarchiv bestimmter Sitz der Staatsbank der DDR) unter dem Namen staatsbankber- Raum, der in Form von akustischen Erinnerungsprotokollen lin existierte. von Künstlern der Staatsbank die vergangenen Projekte für Der im Stil der italienischen Renaissance gebaute die Zuhörer ‚konservierte’. Schließlich folgte jener Raum, in Stadtpalast, weitgehend marode, schummrig beleuchtet und dem Matthaei über die Dauer von 48 Stunden damit beschäfmit DDR-Behördeninterieur der 1950er und 1960er Jahre austigt war, die realisierten oder nicht realisierten Projektanträgestattet, war als Relikt eines gescheiterten Staates in einer ge und -materialien ‚aller’ an der Staatsbank beschäftigten geschichtsvergessenen Umgebung von Beginn an Teil der Künstler mit einem Haushaltsschredder zu vernichten. Inszenierungs- und Aufführungspraxis. Das zur Zwischen Was ist von der staatsbankberlin, diesem Ort der nutzung überlassene Gebäude – die Investorenpläne für den Zwischennutzung geblieben? Geblieben ist die Erinnerung Umbau zu einem Luxushotel waren bald bekannt – präsentieran einen Ort, an dem für kurze Zeit eine andere Praxis des te sich nicht nur in seiner eigenen Vergänglichkeit, sondern Archivs sichtbar wurde. Eine archivalische Praxis, die den lud zur Reflexion auf die Eigenart projektförmigen Arbeitens Produktionsbedingungen von Theater als Bedingungen des ein. So wurden etwa im Sommer 2003 in der Ausstellung Nie Erinnerns Raum verschaffte. getan (durch das Berliner Performancekollektiv diskursive poliklinik) abgelehnte bzw. nicht-realisierte Projektanträge an die Wand projiziert oder szenisch gelesen. Damit wurde jene kaum Dr. Jan Lazardzig ist Associate Professor of Theater Studies an der Universität Amsterdam. Er forscht zurzeit zur Geschichte sichtbare, nach Maßgabe des eigenen Vorhabens ‚ver- der Theaterzensur im 18. und 19. Jahrhundert. „Der Text als Medium der gebliche’ aber gleichwohl Erinnerung wird alltägliche Tätigkeit ans privilegiert gegenüber den Foto © Susanne Fern Licht geholt, die projektförnicht-sprachlichen, mige künstlerische Praxis körperbezogenen auszeichnet. Hervorbringungen des Die letzte VeranstalSchauspielers.“ tung, Das Ende der Staatsbank (Konzeption Susanne Vincenz), bespielte für 48 Stunden in fünfzehn theatralen Installationen von ‚arrivierten’ Staatsbank-Künstler/innen das gesamte Haus. Einen Schwerpunkt bildeten auch hier Arbeiten, die zur Reflexion auf die (künstlerische) Produktion einluden. So verwendete Penelope Wehrli ihren Produktionsetat dazu, zwei Tage im benachbarten Luxushotel Four Seasons zu logieren, dort mit einer Super-8-Kamera hoteltypische Ausstattungselemente
07
Jan Lazardzig describes an archival practice that makes space for the production conditions of the theatre as conditions of remembrance. I.
First, we must remember that Gotthold Ephraim Lessing‘s characterisation of acting as “transient”1 – as passing, in the literal sense of the Latin transitorius – has its origin in the literarisation of the theatre, the establishment of a fixed stage. The facial expressions, gestures and characteristic style of the actor are fleeting in relation to the dramatic work and its II. venue. Only through the commitment of the theatre to the text and the institution (as propagated by theatre reformers since Gottsched), can the transitory be distinguished from the While the emancipatory gesture of alternative forms of theatre in the 20th Century consisted in inscribing the fleeting in static, the fleeting from the lingering. In the style of Roland the bodily memory as a radical experience thereby marking a Barthes, Lessing’s definition of acting could be expressed in radical difference to established forms of a repertoire-based the equation: ‘transience equals drama minus text’.2 The textual birth of the transitory has since practiced its own politics theatre memory, today the differences are blurred. Under the of memory: ‘text/institution‘ and ‚transience‘ correspond to present conditions of production of theatre, the archive, it the cultural practices of ‚remembering‘ and ‚forgetting‘. The seems, is increasingly losing its distinctive power. Although text as the medium of remembrance, is privileged as compared major theatre archives still function as outsourced memory of with the non-verbal, body-related creations of the actor, which institutional theatres (even Lessing would be able to manage are (potentially) ascribed to forgetting. This is tantamount to with regard to their access criteria such as play texts, pera kind of memorial self-immunization vis-à-vis those forms of formance venues or actor’s names), the network and project theatre that exist as non-text based, improvisational, bodyculture of the “free theatre” has turned self-archiving into a based play beyond the fixed theatre, e.g. jugglers, jesters, downright obligation. For project work, the archiving of one’s mimes, puppeteers, and pedlars.3 own artistic practice seems literally a necessity for survival The identification of the transitory with the act because it determines the visibility, the formation of the artiof forgetting seems natural to us, so stic profile, and the success of the next to speak, because it is consistent with project proposal. Therefore, only that „The archive is a our text-based culture of archives and which promises success for the next promeans of production of memorials.4 In addition, ever since the ject proposal achieves public visibility the active self. “ establishment of historical science as an in these archives. They are a part of the independent academic discipline in the production conditions of theatre. The 19th Century, the methodological tools of creation of these archives, one might this science have focused mainly on reconstructing human be- say, follows from the value system of a project-based social haviour based on documents and monuments. This means that structure or a project-based general organisation of society. those forms of theatre that take place beyond the literarised Its imperatives have been attributed to a Nouvel ésprit du stage and its institutions fall through the cracks. Therefore, capitalisme (1999) by the French sociologists Luc Boltanski and theatre historian Rudolf Münz emphatically draws attention to Éve Chiapello in their widely-read study based on Max Weber.8 Through a comprehensive analysis of management guidebooks the “other theatre” of Lessing’s time, a Germanof the 1960s to 1990s, they were speaking teatro dell‘arte, able to show how the behaviwhose body-based improvisaoural imperatives of networktions (no text, no institution based project work – flexibility, which remembers itself) at the mobility and an equally protean same time demanded another character – reflect a profound form of historiography and transformation of the capitalist archive.5 The connection of work ethic. The religion-based fleetingness and historicity ethical imperatives of worldly ashas been discussed many ceticism for the purpose of value times in recent years within creation, as they characterise the the context of performance Weberian production process, are studies. In her book, The Archive replaced by the virtuous activity
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other archives – an essay
and the Repertoire, Diana Taylor points out the extent to which the Western text-based historical culture is ignorant of other body-related forms of remembering.6 She proposes the concept of “scenario” as an alternative archival practice that addresses the difference between text-based and non-text „Archiving of one’s own based memorial cultures. In artistic practice seems addition, Rebecca Schneiliterally a necessity for der, in her dealings with the survival.“ phenomenon of Historical Reenactments, recently called attention to how the fleetingness, stylized as an aesthetic category of performing arts, gets in the way of seeing performances themselves as something permanent, as ‘places of memory’ (Pierre Nora).7
08 as an end in itself in the post-Fordist realities of labour.9 Under the conditions of immaterial production (which is not based on value creation through optimisation of the production of objects, but rather on the perfectibility of activity), creation and memory, production and archive are not separated from each other. In contrast to a concept of the archive as a repository (of monuments and documents), the archive in this context is a means of production of the active self.
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III. How can we conceive of a theatre archive which neither falls back on Lessingian dichotomies nor obeys the imperatives of a project-based network culture? Some points of reference for such an archive are connected with my memory of a former central venue in Berlin that existed in the headquarters of Dresdner Bank at the Gendarmenmarkt (seat of the GDR State Bank until 1990) between 1999 and 2003 under the name staatsbankberlin. As a relic of a failed state in an environment forgotten by history, this Renaissance-style city palace, which was largely dilapidated, dimly-lit and furnished with GDR office furniture from the 1950s and 1960s, was part of the practice of staging and performance from the outset. The building, which had been relinquished for temporary use – the investors’ plans for its conversion into a luxury hotel soon became known – presented itself not only in its own transience but invited reflection on the nature of project-based work. In the summer of 2003 in the Nie getan exhibition (by the Berlin-based performance group diskursive poliklinik), for example, rejected or unrealised project applications were projected onto the wall or read as scenes. This allowed the barely visible activity, which was ‚futile‘ in terms of the intention behind the project, yet also mundane, and which characterises project-based „The text as the artistic practice, to be medium of remembrance, brought to light. is privileged as The last event, Das Ende compared with the der Staatsbank (conception non-verbal, body-related by Susanne Vincenz), was creations of the actor.“ performed throughout the entire theatre in fifteen theatrical installations over a period of 48 hours by ‘established’ Staatsbank artists. One of the focal points of this event included works that invited visitors to reflect on (artistic) production. Penelope Wehrli, for example, used her production budget to stay at the neighbouring Four Seasons luxury hotel for two days to film typical hotel furnishings with a Super 8 camera, which she then projected into the enfilades of the former state bank in anticipation of the planned five-star hotel that was to replace it. Thus, the upcoming project was visible as a luxury architecture stripped of the traces of the recent past. Jörg Lukas Matthaei (matthaei & konsorten) chose to address the memory of project-based art production. His installation, entitled saldo sbb – 48 Stunden begehbare Realienforschung zu den ökonomischen Bedingungen künstlerischer Produktion was a review of the archive of project-based work. A Spartan living and working area used by the Staatsbank artist (a hospital bed at the
window, the shelves filled with books on the history of bank robbery) opened onto a photo gallery which featured individual portraits of those administrators and decision makers who had approved or rejected applications for project funding on behalf of the Staatsbank. The large-format images hung salonstyle in the room were supplemented by interview material. This was followed by a room turned into an audio archive using six media players, which ‘conserved’ past projects for the audience in the form of acoustic memory protocols. Finally, visitors arrived at a room in which Matthaei busied himself for a duration of 48 hours with destroying the realised or unrealised project applications and the materials of ‘all’ artists working at the Staatsbank using a household shredder. What is left of the staatsbankberlin, this place of temporary use? What remains is the memory of a place where a different practice of the archive became visible for a short time. An archival practice that made space for the production conditions of the theatre as conditions of remembering.
Dr. Jan Lazardzig
is Associate Professor of Theatre Studies at
the University of Amsterdam. He is currently conducting research on theatre censorship in the 18th and 19th Century.
Photo © Susanne Fern
fuSSnoten Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1, Hamburg
1
und Bremen, 1767, Vorrede.
2
„Qu’est-ce que la théâtralité? C’est le théâtre moins le texte“. Roland
Barthes, „Le théâtre de Baudelaire“, in: ders., Essais critiques, Paris, 1964, S. 41-47, hier S. 41.
3
Die Historiographie dieser Theaterformen fristet entsprechend eine
Nischenexistenz. Als Gegenbeispiel sei verwiesen auf Gerda Baumbach (Hg.), Theaterkunst und Heilkunst. Studien zu Theater und Anthropologie, Köln, 2002. 4
Zur Kritik des Archivs siehe Jacques Derrida, Mal d'archive. Une impressi-
on freudienne, Paris, 1995. 5
Rudolf Münz, Das „andere“ Theater. Studien über ein deutschsprachiges teatro
dell'arte der Lessingzeit, Berlin, 1979. 6
Diana Taylor, The Archive and the Repertoire: Performing Cultural Memory in
the Americas, Durham: Duke University Press, 2003, v.a. S. 1-52. 7
Rebecca Schneider, Performing Remains. Art and War in Times of Theatrical
Reenactment, London [u.a.], 2011.
8
Luc Boltanski u. Éve Chiapello, Der Neue Geist des Kapitalismus. Aus dem
Französischen von Michael Tillmann, Konstanz, 2003.
9
Vgl. Paolo Virno, Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Der Engel und
der General Intellect. Mit einer Einleitung von Klaus Neundlinger und Gerald Raunig. Aus dem Italienischen von Klaus Neundlinger, Wien, 2005, v.a. S. 63-91.
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actors look back
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JAHRBUCH ITI YEARBOOK akteure halten rückschau
„Du brauchst die persönliche Begegnung“ Über Jahrzehnte hat das ITI Brücken für den Theateraustausch gebaut. Erst in Ost-West-Richtung, dann mehr in Nord-Süd-Richtung. Was als formales Netzwerk den ganzen Globus umspannt, wird durch einzelne, engagierte Theaterleute in konkrete Projekte umgesetzt. So kam in Deutschland das Theater Lateinamerikas in den Blick, und Theaterleute aus Deutschland engagieren sich auf Zypern und in Palästina. Mit den langjährigen ITI-Mitgliedern Hedda Kage und Alexander Stillmark sprachen Annette Doffin und Thilo Wittenbecher über ITI-Erfahrungen, Begegnung, Herausforderungen und Glücksmomente. Annet te Doffin/Thilo Wit tenbecher: Euch verbindet im ITI auf sehr intensive Weise die internationale Arbeit, besonders mit dem Theater in Lateinamerika. Wie seid ihr – mit eurem Herkommen aus ganz verschiedenen Arbeitsbiografien und sozialen Kontexten – zu eurer Zusammenarbeit und zum ITI gekommen?
Hedda K age:
Sitzungen teil.“ Ich sag: „Das ist alles? Das heißt, wir werden alle immer älter? Das kann’s doch nicht sein?!“ Daraufhin habe ich das kooptierte Mitglied erfunden und wurde dem Vorstandsmitglied Fritz Bennewitz zugeteilt. Alle fanden das richtig, dass es Kooptierte gibt, jüngere Mitglieder, die dann eingeführt wurden. Und da Bennewitz krank wurde, fuhr ich als seine Stellvertreterin als deutsches Mitglied des Komitees für Kulturelle Identität und Entwicklung (CIDC) nach Madagaskar. Da wäre ich sonst nie in meinem Leben hingekommen. Dort lernte ich Ann Mari Engel aus dem schwedischen ITI kennen, die heute Vizepräsidentin des ITI worldwide ist und all die anderen Leute und stieg quasi richtig in die internationale Komitee-Arbeit mit ein. Der Sinn für mich, ins ITI zu gehen, war auch, eine der Brücken zu sein zwischen dem Theater Lateinamerikas und Deutschlands. Denn so viel Verbindung gab es da noch nicht. Man konnte damals noch nirgendwo lateinamerikanische Theaterwissenschaft studieren.
„Ich habe über das ITI-Ost erst etwas vom ITI-West erfahren und stellte dann fest, dass es unterhalb der politischen Ebene eine wunderbare Verständigungsebene gab.“
Aus Westdeutschland kommend interessierte ich mich brennend für das Theater im anderen Teil Deutschlands und machte 1966 eine Hospitanz am Deutschen Theater in Ost-Berlin. Gleich am dritten Tag auf dem Weg zum Theater kam ich an einem Schild mit der Aufschrift „Internationales Theaterinstitut“ vorbei und traf sofort auf den Sekretär des ITI-Zentrums der DDR Wolf Ebermann mit der Frage: „Sie sind doch sicher für mich zuständig?“, worauf er antwortete: „Nein, Sie sind eigentlich feindliches Ausland, aber Theaterfrau.“ Seitdem waren wir befreundet bis zu seinem Tod. Ich bin viel mit ihm ins Theater gegangen und habe durch ihn verschiedenste Leute kennengelernt, eben auch Alexander Stillmark. Bis dahin wusste ich überhaupt nichts vom ITI. Ich habe also über das ITI-Ost erst etwas vom ITI-West erfahren und stellte dann fest, dass es unterhalb der politischen Ebene eine wunderbare Verständigungsebene gab. Über diese ITIKontakte hatte ich die Möglichkeit, immer wieder in die DDR zu fahren – ich bin in Halle, Rostock, Dresden und oft auch in Leipzig gewesen ... ITI-Mitglied bin ich erst 1988 geworden, da hatte ich gerade das südamerikanische Theater für mich entdeckt und wollte das nach Deutschland holen. In Stuttgart hatte ich die Idee, dafür ein Zentrum aufzubauen und habe die Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika gegründet. In dem Jahr hat man mich auch gleich für das ITI vorgeschlagen, damals wurde man noch vorgeschlagen ... Nach verhältnismäßig kurzer Zeit kam ich in den Vorstand. Da habe ich den damaligen deutschen ITI-Präsidenten August Everding gefragt „Ja und jetzt, was mach` ich jetzt?“ „Naja, Sie nehmen an den
Alex ander Stillmark: Bis zur Wiedervereinigung war ich kein ITI-Mitglied, bin aber durch mein Interesse an internationaler Dramatik 1979 auf der Arbeitsebene mit dem Ost-ITI in Kontakt gekommen. Und die damalige Geschäftsführerin Irene Gysi sagte dann eines Tages: „Ich habe gemerkt, ihr seid interessiert an internationaler Dramatik. Ihr müsst mal ein bisschen was von der Welt sehen. Jetzt mal raus!“ Und sie hat uns ohne Vorbereitung zur zweiten Konferenz des Komitees der „Dritten Welt“, damals noch Third World Committee, nach Nikosia, Zypern geschickt. Da saßen wir nun plötzlich und sahen Ellen Stewart, die Gründerin des La MaMa-Theaters in New York und Fritz Bennewitz schwirrte da auch irgendwo rum. Es ging gerade heiß her, weil die Palästinenser aufgenommen wurden, worauf die Israelis gleich austraten. Es ging also gleich mit Krach los. Wir waren mitten drin in der Theaterweltpolitik. Später in den
1980er –Jahren wurde ich nochmal Hedda K age: „Der Sinn für mich, ins Nach kurzer Zeit entstand bei uns die nach Zypern geschickt, zu einem ITI zu gehen, war auch, Frage, wie wir das herholen können, Kongress für „Theatre Education“. Da eine der Brücken zu implantieren in diese Festung deutsches war ich aber schon an der Buschsein zwischen dem Theater, die damals ja nicht so besonSchule. Der ausschlaggebende Punkt Theater Lateinamerikas ders offen war für fremdsprachige Stüwar mein Interesse an internatiound Deutschlands. “ cke, es sei denn englischsprachige. Und naler Arbeit und das Glück, auf eine so haben wir damals Schritt für Schritt Person wie Irene Gysi zu treffen, die angefangen, etwas aufzubauen. 1991 so etwas förderte. Das sind einfach im Haus der Kulturen der Welt, in dem großen Kongress diese Momente wie beim Theater; du kannst da sitzen und über modernes Theater in Lateinamerika, haben wir Talent haben, aber wenn du nicht den triffst, der dir die Theaterwissenschaftler aus Deutschland, Kanada, USA, Rolle zur richtigen Zeit am richtigen Ort gibt, dann nützt Mexiko und Chile zusammengebracht. Und die hiesige das nichts. Insofern ist unser Berufsleben sehr viel vom Theaterwissenschaft staunte und sagte: „Wir wussten Glück abhängig, dem Glück der Begegnung. Hedda und gar nicht, dass es überhaupt eine lateinamerikanische ich haben uns nach dem Mauerfall durch eine BuchvorTheaterwissenschaft gibt – auf dem Niveau, in diesen stellung in der Staatsbibliothek wieder getroffen. Da Ländern." Dann kam das Festival Theater der Welt 1991 bei haben wir Wiedersehen gefeiert. Dann hat sie mich in die dem Lateinamerika ein Schwerpunkt war. Es entstand Lateinamerika-Projekte reingenommen ... diese wunderbare Idee des ITI-Beiprogramms Theater in Hedda K age: Lateinamerika. An solche Ideen sollte man wieder anknüpWir haben eine wunderbare Reise zusammen gemacht: fen, wenn wir jetzt auch über Zukünftiges reden oder Uruguay, Argentinien, Chile. Wir wollten aber nicht Perspektiven … nur berichten – das hatte ich die ganzen Jahre vorher Alex ander Stillmark: mit meiner Theater- und Mediengesellschaft gemacht. Aber wenn man das ernst nimmt, dieses Gebilde von Ich war immer runter gefahren, war auf den Festivals Beziehungen, dann muss man das mit Sinn und Arbeit gewesen, habe Leute getroffen, Interviews gemacht, erfüllen und muss gegebenenfalls auch Strukturen Material mitgebracht und dann „berichtet“. Jetzt sagten ändern. Zum Beispiel in den Komitees und etwas bewewir, das ITI ist für die Begegnung da, für den Austausch. gen für mehr Mitarbeit und Interesse. Da gibt es diesen Wir können nicht mehr nur diesen einseitigen Abruf wunderbaren Satz von Brecht: „Talent ist Interesse an der realisieren. Wir müssen die Zweibahnstraße ausbauen, Arbeit“. dafür sind wir da, dafür braucht es so einen Brückenkopf wie das ITI.
Alex ander Stillmark: In meiner Biografie spielte die Arbeit in Vietnam eine große Rolle, dort zu inszenieren; und da war das ITI-Ost in der Person des Theaterwissenschaftlers Joachim Fiebach ganz wichtig sowie der Theaterkritiker Ernst Schumacher. Die Linie war: kein Kulturexport. Wir überbringen den anderen keine Brecht-Ästhetiken, wie sie am Berliner Ensemble von der ganzen Welt aufgesogen wurden mit der Folge, dass man überall kleine BE-Musteraufführungen sah und das Grau die einzige Farbe war. Unsere Fragestellung war, ob eine Integration der Arbeitsweise von Brecht in das traditionelle asiatische Theater überhaupt möglich wäre. Da entstand die wirklich intensive Auseinandersetzung dieser beiden Theaterformen, des epischen Theaters der Moderne von Brecht, mit dem asiatischen traditionellen Theater.
Annet te Doffin/Thilo Wit tenbecher: Und dann kam eure gemeinsame Reise nach Lateinamerika?
Alex ander Stillmark:
… zum ersten Theatertreffen Lateinamerikas überhaupt, in Cono Sur, dem südlichsten Teil Südamerikas. Wir kennen ja das Theater in Argentinien gar nicht, sagten da die Chilenen. Die Uruguayer sagten, wir kennen das Theater in Chile nicht. Zum ersten Mal, dass wir diese Autoren treffen, zum ersten Mal, dass wir diese Regisseure treffen, zum ersten Mal diese Übersetzer.
Hedda K age:
Wir haben so viele Netzwerke aufgebaut, all das funktioniert; wir wissen, wir überblicken uns, aber dadurch entdecken wir uns noch nicht. Denn das Entdecken läuft immer durch die Dechiffrierung. Dafür brauchst du Leute. Und dafür brauchst du die persönlichen Begegnungen. Bei Theater der Welt sollten wir, als Gastland, die Leute einladen, die noch nicht der oberste „Das ITI ist da für Rang sind und ihnen die Begegnung, für die Möglichkeit geben, den Austausch, wir teilzunehmen. Ihnen können nicht mehr nur die Gelegenheit bieten, diesen einseitigen miteinander zu lernen, Abruf realisieren.“ Sachen anzuschauen, sich ästhetisch und politisch auseinanderzusetzen, um dann mit diesen Eindrücken zurückzugehen und weiter zu arbeiten. Wir müssten also noch gastfreundlicher werden und nicht nur funktional vernetzen. Denn durch Gastfreundschaft kann man auch viele Mitglieder von uns, vom ITI, einbinden und sagen, „Wer geht nach Mannheim und ist bereit, Künstler zu betreuen, sie zu treffen? Zusammen mit jungen Künstlern die großen zu interviewen usw.?“ In diese Richtung sollten wir eine Begegnungskultur ausbauen.
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12 eine Gnade, sondern erkämpft. Das ist ein Standard und der ist erst mal zu halten. Denn es wird demnächst noch eine riesige neue Diskussion geben, um die Freihandelszone...
Annet te Doffin/Thilo Wit tenbecher: Was sind eure aktuellen Projekte?
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Alex ander Stillmark:
Für mich steht an, die ganze ITI-Komitee-Geschichte des CIDC (Comittee for Cultural Identity and Development) wieder ins Laufen zu bringen. Das heißt, ausschauen nach Partnern für das Projekt My unknown enemy. Dann interessiert mich ein Projekt, das ich gerne mit meinem Freund Shimon Levi aus Tel Aviv machen würde. Der hat ein Buch geschrieben, Die Bibel als Theater. Das möchte ich gern zusammen mit einem Brecht-Workshop machen. Und eine Brecht-Inszenierung ...
hedda kage arbeitete von 1966 bis 1985 als Dramaturgin in Mannheim, Frankfurt, Düsseldorf, München, Kassel, Stuttgart und Wuppertal. Sie wirkte im Vorstand des Internationalen Theaterinstituts und der Dramaturgischen Gesellschaft. 1988 gründete sie die Theater- und Mediengesellschaft Lateinamerika e.V.
Als Festivalberaterin
initiiert sie seit 2000 internationale Projekte und arbeitet seit 2007 an Übertitelungen für lateinamerikanische Gastspiele.
Alexander Stillmark ist freischaffender Regisseur. Nach ersten Arbeiten als Regieassistent war er seit 1964 als Regisseur am Berliner Ensemble, ab 1971 am Deutschen Theater Berlin. Bekannt wurde er durch Inszenierungen von Heiner Müller und Bertolt Brecht. Er inszenierte u.a. in Hanoi, Helsinki, Santiago de Chile oder Montevideo. Er war über viele Jahre Vorstandsmitglied des ITI. Ab 2001 entwickelte er das ITI-Projekt My unknown enemy.
Alex ander Stillmark:
Hedda K age:
Man kann heute sagen, „Du, wir haben einen Übersetzer-Workshop, meld dich da an, das ist eine kontinuierliche Arbeit…“ Gerade Übersetzung ist ja das Schmiermittel, wie kommt sonst die Dramatik in die andere Sprache, in die andere Kultur? Da gibt es doch schon einen großen Fonds an Erfahrungen, der bleiben sollte.
Ich träume von einer europäischen Kinderoper. Ich habe ein wunderbares Material entdeckt, das ich gerade ins Deutsche übersetzt habe. Und versuche es hier anzubieten. Eine wunderbare Kinderoper, von einer Spanierin geschrieben, ausgezeichnet mit dem ASSITEJ-Preis 2010. Es geht darum, wie man von der Wegwerfkultur zur „Reciclaje“, zur Wiederverwendung kommt – ein anderes Denken über unsere Konsumgesellschaft. Ich träume davon, dass es eine spanische Version gibt mit einem spanischen Komponisten und mit klassischen spanischen Tanzformen; eine englische Version, ein englisches Musical; stelle mir eine deutsche Oper vor und ein Puppentheater aus Frankreich mit Musik und das alles dann in einem europäischen Festival. Das ist mein Traum. Daran sitze ich jetzt. Also: Zusammenarbeit!
Annet te Doffin/Thilo Wit tenbecher: Wie seht ihr die Arbeit in den Komitees des ITI?
Alex ander Stillmark:
In gewisser Hinsicht müssen wir uns neue Organisationsformen schaffen, denn wir stehen heute ganz neuen Situationen gegenüber. Wir sind in einem unglaublich schnellen Wechsel der Bezüge, der Weltsituation, der technischen Möglichkeiten, da werden wir uns wahrscheinlich anpassen müssen. Damit meine ich z.B. temporäre Organisationsformen zu schaffen, die leicht änderbar sind, die sich anpassen an die neuen Bedingungen: Wir haben kein Geld, was ist dann? Wir haben das und das, was machen wir da? Und unter dem Gesichtspunkt der Frage „Was bleibt?“, muss man daran erinnern: Dass das ITI heute überhaupt so besteht, ist einem jahrelangen Kampf der Vorstände, der Geschäftsleitung, des ganzen Vereins zu danken. In vielen anderen Ländern werden die ITI-Zentren runtergefahren. Knallhart. Dass wir überhaupt diese Organisationsform haben, ist ja nicht
Thilo Wittenbecher
ist Leiter des Mime Cen-
trum Berlin, welches seit 2011 als ständiges Projekt des ITI arbeitet.
Annette Doffin
ist Büroleiterin der Ge-
schäftsstelle des Internationalen Theaterinstituts.
Foto © Anna Rozkosny
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Das Theater an der Ruhr folgt nicht dem gängigen Stadttheater-Duktus des immer neu und immer viel. Was andere mit der Globalisierung entdeckten, wird hier von aller Mode entkleidet und seit über dreißig Jahren gelebt: Das Theater geht in die Welt und holt die Welt ins Haus. Was aber sammelt sich als Grunderfahrung bei diesem nimmermüden Theaterreisen? Mit Roberto Ciulli, Helmut Schäfer und Sven Schlötcke sprach für das ITI-Jahrbuch Frank Raddatz. Fr Ank r addat z:
Theater ist besonders für diese Kommunikation geeignet, da es neben der Musignifikanten Profil des Theater an der Ruhr. sik kein Medium gibt, das die Menschen Ihr habt in 38 Ländern auf 4 Kontinenten so direkt und emotional anspricht. gastiert und stellt regelmäßig Theater aus Nur transportiert Theater die Inhalte anderen Ländern und Kulturen in Mülheim unmittelbarer als die Musik. Doch als vor. Wie würdet ihr die Erfahrungen aus dieser wir unsere internationalen Aktivitäten langfristigen Arbeit beschreiben? begannen, war diese Sichtweise kaum Helmu t Schäfer : verbreitet. Seit unserer Gründung vor 30 Jahren Der internationale Theaterpräsentieren wir jeweils drei Jahre austausch begann bei uns nicht als das Theater eines politisches Projekt, Landes. Diese sondern durch die Reihe Internationale „Tatsächlich haben wir Feststellung, dass Theaterlandschaften uns als Theatermenschen wir selber fremd in begann mit Jugoin Belgrad wohler gefühlt unserem Land waren. slawien – das gab als in Deutschland.“ Unsere ersten Inszees damals noch nierungen stießen bei – dann folgten ostvielen Zuschauern europäische Länder wie Russland und auf Unverständnis. Es war wirklich Polen. Dadurch war es möglich, dass kein Spaß, wenn wir beispielsweise mit sich die interessierte Öffentlichkeit ein unserem „Sommernachtstraum“ in Bild über die Kunst des Theaters andeStädten wie Remscheid oder ähnlichen rer Länder verschaffte. Die InszenieOrten gastierten. Tatsächlich haben wir rungen wurden mit Diskussionen und uns als Theatermenschen in Belgrad Ausstellungen flankiert. wohler gefühlt als in Deutschland. Dort brachte uns die Kritik, auch die intelSven Schl ö t cke: lektuelle Welt, eine Aufmerksamkeit Da wir diesen Austausch mit einem entgegen, wie sie uns in Deutschland hohen Maß an Kontinuität betreiben, nie zuteil wurde. Aufführungen, die entstanden Vertrauensverhältnisse hier auf Ablehnung stießen, wurden in zwischen den Akteuren. Das ist etwas Belgrad vom Publikum gefeiert, so dass ganz anderes, als Künstler einzukauwir sogar mit unseren Inszenierungen fen, um sie auf Festivals zu präsentiein deutscher Sprache eine Tournee ren, um ihren Marktwert zu nutzen. durch ganz Jugoslawien antraten. Die internationale Ausrichtung gehört zum
Es handelt sich hier tatsächlich um
Fr ank R addat z:
künstlerischen Positionen.
Euer Projekt „Theaterlandschaften der Seidenstraße“ führte euch bis in den Iran, gegen den zu dieser Zeit ein Embargo verhängt war.
Heute bestreitet niemand, dass in-
Helmut Schäfer:
ternationale Arbeit eine notwendige
Wir haben uns sehr wohl überlegt, ob ein Gastspiel im Iran opportun ist oder
politische Dimension des Theaters ist.
1981 wurde das Theater an der Ruhr von Roberto Ciulli, Helmut Schäfer und Gralf-Edzard Habben gegründet. Die erste Premiere war Lulu von Frank Wedekind im November 1981. Seit Dezember 1981 befindet sich das Theater im ehemaligen Kurhaus im Raffelbergpark an der Stadtgrenze Mülheims zu Duisburg. Heute gehört auch Sven Schlötcke zur Künstlerischen Leitung.
1983 erhielt das Theater
an der Ruhr die erste Einladung ins Ausland auf das Theaterfestival in Parma (Italien), ebenfalls 1983 fuhr das Theater mit dem Sommernachtstraum nach Zagreb. Wichtige weitere Auslandstourneen: 1988 in Polen, 1990 in der Türkei, 1992 in Südamerika, 1994 wieder in der Türkei und erstmals in Russland, 1996 in Schweden, 2001 in Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan und Turkmenistan, sowie 2012 in Kurdistan. Einladungen zu Theaterfestivals 1997 in Belgrad, 1998 in Bogotá (Kolumbien) und 1999, 2000, 2001, 2004 und 2006 in Teheran (Iran), wobei das Theater an der Ruhr das erste westliche Theater über-
einen Austausch von Erfahrungen und
Rober t o Ciulli:
Theater an der Ruhr
haupt war, das nach der Islamischen Revolution im Iran auftrat.
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Wir bleiben Fremde unter Fremden
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14 nicht. Oder ein Gastspiel zu Zeiten Saddam Husseins im Irak. Wir haben diese Problematik mit dem gesamten Ensemble diskutiert und sind schließlich mehrheit„Diese Beschämung lich zu der Überzeugung miterleben zu müssen, gekommen, dass es nicht war entsetzlich.“ nur opportun ist, sondern notwendig wäre. Bestraft werden immer die Falschen. Konkret sah das z. B. so aus, dass ich in Bagdad an der Universität auf Germanisten traf, die beschämt waren, dass sie seit anderthalb Jahrzehnten von der germanistischen Forschung abgeschnitten waren. Ihre Kenntnisse brachen mit dem Jahr 1984 ab. Das war im Jahr 2002. Diese Beschämung miterleben zu müssen, war entsetzlich.
Fr ank R addat z: Heutzutage setzt sich allmählich die Erkenntnis durch, dass die Kommunikation mit der arabischen Welt über Jahrzehnte sträflich vernachlässigt wurde. Ihr gehört zu den wenigen, die sich dort früh engagiert haben.
Roberto Ciulli:
Früher war die Situation der internationalen Gastspiele ziemlich deprimierend. Es gab ein Gremium am GoetheInstitut, den sogenannten Beirat. Ich schlug vor, dass unser Theater, und das war ungewöhnlich für diese Zeit, in Richtung Osten und in die arabische Welt fährt, aber diese Idee überzeugte den Beirat nicht. Das hat mich aber nicht daran gehindert, auf eigene Faust in diese Länder zu fahren. Dort habe ich nach Menschen gesucht, die sich auch als Fremde im eigenen Land fühlten. Ihnen rief ich zu: „Fremde aller Länder, vereinigt euch.“
Altidan Sonra Tiyatro: Barzo und Konserve (Szene Istanbul; 2013) © Theater an der Ruhr
Helmut Schäfer: Roberto ist z. B. zwei, drei Jahre vor dem Theater in den Iran gefahren, um diese Kontakte herzustellen, so dass es uns 1999 möglich war – im Jahr zuvor hatten wir sogar schon ein Gastspiel aus Teheran hier – , dort das allererste Gastspiel eines Theaters aus dem Westen nach 1979 zu machen. Der zentrale Punkt war, eine Kommunikation herzustellen.
Roberto Ciulli: Wir konnten uns nur durchsetzen, weil uns die GoetheInstitute in den jeweiligen Ländern unterstützt haben. Schließlich waren wir das erste Theater, das in Ländern gespielt hat, mit denen es kein Kulturabkommen gab. Ein absolutes Novum. Wir haben dann dafür gesorgt, dass es nicht bei einem ausschließlichen Austausch mit dem Theater an der Ruhr bleibt, weil man in Teheran unbedingt zeitgenössische Aufführungen zeigen musste, um einen Begriff von Gegenwartstheater zu vermitteln. Zuerst ging das Residenztheater München in den Iran, später Peymann mit Richard III und Die Räuber aus Stuttgart.
Fr ank R addat z: Im Rahmen des Seidenstraßenprojekts wart ihr in Kirgisistan, Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan.
Roberto Ciulli:
Das ist schon merkwürdig, dass man in den Medien überhaupt nichts von diesen Ländern hört. Dabei ist die ganze Region ein Pulverfass. Im Moment schaut alles nur auf die arabische Welt. Niemals zuvor war ein deutsches Theater in dieser Region. Mit uns hat zum ersten Mal in der Geschichte ein deutsches Theater in Städten wie Buchara, Samarkand, al-Mayadin oder Bishkent gastiert. An dieser Stelle müssen wir auf jeden Fall zwei Menschen nennen, ohne die das alles nicht möglich gewesen wäre. Der eine ist Awni Karoumi, ein Iraker mit einem großen Herz, der vor sieben Jahren, leider viel zu früh, gestorben ist. Er hatte, wie die meisten Theaterleute des Irak, in der DDR studiert und ging später wegen Saddam Hussein ins Exil. Er hat uns die Türen in der ganzen arabischen Welt geöffnet. Dann Bolat Atabayev. Er war der Vermittler für Zentralasien. Bolat Atabayev hat das deutsche Theater in Almaty gegründet. Bolat Atabayev hat voriges Jahr in Weimar die Goethe Medaille erhalten. Helmut Schäfer hat die Laudatio gehalten. Nur dank dieser Menschen konnte unsere Arbeit realisiert werden. Bolat Atabayev war der Vermittler in all diesen asiatischen Ländern. Er ist ein hervorragender Regisseur und hatte in den verschiedenen Ländern Zentralasiens Zugang zu den Theatergruppen, die mich als Partner für einen Austausch interessierten. Das waren Theatergruppen, die von den offiziellen Kulturfunktionären ignoriert wurden, manchmal sogar als Oppositionelle klassifiziert. Es handelt sich, wie gesagt, immer um Treffen der Fremden im eigenen Land.
Fr ank R addat z:
Helmut Schäfer:
Ihr habt also immer wieder Menschen gefunden, die sich auf euch eingelassen haben, und eure Intentionen und Projekte mitgetragen haben.
Jetzt präsentieren wir Länder wie Libanon, Syrien, Jordanien, Tunesien …
Roberto Ciulli:
Das war unser Glück. In diesem Zusammenhang muss Sven Schlötcke: Nur ist das keine aktuelle Reaktion, sondern von uns unbedingt auch Recai Hallac erwähnt werden, der für lange vorbereitet. In Tunesien waren wir beispielsweise unsere Zusammenarbeit mit türkischen Theatern eine 2009. Erst 2010 begannen diese Proteste. große Rolle gespielt hat. Er ist Übersetzer und Schriftsteller. Er hat während unserer gesamten ZusammenarFr ank R addat z: beit mit der Türkei herausragend übersetzt – das waren Ihr habt im Rahmen von Ruhr 2010 auch das Festival Theater der immerhin zwölf Jahre – unsere Theaterstücke, TheaterWelt nach Mülheim geholt. stücke aus der Türkei, die in Mülheim gezeigt wurden, Sven Schlötcke: Seminare, die in diesem Rahmen stattfanden und SymWas eine logische Konsequenz unserer posien, alles auf einem exzellenten jahrelangen Arbeit war. Man sieht bei so Niveau. Und ich muss noch Navid „Schließlich waren wir einem Festival natürlich auch SchattenKermani nennen. Auf meiner ersten das erste Theater, das in seiten. Grundsätzlich würde ich sagen, Reise nach Iran hat mich Navid Ländern gespielt hat, es ist und kann nur gut sein, dass so viel Kermani begleitet. Er brachte mich mit denen es kein Austausch und Kontakt wie möglich hermit einer iranischen Sufigruppe in Kulturabkommen gab.“ gestellt wird. Aber trotzdem stellt sich Kontakt. Das Konzert dieser Sufis, die Frage, was das eigentlich bedeutet. die zuvor nie in Europa waren, verDas sehe ich persönlich sehr kritisch. danken wir seiner Vermittlung. Denn man kann sich vor diesem Horizont dem Problem Fr ank R addat z: der Warenform von Kunst nicht entziehen. So ein FestiMittlerweile besitzt die internationale Arbeit einen hohen Stellenval funktioniert wie eine Messe. Es betont zwangsläufig, wert. Auch wenn niemand Lust hat, sich mit einer Krisenregion wie unter bestimmten künstlerischen Aspekten, immer auch Griechenland zu beschäftigen. den warenförmigen Charakter.
Sven Schlötcke:
Im Augenblick gibt es geradezu eine Mode, Regisseure aus dem arabischen Raum, aus der Türkei oder Afrika einzuladen. Auch Griechenland wird dazu kommen. Yannis Houvardas oder Michael Marmarinos arbeiten ja bereits in Deutschland. Die Mode hängt am Theater immer den Ereignissen hinterher. Was treibt diese modischen Wellen eigentlich an? Inhaltliches oder ästhetisches Interesse?
Helmut Schäfer: Das beruht auf einer Spekulation. Ich nehme einen türkischen Regisseur und lasse den einen deutschen Stoff wie Faust inszenieren. Früher wurde im Theater viel über die sogenannte Chemie gesprochen. Die Konzeption bestand darin, Leute, die nicht zusammengehören, zusammen zu bringen und darauf zu hoffen, dass daraus eine explosive Mischung entsteht. Das ist die sehr flache Form, in der diese Auseinandersetzung oft betrieben worden ist und heute noch betrieben wird.
Sven Schlötcke: Deswegen muss man sich fragen, was internationale Arbeit in den Zusammenhängen bedeutet, die sich jetzt entwickeln: wo sich das Internationale unter den globalisierten Verhältnissen zu einem Trend entwickelt; welchen Gesetzmäßigkeiten folgt dieser Trend und welche Wirkungen erzeugt er? Wir müssen da differenzieren. Nordafrika steht auch in unserem Fokus. Wir veranstalten seit zwei Jahren die Theaterlandschaft „Neues Arabien“. Nur haben wir mit den Vorbereitungen bereits angefangen, bevor diese Länder in die Schlagzeilen rutschten. Diese Arbeit hat ein anderes Fundament.
Helmut Schäfer: Die internationale Theaterarbeit, die verschiedene Stadttheater versuchen, beruht zumeist auf Forderungen aus der Politik. Auch regionale Politik ist heute gezwungen, sich angesichts der globalen Situation zu internationalisieren. Dieser Trend wird von den Theatern in einer Art und Weise umgesetzt, dass man ein Label „international“ auflegt. Darunter findet die wirkliche Arbeit, das heißt die kommunikative Arbeit, aber kaum statt. Das Label will nur die Politik bedienen und vernachlässigt die notwendige, vielleicht auch mühselige Kom„Wenn zum Beispiel junge munikation.
Fr ank R addat z: Diese Festivals werden ja evaluiert und sollen einen Erfolg darstellen. Dadurch werden Regisseure oder Kunstkonzepte zu Trophäen. Wie der Intendant ist auch der Festivalleiter ein Headhunter.
Menschen für ein halbes Jahr in einem Theater in der Türkei arbeiten würden und umgekehrt, wäre das schon etwas. “
Roberto Ciulli:
Mit der Globalisierung ist eine beispiellose Möglichkeit entstanden, die aber die Kultur – also nicht nur die Theater, aber die Theater ganz besonders – noch nicht verstanden hat. Auf der Ebene des Profits werden Konzerne gehandelt, und es ist egal, ob die italienische Telefongesellschaft plötzlich einer spanischen Gesellschaft gehört. Doch was ist der Gegenentwurf? Wie kann der normale Bürger profitieren? Wie könnte die Globalisierung eine Qualität an der Basis bekommen. Unten. Man braucht eine andere Perspektive, eine andere Vision als ein kurzfris-
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16 tiges Engagement. Wenn zum Beispiel junge Menschen für ein halbes Jahr in einem Theater in der Türkei arbeiten würden und umgekehrt, wäre das schon etwas.
Helmut Schäfer:
Wir hatten die Gründung einer Internationalen Akademie vor, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigen sollte. Das ist uns leider nicht gelungen.
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„Wir müssen aufpassen, dass wir mit dem internationalen Kurs nicht eine neue Art von Kolonialismus betreiben.“
Roberto Ciulli:
Theater an der Ruhr The Theater an der Ruhr was founded in 1981 by Roberto Ciulli, Helmut Schäfer and Gralf-Edzard Habben. The first show to premiere here was
Das wäre ein Projekt gewesen, um die Basis zu schaffen, auf der tragfähige Beziehungen dieser Art entstehen. Wir müssen aufpassen, dass wir mit dem internationalen Kurs nicht eine neue Art von Kolonialismus betreiben und diese Künstler aus dem Iran, aus Afrika, aus Asien nur verwerten. Das passiert sehr schnell, wenn wir uns nicht die Zeit nehmen, langfristige Beziehungen mit diesen Künstlern einzugehen und uns über längere Zeit mit ihren kulturellen und politischen Kontexten zu konfrontieren.
Lulu by Frank Wedekind, which ran
Dr. Frank Raddatz
in November 1981. Since December
ist Mitglied des Internationalen Theater-
1981, the theatre has been located
instituts. Er gehört der Redaktionsleitung
in the former Kurhaus in the Raffel-
von Theater der Zeit an, wo auch sein Buch
bergpark, where Mülheim borders
Botschafter der Sphinx. Zum Verhältnis von Ästhe-
on Duisburg. Today, Sven Schlötcke
tik und Politik am Theater an der Ruhr erschien.
Publizist und Dramaturg,
is part of the artistic management team.
In 1983, the Theater an
der Ruhr received its first invitation to travel abroad to the theatre festival in Parma (Italy); another trip took place in 1983, when the theatre travelled to Zagreb with a performance of A Midsummer Night’s Dream. Other important foreign tours include the following: Poland in 1988, Turkey in 1990, South America in 1992, Turkey again and also Russia for the first time in 1994, Sweden in 1996, Kazakhstan, Uzbekistan, Kyrgyzstan and Turkmenistan in 2001, and Kurdistan in 2012. The Theater an der Ruhr also received invita-
We remain strangers among strangers The Theater an der Ruhr does not follow the usual city theatre style of “forever new” and “always more”. That which others discovered with the advent of globalisation is stripped of all fashion here and has been lived actively for over thirty years: the theatre ventures into the world and brings the world home. What, however, are the fundamental experiences gathered during these tireless theatre trips?
tions to theatre festivals in Belgrade (1997), Bogotá, Colombia (1998) and Tehran, Iran in 1999, 2000, 2001, 2004 and 2006, and was the first Western theatre to perform in Iran after the Islamic Revolution.
Frank Raddatz spoke with Roberto Ciulli, Helmut Schäfer and Sven Schlötcke for the ITI Yearbook.
Fr ank r addat z: An international orientation is a significant part of Theater an der Ruhr’s profile. You have had guest performances in 38 countries on four continents and regularly present theatre from other countries and cultures in Mülheim. How would you describe your experience in this long-term approach?
Helmut Schäfer:
Since our theatre was founded 30 years ago, we have been presenting theatre from one specific country for three years each. This series, “International Theatre Landscapes”, began with Yugoslavia – then other Eastern European countries such as Russia and Poland followed. That made it possible for an interested audience to get an impression of theatre art from other countries. The pieces were then accompanied by discussions and exhibitions.
Sven Schlötcke: Since we have been doing this exchange with a high degree of continuity, rela-tionships of trust have grown among the protagonists. It’s completely different when you buy artists to present them at festivals in order to profit from their market value. This is really an exchange of experience and artistic positions.
Roberto Ciulli: Today, no one denies that international work is a necessary political dimension of theatre. Theatre is especially suitable for this type of communication, because next to music there is no medium that speaks to people so directly and emotionally. And theatre transports the contents more directly than music. But when we started our international activities, this perspective wasn’t very common.International theatre exchange didn’t start as a political project for us, but rather when we realised that we were foreigners in our own country. Our first pieces weren’t understood by many audience members. It really wasn’t fun when we did guest performances in cities like Remscheid or similar places. In fact, we felt more at home in Belgrade as theatre people than in Germany. There, we gained recognition in critiques as well as in the intellectual world that we never had in Germany. Performances that were rejected here were celebrated in Belgrade – so we even did a tour with our German pieces throughout all of Yugoslavia.
17 sible to have the first guest performance there from a western theatre since 1979 – a year before, we even had a guest performance from Teheran here. The central point was to set up communication.
We were only able to succeed because the Goethe Institute supported us in the respective countries. After all, we were the first theatre that played in countries with whom there were no cultural agreements. An absolutely new thing. Then we made sure that it wasn’t just limited to an exchange with the Theater an der Ruhr, because one absolutely had to show contemporary performances in Teheran in order to convey an idea of contemporary theatre. The Residenztheater Munich was the first to go to Iran, later Peymann with Richard III and Die Räuber from Stuttgart.
Fr ank R addat z: Issam Bou Khaled: Maaarch (Theaterlandschaft Libanon; 2012) © Theater an der Ruhr
In the context of the Silk Road project you were in Kyrgyzistan, Kazakhstan, Uzbekistan and Turkmenistan.
Roberto Ciulli:
It is odd that you never hear anything about these countries in the media. Even though the whole region is a tinFr ank R addat z: derbox. Now everyone is only looking at the Arab world. Your project Theatre Landscapes on the Silk Road led you all Never before had a German theatre been in this region. the way to Iran, which was embargoed at that time. We were the first German theatre to have guest perforHelmut Schäfer: mances in cities like Buchara, Samarkand, al-Mayadin or We certainly debated about whether a guest perforBishkent. mance in Iran would be opportune or not. Or a guest At this point we have to mention two people performance in Iraq during Saddam Hussein’s reign. without whom all of this would not have been possible. We discussed this issue with the The first is Awni Karoumi, an Iraqi with a entire ensemble and the majority big heart, who unfortunately died seven „In fact, we felt more came to the conclusion, that it isn’t years ago – too early. Like most theatre at home in Belgrade as just opportune – it’s necessary. The people in Iraq, he had studied in the theatre people than wrong people are always punished. GDR and then went into exile because of in Germany.“ To be concrete, in Baghdad I met Saddam Hussein. He opened doors for us academics of German literature who into the entire Arab world. Then were ashamed at having been cut Bolat Atabayev. He was our mediator for off from research for the last 15 years. Their knowledge all of Central Asia. Bolat Atabayev founded the German ended in 1984. It was 2002. It was appalling to have to theatre in Almaty. Bolat Atabayev received the Goethe witness this shame. Medal last year in Weimar. Helmut Schäfer held the laudation. Fr ank R addat z: Our work could only be realized because of Today, people are slowly beginning to realize that communication these people. Bolat Atabayev was the mediator in all of with the Arab world was neglected for decades. You belong to the these Asian countries. He is an excellent director and few who were involved there at such an early point in time. had access to all of the theatre groups in the various Roberto Ciulli: countries in Central Asia that interested me as partners In the past, the situation for international guest perforfor an exchange. These were theatre groups that were mances was depressing. There was a committee at the ignored by the official cultural bureaucrats or even Goethe Institute, the so-called “Beirat”. I suggested that labelled as members of the opposition. As I said, these our theatre – and this was unusual at the time – travel to were always meetings with foreigners in their own counthe East and the Arab world; but this idea didn’t convince tries. the Beirat. But it didn’t stop me from traveling to these Fr ank R addat z: countries on my own. I searched for people there who So you always found people who opened up to you and were willing felt like foreigners in their own country. I called to them: to support your intentions and projects? “Foreigners of the world, unite.”
Helmut Schäfer: Roberto travelled to Iran three years before the theatre did in order to make these contacts – so that it was pos-
Roberto Ciulli:
That was our luck. In this context we also have to mention Recai Hallac, who played a major role for our cooperation with Turkish theatres. He is a translator and author.
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Roberto Ciulli:
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18 He was an excellent translator for our complete cooperinos already work in Germany. Trends in the theatre ration with Turkey – after all, 12 years. This included always appear later. What actually drives these waves of our theatre pieces, theatre pieces from Turkey that were fashion? Is it interest in contents or aesthetics? shown in Mülheim, seminars that took place in this conHelmut Schäfer: text and symposiums; everything It’s based on speculation. I can take on an excellent level. And I should „It was appalling a Turkish director and let him do a also mention Navid Kermani. Navid to have to witness German piece such as Faust. It’s purely Kermani accompanied me on my this shame.“ speculative. In the theatre we used to first trip to Iran. He made contact to talk a lot about so-called chemistry. The an Iranian Sufi group. The concert concept was to bring people together by these Sufis, who had never been who didn’t belong together and then hope that an exto Europe before, took place thanks to his mediation. plosive mixture would be created. That is the very flat Fr ank R addat z: form that this approach was often placed in – and it’s still In the meantime, international work has gained a high status. Even often used. if no one feels like dealing with a crisis region like Greece.
Sven Schlötcke:
Sven Schlötcke:
Right now it’s practically in fashion to invite directors from the Arab world, from Turkey or Africa. And Greece will join them. Yannis Houvardas or Michael Marma-
This is why we have to ask what international work in the contexts that are now developing means. Now that the international is becoming a trend in globalized conditions, what rules does this trend follow and what effects does it have? We have to differentiate. North Africa is also in our focus. We have been presenting the “New Arabia” theatre landscape for the last two years. But we started with our preparation before these countries ended up in the headlines. This work has a different foundation.
Helmut Schäfer: Now we’re presenting countries like Lebanon, Syria, Jordan, Tunisia …
Sven Schlötcke: But it’s not a quick reaction; we prepared it long ago. We were in Tunisia in 2009. The protests began in 2010.
Fr ank R addat z: In the context of Ruhr 2010, you also brought the Theater der Welt festival to Mülheim.
Sven Schlötcke:
That was the logical consequence of our long-term work. At a festival like that you also see the dark sides. In general, I would say that it is and can only be good that as much exchange occurs and contact is made as possible. But the question still arises, what it actually means. I Ro'ak: Obwohl sie lebt, ist sie verloren (Theaterlandschaft Iran; 2009) see this very critically. In this context you can’t escape © Theater an der Ruhr the problem of art being a commodity. This kind of festival works like a fair. It necessarily underscores the character of art being „After all, we were the a commodity under certain artistic first theatre that played aspects.
in countries with whom there were no cultural agreements.“
Helmut Schäfer:
The international theatre work that various city theatres are trying to do is mostly based on demands from the political realm. Today, even regional politics is forced to internationalize in the face of the global situation. The theatres conform to this trend by giving things an “international” label. But under the surface, the true work – communicative work – hardly takes place. The label is
19 Fr ank R addat z: These festivals are evaluated and an invitation is supposed to symbolise success. Directors and art concepts then turn into trophies. Just like the head of a theatre, a festival director is a headhunter.
Roberto Ciulli:
Roberto Ciulli: That would have been a project: to create the foundation upon which sustainable relationships of this type could be developed. We have to be careful that we don’t start a new kind of colonialism with this international approach and just use these artists from Iran, Africa or Asia. That could happen very quickly if we don’t take the time to enter into long-term relationships with these artists and be confronted with their cultural and political contexts in the long-term.
An unprecedented opportunity developed in globalisation that culture – not just theatre, but theatre in particular – still hasn’t understood. On the level of profits, corporations are being bought and sold, and it doesn’t Dr. Frank Raddatz is a member of the International Theatre Inmatter if an Italian phone company suddenly belongs to a Spanish company. But what is the alternative plan? How stitute. He works as a journalist and dramaturge and is one of the editors of Theater der Zeit, where he published his book Botcan normal people profit? How can globalisation have a schafter der Sphinx. Zum Verhältnis von Ästhetik und Politik am Theater quality at the basis? At the bottom. You need a different an der Ruhr. perspective, a different vision than a short-term engagement. When, for example, young people could work for six months „We have to be careful in a Turkish theatre and vice versa, that we don’t start a that would be something.
Helmut Schäfer: We were planning to found an international academy that would have dealt with precisely these questions. Unfortunately, we didn’t succeed.
new kind of colonialism with this international approach.“
Altidan Sonra Tiyatro: Die niemals endende, heitere Geschichte der unglücklichen Geschwister (Szene Istanbul; 2013) © Theater an der Ruhr
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only there to serve the political realm, and it ignores the necessary, possibly laborious communication.
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Wenn Archive Funken schlagen: transforming acts Transforming acts ist ein durch den TANZFONDS ERBE gefördertes Projekt des Internationalen Theaterinstituts (ITI) und des Mime Centrum Berlin – in Kooperation mit der Akademie der Künste und dem Deutschen Tanzfilminstitut Bremen. Unter der künstlerischen Leitung von Penelope Wehrli und Detlev Schneider lotet eine mediale Installation künstlerische Bezüge und Inspirationsquellen in Tanz und Theater aus. teil 1
Von der Idee des Tanzfonds Erbe zum Projekt Nach dem Ende des Tanzplan Deutschland im Jahr 2010 stand die Frage im Raum, in welcher Weise die Kulturstiftung des Bundes ihr Engagement für den Tanz fortsetzen würde. Sie schuf mit der kontinuierlichen Förderung des Tanzkongress einen Leuchtturm im Bereich Tanz und initiierte die beiden Fonds Tanzfonds Erbe und Tanzfonds Partner, konzipiert und schließlich auch getragen von zwei zentralen Persönlichkeiten des Tanzplan, Madeline Ritter und Ingo Diehl. Tanzfonds Erbe fördert künstlerische Projekte zum Kulturerbe Tanz. Ausgehend von den Bedürfnissen der Tanzensembles an den festen Häusern sollten Kapazitäten geschaffen werden, um sich der Tanzmoderne – dem Tanzerbe überhaupt – annähern zu können. Im Verlauf der Ausgestaltung des Projektes, der ersten Anträge und künstlerischen Konzepte zeigte sich jedoch, dass es weniger um eine erweiterte Repertoirebildung der Stadt- und Staatstheaterensemble gehen würde, als vielmehr um eine vielfältige künstle„Bei Gabriele Brandstetters rische Aneignung histoTerminus der „translating rischen Materials. Immer acts“ fanden wir eine gedacht von den Künstlern Verwandtschaft in der her. Man muss sich dies verSuchbewegung.“ gegenwärtigen, wenn man bedenkt, dass der Begriff „Tanzerbe“ sehr direkt auf die Archive verweist, die gerade in jenen Jahren versuchten, auf ihre durchaus schwierige Lage aufmerksam zu machen. Das Tanzarchiv Leipzig war ganz unmittelbar von der Schließung bedroht. Die Möglichkeit, selbst ein künstlerisches Projekt zu entwickeln, war ihnen zunächst gar nicht zugänglich. Der Ansatz des Internationalen Theaterinstituts setzt gleichwohl beim „eigenen Archiv“ an, bei der Mediathek des Mime Centrum Berlin, das seit 2011 ständiges Projekt des ITI ist: 7000 Videos von Tanz und Theater, aus denen sich doch ein Funken des künstlerischen Diskurses schlagen lassen sollte. Bei der Suche nach einem Dialogpartner ging ich auf Detlev Schneider zu, Theater- und Medienwissenschaftler, früherer Leiter von Hellerau und des tesla Berlin. Gemeinsam mit
der Medienkünstlerin Penelope Wehrli fabulierten wir über die Dependenzen zwischen Tanz und Theater, künstlerische Inspirationen und Aneignungen. Gabriele Brandstetters Terminus der „translating acts“ erschien mir dabei in gewisser Weise wie eine Verwandtschaft in der Suchbewegung: „Denn wie bei kaum einer anderen Kunstform, im 20. Jahrhundert waren es die Innovationen in Tanz und Choreografie, die Impulse weitergaben. […] Weniger deutlich wahrgenommen wurde bisher, (...) wie intensiv im Bereich des Sprechtheaters die Impulse aus dem Tanztheater aufgenommen sind. Die repetitiven Körpermuster beispielsweise, die Ausstellung sozialer Disziplinierungsrituale, die Bilder zermürbender physischer Gewalt und die Macht der Wiederholung, die Paraden und Steh-Sequenzen (….) sind ohne das Tanztheater nicht zu denken.“ (Gabriele Brandstetter in tanz.de, Berlin 2005, S. 15) Der gemeinsame Projektantrag – auch in Kooperation mit der Akademie der Künste und dem Deutschen Tanzfilminstitut Bremen – wurde dann im Januar 2013 bewilligt.
Michael Freundt koordinierte als stellvertretender Direktor des ITI die Antragstellung des Projekts beim Tanzfonds Erbe, aktuell hat er die Produktionsleitung inne.
teil 2
Transforming acts: Mediale Installation von Penelope Wehrli und Detlev Schneider In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde der Tanz als autonome Kunstform in markanter Weise zum Impulsgeber für Künstler, die nach unverbrauchten Ausdrucksformen suchten und dabei Genre- und Gattungseinhegungen überschritten, und er beeinflusste besonders die Theateravantgarden nachhaltig. Sein hochartifizielles Bewegungsvokabular, die choreografierten Gruppenfiguren, die Komposition der Akteure zu Bildern im Raum, repetitive Abläufe und Stehparaden, das Physisch-Expressive des tänzerischen Ausdrucks, aber auch die
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Virtuosität der Ballettsprache, Kur zer Exkurs über und das Chorische – dies wurden das Erinnern Bezugsfelder für Regisseure und Dramaturgen, die nach einer Ein interessantes Problem schien erneuerten und gesteigerten auf beim Planen der Interviews Kunsthaftigkeit des szenischen mit den Choreografen und ReGeschehens suchten, nach gisseuren: Die Inszenierungen Kunstmitteln jenseits vom geliegen vergleichsweise lange Zeit läufigen mimetischen Abbildzurück, oft mehrere Jahrzehnte. realismus des Schauspiels und Nun wissen wir, dass linearer Narration. unser Erinnern seinen GegenWie sehr etwa Pina Bauschs stand nicht einfach aus dem Gedächtnis aufruft, so wie er dort Choreografien das eigene Kunstdenken prägten, bekundeten in gespeichert wurde, sondern ihn mit akut-aktuellen Sichten und berührender Weise Heiner Müller und Einar Schleef auf ihrer Interessen überschreibt. Jedes Erinnern von Vergangenem Suche nach zeitgemäßen szenischen Bildern des Tragischen. ist also dessen Vergegenwärtigen im Zeitgleich entfalteten in Mitgenauen Wortsinn, sein Zurichten für die teleuropa die Synergien von Tanz, Klang „Jedes Erinnern von Gegenwart. und Bildraum ihre Wirkung, an denen Vergangenem ist dessen Erwarten müssen wir also, dass seit den sechziger Jahren Cage und Vergegenwärtigen im unsere Interviewpartner die damaliCunningham und die New Yorker Judsongenauen Wortsinn.“ gen Arbeiten aus dem Blickwinkel ihrer Church-Protagonisten arbeiteten. Lucinda jetzigen Arbeiten und ihrer Situation Childs´ Einfluss etwa erreichte uns in den betrachten. Inszenierungen von Robert Wilson. Auch Wir wollen aber mit diesem Projekt die künstlerischen die frühen Choreografien und Performances von Anna Teresa de Prozesse in ihrer Entstehungszeit größtmöglich authentisch Keersmaeker, Jan Fabre und anderer Aktivisten der flämischdarstellen. niederländischen Szene dieser Zeit speisten sich von dorther Ein Dilemma. und machten sie dann zum Inspirationsquell jüngerer Choreo Lösen möchten wir es, indem wir sie bitten, vor der Kagrafen und Regisseure. mera den Arbeitsprozess ihrer Inszenierung zu erinnern ohne Zugleich begann der Tanz seinerseits, die Spezifika dies zugleich verbal zu artikulieren, also einen Erinnerungsanderer Kunstformen zu adaptieren, und er verstärkte damit vorgang beredten Stummseins her- und darzustellen. noch sein Einflusspotential – dramaturgisches Denken in Und dieses Videoporträt, diese Bildebene, kombinieren wir mit mehrschichtigen Narrativen, Sprach-, Sprech- und Schrifttexauditiven Aussagen – Interviews, Gesprächen, Texten – aus der turen sowie die rasant wachsenden Imaginationspotentiale der Entstehungszeit der Produktion, damals von ihnen selbst geelektronischen Bild- und Klangmedien. sprochen oder von Rezensenten und Kommentatoren. Diese überaus fruchtbaren Inspirations- und Trans Dadurch entsteht eine intendierte Differenz von Bild formationsvorgänge in den letzten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts will unser Projekt in einem ersten Anlauf und Ton, und im Idealfall kann der Eindruck entstehen, als hören sie sich selbst zu und in die Entstehungszeit ihrer Inszean einigen eindrücklichen Beispielen aufzeigen und in einer nierungen hinein – eine Situation, die sie in diesem Moment mit medialen Installation erfahrbar machen. den Besuchern der Installation teilen. Sie versammelt Bildmaterial exemplarischer Auf Es entsteht so eine Mehrschichtigkeit der Bild- und führungen von dreizehn Choreografen und Regisseuren sowie Zeitebenen, die zugleich den Vorgang des Erinnerns selbst subBild- und Tonmaterial dazu aus deren Archiven, aus Theatertil thematisiert. und Tanzarchiven und kombiniert diese mit Videoporträts, die mit den Protagonisten speziell für diese Installation hergestellt Die mediale Installation soll im Mai 2014 erstmalig in Berlin gewerden. zeigt werden und tourt anschließend an verschiedenen Orten in Querverweise und Bezugslinien wollen die Netzwerkhaftigkeit Deutschland und im Ausland. dieser Zeit lebhaften Austauschs zeigen. In einer Raumkomposition werden die choreografischen Sequenzen und das Interviewmaterial modulhaft Detlev Schneider ist Theater- und Kulturwissenschaftler und vorgeführt und zugleich zueinander in Dialog gebracht und leitmotivisch verdichtet. Es entsteht ein spielerisches Netzwerk Kurator. Er war bis 2002 künstlerischer Leiter des Festspielhauses Hellerau in Dresden, 2004 bis 2007 Mitglied der künstaus Bezügen und Querverweisen, ein dynamischer Wahrnehlerischen Leitung des „Medien > Kunst < Labors TESLA. Studien mungsraum, der dialogische Momente schafft, aber auch unerund Projekte zu den Schnittflächen von medialer Performance wartete Gegenüberstellungen zwischen den unterschiedlichen und Musiktheater“. Gemeinsam mit Penelope Wehrli ist er Ansätzen der ausgewählten Künstler herstellt. Unsere exempKünstlerischer Leiter des Projekts transforming acts. larische Auswahl umfasst Pina Bausch, Laurent Chétouane, Jo Fabian, Jan Fabre, Anne Teresa de Keersmaeker, Johann Kresnik, Thomas Lehmen, Heiner Müller, Einar Schleef, Meg Stuart, RoFoto Penelope Wehrli im Gespräch mit Jan Fabre © Sirko Knüpfer bert Wilson, The Wooster Group, VA Wölfl.
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Part 2
when archives strike sparks: transforming acts
Transforming acts: media installation by Penelope Wehrli and Detlev Schneider
Transforming acts is a project of the International Theatre Institute (ITI) and the Mime Centrum Berlin – in collaboration with the Academy of Arts and the German Dance Film Institute Bremen – funded by the TANZFONDS ERBE. Under the artistic leadership of Penelope Wehrli and Detlev Schneider, a media installation explores artistic relationships and sources of inspiration in dance and theatre.
In the 1970s, dance as an autonomous art form became a striking inspiration for artists searching for fresh forms of expression. Its highly artificial vocabulary of movement – for example, choreographed group figures, the physical-expressive nature of dance, but also the virtuosity of language of ballet – became fields of reference for directors and playwrights. Dance itself began to incorporate the specifics of other art forms, thereby strengthening its potential for influence even further - dramaturgical thinking in multi-layered narratives, language, speech and writing textures as well as the rapidly growing imaginative potentials of sound media. The aim of our project is to make a first attempt at illustrating these inspirational and transformational processes using various examples and allow them to be experienced by means of a media installation. The choreographic sequences and the interview material are presented in a spatial composition and at the same time brought into dialogue with each other. The result is a dynamic perceptive space that creates dialogic moments and also juxtaposes the different approaches of the artists. Our selection includes Pina Bausch, Laurent Chetouane, Jo Fabian, Jan Fabre, Johann Kresnik, and others.
Part 1
From the conception of the Tanzfonds Erbe to the project itself After the end of the Tanzplan Deutschland project in 2010, the question arose as to how the Federal Cultural Foundation would continue its commitment to dance. With the continuous support of the Dance Congress it established a cultural lighthouse in the field of dance and established the Tanzfonds Erbe and Tanzfonds Partner funds, planned and finally also supported by Madeline Ritter and Ingo Diehl. Tanzfonds Partner promotes artistic projects focusing on the cultural heritage of dance. It became clear that this would be less about the extension of the repertoire of the city and state theatre ensembles and more about a varied artistic appropriation of historical material. The project approach of the International Theatre Institute also applies to its “own archive” (located in the media centre of the Mime Centrum Berlin), an ongoing project of the ITI currently comprised of 7,000 videos of dance and theatre. When looking for a dialogue partner, I approached Detlev Schneider, theatre and media scientist and former head of Hellerau and tesla Berlin. We talked about the dependencies between dance and theatre and found a connection in our search in Gabriele Brandstetter’s terminus of “translating acts”: “After all, unlike any other art form, in the 20th Century, it was the innovations in dance and choreography that passed on impulses: It is a potential for stimulation, which (...) influenced the musical theatre, both in the area of body dramaturgy and in choreographic direction. Examples can be found in Robert Wilson (…), Achim Freyer or Christoph Marthaler. … So far, the perception of (...) how intensively the impulses from dance theatre have been taken up in the area of straight theatre has been perceived less clearly. The repetitive body patterns, for example, (….) are unthinkable without dance theatre. One task would be (...) to look more closely at the translating acts, to reflect on them historically and theoretically.” The joint project proposal was approved in January 2013.
A brief digression on remembering We know that in remembering, we do not simply recall a subject from memory exactly as it is stored there, but rather overwrite it with current views and interests. Any memory of the past thus involves making it present. Therefore, we have to expect that our interview partners will consider these former works from the perspective of their current work and situation. However, we want to present the artistic processes as authentically as possible and ask them to remember the work processes without verbally articulating them right away. This video portrait, this focal plane is now combined with auditory statements from the time of production, made by the interviewees themselves or by reviewers and commentators. The result is an intentional difference between image and sound, and ideally this can give the impression that they are listening to themselves and tuning in to the time of origin of their productions – a situation that they share with the visitors of the installation at this moment. This results in multi-layered focal and temporal planes, which also subtly addresses the process of remembering itself.
Michael Freundt in the capacity of Associate Director of ITI coordinated Detlev Schneider is a theatre scholar, a cultural scientist and a curator. the application at Tanzfonds Erbe of the project transforming acts -
He was Artistic Director of the Festspielhaus Hellerau in Dresden until
of which he currently is the production manager.
2002, from2004 to 2007 he was a member of the artistic directors’ team of the Medien > Kunst < Labor TESLA. Studies and projects in the field of the intersection of media performance and music theater”. Together with Penelope Wehrli he is Artistic Director of the project transforming acts.
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JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
„Ein Komitee ist ein Komitee ist ein Komitee“ — vom Segen und Fluch der Strukturen Wandel und Beständigkeit in den Komitees des Internationalen Theaterinstituts weltweit. Funktionieren die Komitee-Strukturen noch?
Derzeitige Komitees des ITI weltweit Action Commit tee for Artists Rights (ACAR) hält Bedrohungen und Gewalt gegen Theaterleute im Blick und veranlasst die internationale Theatergemeinschaft, darauf zu reagieren.
Communication Commit tee (ComCom) gebraucht das Potential der Medienkommunikation, um Theater zu fördern und gibt Publikationen heraus.
Commit tee for Cultur al Identit y and Development (CIDC) konzentriert sich auf die Förderung dramatischer Formen und Ausdrucksweisen als grundlegende Faktoren für kulturelle Identität.
Dr amatic Theatre Commit tee (DTC) zielt auf die Förderung wissenschaftlicher und professioneller Dimensionen dramatischen Theaters ab.
International Dance Commit tee (IDC) verfolgt die Entwicklung von Lehre und Praxis des Tanzes.
International Festival Forum (IFF) konzentriert sich auf Festivals weltweit.
Eine Diskussion anlässlich der ITI-Jahrestagung 2013 mit Manfred Beilharz, Jörg Vorhaben und Roland Quitt, moderiert von Michael Freundt.
zu Zeiten des Eisernen Vorhangs war. Das mag sich auch in der schwindenden Präsenz von Künstlern zeigen.
Manfred Beilhar z, Präsident des ITI Deutsch- Mit Blick auf die Fachkomitees (s. Marginalland und Mitglied des Executive Councils spalten) und dezidiert im Musiktheaterkomitee (EXCOM): Der Komiteearbeit des ITI bin ich die Frage an Roland Quitt: Wie haben sich die 1983 beim Weltkongress in Ostberlin beigeStrukturen dort bewährt oder geändert? Was treten, damals dem Neuen Theaterkomitee. bleibt, was kommt? rol and quit t: Dort fanden sich all diejenigen zusammen, Als ich 2002 dem Musiktheaterkomitee die eine andere Auffassung von Theater, beitreten wollte, fand ich eine starre der Zusammenarbeit und den Strukturen Struktur vor – ein Komitee, das längere vertraten, als diejenigen, die zu dieser Zeit Zeit maßgeblich von denselben fünf im ITI tonangebend waren. Wir wollten nicht Personen im Board bestimmt war und länger akzeptieren, dass von vornherein die sich immer wieder neu wählte. Ich wurMeinungen über die Arbeit des ITI zwischen de ausgebremst. Erst auf dem WeltkonOst und West um des lieben Friedens willen gress 2006, als die alte Riege abgetreten ausgekungelt waren. Der amerikanische und war und das Komitee praktisch nicht der sowjetische Block waren immer einer Meimehr existierte, passierte es, dass wir nung. Kam man zum Weltkongress, war bereits – Laura Berman und ich vom deutschen alles besprochen. Im Neuen Theaterkomitee ITI-Zentrum – zu den neuen Präsidenten hingegen konzentrierte man sich auf die Thegewählt wurden. Seither waren wir beiaterarbeit – mit dem Effekt, dass Theaterleute de immer Board-Mitglieder und haben aus allen Lagern und Zwischenfronten – Süddas Komitee neu aufgebaut und beamerika, der DDR, Russland, Finnland, Schwestimmend mitgeprägt. den, Bulgarien – auf Wir griffen auf eine freundschaftlicher Basis „Wer da ist, macht mit. Idee zurück, die ich einen Nukleus bildeten Wer nicht da ist, kann Jahre zuvor einbringen und regen Austausch auch nicht mitmachen.“ wollte – einen internapflegten. tionalen Musiktheaterwettbewerb auszuKönnte die zunehmende schreiben. Das ITI Deutschland hat sich Absenz von Künstlern damit zu tun haben, dass entschieden, das Projekt, das jetzt Music die Praktiker heutzutage ohnehin global stark Theatre NOW! heißt, zu unterstützen. vernetzt sind und sich dafür nicht mehr in das Eine Schwierigkeit der Komiteearbeit ITI einbinden müssen? Manfred Beilhar z: ist, dass man sich nur immer auf den Oft liegt es an der fehlenden zeitliITI-Weltkongressen trifft. Es ist schwer, chen Flexibilität. Manchmal wird auch den Austausch und die Arbeit am Laufen vermittelt, dass man das ITI nicht mehr zu halten. brauche, da man inzwischen international breit Fuß gefasst habe. Doch es geht Eine Stärke eures Komitees ist es, ein großes ja um eine zweiseitige Angelegenheit, Projekt wirklich zu realisieren – Music Theatre nämlich die Überzeugung, dass man NOW! Und eben nicht in der hypothetischen den anderen etwas bringen kann. Doch Diskussion über Projekte stecken zu bleiben das ITI ist längst nicht mehr das einzige und über fehlendes Geld zu lamentieren. Nadelöhr für Ost-West- oder andere internationale Begegnungen, wie es das
25 rol and quit t:
[öffnen in die runde]
International Monodr ama Forum (IMF) ist ein Netzwerk von Theaterfestivals aller Welt, die die Kunst und Künstler von Produktionen mit nur einem einzigen Darsteller fördern.
International Pl ay wrights’ Forum (IPF) ist involviert in Projekte und Netzwerke für und mit Theaterautoren.
Music Theatre Commit tee (MTC) bemüht sich darum, Aktivitäten in der Musiktheaterwelt zu initiieren und zu koordinieren. Es richtet den Wettbewerb Music Theatre NOW! für Schaffende neuer Oper und Musiktheater aus – in Zusammenarbeit mit dem deutschen Zentrum des ITI.
New Project Group (NPG) setzt sich dafür ein, dass neue, alternative Theaterformen gefördert werden – durch die Entwicklung kollektiver Produktionen von künstlerischen Teams aus unterschiedlichen Ländern.
Theatre Education and Tr aining Commit tee (TECOM) widmet sich dem Schauspielunterricht und dem Training von Schauspiellehrern.
Young Pr actitioners’ Commit tee (YPC) unterstützt die neue Generation von Theaterkünstlern und knüpft ein internationales Netzwerk. iti-worldwide.org/committees.php
JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
gemeinsame Fragen austauschen kann. Das Projekt würde es ohne die maßgebEinige Zeit bestand das Komitee quasi liche Unterstützung des ITI Germany nicht mehr. Doch beim Weltkongress nicht geben. Und Herausforderungen in China interessierten sich 30 Feshatten wir auch diesmal wieder. So tivalmacher dafür, die sich stärker wunderbar der Wettbewerb in Schwevernetzen wollten: eine wahnsinnige den war, stehen wir momentan vor der Spannbreite von einem australiFrage, wie wir weitermachen. Der Wettschen Kommerzunternehmen bis zum bewerb wächst so immens, dass wir uns Schultheatertag. Mit viel Euphorie hat zur Umstrukturiesich ein neuer Board rung gezwungen gegründet mit Präsi„Man läuft schnell Gefahr, fühlen. Durch den dent, Vize-Präsident zu einem Diskussionsclub jetzigen Erfolg und und Sekretär – eine viel zu werden.“ Bekanntheitsgrad zu formale Struktur, werden von nun an wie ich finde. Doch so viele Einsennicht wenigen ging es dungen kommen, dass keine hochkarädarum, Posten zu bekommen. Was mit tige Jury diese noch bewältigen kann. viel Elan anfing, zerfaserte sich etwas – Einerseits haben wir ein Zukunftsproder Board hatte zwar viele Treffen, aber jekt, das jetzt, nach sechs Jahren die Rückkopplung ans „Fußvolk“ fehlte. Anlaufzeit, so richtig Fahrt aufnimmt. Gerade sind Board und Forum in einer Andererseits ist es sehr wichtig, dass Neufindungsphase. Zwischenzeitlich wir das Komitee offen halten für andere gab es spannende Projekte, wie eine Ideen. Internetseite, auf der sich die Festivals weltweit registrieren konnten und Vom Musiktheaterkomitee zum Internationalen man nachschlagen konnte. Allerdings Festivalforum (IFF). Jörg Vorhaben – seit dem gab es recht wenig Rücklauf durch die letzten Weltkongress 2011 bist du Mitglied Festivals. Inzwischen haben wir auch im IFF. Was hast du erwartet, was war dein eine Facebook-Seite, auf der Projekte Interesse? mit Trailern präsentiert werden, was jörg vorhaben: insbesondere ein Bedürfnis der afrikaEs war erst einmal Eigeninteresse – nischen Festivals war. durch die Gründung des PAZZ-Festivals rol and quit t: in Oldenburg, wo ich Dramaturg am Bei der Frage, ob die Komitees so noch Schauspiel bin, war ich neugierig auf funktionieren, sehe ich das geringsdas Festivalforum und die Frage, wie te Problem in der Struktur – manche man internationale Festivals mehr Komitees haben das ja bereits abgemiteinander vernetzen und sich über schafft, indem sie sich einen anderen Status gegeben haben und sich nicht mehr Komitee nennen. Die Schwierigkeit ist, wie die Besetzung eines Komitees zustande kommt. Teilweise lassen sich viele hineinwählen, die am Ende nur Namen sind. Ich finde sehr wichtig, dass jemand sich präzise vorstellt, dass nicht jeder gewählt wird. Und dass es geheime Wahlen gibt, um solche Situationen zu verhindern. Eine weitere Herausforderung besteht in der Kommunikation: wenn es Schwierigkeiten gibt und man sich treffen muss – und auf der Erdkugel verteilt ist.
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JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
günther beelit z:
bringen, ist an sich schon eine Leistung. Die vorgegebeBis 1996 war ich im New Theatre Committee, was eine nen Strukturen seitens des Weltverbandes waren noch 15-jährige Qual war; es kam zu keinen Ergebnissen – nie so flexibel und offen wie heute. weder künstlerisch noch theoretisch. Die Generalver Die gemeinsame Organisation ist eine neue Hesammlungen litten grundsätzlich darunter, dass immer rausforderung, aber es gibt jetzt auch eine neue Qualität geredet und nicht viel gemacht wurde. Um künstlerische in der internationalen Zusammenarbeit. Es gab auch Ergebnisse in den Fokus zu stellen, entstand die Idee der Ausweitungen von Themen, die komitee- und spartenNew Project Group: Wir haben keine Satzung, keinen Vorübergreifend sind, wie „Theater in Konfliktregionen“. sitzenden, keine Wahlen – wir haben nur Freiwillige. Was Das kann ein wichtiges Arbeitsgebiet für Schauspiel, sehr gut ist. Anfangs gab es eine heftige Diskussion, ob Musiktheater oder Puppentheater sein und es liegt nicht es etwas innerhalb des ITI geben darf, das nicht der Satallein beim Komitee für Kulturelle Identität und Zusamzung der ITI-Komitees entspricht. menarbeit (CIDC). Inzwischen sind viele Das durchzusetzen ist dem damaKomitees hier selbst aktiv geworden. „Wir sind Teil der UNESCO. ligen Präsident des Weltkongresses Aus einer Arbeitsgruppe heraus haben Keine Regierung kann Kim Jeong-Ok gelungen. wir z. B. das Komitee für die Rechte der sagen, die UNESCO gibt Wer da ist, macht mit. Wer Künstler geschaffen, wo es um Menes nicht.“ nicht da ist, kann auch nicht mitmaschenrechtsfragen geht, um künstlerichen. Grundanliegen eines solchen sche Freiheit und Zensur. Wir versuchen Projekts ist es, dass es permanente das ITI als politisches Instrumentarium Bewegung gibt. Der Kern hat sich – neben zwei Säulen, einzusetzen – einerseits, indem wir es öffentlich machen, die Emilya Cachapero und ich bilden – ständig verändert. andererseits dadurch, dass das ITI als NGO mit UNESCOAuf den Kongressen sind immer relativ viele InteressenStatus reagieren kann. ten, dann tritt die Schwerfälligkeit des ITI im Gesamten christine schmalor: ein, auch das Problem, dass wir alle weit verstreut sind, Ich sehe Komiteearbeit mit einem lachenden und einem dass wir Schwierigkeiten haben, uns zu treffen. weinenden Auge. Im Jahr 2000 bin ich zu dem altehrthomas engel: würdigen Theatre Education and Training Committee Das Verrückte am ITI ist die gelebte kulturelle Vielfalt (TECOM) gestoßen, das damals im Grunde nicht mehr in Extremform. Es besteht ein riesiges Spektrum an Erexistierte. Ich wurde „aus Versehen“ gleich zur Vizewartungen und Arbeitsweisen, die man irgendwie unter präsidentin gewählt und habe in den letzten elf Jahren einen Hut bringen muss. Die Komitees sind entstanden, versucht, dort etwas zu bewegen. Es ist eine unglaublich um Strukturen zu geben und Arbeit zu kanalisieren. fantastische Möglichkeit, Kontakte zu schmieden und Manche brauchen notwendigerweise einen Titel oder daraus etwas zu machen. Oder auch nicht. Denn ein Koeine Funktion, um in ihren Ländern überhaupt etwas mitee ist ein Komitee ist ein Komitee. Man läuft schnell tun zu können. Dann gibt es die Pragmatiker, die sagen: Gefahr, zu einem Diskussionsclub zu werden. Und wir Wer macht, macht. Diese Bandbreite zusammen zu haben keinerlei eigenes Geld. Was sinnvoll ist, denn mit Budgets weckt man Begehrlichkeiten. Oft genug interessieren sich viele Leute, die auf Arbeitsuche sind. Die aber bald nicht mehr dabei sind. Nach dem ersten Mailing bleiben maximal fünf Leute, mit denen man rechnen kann. Ich habe eine eigene Organisation gegründet, ein Recherchezentrum, über das ich verfügen kann, Akt-zent – keine staatliche Organisation und von Haus aus nicht gefördert, aber eine eigene Körperschaft, um damit Gelder für spezielle gemeinsame Projekte akquirieren zu können.
alex ander stillmark: Das Komitee für Kulturelle Identität und Entwicklung (CIDC), in dem ich Sekretär bin, ist ein typisches Beispiel für einen Wandel. Ursprünglich war es angelegt als ein repräsentatives Komitee, in dem sich die Theater der „Dritten Welt“ repräsentierten. Es ging darum, dort als Land Platz zu nehmen – egal, welche Ästhetik, welcher Künstler. Das Vereinsprozedere und die Verhandlungsform waren hier absolut nötig, um eine Struktur zu schaffen und persönlichen Rivalitäten zuvorzukommen.
einwurf manfred beilhar z: Eine Funktion unter dem Dach der UNESCO einzuneh-
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rolf c. hemke: Grundsätzlich wird man keine Alternative zu dieser Komiteestruktur finden, die praktikabel ist, da das Problem mit dem UNESCO-Label und der Notwendigkeit einer Funktion in einigen Ländern besteht. An diesen Momenten rechtfertigt sich die Struktur. Auch wenn man sie weiter aufweichen oder modifizieren sollte, wie es das Beispiel der New Project Group zeigt. Ich denke, man müsste die Synergieeffekte stärker nutzen. Das ITI als eine Art Überbau betrachten. Und eine Koordinierungsfunktion des ITI in der Kommunikation solcher Strukturen herbeiführen.
michael freundt: Offensichtlich liegt das Problem, dass die ITI-Arbeit international oft nicht so fruchtbar werden kann, nicht notwendigerweise in den Strukturen begründet. Im Einzelfall können Personen, die Verantwortung übernommen haben und dieser nicht gerecht werden, Prozesse blockieren. Aber die bestehenden Strukturen ermöglichen sehr viel und schaffen vor allem einen Handlungsrahmen, der von allen ITI-Mitgliedern weltweit anerkannt ist. Die Fragestellung für uns lautet, welche Möglichkeiten schaffen wir im ITI Deutschland, dass diejenigen, die an internationalen Themen arbeiten, sich aktiv in das weltweite ITI-Netzwerk einbringen können und auch die ITIArbeit bereichern?
Fotos © Julia Cozic
”a committee is a committee is a committee“– The Blessings and Curses of Structures Change and continuity in the committees of the International Theatre Institute worldwide: Do the committee structures still work?
current committees of the ITI worldwide Action Commit tee for Artists Rights (ACAR) Established in 2011. Will watch and make the international theatre community react
A discussion during the ITI Annual Meeting 2013 with Manfred Beilharz, Jörg Vorhaben and Roland Quitt, moderated by Michael Freundt.
Manfred Beilhar z, President of the ITI Germany and member of the Executive Committee (EXCOM): I started working in an ITI-committee in 1983 at the World Congress in East Berlin; it was the New Theatre Committee. All the people gathered there had a different idea of theatre, cooperation and structures than those people who were the ITI powers-that-be in this period. We no longer wanted to accept that for the sake of peace, love and harmony opinions about the ITI’s work in East and West were always agreed upon beforehand. The American and Soviet blocks always had the same opinion. If you came to the World Congress, then everything had already been discussed. In the New Theatre Committee, we concentrated on theatre work. The effect was that theatre professionals from all factions and those between the fronts – South America, the GDR, Russia, Finland, Sweden, Bulgaria – formed a nucleus on the basis of friendship and had lively debates. Could the increasing absence of artists have to do with the fact that the practitioners today now network globally anyway and thus don’t have to be integrated in the ITI?
Manfred Beilhar z:
It’s often due to a lack of scheduling flexibility. Sometimes it’s said that we don’t need the ITI anymore because we have all gained an international foothold anyway. But it’s a two-sided issue, namely the belief that you can give something to others. But for a long time now the ITI hasn’t been the only eye of the needle that all East-West or
to treats and violence against theatre people.
Communication Commit tee (ComCom) Studies the role of media communication in promoting theatre, and also edits publications.
Commit tee for Cultur al Identit y and Development (CIDC) Focuses on promoting dramatic forms and expressions which are essential components of cultural identity.
Dr amatic Theatre Commit tee (DTC) Aims at promoting the scholarly and professional dimensions of dramatic theatre today.
International Dance Commit tee (IDC) Seeks to develop the study and practice of Dance.
International Festival Forum (IFF) Concentrates on festival activities all around the world.
International Monodr ama Forum (IMF) A network of theatre festivals around the world which promotes the art and artists involved in productions with a single performer.
JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
men, ermöglichte es Leuten aus der „Dritten Welt“ oft erst, international zu agieren, um eine moralische Existenzberechtigung in internationalen Zusammenhängen zu erhalten. Hier ist die vorgegebene Struktur nicht nur ein Alibi sondern ein Backing: Wir sind Teil der UNESCO. Keine Regierung kann sagen, die UNESCO gibt es nicht.
28 International Pl ay wrights’ Forum (IPF) Involved in projects and networking for and
other international meetings had to go through, the way it was during the time of the Iron Curtain. This may be visible in the decreasing presence of artists.
with playwrights.
Music Theatre Commit tee (MTC) JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
Seeks to initiate or coordinate activities in the world of musical theatre and is conducting a worldwide competition called Music Theatre NOW! for creators of new opera and music theatre – in collaboration with the German Centre of the ITI. Also organizes the meeting Music Theatre NOW! to which the winners are invited.
New Project Group (NPG) Seeks to stimulate the development of new alternative theatres through the development of collective productions by artistic teams from different countries.
Theatre Education and Tr aining Commit tee (TECOM) Concerned with the teaching of theatre and with teacher training.
Young Pr actitioners’ Commit tee (YPC) encourages the presence of a new generation of theatre artists, and to build up an international network. iti-worldwide.org/committees.php
With a look at the specialised committees (see margins) and more specifically the music theatre committee, a question to Roland Quitt: How have the structures proven their value or changed? What remains, what’s on the horizon?
Rol and Quit t:
When I wanted to join the Music Theatre Committee in 2002, I found a rigid structure – a committee that had been essentially dominated by the same five persons in the board who just repeatedly reelected themselves. I was kept in my place. Only at the World Congress in 2006, when the old guard had left their posts and the committee no longer existed, did it happen – Laura Berman and I from the German ITI Centre were elected to be the new presidents. Since then, we have both always been board members, reconstructed the committee and had decisive influence on it. We reached back to an idea that I had had years earlier – to start up an international music theatre competition. ITI Germany then decided to support the project, which is now called Music Theatre NOW! One difficulty in committee work is that you always only meet at ITI World Congresses. It’s hard to keep exchange and work moving forward. One of your committee’s strengths is that you are actually realizing a big project – Music Theatre NOW! – instead of getting stuck in hypothetical discussions about projects and lamenting about the lack of funds.
Rol and Quit t:
The project would not exist without the ITI Germany’s substantial support. And this time we had to deal with challenges as well. As wonderful as the meeting was in Sweden, we are now confronted with the question of how to continue. The competition has grown so immensely that we feel forced to restructure it. Due to its current success and high profile, we will receive so many applications that no top-notch jury will be able to deal with them. On the one hand, we have a project for the future that is now, after six years, really gaining momentum. It’s very important that we keep the committee open to other ideas.
From the Music Theatre Committee to the International Festival Forum (IFF). Jörg Vorhaben – you have been a member of the IFF since the last World Congress in 2011. What did you expect, and what was your interest?
Jörg Vorhaben:
At first it was my own personal interest. In founding the PAZZ Festival in Oldenburg, where I am a theatre dramaturge, I was curious about the Festivalforum and the question of how to network international festivals and communicate about issues we have in common. For a while, the committee didn’t exist anymore. But at the World Congress in China, 30 festival organizers were interested who wanted to strengthen their networks: an amazing range from an Australian for-profit company to a theatre day festival for schools. A new board was founded with a president, vice-president and secretary – a far too formal structure, in my opinion. But many were looking to get positions. What started with plenty of enthusiasm then unravelled a bit. The board had plenty of meetings, but the feedback to the “masses” was lacking. The board and the forum are currently in a phase of renewal. There were a few exciting projects along the way, like a website where festivals can register worldwide and you can do research. Unfortunately the festivals didn’t really respond much. In the meantime, we set up a facebook page on which projects are presented with trailers; this was a special request of the African festivals.
Rol and Quit t: In the question of whether the committees still function, for me the smallest problem is the structure – some committees have already gotten rid of it by changing their status and not calling themselves a committee anymore. The difficulty lies in how a committee’s positions are staffed. In some cases, people let themselves be elected, but in the end they are only names. I find it to be very important that a candidate introduces himself very precisely and that not just anyone is elected. And that there are secret ballots to avoid such situations. Another challenge lies in communication: when problems arise and you have to meet – and everyone is spread out all over the world.
[open to the audience]
29 not. Because a committee is a committee is a committee. I was in the New Theatre Committee until 1966; it was 15 You quickly risk turning into a debate club. And we don’t years of misery. There were no results – neither artishave any money of our own. Which makes sense, because tic nor theoretical ones. The General Assembly always budgets sow greed. Often people are interested who are fundamentally suffered because everyone always talked in search of employment. But they aren’t there for long. and not much was ever done. In order to focus on artistic After the first mailing, a maximum of five people are left results, the idea was born for the New Project Group: We over that you can count on. I founded my own organisadon’t have a charter, no chairman, no elections – we just tion, a research centre that I can implement: Akt-zent. have volunteers. Which is very good. In the beginning, It isn’t a state organisation and isn’t funded as such, but there were heated debates about whether something it is a legal entity that can be used to acquire funds for can exist within the ITI that does not conform to the special common projects. charter of the ITI committees. The president of the World Alex ander Stillmark: Congress at the time, Kim Jeong-Ok, was able to get that The Committee for Cultural Identity and Development, confirmed. of which I am the secretary, is a typical example of Those who are there participate. Those who change. It was originally established as aren’t there, can’t. The fundamena representative committee; the “third tal idea of this kind of a project is „Those who are there world” theatres were represented here. permanent movement. The core participate. Those who The point was to take a place there as a group – next to two pillars, Emilya aren’t there, can’t.“ country – regardless of which aestheCachapero and me – has constantly tics or artists. The association’s formal changed. There are still quite a few procedure and the form of negotiations interested people at the congresses, were absolutely necessary in order to create a structure but then the ITI inertia kicks in, and the problem that we and preempt personal rivalries. are all spread out and have trouble meeting.
Thomas Engel:
Manfred Beilhar z:
The crazy thing about the ITI is that cultural diversity is lived to an extreme. There is a huge spectrum of expectations and work methods that you have to accommodate. The committees were formed to offer a structure and to channel work. Some people need a title or a function in order to be able to do anything at all in their countries. Then there are the pragmatists who say: doers get it done. Getting this spectrum together is in itself an accomplishment. The predetermined structures in the world association ITI have never been as flexible and open as today. Organizing things together is a new challenge, but there is now a new quality in international cooperation. Subjects have been expanded that reach across the boundaries of committees and sectors, such as Theatre in Conflict Zones. This can be an important field for the theatre, music theatre and puppet theatre; it is not just an issue for the Committee for Cultural Identity and Development (CIDC). Many committees have become active on their own. For example, we created the Committee for Artists’ Rights from a work group that dealt with human rights issues, artistic freedom and censorship. We try to utilize the ITI as a political instrument: on the one hand, by making it public; on the other hand, by reacting as an NGO with UNESCO status.
Having a function under the auspices of the UNESCO often first enabled people from the “third world” to act internationally and gain a moral raison d’être in international contexts. The predetermined structure is thus not just an alibi here, but rather a backing: We are part of the UNESCO. No government can say that the UNESCO doesn’t exist.
Christine Schmalor: I see committee work with mixed feelings. In 2000, I joined the venerable Theatre Education and Training Committee (TECOM), which basically didn’t exist anymore at that point. “By accident” I was immediately elected to be vice-president, and in the last 11 years I have tried to get something moving there. It is an unbelievably fantastic possibility to make contacts and create something. Or
Rolf C. Hemke: You won’t find an alternative to this committee structure that is practicable, because the problem with the UNESCO label and the necessity of having a position exists in some countries. The structure is justified in these moments. Even if you should soften or modify it, as the example of the New Project Group shows. I think you should use the synergy effects more. And see the ITI as a kind of superstructure. And have the ITI coordinate communication about these structures.
Michael Freundt: Obviously the problem that the ITI’s international work can’t be as productive as it should be isn’t necessarily caused by the structures. In individual cases, people who have taken on responsibility and then don’t live up to it have blocked certain processes. But existing structures enable many things and create a context for action that is recognized by ITI members throughout the world. The question that lies before us is: What opportunities can we create at the ITI Germany so that those people who are working on international issues can get involved in and enrich the ITI network worldwide?
JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
Günther Beelit z:
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JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
Internationalität als Label Hartmut Rosa zeigt in seinem Buch „Beschleunigung“ die Geschichte der Moderne als technische, beziehungsweise ökonomisch induzierte Beschleunigung. Die rasante Entwicklung der Technik im 19./20. Jahrhundert habe zu einer sozialen Beschleunigung geführt. Rosa beschreibt ein Paradoxon: Aufgrund des Zeitgewinns durch technischen Fortschritt entstehe eine Zeitnot und kein Zeitgewinn. Die technisch induzierte Verkürzung der Handlungssequenzen – mehr Vorgänge in der gleichen Zeiteinheit – fordert eine verknappte, „flachere“ Kommunikation, die auch den Arbeitsalltag vieler Theatermacher bestimmt. Diese gehetzte Betriebsamkeit produziert eine Mentalität, die Eingang in die inhaltliche Arbeit findet. Die Vermehrung der allgemeinen Krisensituationen oder genauer deren vermehrte Wahrnehmung durch DauerInfotainment und die scheinbare Unüberschaubarkeit der komplexen Probleme führen zudem zu einer wachsenden Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Bourdieu bemerkte schon 1997, dass die objektive Unsicherheit eine allgemeine subjektive Unsicherheit prägt, eine „kollektive Mentalität“ der prekären Lage, die die Fähigkeit, Zukunftsprojekte zu entwerfen, beeinträchtigt. Diese Beschleunigungs- und Verunsicherungsprozesse sind wesentlich ökonomischer Natur. Sie haben die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung, das Sozialverhalten und schließlich das Denken und Fühlen, die „Seelen“ verändert, wie es Frank Schirrmacher mit überraschend eindeutiger Kapitalismuskritik in seinem Buch „Ego“ beschreibt. Die viel beschworene fortschreitende Ökonomisierung aller Lebensbereiche hat relativ widerstandslos Eingang in die praktische Theaterarbeit und das Denken der Theatermacher gefunden. Mit Zielgruppen-, Marken- und Marketingbewusstsein werden schnelle Formate, Soaps und Stadtinterventionen entwickelt, die wenigstens partizipativ oder urban sein „Regisseure werden zu müssen und vor allem den Markenträgern, Intendanten internen Zeitgeisthunger und Dramaturgen zu stillen. Der Begriff „ForTrendscouts.“ mat“, hier verstanden als ein bestimmtes, konzeptionell wiedererkennbares Medienprodukt, stammt nicht zufällig aus der Medienindustrie. Neue Stücke mit minimaler Halbwertszeit werden für die überregionale Wahrnehmung produziert und zum Ausgleich fürs Abo gibt es Well-Made-Theater mit Antizertrümmerungsgarantie. Regisseure werden zu Markenträgern, Intendanten und Dramaturgen zu Trendscouts, um das stärker segmentierte Publikum mit spezifischer Ansprache und einer enormen Premierenfrequenz anzulocken und zu binden. Statistiken nehmen die Theatermacher schon lange als Indikator für künstlerisch erfolgreiche Arbeit an. Die erschöpfende Kurzatmigkeit der „Müdigkeitsgesellschaft“ prägt den Theateralltag und die Ware Theater. Das Theater folgt strukturell und inhaltlich den Mechanismen, die es kritisiert, und das, obwohl es in Deutschland durch Bezuschussung weitgehend frei von Marktbedingungen gehalten ist. Adornos Kulturindustrie entwickelt sich prächtig. Seine
Gegenthese, nach der „Kunstwerke Statthalter der nicht länger vom Tausch verunstalteten Dinge ...“ sind, ist ein müder Witz. Mit erstaunlicher Verzögerung entdeckt die deutsche Theaterszene seit einigen Jahren die Label „International“ und „Interkulturalität“. Eine unüberschaubare Anzahl von kleineren und größeren Festivals ist entstanden, Regisseure aus der Türkei, dem arabischen Raum oder Afrika erfreuen sich zunehmender Beliebtheit, Theater, die sich bisher nie um Internationalität bemüht haben, gastieren in Regionen wie dem Irak oder dem Iran. Das alles kann gut und wichtig sein. Es gibt viele wunderbare, positive Beispiele gelingenden Dialogs. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass „Internationalität“ hier häufig bloßes Label ist, mit dessen Hilfe sich kulturpolitisches Profil bilden lässt. Wenn ein türkischer Regisseur, der aus vollständig anderen Arbeitszusammenhängen kommt, ausgerechnet Faust (beide Teile!) an einem großen deutschen Theater inszeniert, dann klingt das zunächst nach konzeptionell gedachtem, interkulturellem Austausch, der sich gut kommunizieren lässt. Die Wirkung derart unvorbereiteten Kulturmanagements kann für Künstler verheerend sein. Theaterlandschaften, wie etwa die Afrikas, die vielfach Theater als Kunstmarktware nicht kannten, werden von der von Deutschland und Europa ausgehenden Kultur-Marktexpansion erfasst und nachhaltig verändert. Was geschieht, wenn junge, talentierte Theaterkünstler aus Afrika oder dem Iran beginnen, für den europäischen Markt zu produzieren? Ist das Entwicklungshilfe oder blutet da eine Theaterlandschaft aus? Ist es ein Beitrag zur kulturellen Vielfalt, wenn die Fortentwicklungen eigener Traditionen in den Hintergrund treten, um auf dem deutschen oder europäischen Theatermarkt erfolgreich zu sein? Entsteht tatsächlich ein Austausch auf Augenhöhe, wenn deutsche Theater einmalige und einseitige Betriebsausflüge mit gewaltigen Bühnenbildern in möglichst exotische Regionen unternehmen? Ist „Internationalität“ ohne kontinuierliche und langfristig gedachte Arbeitszusammenhänge und ernsthaften Austausch sinnvoll? Das ITI gehört zu jenen NGOs, die den Kampf für kulturelle Vielfalt und gegen das GATS-Abkommen – das den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen regelt und dessen fortschreitende Liberalisierung zum Ziel hat – führt. Setzen wir hier mit anderen Mitteln durch, was wir dort verhindern wollen? Vielleicht wäre es eine lohnenswerte Aufgabe für das ITI, über ethische Standards internationaler Theaterarbeit nachzudenken? Dann wäre man wenigstens auf Augenhöhe mit der Großindustrie. Die Sache wäre ganz ohne Risiko, denn die Einhaltung solcher Standards überprüft ja keiner. Freiwillige Selbstverpflichtung nennt sich das. Zudem ließe sich das super kommunizieren.
Sven Schlötcke
ist Mitglied der künstlerischen Leitung des
Theaters an der Ruhr. Als Vorstandsmitglied des ITI regt er immer wieder zur kritischen Analyse des internationalen Theaterbetriebs an. Als Botschaft an die ITI-Jahrestagung im Juni 2013 verfasste er den vorliegenden Text.
31 In his book Beschleunigung (Acceleration), Hartmut Rosa describes the Arab world or Africa are becoming more and more popular, the history of modernity as a technical or economically inand theatres who have never been interested in internationaliduced acceleration. The rapid development of technology in ty are suddenly on tour in regions like Iraq or Iran. This all can the 19th and 20th centuries led to social acceleration. Rosa be good and important. There are many wonderful, positive describes a paradox: As a result of time that you gain due to examples of successful dialogue. technological progress, you lose time instead of having more. However, one can’t avoid the impression that “inThe technically induced reduction of sequences of action – ternationality” is often just another label that helps to create more events in the same period of time – demands a shortened, a profile in cultural politics. When a Turkish director, who “flatter” communication, which also determines theatre procomes from completely different work contexts, directs Faust fessionals’ daily work rituals. This frenzy produces a mentality of all things (both parts!) at a major German theatre, then that finds its way into the work’s content. that sounds at first like a conceptually The proliferation of general crisis situaintelligent, intercultural exchange that „Directors become brand tions – or more specifically, the increased is easy to communicate. However, the carriers, intendants and perception of such due to permanent effect of such an unprepared cultural dramaturges turn into infotainment – and apparently vast and management can be disastrous for the trend scouts.“ incomprehensibly complex problems also artist. Theatre landscapes, for example lead to increasing insecurity and a lack of those in Africa, that didn’t experience orientation. Bourdieu already remarked in theatre as an art market product, are 1997 that objective insecurity influences a general subjective being caught up in a cultural market expansion emanating insecurity, a “collective mentality” of the precarious situation. from Germany and Europe – and they are being transformed. This then limits the ability to develop projects for the future. What is going to happen when young, talented theatre artists These processes of acceleration and insecurity are from Africa or Iran begin producing for the European marin essence economic in nature. They have changed perception ket? Is this foreign aid? Or is a theatre landscape being bled and self-perception, social behaviour and finally thinking dry? Is it a contribution to cultural diversity when the further and feeling – our “souls”, as Frank Schirrmacher describes in a development of one’s own traditions move into the background surprisingly direct critique of capitalism in his book Ego. The in order to be successful on the European theatre market? Does often declaimed advancing economization of all areas of life eye-to-eye exchange actually take place when German theatres has found easy entrance into theatre professionals’ practiwith overblown stage sets make one-off and one-sided office cal theatre work and thinking. With target group, brand and outings to the most exotic regions? Does “internationality” marketing consciousness, fast formats, soaps and city interwithout a continuous and long-term work context and serious ventions are developed that have to be at least participatory exchange even make sense? or urban and above all quench the internal zeitgeist hunger. The ITI belongs to those NGOs that are fighting the The term “format” – understood here as a certain conceptubattle for cultural diversity and against the GATS Agreement, ally recognizable media product, does not originate purely which regulates the international services trade and is aimed by chance from the media industry. New pieces with minimal at increasing its liberalisation. Are we realising something half-lives are produced for supra-regional attention, and to as- with other means here that we are otherwise trying to stop suage the season ticket holders, there is also well-made theatre elsewhere? Maybe it would be a worthwhile job for the ITI to with an anti-deconstruction/destruction guarantee. Directors think about ethical standards in international theatre work. become brand carriers, intendants and dramaturges turn into Then at least we would be on the same level as big industry. trend scouts in order to attract and bind the more segmented The whole thing would be completely risk-free; no one checks public with specific delivery and an enormous frequency of if such standards are being upheld. It’s called voluntary selfpremieres. Theatre professionals have been using statistics commitment. And it would be super easy to communicate. as an indicator for artistically successful work for a long time now. The exhausting breathlessness of the “fatigue society” Sven Schlötcke is a member of the artistic management team characterises daily life in the theatre and theatre as a commoof the Theater an der Ruhr. As a member of the ITI board he dity. Theatre adheres to the mechanisms it criticizes, both in constantly encourages critical analysis of the international structure and content – despite the fact that in Germany the theatre scene. He wrote this text as a message to the ITI Annual subvention systems keep the theatres more or less safe from Meeting in June 2013. market forces. Adorno’s cultural industry is developing magnificently. His counter-thesis, that “artworks are the placeholder for the things that are no longer disfigured by exchange …” has become an old joke. With an astonishing delay, the German theatre scene has been discovering the label “international” and “interculturality” for a few years now. An incalculable number of small and larger festivals have been created; directors from Turkey,
JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
Internationality as a Label
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perspektiven einer neuen kooperationskultur in den künsten Am Beispiel deutsch-indischer Partnerschaften
Künstlerische Kooperationen zwischen dem ‚Globalen Norden‘ und dem ‚Globalen Süden‘ sprich zwischen reichen Industrienationen, die vornehmlich auf der nördlichen Halbkugel angesiedelt sind und armen Entwicklungs- und Schwellenländern, die in der Regel in der südlichen Hemisphäre verortet sind, werden derzeit vielfach gefördert. Über die Realisierung dieser Partnerschaften, wie beispielsweise zwischen Deutschland und Indien, ist außer der Präsentation des Resultats – wie z. B. die Aufführung eines gemeinsam produzierten Theaterstücks – selten etwas bekannt. Um voneinander und miteinander für eine zukünftige Kooperationskultur in den Künsten zu lernen, wird es Zeit, das Wissen und die wertvollen Erfahrungen aus den interkulturellen Partnerschaften darzustellen und zu teilen. Dafür sind Plattformen wie Konferenzen, Residenzen und Workshops notwendig, die diesen Austausch fördern: zwischen Kulturpolitikern und Kulturförderern, aber vor allem zwischen den Kulturmittlern und Künstlern, die die Kooperationsarbeit täglich umsetzen.
Die Hauptpar ameter jeder Kooper ationsarbeit: Zeit und Geld Die wesentlichen Parameter einer Kooperation sind die Finanzierung der Partnerschaften wie auch die Zeitdauer. Die meisten Akteure in deutsch-indischen Kooperationsarbeiten sehen eine Herausforderung in der Kürze der Zeit, auf die die Kooperationen üblicherweise angesetzt sind, so das Ergebnis meiner Forschung über internationale künstlerische Kooperationen in den vergangenen drei Jahren. Die benötigte Zeit einer Kooperationsarbeit ist von diversen Faktoren abhängig, unter anderem von deren Zielsetzungen. Bestenfalls werden die Ziele zu Beginn jeder Kooperationsarbeit von allen Akteuren gemeinsam definiert und auf ihre Realisierung hin überprüft. Das setzt voraus, dass man um die eigenen Ziele weiß. Der offene Austausch über die jeweiligen Ziele ist wichtig, um den Partner in seinen Erwartungen hinsichtlich der Kooperationsarbeit zu verstehen und anzunehmen, unterschiedliche Zielsetzungen anzuerkennen sowie gemeinsame Ziele zu definieren, auf die im Falle einer Konfliktsituation zurückgegriffen werden
33 Kooperationen, zu berücksichtigen und einzubinden. Eine so kurzzeitige und kurzsichtige Förderung hat zur Folge, dass der Kooperationsprozess in seinem Potenzial beschnitten wird. Statt sich mit den verschiedenen kulturellen Realitäten und künstlerischen Praxen, die eine internationale Kooperation bietet, Vor ausset zungsvolle Vor- und auseinanderzusetzen und sie zu verbinden, Nachbereitung von Zusammenarbeit müssen die Kooperierenden Folgefinanzierungen für ihre künstlerische Arbeit bzw. für Zur voraussetzungsvollen Vorbereitung einer ihre Kulturinstitution finden und sichern. Kooperationsarbeit gehört auch, den Partner Die gegenwärtige Kooperationsin seiner Realität kennen und in seiner künst- förderung befördert zudem Kooperationen lerischen Praxis verstehen zu lernen, so die aufgrund regionaler Schwerpunkte geradezu befragten Kulturschaffenden in deutsch-in‚fabrikmäßig‘, anstelle Kooperationen ‚natürdischen Kooperationen der Künste. Durch das lich‘ entstehen zu lassen. Statt der optimalen Identifizieren von Gemeinsamkeiten, die eine Voraussetzung, dass sich Akteure aufgrund Kooperation begründen, entsteht Vertrauen. ihrer gemeinsamen Interessen finden, Doch das Herstellen werden ausländische dieser Voraussetzungen Partner aufgrund ihrer „Eine Partnerschaft braucht Zeit. Auch der regionalen Herkunft zwischen wirklich Prozess, sich zu verstänausgewählt. Die Partner Gleichberechtigten digen, interkulturelle im Ausland fühlen scheint utopisch.“ Differenzen auszutragen sich nicht selten und gemeinsam zu exausgenutzt, denn sie perimentieren, um sich erkennen, dass schwerkünstlerisch zu entwickeln, braucht Zeit. punktmäßig die auf Regionen bezogene Da meist wenig Zeit zwischen FörAusschreibung der Fördergelder dazu führt, derzusage und Projektbeginn bleibt, sowie dass sie als Partner herangezogen werden. vom Förderer erwartet wird, schnell ein quaStatt Partner, deren Interessen und Bedürflitativ hochwertiges kulturelles Ergebnis zu nisse gleichberechtigt verfolgt werden, sind liefern, werden überstürzt Kooperationen mit sie Statisten, um die Agenden ihrer vermeintunbekannten Partnern eingegangen, Konflik- lichen ‚Partner‘ zu ermöglichen. te umgangen und Kooperationsprozesse auf Individuelle Förderung von das übereilte Herstellen eines vorzeigbaren Kooper ationsarbeit Resultats ausgerichtet. Die Folge ist in der Regel ein oberflächlicher Dialog zwischen Ziel einer sinnvollen internationalen den Kooperierenden. Kulturförderung müsste sein, Akteure zu Wie die begrenzte Zeit zwingt auch motivieren, die tatsächlich zusammenardas limitierte Budget die Kulturschaffenden, beiten wollen. Denn geteilte ästhetische und die vorbereitende Phase der Zusammenkünstlerische Ideen und Interessen stehen im arbeit wie auch deren Nachbereitung, also Mittelpunkt von Kooperationen, wie internadie Reflektion der Zusammenarbeit und die tional arbeitende Kulturschaffende bestäVerortung der Kooperation sowohl im Süden tigen, bspw. beim Festival „Theaterformen als auch im Norden, zu vernachlässigen: „För2013“ in Hannover. Ideal wäre, die Finanziederung aus Deutschland beginnt in der Regel mit dem Sprung ins Projekt und endet mit der rungsbedingungen von Nationalitäten, Sparten und Thematiken zu lösen und eine offene Premiere oder der Ausstellung”, so ein VerFörderung anzubieten, um den Künstlern die treter der India Foundation for the Arts, der Freiheit zu gewähren, selbst zu entscheiden, einzigen philanthropischen Kulturstiftung was mit wem wie und wozu behandelt und Indiens, die seit mehr als einem Jahrzehnt nationale und internationale Kooperationsar- verhandelt wird. Das Credo könnte lauten: „So wenig Kriterien wie nötig, so viel Freiraum wie beiten indischer Kulturschaffender begleitet möglich.“ und beobachtet. Insbesondere die – bisher Eine langfristige und großzügiwenig durchgeführte – Evaluierung in der ge Finanzierung würde dem Prozess der Nachbereitung von Kooperationen würde Zusammenarbeit, der den Dialog der Partner ermöglichen, die Ergebnisse vergangener begründet, Freiraum geben. Statt eine vorab Aktivitäten in zukünftige Vorhaben, sprich fix definierte Fördersumme auszuhändigen, in zukünftige Planung und Realisierung von
Förderung Das ITI/IGBK-Projekt touring-artists. info listet fast 300 Fördermöglichkeiten für den internationalen Künstleraustausch von und nach Deutschland auf. Neben dem Goethe-Institut ist die Kulturstiftung des Bundes der bedeutendste Förderer. Schwerpunkte werden mit Programmen / Fonds wie Wanderlust (Kooperationen der Stadt- und Staatstheater) und TURN (Kooperationen zwischen Künstlern aus Afrika und Deutschland) gesetzt. Mit dem Programm Szenenwechsel fördern ITI und Robert-Bosch-Stiftung internationale Kooperationen. Mit der Initiative Tanz förderte der Bund 2013 auch internationale TanzKoproduktionen.
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kann. Wenn Ziele transparent kommuniziert werden, ermöglicht dies jeder Seite, darauf zu reagieren, z. B. indem Ziele diskutiert, verhandelt und untereinander abgestimmt werden. Oder die Akteure finden heraus, dass eine Kooperation aufgrund unüberwindbarer Differenzen nicht glücken kann.
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34 wäre es sinnvoll, Kooperationen entsprechend ihres Bedarfs zu fördern. Der Bedarf ist von den Kooperierenden zu ermitteln, indem die Prozesse der Kooperationsarbeit inklusive „Das Risiko zu der dafür erforderlichen scheitern ist ein Teil des Zeit und finanziellen Mittel Weges zum Erfolg.“ dargestellt werden. Dieser Wechsel von einer projektorientierten zu einer prozessorientierten Förderung würde den Förderern die Möglichkeit geben, nachhaltig und wirksam zu fördern, im Sinne anhaltender Zusammenarbeiten und langfristiger Austauschbeziehungen.
die viel proklamierte Augenhöhe in der Realität nicht zu“, so eine deutsche Choreografin, die auf eine fast fünfzehnjährige Zusammenarbeit mit indischen Kulturschaffenden zurückblicken kann und exemplarisch die Meinung einer Vielzahl von international kooperierenden Künstlern ausdrückt, wie meine Recherche ergab.
Eine Annäherung an die ‚Augenhöhe‘
Eine Partnerschaft zwischen wirklich Gleichberechtigten scheint utopisch. Doch ist es möglich, die Ungleichgewichte zu reduzieren, indem Voraussetzungen und Strukturen geschaffen werden, die es erlauben, die europäische Dominanz aufgrund ihres Ressourcenreichtums zu minimieren. Ein erster Das Ideal der Gleichberechtigung Schritt könnte demnach sein, dass die Partner die ungleichen materiellen Ausgangsbedingungen, die nicht zu leugnen sind, Die Finanzierung von internationalen Kooperationen, die thematisieren. Letztendlich löst die Thematisierung aber meistens vollständig und damit einseitig vom Westen erbracht nicht das Ungleichgewicht auf. wird, begründet eine wichtige Thematik jeder Kooperation Eine wirksamere Möglichkeit ist, die zur Verfügung zwischen dem ‚Globalen Norden‘ und dem ‚Globalen Süden‘: die stehenden Gelder und damit die Finanzkontrolle auf alle BeteiUngleichheit und Hierarchisierung unter den Akteuren. In der ligten gleichermaßen zu verteilen. Die gemeinsame, finanziBeschreibung des Idealfalls – basierend auf meiner Befraelle Verantwortung macht die Kooperationen gleichberechtigt gung von fast achtzig Kulturschaffenden, die international gestaltbar. Da nicht ein Part die kompletten Finanzen verwalkooperieren – beinhaltet eine Kooperation gleichberechtigte tet, zwingt es die Partner, sich in Bezug auf die Verwendung Beziehungen unter den Akteuren, die der Gelder abzusprechen. In der Konseihre Ideen und Konzepte zusammenquenz wird inhaltlich, organisatorisch „Alle Partner an der bringen, so dass etwas Neues und Geund finanziell demokratisch(er) entschieFinanzierung zu beteiligen, meinsames entsteht. An der Entstehung den. wäre wünschenswert.“ dieses kollektiven Werkes wirken und Alle Partner an der Finanzierung zu entscheiden alle Partner gleichermaßen beteiligen, wäre wünschenswert, so mit. Doch ein Blick in die Praxis beweist, dass die Akteure gemeinsam finanziell dass hauptsächlich Kooperationen im klassischen Sinne einer in ihre künstlerischen Kooperationen investieren und sich Koproduktion existieren, wobei die Produktion von deutscher damit gegenseitig fördern. Das verlangt, dass die ausländiSeite geleitet wird und Partner, wie die indischen Künstler, an schen Partner in die finanzielle Beteiligung mit einbezogen dem Projekt beteiligt werden. werden. Die Ressourcen zu verhandeln ist demnach nicht nur Die ungleichen Voraussetzungen der Beteiligten die Aufgabe der indischen bzw. außereuropäischen Partner, werden durch den unterschiedlichen Grad der Professionasondern auch die der deutschen bzw. europäischen Akteure. lisierung der Akteure, welches schnell ein Schüler-LehrerIndem Finanzierungsquellen im Süden wie bspw. KulturförVerhältnis erzeugt, verstärkt. „Diese Ungleichheiten lassen derinstitutionen, Wirtschaftsunternehmen oder Privatpersonen identifiziert und ‚angezapft‘ werden, können sich eigene finanzielle Strukturen auf- und ausbauen. Es muss kulturpolitisch von beiden Partnern langfristig forciert werden, eigene, selbständige finanzielle Strukturen in Ländern des Globalen Südens zu entwickeln. Mit diesen tiefgreifenden strukturellen Veränderungen in den Partnerländern ginge einher zu erkennen, auf welcher Basis die sogenannten ‚Partnerschaften‘ bislang existierten. Unabhängige Finanzierungsmöglichkeiten böten die Chance, bisherige Beziehungen, die auf dem Rollenverständnis des Gebers und Nehmers beruhten, aufzulösen und diese Rollen im Sinne von Partnern neu zu begründen. Das würde für die Geber bedeuten, die eigene Position und Arbeitsweise in Frage zu stellen und zu verändern. Ein deutsch-indisches Kooperationsteam umschreibt den Dialog auf Augenhöhe – im Rahmen meiner Untersuchung in Deutschland und Indien – als ‚guiding light‘, als Leitbild. Dieser Dialog ist – wie die Kooperation an sich – ein Ideal, dem es gilt, sich anzunähern, welches aber nie bzw. erst nach Jahren der Zusammenarbeit mit dem Partner und in dem fremden
35 Kontext des Partners Realität werden kann. Die gleiche Augenhöhe herzustellen ist demnach ein langfristiger Prozess, der ausreichend Zeit und Geld bedarf.
für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. Die dargestellte Analyse internationaler künstlerischer Kooperationen basiert unter anderem auf achtzig Experteninterviews mit deutschen und indischen Kultur-
Eine neue Kooperationskultur in den Künsten ist erst vollständig, wenn sie sich für eine Kultur des Experimentierens, Riskierens und Scheiterns ausspricht. Kooperationen sind Risikoarbeiten. Was im Laufe und am Ende einer kulturellen Kooperation herauskommt, ist selten vorhersehbar. Partnerschaften können scheitern. Die Gründe für ein Scheitern sind vielfältig: unklar definierte Ziele und ästhetische Differenzen, die eine gemeinsame Basis ausschließen, mangelnde Kommunikation und mangelndes Vertrauen sowie Kulturdiskrepanzen und die Ungleichheit der Partner untereinander. „Nur diejenigen, die sich trauen, im großen Stil zu scheitern, können auch im großen Stil Erfolg haben“, so der US-amerikanische Politiker Robert F. Kennedy. Das Risiko zu scheitern ist demnach ein Teil des Weges zum Erfolg. Scheitern bietet die einzigartige Chance, aus Fehlschlägen und Misserfolgen für zukünftige Kooperationsarbeit zu lernen und sich weiterzuentwickeln. Die in meiner Untersuchung befragten Kulturschaffenden erleben das teilweise oder komplette Scheitern als kostbare Erfahrung innerhalb eines Kooperationsprozesses, doch verschweigen sie diese Erfahrungen aus Angst, Förderer und Unterstützer zu verlieren. Daher wird Scheitern im Diskurs über internationale Kooperationsarbeit in den Künsten bislang tabuisiert, womit wertvolles Wissen über den Umgang und die Potenziale des Scheiterns verloren geht. Wie eingangs beschrieben, muss es zukünftig darum gehen, Erfahrungen aus den interkulturellen Partnerschaften zu teilen. Das gilt nicht nur für erfolgreiche, sondern auch für gescheiterte Partnerschaften. Denn die Erfahrungen der Kooperationsakteure über ihre interkulturellen Partnerschaften liefern die relevanten Perspektiven zur Entwicklung einer neuen Kooperationskultur in den Künsten. Diese neue Kooperationskultur ist dringend notwendig, um einen wirklich partnerschaftlichen internationalen Dialog zu führen.
Annika Hampel
ist Promotionsstudentin bei
Professor Wolfgang Schneider am Institut
schaffenden in Delhi, Bangalore und Mumbai in den Jahren 2012 und 2013.
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Eine Kultur des Experimentierens, Riskierens und Scheiterns
Perspectives for a New Culture of Cooperation in the Arts: German-Indian Partnerships Artistic cooperation between the “Global North” and the “Global South” – i.e., between rich industrial nations that are usually located in the Northern hemisphere and poor developing, peripheral countries generally found in the Southern hemisphere – is currently being supported to a high degree. However, little is known about these partnerships’ realisation, for example, between Germany and India, except for a result in the form of the performance of a collectively produced theatre piece. There is little documentation that presents the chances and challenges of such international cooperative work. In order to learn from and with one another for a future culture of cooperation in the arts, it is about time that the knowledge and valuable experience from inter-cultural partnerships were presented and communicated. Platforms such as conferences, residencies and workshops are needed to support this kind of exchange: between politicians responsible for culture and supporters of culture, but above all between the cultural agents and artists who realise the cooperative work on a daily basis.
Sponsorship The ITI/IGBK project touring-artists. info lists almost 300 funding opportunities for the international artist exchange to and from Germany. The two most important funding agencies are the Goethe-Institut and the German Federal Cultural Foundation. Focal points are selected through programmes/funds such as Wanderlust (cooperation between city and
Main par ameters of every cooper ation: time and finances
state theatres) and TURN (collaboration between artists from Africa and Germany). The ITI and the Robert Bosch Foun-
In addition to the partnership’s financing, the timeframe is the essential parameter for cooperation. Most of the protagonists in German-Indian cooperative works sense the challenge in the time limits that are generally accorded such a cooperation, thus the result of my research on international artistic cooperations during the past three years. The period required for a cooperative work depends on diverse factors and, of course, their objectives. Optimally, the goals are defined by all protagonists at the beginning of co-
dation support international collaborations through the Szenenwechsel (Change of Scene) programme. In 2013, the German federal government also funded international dance productions through its Initiative Tanz (dance initiative) programme.
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operative work and then examined to determine if realisation is practical. This assumes that one is aware of the objectives. Open communication about the respective goals is important in order to understand and accept a partner’s expectations, acknowledge different goals and define common goals; in the case of conflict, one can refer back to them. When goals are communicated transparently, this allows both sides to react, e.g., by discussing, debating and agreeing to goals. Or the protagonists determine that the cooperation has no potential due to insurmountable differences.
other on the basis of common interests, foreign partners are selected on the basis of their location. The partners in foreign countries often feel used because they recognize that grants emphasizing regions led to them being chosen. Instead of being partners whose interests and needs are treated equally, they are extras in the play of enabling the agendas of the supposed “partners”.
Individual support of cooper ations
The goal of a meaningful, international cultural support system should be to motivate protagonists who actually want to work together. Shared aesthetic and artistic ideas are at the focus of cooperation, as approve internationally working culA conscious preparation for cooperative work includes getting tural operators, as, i.e. at the festival “Theaterformen 2013“ in to know a partner’s reality and understanding his artistic Hannover. Ideally, the financial prerequisites should be remopractice, thus the questioned cultural operators in Germanved from issues of citizenship, art categories or subjects, and Indian artistic cooperations. By identifyopen-ended support should be offered ing commonalities that are the base of in order to give the artists the freedom “The risk of failure cooperation, trust develops. But creating of deciding for themselves what should is a part of the path these prerequisites takes time. Even the be addressed and dealt with, with whom to success.” process of understanding one another, this should be done, and why. The credo dealing with inter-cultural differences could be: “As few criteria as necessary, and experimenting together to develop as much freedom as possible.” artistically all takes time. Long-term and generous financing would free up the Since there is usually little time between the ancooperative process that is the foundation for the partners’ nouncement of support and a project’s start, and supporters dialogue. Instead of passing out a grant of a specific amount, expect quick delivery of high-quality cultural results, a coit would make sense to support a cooperation in accordance operation is often begun with unknown partners, conflicts are with its need. Need should be determined by the cooperating avoided and cooperative processes aim at quickly producing partners in a presentation of cooperative processes including a showable result. The consequence is generally a superficial the time and financial means required. This change from dialogue between the cooperating partners. project-orientation to process-orientation in support would Just like limited time, limited budgets also force give funders the opportunity to assist artists sustainably and cultural professionals in both the South and North to neglect effectively in the sense of enduring cooperations and longthe preparatory cooperative phase as well as the follow-up, term relationships of exchange. i.e., reflection on cooperation and the location of the cooperation. “Funding coming from Germany in general starts with jumping into the project and ends with the premiere “The idea of a partnerperformance or exhibition,” ship between truly equals as a representative of the seems to be utopian.“ India Foundation for the Arts said . This foundation is India’s only philanthropic cultural foundation that has for over a decade accompanied and observed national and international cooperative works of Indian artists. Especially a follow-up evaluation, something that has rarely been done in the past, would make it possible to consider and include the results of past activity in future projects, i.e., in future cooperative planning and realisation. Such a short-term and short-sighted system of support reduces the potential of cooperative processes. Instead of dealing with and combining the various cultural realities and artistic practice that an international cooperation offers, the cooperating partners have to find and secure the finances for their next artistic works or their institutions. Current cooperative funding supports cooperation on the basis of regional criteria almost in a factory-like The ideal of equal status way, instead of allowing a cooperation to emerge “naturally”. Instead of the optimal prerequisite that protagonists find each
Conscious prepar ation and follow-up of cooper ations
Financing for international cooperation, which is almost algiver and taker; these roles could be newly distributed on the ways completely and thus unilaterally established by the West, basis of a partnership. For the giver, this would mean questiois the root of an important issue in every cooperation between ning and changing his own position and work methods. the “Global North” and the “Global South”: the inequality and A German-Indian cooperation team describes – in hierarchy among the protagonists. Describing the ideal case – the context of my research in Germany and India – eye-to-eye based on the interrogation of almost eighty cultural operators dialogue as a “guiding light”. This dialogue, like the cooperawho collaborate internationally – a cooperation is a relationtion itself, is an ideal; the point is to approach it. However, this ship based on equality among protagonists who share their can either never become reality, or only after years of working ideas and concepts so that something new and mutual emerwith the partner in his foreign context. Creating an eye-to-eye ges. All partners labour on and decide in common about the situation is thus a long-term process that requires sufficient creation of this collective work. However, experience proves time and money. that cooperation mainly exist in the classical sense of a co-production, whereby “Involving all partners A culture of experimenting, the production is headed by the German in the financial issues risking, and failing side, and the partners, e.g., Indian artists, would be desirable.“ are involved in the project. The unequal A new culture of cooperation in the arts prerequisites for the involved parties are can only then exist when it propagates emphasized by the different levels of the a culture of experimentation, risk and failure. Cooperation protagonists’ professional experience; this quickly creates a means working in a field of risk. What occurs during or at student–teacher relationship. “These inequalities in reality do the end of cultural cooperation can rarely be predetermined. not allow for the often proclaimed eye-to-eye working situation,” a German choreographer said who has almost fifteen years Partnerships can fail. The reasons for failure are multitudinous: unclear goals and aesthetic differences that preclude a of experience of working with Indian artists. As my research common basis, insufficient communication and a lack of trust showed, this exemplarily expresses the opinion of various as well as cultural discrepancies and the partners’ inequality. internationally cooperating artists. “Those who dare to fail miserably can achieve greatly,” the American politician Robert F. Kennedy once said. The risk of An approach to ‘eye-level’ failure is thus a part of the path to success. Failure offers the unique chance to learn from mistakes or a lack of success; this The idea of a partnership between truly equals seems to be helps future cooperation and one’s ability to continue to deveutopian. However, it is possible to reduce the imbalance by lop. Professionals from the field of culture experience partial creating prerequisites and structures that minimize European or complete failure as a valuable experience within a process dominance stemming from rich resources. A first step could of cooperation; however, they remain silent about these expebe made if the partners with undeniably unequal material riences for fear of losing funders and supporters. Failure is a prerequisites would address this fact. However, dealing with taboo in the discourse about international cooperative work in the issue does not remove the imbalance. the arts; in the process, valuable knowledge about dealing with An effective possibility is to evenly divide the availa- and recognising the potential of failure is lost. ble money and thus the financial control among the partners. As described in the introduction, the future goal Common financial responsibility makes it possible to shape must be to convey experience from inter-cultural partnerequal cooperation. Since all the finances are not administrated ships. This not only applies to successful partnerships, but by just one side, it forces the partners to agree upon the use of also to the ones that failed. The experience gained by protagofinances. The result is that decisions regarding the content, or- nists of a cooperation in an intercultural partnership delivers ganisation and finances are made on a (more) democratic basis. the relevant perspectives for the development of a new culture Involving all partners in the financial issues would of cooperation in the arts. This new culture of cooperation is an be desirable so that the protagonists both invest in their artiabsolute necessity for initiating international dialogue on the stic cooperation and thus both support each other. This requibasis of veritable partnerships. res foreign partners to be included in the financial responsibilities. Negotiating resources is therefore not just the Indian or foreign partner’s responsibility, but also that of the German or Annika Hampel is a doctoral candidate student advised by Professor Wolfgang Schneider at the Institute for Cultural PoliEuropean protagonists. By identifying and “tapping” financial cy and UNESCO Chair “Cultural Policy for the Arts in Devesources such as cultural support institutions, businesses or lopment“ at the University of Hildesheim. This analysis of private people in the South, they could construct and expand international artistic cooperation is based among others on their own financial structures. This must be forced by both 80 experts’ interviews with German and Indian cultural propartners in the long term; countries of the Global South must fessionals in Delhi, Bangalore and Mumbai in the years 2012 develop their own independent financial structures. and 2013. Along with these deep structural changes in the partners’ countries, one would have to recognize on what foundation the so-called “partnerships” were previously built. Independent financial alternatives would offer the change to Fotos © Andrea Specht dissolve present relationships that are based on the roles of
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38 MarktplatzKultur in Afrika JAHRBUCH ITI YEARBOOK unterm strich – bestandsaufnahme
Wie sich die Theaterszene in Afrika entwickelt, vernetzt und mit ihrem Gedächtnis umgeht – darüber sprach Thomas Engel mit Renate Klett Thomas Engel:
Thomas Engel:
Renate Klett, du bereist seit vielen Jahren die Theaterszene auf Konntest du in den letzten Jahren einen Entwicklungsprozess beobdem afrikanischen Kontinent und hast schon zu deinen Zeiten von achten weg vom Primat der Kurzfristigkeit unter dem Eindruck von Theater der Welt afrikanische Künstler wie William Kentridge Bürgerkrieg, Kolonialauseinandersetzungen und anderen höchst und die Handspring Puppett Company aus Johannesburg dem deutunsicheren zivilgesellschaftlichen Strukturen hin zu einer gewissen schen und europäischen Publikum erstmals nahegebracht. Anders Planbarkeit, in der man auch künstlerisch anders mit der Realität als noch vor einigen Jahren herrscht heute ein umgeht als vielleicht unter dem Druck enorm gestiegenes Interesse an der afrikanischen der völligen Unsicherheit von Gegenwart „Derzeit passiert in Afrika Theaterszene. Du konntest Künstlerbiografien und und Zukunft? etwas sehr Spannendes: Renate Klet t: Entwicklungen verfolgen, Neues entdecken und ein rasant wachsender Punktuell trifft das zu, aber man kann Bekanntes sich verändern sehen. Vor diesem Erinnerafrikanischer das nicht verallgemeinern. Es hängt fahrungsschatz würde mich aus deiner Sicht auf Kulturaustausch.“ immer davon ab, ob jemand es schafft – die Veränderungen des zeitgenössischen Theaters was sehr, sehr mühsam ist – finanzielle in Afrika interessieren: Was bleibt, oder wie stabil Mittel für eine Produktion aufzutreiben entwickeln sich die Theaterszenen? Renate Klet t: und einen Ort, um sie zu zeigen. Vieles passiert auch Afrika hat mich immer schon fasziniert, und ich fahre ohne finanzielle Mittel und ohne Ort, aber das kann eben seit über 20 Jahren regelmäßig dorthin, aber nicht so nur kurzfristig sein. Faustin Linyekula hat mit seinen systematisch wie beispielsweise Sandro Lunin vom Studios Kabako in Kisangani (Demokratische Republik Theaterspektakel Zürich, sondern immer wieder in neue Kongo) einen relativ stabilen Ort geschaffen, der produLänder. Von daher kenne ich mich mit der Entwicklung ziert und ausbildet und mittlerweile auch europäische der Strukturen nicht so gut aus, eher mit der der KünstKoproduzenten für die Arbeiten findet. Da gibt es dann ler. Und da gibt es inzwischen viele, die auch bei uns eine gewisse Planbarkeit und Nachhaltigkeit, und das tut bekannt sind, Kentridge und Handspring sowieso, aber der Kunst gut. Germaine Acogny hat es geschafft, mit eben auch Linyekula, Cekwana, Ambara oder Niangouna. ihrer École des Sables in Toubab Dialaw (Senegal) eine Im Moment ist Afrika ja mächtig angesagt, alle reden wichtige internationale Ausbildungsstätte für zeitgeüber Afrika, und wissen ganz genau, was gut für Afrika nössischen afrikanischen Tanz einzurichten. Das sind ist und was nicht, vor allem die, die noch nie dort waren. die beiden berühmtesten Beispiele, es gibt noch weitere, Dieser Afrika-Hype ist aber meist kein wirkliaber sie alle sind die Ausnahme, nicht die Regel. Die sieht ches Interesse, sondern eben ein Hype, eine Mode, und eher so aus, dass eine junge Choreografin, ein junger das gibt sich auch wieder. Ich hoffe nur, dass davon ein Regisseur mit ein paar Freunden eine Aufführung erarbisschen was hängen bleibt, und sei es nur die Erkenntbeitet, mit ganz wenig Geld oder gar keinem, und irgendnis, dass Afrika nicht ein Land ist, sondern ein Kontinent, will sagen: Es muss viel differenzierter betrachtet werden als wir es in der Regel tun. Nicht immer alles in einen Topf schmeißen, umrühren und Deckel drauf. Der alte Spruch „Je länger man ein Ding anschaut, desto „Afrikaner sind seit fremder schaut es zurück", jeher großartig im der gilt auch hier. Es gibt Improvisieren und genau wie in Europa viele Erfinden, im Aus-der-Notunterschiedliche Kulturen eine-Tugend-Machen.“ und viele unterschiedliche Verknüpfungen. Derzeit passiert in Afrika etwas sehr Spannendes: nämlich ein rasant wachsender innerafrikanischer Kulturaustausch. Der wird, was ich ganz toll finde, zum Teil auch vom Goethe-Institut unterstützt, das sagt: Wir haben immer Afrika-EuropaKulturaustausch gemacht, jetzt unterstützen wir den panafrikanischen Austausch.
39 Kinshasa! Die berühmten Choreografen und Regisseure kennen einander vom Namen und von den Aufzeichnungen ihrer jeweiligen Arbeiten, aber oft nicht persönlich. So werden die Festivals in Europa, die sie einladen, oft zur Drehscheibe für den panafrikanischen Austausch.
Thomas Engel: Hast du beobachtet, dass Künstler, die in Europa unterwegs sind, zu Hause eher fallen gelassen werden, weil man sagt: Na ihr könnt doch Geld in Paris oder sonstwo auf den Festivals verdienen?
Renate Klet t:
Das kann ich nicht wirklich beurteilen, weil man über solche Sachen nicht spricht. Selbst wenn es so wäre - so Haben die Künstler untereinander inzwischen eine bessere Vernetgroß ist die Unterstützung sowieso nicht. Ich bewundere zung? sehr, wie sie das schaffen. Sie klauben sich das zusamRenate Klet t: men von Unternehmen, NGOs, europäischen KulturinstiJa, da hat sich einiges getan in den letzten Jahren, viele tuten, mit viel Phantasie und unverwüstlichem Optimisdieser Netzwerke bestehen jedoch eher im Internet als in mus. Zum Beispiel Germaine Acogny und ihr deutscher der Realität. Es gibt immer mehr dieses ZusammenarbeiMann Helmut Vogt, die haben sich damals ihre heute ten aus Freundschaft, aus Neugier legendäre Tanzschule buchstäblich zuaufeinander. Also Kettly Noel aus sammengebettelt: Pro Helvetia hat ver„Afrika ist Jetzt Bamako (Mali) und Nelisiwe Xaba sprochen zu prüfen, wo auf dem Gelände und Hier, weil keiner weiß, aus Soweto (Südafrika) machen man einen Brunnen bohren kann, dann was morgen ist.“ zusammen ein Stück, einfach weil haben sie das Institut Français überresie Spaß daran haben - so wie bei det, dass die die Bohrung machen und uns Mathilde Monnier und La Ribot, die GEZ, dass sie das Material dafür zur und es ist mindestens genauso gut. Bezeichnenderweise Verfügung stellen, und immer so weiter, bis die ganze haben sich die beiden Frauen nicht in Afrika persönSchule stand. Das muss man erst mal schaffen! Jahrelich kennengelernt, sondern bei einem Tanzfestival in lange Kleinarbeit, und das in einer Kulturnation wie dem Frankreich. In Afrika sind die Entfernungen groß und die Senegal! Und das, obwohl Germaine da schon eine sehr Flüge teuer. Als ich im Juni beim Festival Connexion Kin berühmte und vor allem einflussreiche Frau war. Man in Kinshasa war, wollte ich mir so gerne Faustins Studios schafft so was nur, wenn man besessen ist, erfüllt von in Kisangani ansehen. Das sind 800 km oder so, aber es einer Idee und dabei den Humor bewahrt. Das können gibt keine Straßen dorthin, also muss man fliegen. Und Afrikaner viel besser als wir. der Flug, obwohl es ein nationaler ist, wäre teurer geweThomas Engel: sen als der internationale von Berlin über Istanbul nach Gleich eine Frage zu diesen teilweise ja auch strukturbildenden und einflussreichen Schulen: Welche Rolle spielen die im Verhältnis zu den RenateKlett Universitäten? Das sind doch kreative, unabhängige aber eher kleine © Amélie Losier, 2007 Inseln, an denen Erfahrung akkumuliert und weitergegeben wird.
Thomas Engel:
Renate Klet t:
Das ist von Land zu Land verschieden. In Südafrika sind die Universitätsausbildungen sehr gut, in anderen Ländern weniger. In vielen Hauptstädten ist das einzige Theatergebäude überhaupt das der Universität. Ich habe an der École des Sables zehn Tage lang zugeschaut, wie das funktioniert: sehr gut, sehr kompetent. Es ist die größte, die berühmteste, inzwischen auch die angefeindetste Schule. Das ist wie bei P.A.R.T.S. in Brüssel – die wird ja auch „bewundert viel und viel gescholten“. Künstler müssen immer ihre Väter töten – hier sind es Mütter – um sich zu befreien. Es gibt ja auch noch andere Tanzschulen, Studios Kabako im Kongo, Dance Factory in Südafrika, La Termitière in Burkina Faso – von denen hört man, von den Universitäten weniger. Außerdem gibt es in den großen Städten immer wieder Workshop-Angebote – mitunter ziemlich dubiose – und nicht zu vergessen: Im Theater wie im Tanz ist das Prinzip Learning By Doing nach wie vor weit verbreitet. Da gibt es grandiose Autodidakten, die studieren die Tänzer im Fernsehen,
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einen Ort findet, um sie zu zeigen. Dazu laden sie alle Leute ein, die sie kennen, es läuft zwei, drei Mal, und das war’s dann. Wenn sie weitermachen und gut sind, wird ihr Name zu einem Gerücht, dem dann vielleicht mal ein Festivaldirektor nachspürt. Es ist ein harter Weg, und das gibt den Aufführungen oft eine unglaubliche Power - man spürt, wie sehr die Leute dafür gekämpft haben. So gesehen hat die Kurzfristigkeit also auch etwas Positives. Afrikaner sind seit jeher großartig im Improvisieren und Erfinden, im Aus-der-Not-eine-Tugend-Machen. Man sieht diesen Aufführungen an, wie sehr sie gewollt sind.
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machen das nach, gucken sich was ab und entwickeln daraus dann ihre eigenen Ideen. Die sind immer ganz scharf darauf, dass man ihnen DVDs mitbringt von Tänzern oder Aufführungen, von denen sie gehört haben.
Renate Klett ist Theater- und Tanzkritikerin. Sie arbeitete als Dramaturgin in Frankfurt, Tübingen, Köln, Stuttgart, Hamburg und als Programmdirektorin/Künstlerische Leiterin für das Festival Theater der Welt (Köln, Stuttgart, Hamburg, München). Ihre kuratorische und publizistische Arbeit oder einfach ihr Interesse am Theater führten sie in alle Welt.
Dr. Thomas Engel ist Geschäftsführender Direktor des deutschen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts (ITI). Er ist Sprecher des ITI European Forum und Sekretär des Action Committee for Artists Rights (ACAR) des ITI, Jurymitglied und Berater für internationale Festivals sowie Kuratoriumsmitglied des nationalen Kinderund Jugendtheaterzentrums.
Thomas Engel: Wie werden denn jetzt künstlerische Formen außerhalb des unmittelbar eigenen Kontextes wahrgenommen? Schaut man sich intensiver unter Kollegen um, vergleicht? Und wie sieht der Dialog zwischen den Generationen aus?
Renate Klet t:
Die Neugier ist riesig, sie dient aber nicht der Imitation, sondern der Inspiration. Und jetzt durch das Internet kann sie auch besser gestillt werden. Das Problem ist nur, dass die Schnipsel auf YouTube oft einen verzerrten Eindruck von den Arbeiten vermitteln. Die Afrikaner waren früher sehr stark auf die westlichen Künstler und ihre Formen fixiert, das hat sich aber total geändert. Da hat sich ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, parallel zum wachsenden Erfolg afrikanischer Künstler in aller Welt. Wäre mal interessant zu untersuchen, ob das Selbstbewusstsein den Erfolg gebracht hat oder umgekehrt. Heute interessieren sie sich in erster Linie für ihre afrikanischen Kollegen, und was die Westler machen, ist nicht mehr von vornherein sakrosankt. Das ist eine sehr gesunde Emanzipation. Etienne Minoungou, Leiter des Festivals Recréatrales in Ouagadougou (Burkina Faso), der viel in Europa herumreist, mokiert sich gerne über den Konzepttanz: „Der Tanz, bei dem es verboten ist, zu tanzen“, nennt er ihn und hält uns vermutlich für bescheuert, dass wir uns so was ausdenken (womit er ja nicht ganz unrecht hat).
Thomas Engel: Das Material wird ja immer mehr dokumentiert und es gibt ja auch Archive, aber die wirklich funktionierenden sind alle in Frankreich oder sonstwo in der sogenannten 1. Welt, so dass die afrikanischen Künstler zum Teil gar keinen Zugriff auf die Werke ihrer eigenen Kollegen oder berühmte Aufführungen haben. Da entsteht jetzt ein berechtigter Bedarf, sich auch vor Ort solche Strukturen zu schaffen, dass man sagt, wir wollen von unserer eigenen Szene und unseren eigenen Erfahrungen auch unmittelbar profitieren und nicht immer erst über einen Umweg. Kannst du das bestätigen?
Renate Klet t: Beim Festival Connexion Kin in Kinshasa hatte jeder eine Kollektion schwarz gebrannter DVDs dabei, die sie untereinander austauschten. So zeigen sie sich gegenseitig ihre Arbeiten. Das machen sie auch bei europäischen Festivals, das ist die afrikanische Form des Archivs, und die funktioniert sehr gut. Das ist die Kultur des Marktplatzes, die läuft über persönliche Kontakte, nicht über Kataloge. So entstehen auch die Netzwerke und die Zusammenarbeit: Du lernst jemanden kennen, der dich interessiert, und der kennt wieder jemanden, und wenn die Umstände es zulassen, arbeitet ihr dann zusammen.
Thomas Engel: Bemerkst du bei den erfolgreicheren Theatermachern einen wachsenden Hang zur Sofortverwertung des Erfolgs? So ein marktkonformes „Jetzt und Hier"?
Renate Klet t:
Afrika IST Jetzt und Hier! Afrika ist Jetzt und Hier, weil keiner weiß, was morgen ist. Auch die relativ stabilen Zivilgesellschaften können blitzschnell ins Wanken geraten, siehe Côte d’Ivoire. Das muss man einfach kapieren: it's now and here, maintenant et ici! Natürlich kannst du auch jemanden für ein langfristiges Projekt motivieren, einfach weil er oder sie dadurch für eine längere Zeit Arbeit hat – und wer will das nicht! Aber es funktioniert meist nicht, weil alles immer in Bewegung ist – das ist wieder das Marktplatz-Prinzip. Man darf auch nicht die Traumata von den ewigen Bürgerkriegen vergessen. Scheinbar gefestigte Situationen, die über Nacht zusammenbrechen, so etwas prägt ganze Generationen. Die NGOs und Hilfswerke irritiert immer, dass die Afrikaner scheinbar so habgierig sind und alles immer sofort haben wollen. Aber man muss das verstehen: Die Zukunft ist immer im Nebel, die Existenzangst sitzt tief in den Knochen. Was man hat, das hat man.
41 Ist das deutsche Theater halb tot? Der Deutsche Bühnenverein will das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater steht für etwas ganz anderes: Es lebt. Und Repertoiretheater als nationales immaterielles Kulturerbe erfindet sich täglich selbst und neu. Es zelebriert den Wandel (IKE) verzeichnen lassen. Die in der allzu knappen Ausspra– den Wandel seiner Form, seiner Ästhetik, seiner Inhalte. Es che auf der Jahreshauptversammlung 2013 des Deutschen konfrontiert die Gesellschaft wie sich selbst mit GegenentBühnenvereins in Kiel geäußerten Gründe – die Aufnahme ins würfen, die Konvention und Übereinkommen – nicht zuletzt Verzeichnis sei durch die Einmaligkeit unserer Theaterlanddie zwischen Theater und Zuschauer – sprengen. Unsere Kunst schaft motiviert, diese Einmaligkeit sei ist das, was im Entstehen begriffen, was international bestaunt, nur wir deutschen nie fertig ist, was keiner, und auch kein „Nach der AufmerksamkeitsTheaterleute würden dies nicht erkennen UNESCO-Übereinkommen, heute schon ökonomie der UNESCO oder würdigen und nutzen – klingen zukennt. wird unter Schutz gestellt, nächst verführerisch. Doch was bedeutet Die Begrifflichkeit des immawas wichtig, aber bereits dieser Schritt genau? teriellen Kulturerbes mag zutreffend halbtot ist.“ Das UNESCO-Übereinkommen zum sein für bestimmte traditionelle Formen Erhalt des immateriellen Kulturerbes von 2003 des Theaters, der Oper oder des Tanzes: ist – wie alle anderen KulturerbekonIch denke an historisch überlieferte Forventionen der UNESCO auch – eine Schutzkonvention. Untermen und Techniken wie das No- -Theater, den Pansori-Gesang schutzstellung impliziert im Umkehrschluss eine Bedrohung. des koreanischen Musiktheaters, den Belcanto der westeuroUnd aus Sicht der UNESCO geht diese von den politischen und päischen Oper, den Schamanismus im koreanischen Theater, ökonomischen Kräften der Globalisierung aus – den Marktmedas balladeske Tanz- und Erzähltheater Jatra in Bangladesch. chanismen, der weltweiten Industrialisierung, der postindusEs gibt derer Beispiele viele. Nur: Zu diesen gehört sicher nicht triellen Digitalisierung, der Nivellierung durch Kontakt und das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater. Das EnsembAustausch im Spiel von geopolitisch-kultureller Dominanz le- und Repertoiretheater ist keine Kunstform, sondern eine und Anpassung. Nach der Aufmerksamkeitsökonomie der künstlerische Produktionsweise. Das Spezifische des deutUNESCO wird unter Schutz gestellt, was wichtig, aber bereits schen Ensemble- und Repertoiretheaters liegt im Materiellen, halbtot ist. nämlich in den materiellen Voraussetzungen für die Produk Wenn nun auf der Pressekonferenz des Deutschen tion von Theater, in seiner Kleinteiligkeit und ungeheuren Bühnenvereins in Kiel demgegenüber behauptet wurde, es Vielfalt, die seine Produktionsweise wiederum bedingen: Es ist gehe mit der Aufnahme in das nationale Verzeichnis des das historische, materielle Sediment der kulturellen Kleinimmateriellen Kulturerbes „nicht vordergründig um eine staaterei und der anhaltenden bürgerlichen Anstrengungen Inschutznahme von Strukturen“, so zeugt das von einem zur Selbstbespiegelung und Selbstvergewisserung. gewissen interpretatorischen Übermut. Es geht dem Überein Das eigentlich Schützenswerte am deutschen Ensemkommen zum Erhalt des immateriellen Kulturerbes nämlich ble- und Repertoiretheater ist also seine materielle Basis. Wer explizit und zuallererst um Inschutznahme. Die UNESCO den Fokus nun vom Materiellen zum Immateriellen verschiebt, formuliert es glasklar: „Die Ziele dieses Übereinkommens sind a) der spielt denen in die Hände, die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes; b) die Gewährleistung der die die materielle Basis für „Das deutsche EnsembleAchtung vor dem immateriellen Kulturerbe der jeweiligen Gemeinschaf- nicht mehr förderungswürund Repertoiretheater ten, Gruppen und Einzelpersonen...“ (Artikel 1, Satz 1). Und in Artikel dig halten. Etwa: „Kulturinsteht für etwas ganz 2, Satz 3 heißt es: „Unter ‚Erhaltung‘ sind Maßnahmen zur Sicherstelfarkt: Von allem zu viel und anderes: Es lebt.“ lung des Fortbestands des immateriellen Kulturerbes zu verstehen, überall das Gleiche.“ Aus einschließlich der Ermittlung, der Dokumentation, der Forschung, der dieser Sicht ist das deutsche Sicherung, des Schutzes, der Förderung, der Aufwertung, der Weiterga- Ensemble- und Repertoirebe, insbesondere durch schulische und außerschulische Bildung, sowie theater besser, je immaterieller es ist. Denn immaterieller ist der Neubelebung der verschiedenen Aspekte dieses Erbes.“ auch billiger. Das Wertvolle und Teure am deutschen Ensem Das Übereinkommen zum Erhalt des immateriellen Kulturble- und Repertoiretheater ist dessen materielle Basis, zu der erbes ist insofern – und wie alle Kulturerbe-Konventionen auch die beispielhafte Stärke seiner künstlerischen Ensembles der UNESCO – explizit als Instrument der Musealisierung gehört. positioniert und speist sich dabei aus der Begrifflichkeit der Eine zusätzliche Schwierigkeit des AufnahmeMuseumswelt: Ermittlung, Dokumentation, Erforschung, Weiverfahrens, das der Deutsche Bühnenverein im Begriff ist tergabe. Es geht ihm folglich um historische Zustände eines anzustoßen, läge in dem nun zwingend beginnenden Spiel von Artefakts oder einer kulturellen Praxis, die es zu sichern oder Inklusion und Exklusion: Welche Theaterformen und Produkeben neu zu beleben gilt. Aber das deutsche Ensemble- und tionsweisen würden in einem Antrag auf Aufnahme ins nati-
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Das deutsche Theater soll UNESCO-Kulturerbe werden, wenn es nach dem Deutschen Bühnenverein geht. Was aber sind die Implikationen und Folgen? Eine Warnung von Martin Roeder.
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42 onale Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes tatsächlich berücksichtigt? Die Privattheater? Die Musicalproduzenten? Die Orchester als Sparten der Theater? Die Tanzcompagnien? Die freien Gruppen? En suite oder Stagione spielende Häuser? Was bleibt vom Spezifischen des deutschen Ensemble- und Repertoiretheaters, wenn hier die Abgrenzungen aufgrund verbandspolitischer Befindlichkeiten aufgeweicht werden? Auch wäre zu Ende zu denken, wer das immense Bürokratieaufkommen bewältigen könnte, das sich im Monitoring und der Berichtspflicht gegenüber der UNESCO alle fünf Jahre wieder anbahnt. Und nicht zuletzt wäre ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit für die versteckten Ironien dieser geplanten Unterschutzstellung angebracht: Stellt nicht eine so rege, flexible, ständig tradierte Formen durchbrechende Kunst an sich eine Gefährdung ihres vermeintlichen Kulturerbestatus‘ dar – durch die Tendenz zur permanenten, klugen und tiefgreifenden Infragestellung ihrer Formen und Grundlagen? Anders gefragt: Müssen wir zukünftig vielleicht gegenüber den Kulturerbe-Komitees begründen, warum wir Theater spielen, wie wir es eben spielen? Das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater ist ein bedeutender Aspekt unserer Zivilgesellschaft, eine selbstbewusst-unökonomische und in dieser Welt einzigartige Praxis täglicher lebendiger kultureller Infragestellung und Selbstverortung zugleich. Das deutsche Ensemble- und Repertoiretheater ist ein Schatz, der nicht gehoben werden kann, sondern täglich neu erfunden und produziert werden muss. Das immaterielle Kulturerbe sollten wir den Interessengruppen und kulturellen Riten und Ausdrucksformen überlassen, für die es tatsächlich gedacht ist.
is german theatre half dead? The Deutscher Bühnenverein would like the German theatre to become UNESCO cultural heritage. But what are the implications and consequences of such a development? A word of warning.
The Deutscher Bühnenverein wants to have the German ensemble and repertory theatre registered as National Intangible Cultural Heritage (ICH). The reason expressed in the all too brief discussion at the 2013 annual meeting of the Deutscher Bühnenverein in Kiel – that inclusion of the directory is motivated by the uniqueness of our theatrical landscape – may sound tempting. But what exactly does this move entail? The 2003 UNESCO Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage, like all other UNESCO cultural heritage conventions, is a protective convention. Protected status implies the existence of a threat. And from the perspective of the UNESCO, this threat emanates from the political and economic forces of globalization. According to the UNESCO attention economy protection is granted to that which is important but already half dead. The claim that the inclusion of the German theatre in the national list of intangible cultural heritage is “not primarily about protection of structures” is evidence of interpretive presumption, because the Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage is explicitly and primarily concerned with protection. UNESCO is crystal clear on this point: Dr. Martin Roeder war von 1992 bis 2002 Direktor des Zentrums “The purposes of this Convention are a) to safeguard the intangible Bundesrepublik Deutschland des Internationalen Theaterincultural heritage; b) to ensure respect for the intangible cultural heristituts (ITI), von 2003 bis 2008 Intendant des Theaters Heiltage of the communities, groups and individuals concerned ...“ (Article bronn, von 2009 bis 2012 Leiter der Kulturabteilung beim 1(1)). Article 2(3) states: “’Safeguarding’ means measures aimed at Senator für Kultur der Freien Hansestadt Bremen. Dort war ensuring the viability of the intangible cultural heritage, including er als Mitglied des Kulturausschusses der KMK auch an der the identification, documentation, research, preservation, protection, Vorbereitung des Beitritts der Bundesrepublik Deutschland promotion, enhancement, transmission, particularly through formal zum UNESCO-Übereinkommen zum Erhalt des immateriellen Kulturerand non-formal education, as well as the revitalization of the various bes und an der Entwicklung des mehrstufigen Nominierungsaspects of such heritage.” verfahrens für das nationale Verzeichnis des immateriellen Thus, the Convention for the Safeguarding of Intangible Kulturerbes beteiligt. Cultural Heritage is concerned with historical states of an artefact or a cultural practice that are to be safeguarded or Der gesamte Text des Übereinkommens ist nachzulesen unter revitalized. However, the German ensemble and repertory thewww.unesco.de/ike-konvention.html atre stands for something else entirely: it lives and celebrates change – the changing of its form, aesthetics, and content. It confronts society and itself with alternatives that break open conventions and agreements. Art is that which is emerging, that which is never “Art is that which is finished, which no one and nothing, not emerging, that which is even a UNESCO Convention, can know never finished, which today. no one and nothing, not That which is really worth even a UNESCO Convention, protecting about the German ensemble can know today. “ and repertory theatre is its material basis. Those who shift the focus from the material to the immaterial play into the hands of those who no longer consider the material basis
eligible. For example: “Cultural Infarction: Too Much of Everything and Everywhere the Same.” From this perspective, the more intangible the German ensemble and repertory theatre is, the better – for intangible is also cheaper. The valuable and expensive aspect of the German ensemble and repertory theatre is its material basis, which also includes the strength of its artistic ensembles. An additional difficulty linked with the admission process would lie in the obligatory game of inclusion and exclusion that would ensue: What forms of theatre and production methods would “Will we have to actually be considered in an applicaexplain to the Cultural tion for inclusion in the national list of Heritage Committee in Intangible Cultural Heritage? The private the future why we act theatres? The musical producers? The the way we do?“ orchestras as branches of the theatre? The dance companies? The free groups? What remains of the specifics of the German ensemble and repertory theatre when the boundaries are blurred in this context? Last but not least, we should also be aware of the hidden ironies of this planned protection: Does such a lively, flexible art, which continuously breaches traditional forms, not itself pose a threat to its supposed cultural heritage status – due to the tendency for constant, clever and profound questioning of its own forms? In other words: Will we have to justify to the Cultural Heritage Committee in the future why we act the way we do? The German ensemble and repertory theatre is an important aspect of our civil society; a self-consciously uneconomic practice involving a vibrant challenging of culture and self-orientation on a daily basis that is unique in this world. The German ensemble and repertory theatre is a treasure that cannot be unearthed but must rather be reinvented and produced anew every day. We should leave the intangible cultural heritage to the stakeholders and cultural rites and forms of expressions for which it is actually intended.
Dr. Martin Roeder was the director of the German centre of the International Theatre Institute (ITI) from 1992 to 2002. From 2003 to 2008 he worked as director of Heilbronn Theatre and from 2009 to 2012 he was the head of the cultural department of the Senator for Culture of the Free Hanseatic City of Bremen. During his time in Bremen, as a member of the Culture Committee, he was involved in the preparations by the German Standing Conference of Ministers of Education and Cultural Affairs (Kultusministerkonferenz) for the inclusion of the Federal Republic of Germany in the UNESCO Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage and the development of the multi-stage nomination process for the national list of intangible cultural heritage. The entire text of the Convention can be found at www.unesco.de/ike-konvention.html
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Der Künstler und die Geschichte neue Strategien der Historisierung zeitgenössischer Kunst in Slowenien
45 Es gibt jedoch auch alternative Ansätze – für Produktion, Theorie, Geschichte und Kritik, die die Tendenz ablehnen, die Diskussion Die Positionierung zeitgenössischer Kunstüber zeitgenössische Kunst auf ein schmales produktion – sowohl in ihrer Interpretation technizistisches und/oder ästhetisches Reich wie in ihrer Kontextualisierung – setzt einen der Ideen zu beschränken. Hier geht es um ein empirischen und historiVerständnis von Kunst schen Unterbau voraus. in ihrem Verhältnis „Die Forderung, gewisse Als Ausgangspunkt für zur konkreten gesellGrenzen zu überschreiten, die Forschung bedarf es schaftlichen Realität. aus dem Mainstream der einer phänomenologisch Im Folgenden Kunst des Modernismus konzipierten Rezeptimöchte ich einige heraus.“ on der künstlerischen neue Strategien der Werke/Projekte, die vom Kunsthistorisierung Maska in Ljubljana publiziert, Einblick in das Archivaufzeigen, die vor produziert Performances, material und Gelegenheitseinträgen flankiert allem durch die Künstler selbst geprägt organisiert Symposien und initiiert wird. Indem man aus den gesammelten Inforwerden. Dabei werde ich mich vordergründig mationen auswählt, trägt man zur Schaffung auf die Alternativen der Historisierung durch Recherchen in den Darstellenden Künsten. Direktor ist Janez Janša. von Werkzeugen für die theoretische Reflexislowenische Künstler konzentrieren. Als eine Die Publikation ..maska wird europaon sowie zur Konstruktion einer spezifischen Besonderheit des ehemaligen sozialistischen weit als Magazin künstlerischGeschichtsschreibung zeitgenössischer Kontextes behandle ich gleichzeitig noch die wissenschaftlicher Reflektionen Kunst bei. Das sollte jedem bewusst sein. Situation des Museums moderner Kunst in anerkannt. Im nebenstehenden Der theoretische Diskurs, der die Ljubljana und seine Rolle bei der KonstruktiArtikel stehen künstlerische und Interpretation und Historisierung zeitgenöson von Geschichte. sischer Kunst anstrebt, ist hier nicht auf die Wenn wir einen schematischen Blick institutionelle Entwicklungen beispielhaft für die Historisierung Auswahl einer Technik beschränkt. Sondern auf die Kristallisationspunkte werfen, die die der zeitgenössischen darstellener behandelt sie in erster Linie als eine Praxis Denkart über die Historisierung zeitgenössiden Künste. der Kennzeichnung – an den bedeutungsscher slowenischen Kunst und ihre Re-Artitragenden und -produzierenden Charakter kulierung bestimmen, erkennen wir folgende www.maska.si von Kunst angelehnt. „Klassische“ kunsthisLinie: Die Umbrüche, die dem Aufkommen torische und ästhetische Kategorien tragen neuer Konzeptualisierungen der Kunst folgden komplexen Strömungen meist nicht ten – die Phänomene der Selbstorganisation, Rechnung; wenn es um die BedeutungsartiSelbsthistorisierung, Selbstinstitutionalikulation geht – wie beispielsweise vermittelt sierung und das Mapping zeitgenössischer durch Institutionen, Texte, Distribution und Kunstpraxen. Konsum zeitgenössischer Kunst. Das spricht Igor Zabel schreibt im Zusammendeutlich für Interdisziplinarität. Dabei sind hang mit den Prozessen, die in den 1990er jene Ansätze besonders relevant, die das ProJahren zur modernen Kunst in Slowenien duzieren institutioneller Diskurse über Kunst geführt haben, dass die sogenannte „zweite in den Blickpunkt nehmen. Einer Ausbildung, Entwicklungslinie, die mit den historischen die die Studierenden mit einer Spannbreite Avantgarden beginnt und sich mit den kritischer Denkwerkzeuge ausstattet, kommt Neoavantgarden der 60er und 70er und mit hier wichtige Bedeutung zu. Der Großteil der Retroavantgarde-Bewegung der Neuen akademischer Diskurse gehört bislang der Slowenischen Kunst fortsetzt, immer mehr vorherrschenden pragmatischen Linie an – aktualisiert wurde. Diese Linie wurde damals in Abgrenzung zur heuristischen. Die Pragmehr oder weniger unterschätzt oder sogar matik bietet die berufliche Befähigung für bewusst ignoriert; in den 90er Jahren hat jenen Zweig der Kulturindustrie, deren Prosie sich jedoch – gerade durch ihre Affirmadukte Ausstellungen und Publikationen sind. tion zeitgenössischer Der Inhalt solcher Diskurse ist – in seinem Tendenzen in der Kunst „Strategisches Handeln Umgang mit dem Kanon – der Art, dass er – als eines der Schlüsselglaubt nicht an die eine unkritische Initiation in vorherrschende segmente der nationalen Ordnung der homogenen, Überzeugungen und Werte der KunstinstiTradition durchgesetzt“.1 linearen Zeit ohne In dieser Tradition eintution befördert. Bei diesem Diskurs geht Umbrüche.“ geschlossen ist die Fores in erster Linie um Ruf und Status – das derung, gewisse Grenzen (künstlerische) Objekt wird den Anforderungen der Kommerzialisierung angepasst. Auch zu überschreiten, aus dem Mainstream der Kunst des Modernismus die dazugehörige kritische Tätigkeit und heraus. Sie läutet das unwiderrufliche Ende die Historisierung gleichen sich Markt und der Vorherrschaft einer Historisierung nach Kapital an.
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Historisierung und der slowenische Kontex t
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46 dem linearen Fortschrittsmodell ein und schränkt die Deskrip- des internationalen Kontextes der slowenischen Kunst, der tion zugunsten des problemzentrierten Ansatzes ein. vorwiegend mit dem europäischen Osten verbunden ist. Dies Die Kunst der 90er Jahre wird immer weniger als geschah mit der Ausstellung Body and the East und wurde mit Produktion autonomer oder gar bloß ästhetischer Werke beder Gründung und der ersten Ausstellung der 2000+Art-east handelt. Indem sie bewusst innerhalb der unterschiedlichen Collection im Jahr 2000 5 fortgesetzt. Dieser Ausstellung internationaler Sammlungen, die den Ruf nach der Gründung eines gesellschaftlichen und historischen Kontexte operiert, stellt Museums der zeitgenössischen Kunst sie eine reflexive oder sogar unmittelbar laut machte, folgte die Ausstellungsseschöpferische Beziehung zu ihnen her. „Zeitgenössische Kunst rie Arteast Exhibitions 6 mit der AusstelDer Indikator dafür sind die aktiven Einist häufig forschend lung Prekinjene zgodovine/Unterbrochene griffe in den Bereich der Interpretation und experimentell, das Geschichten aus dem Jahr 2006.7 Letztere (und der daraus folgenden Historisierung) sollte auch für ihre ist wegen ihres Beitrags zur Diskussion durch die Künstler selbst. CharakterisRezeption gelten.“ über Alternativen der Historisierung tische und nützliche Strategien des Schaf(der konzeptuellen, modernen) Kunst fens und Produzierens, die in der Kunst auf dem Gebiet des ehemaligen sozider 90er auftreten, laufen häufig nur auf alistischen Blocks von besonderem Interesse. Denn sie zeigt wenig mehr als eine Beteuerung oder neue KontextualisieKünstler, die sich um eine Modernisierung des Kunstsystems rung der (avantgardistischen) künstlerischen Strategien der und seiner Geschichtsschreibung bemühen, indem sie sich die Vergangenheit hinaus, die eine andere Bedeutungsproduktion Rollen von Archivaren, Kustoden, Historikern und Ethnologen ermöglichen. Dieses strategische Handeln der Künstler kann durch aneignen. Der Grund hierfür liegt meist im Nichtvorhandensein einer angemessen historisierenden und kontextualisieBourdieus Habitusbegriff2 weiter erläutert werden. So ist es möglich, überzeugend aufzuzeigen, inwieweit der Künstler renden Debatte von Seiten der bestehenden (post-)sozialistian „den unterschiedlichsten nicht-künstlerischen Faktoren schen Institutionen. und Tätigkeiten in der Kunst, wie z.B. Markt, Kulturpolitik, Die Ausstellung warf die Frage auf, was das Fehlen Geschichte, Ideologie usw., beteiligt ist. Also an jenen Punkten, einer systematisierten Historisierung außerhalb der westlidie in der slowenischen idealistischen Auseinandersetzung chen Welt oder an deren Rand bedeutet. Gleichzeitig befragt mit der Bildenden Kunst keine Beachtung finden“.3 Strategisie auch die Form möglicher Methoden, die eine solche Historisches Handeln glaubt nicht an die Ordnung der homogenen, sierung beschleunigen könnten. Werden künstlerische Werke/ linearen Zeit ohne Umbrüche, wie sie häufig von der kunsthisProjekte zum Werkzeug oder zur Plattform für eine neue Form torischen Fachwelt gesehen wird. In diesem Sinne bricht das der Kunsthistorisierung, erhalten sie damit – nachdem sie ihre strategische Handeln mit der Tradition der Kunstwelt, welche im primäre Rolle bereits durch den Eintritt ins Museum verloModernismus in ihrem Zenit stand und wird „posthistorisch“. ren haben – eine neue Funktion: Sie wird kulturell, wird zum (informellen bzw. weniger formellen) Werkzeug ihrer (Selbst-) Historisierung und (Selbst-)Kontextualisierung. Affirmative Kunstereignisse der osteuropäischen Kunstpraxis wurden meist von den historischen Entwicklungen der Institutionalisierung des westlichen Modernismus übergangen; sie kommentieren und re-artikulieren nun ihren Verlauf mit anderen Strategien der Sichtbarmachung.
Unterbrochene Geschichten zwischen Museum und der (meta-)künstlerischen Strategie Die moderne Galerie und die Neudefinition der Geschichte
Die (meta-)künstlerische Str ategie der Historisierung osteuropäischer Kunst
Das Museum für Moderne Kunst Ljubljana verwahrt als zentrales nationales Archiv für Kunstschätze die (materialisierte) kulturelle Erinnerung an „Ereignisse der Umwertung der Werte“4, was im Postsozialismus auch das Neu-Befragen von Historisierungsdynamiken der gesamten „Das Konzept des europäischen/westlichen Labors ist eine Kunsttradition mit sich offene Plattform für bringt. Die Moderne Galerie Kuratoren, Autoren Ljubljana (moderna galerija) und Theoretiker.“ – eine kleine Galerie für zeitgenössische Künstler, die unter der Schirmherrschaft des Museums für Moderne Kunst steht – begann 1998 eine systematische Auseinandersetzung um die Neudefinition der Geschichte: mit Fragen der Avantgarde-Traditionen und
Eine besondere Stellung unter den historiografischen Strategien erhält das Projekt der Künstlergruppe Irwin East Art Map (EAM)8, deren erste Phase in die Jahre 1999 – 2002 und die zweite in die Jahre 2002 – 2005 zurückreicht und noch immer fortgesetzt wird (www.eastartmap.org). Das Projekt unternimmt eine Bestandsaufnahme, indem es sich vom künstlerischen Diskurs zur theoretischen Metasprachlichkeit hin bewegt. Das heißt, es nimmt versuchsweise den Blick von außen ein, die Perspektive des Kunsthistorikers/Archivars/Kurators. In Kooperation mit lokalen Künstlern, Kustoden und Theoretikern der ehemaligen sozialistischen osteuropäischen Staaten skizziert Irwin eine gemeinsame Landkarte vernachlässigter Kunstproduktion von 1945 bis heute – als Antwort auf die hegemoniale Historisierung des Westens. Irwins ambitioniertes Projekt begründet eine interdisziplinäre, internationale Zusammenarbeit der kritischen Rekonstruktion osteuropäischer Kunstgeschich-
te. Das Projekt erwächst aus der Überzeugung, dass es unter postsozialistischen Bedingungen möglich und notwendig ist, in die mangelhafte Kontextualisierung und Historisierung der Kunstpraxis einzugreifen, die in (marktorientiert betrachtet) weit entwickelten Systemen als selbstverständliche Aufgabe entsprechender Institutionen gilt. Irwins Projekt EAM steht für das Heraustreten aus den etablierten Rahmen künstlerischen Schaffens. Hin zur Problematisierung (inter-) kultureller Politik und der Produktionsvoraussetzungen von Kunst wie (fehlende) Finanzierung, Mangel an Infrastruktur, unzureichende Historisierung, angemessene Ausbildung usw.
Neuere Strategien der Kunsthistorisierung im nichtinstitutionellen Umfeld – Beispiele Die Verbindung von Kunstproduktion und theoretischer Praxis außerhalb der Universitäten kann bedeuten, kritische Impulse aus den Geistes- und Sozialwissenschaften aufzunehmen. Hierzu muss man sich künstlerischen Werken mit einer Perspektive nähern, die neue Wege der Bedeutungskonstruktion zu beschreiten vermag. So werden neue Gesichtspunkte in Bezug auf Wissen, Wahrnehmung, Geschichte, Gesellschaft und die Welt allgemein generiert. Um verschiedene theoretische Ansätze zu formulieren, müssen künstlerische Aspekte jeweils den spezifischen historischen Umständen von Kunstproduktion gegenüber gestellt werden. Zeitgenössische Kunst ist häufig forschend und experimentell, das sollte auch für ihre Rezeption gelten. Einige wirksame Ansätze finden wir im „nicht-institutionalisierten“ Umfeld.
Historisierungsl abor atorien für die moderne Kunst Der Begriff des Laboratoriums ist in experimentellen Kunstpraktiken eine gängige Metapher. Die Idee eines Theaterlabors als eines geistigen und künstlerischen Raums, in dem sich das Experimentelle und Theoretische als Theaterkunst ausdrücken (Schauspiel, Tanz, Regie, Szenografie), ist charakteristisch für den Modernismus und die Avantgarden (Erforschung der Psychologie in den Stücken von Stanislawski, BiomechanikExperimente von Meyerhold, Schlemmers Triadisches Ballett am Bauhaus, Labans Bewegungsstudien u.a.). Charakteristisch für sie sind: 1. das utopische Theaterprojekt als Gesamtkunstwerk und 2. die poetische Funktion des Labors als theoretische und praktische Vorbereitung auf den öffentlichen Auftritt oder als eine Form der pädagogischen Arbeit. Im postavantgardistischen Sinn wurde der Begriff des Theaterlabors vom polnischen Künstler Jerzy Grotowski ab Ende der 50er bis Anfang der 70er Jahre eingeführt. Charakteristisch sind das Hinterfragen der Tradition der Avantgarde und die Einführung des armen Theaters um die Institution als Produktionsstätte eines Spektakels abzuschaffen; die Arbeit mit dem Schauspieler war von vorrangiger Bedeutung. Der Übergang vom postavantgardistischen Labor zum postmodernen Theater wurde dann vor allem von Peter Brook und Eugenio Barba umgesetzt. Die globale Entwicklung der Labortätigkeit führte zur Konzipierung der schauspielerischen/szenischen Praxis als „Metaarbeit mit der Natur des Theaters“ (Metatheater) und es erfasst die formelle Forschung sowie die theoretische und politische Formulierung der Art des Theaterexperiments.
L abor der Kur atoren-Pr a xen Im Rahmen von World of Art, der im Jahr 1997 gegründeten Schule für moderne Kunst am SCCA-Ljubljana (Centre for Contemporary Arts)9 wurde im Jahr 2006/2007 das Laboratorij
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48 SU gegründet. Dieses verfolgte das Ziel, eine Diskussionsplattform über die Kuratoren-Praktiken im Bereich der modernen Kunst anzuregen.10 Das Labor ist experimentell konzipiert und entfernt sich von den institutionalisierten Tätigkeitsformen, um dadurch die Erforschung möglicher Kooperationen in der Kunstwelt anzuregen. So ist das Konzept des Labors eine offene Plattform für Kuratoren, Autoren und Theoretiker, die sich unter anderem mit der Analyse, Kontextualisierung und Bewertung der Kuratorenpraxis in Geschichte und Gegenwart befassen. Die World of Art hat als einzige slowenische Bildungseinrichtung im Bereich der zeitgenössischen Bildenden Künste eine neue Generation slowenischer Kuratoren und Autoren mitgeprägt. Die Schule entstand aus dem Bedürfnis nach solchen Ausbildungsmöglichkeiten und regt neue Diskurse, Methoden der Aufzeichnung und Historisierung künstlerischen Schaffens an.
Schlusswort Der künstlerische Diskurs ist eine spezifische Form der Bedeutungsproduktion. Man kann den Weg der Interpretation wählen, auf dem – in einer „typologisierenden“ Analyse der Beziehung zwischen künstlerischer Produktion und theoretischem Kontext – ein allgemeiner Koordinaten-Rahmen geplant wird, der als zusätzliches System der Bedeutungsstiftung nicht nur eine historische Einordnung des behandelten Gegenstandes zulässt, sondern dabei auch die Entwicklungsmöglichkeiten der Kunst aufweist. Durch Reduzierung und Verallgemeinerung, die für eine typologische Rekonstruktion vergangener Phänomene notwendig sind, kann man bei der Etablierung der zeitgenössischen slowenischen Kunst mehrere vorangehende Phasen/Modelle feststellen. Dabei haben jene Bewegungen eine besondere Bedeutung, die eine Konzeptualisierung der Kunst mit sich bringen. Die Idee der Kunst verbreitete sich über das Objekt und die visuelle Erfahrung hinaus in den Bereich der Kunstforschung. Mit der Entwicklung der Informa„Das slowenische tionstechnologien hat sich Kunstsystem benötigt die Art der Interaktion sowohl eine zwischen Künstler, künstInstitutionalisierung der lerischem Werk/Projekt und Kennzeichnungsprozesse Öffentlichkeit wesentlich zeitgenössischer Kunst verändert. Dadurch, dass wie auch das aktive sich die Betonung von der Funktionieren ideologisch-politischen zur paralleler, weniger wirtschaftlichen Ausrichformeller Laborformen.“ tung der Gesellschaft verschoben hat, bemüht sich auch die zeitgenössische slowenische Kunst immer mehr, ein Teil des kommerziellen westlichen Kunstmarktes und jener Globalisierungsprozesse zu werden, die vom Kapital diktiert werden. Dazu sind neue Betätigungsmodelle notwendig, die mit ihrer strategischen Marktausrichtung den historischen Entstehungskontext verwischen und sich einer beschleunigten, unmittelbaren Historisierung unterziehen können. Daher wird zeitgenössische Kunstforschung in ihrer Suche nach neuen Wegen angetrieben vom Widerstand gegen die Instrumentalisierung der Kunst
durch Technologie und Wissenschaft – die die Handlanger der politisch-wirtschaftlichen Macht sind. Die behandelten Tendenzen problematisieren die bis dato starren Annahmen über Geschichte/Historisierung der Kunst, die in einem gesonderten Zeichensystem eingeschrieben sind; es geht zunehmend um einen Kennzeichnungsprozess, in dem immer mehr heterogene Kennzeichnungscodes aufeinandertreffen – persönliche und politische, wirtschaftliche, alltägliche und historische. Das slowenische Kunstsystem benötigt sowohl eine Institutionalisierung der Kennzeichnungsprozesse zeitgenössischer Kunst wie auch das aktive Funktionieren paralleler, weniger formeller Laborformen – wobei letztere nicht mehr die einzige (fragmentarische) Form der Rezeption von bestimmten Kunstphänomenen bedeutet, sondern in den institutionalisierten Diskursen mitwirken und den Ablauf der Historisierung der modernen Kunst mitgestalten kann. Sowohl im slowenischen wie auch im internationalen Kontext.
Mojca Puncer
ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni-
versität Maribor, Slowenien. Sie arbeitet als Dozentin, unabhängige Theoretikerin, Kritikerin und Kuratorin im Bereich der zeitgenössischen Kunst, als Kulturpädagogin und Publizistin; sie lebt und arbeitet in Ljubljana, Slowenien. Dieser Artikel wurde zuerst in der slowenischen Zeitschrift ..maska 117118 im Herbst 2008 in slowenischer und englischer Sprache veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung. www.maska.si.
Fotos © Moderna Galerija, Ljubljana fuSSnoten I. Zabel, Sodobna umetnost, in: Teritoriji, identitete, mreže: slovenska
1
umetnost 1995–2005, Moderna galerija, Ljubljana 2005, S. 9.
2
Cf. Bourdieu behandelte habitus als den “praktischen Sinn” in einer
unabhängigen, längeren Studie: P. Bourdieu, Prakticˇni cˇut (Praktischer Sinn) I., II., Studia Humanitatis, Ljubljana 2002.
Žerovc, op. cit., S. 9.
3
B. Groys, Teorija sodobne umetnosti (Zeitgenössische Kunsttheorie),
4
Študentska založba, Ljubljana 2002, S. 29.
5
2000+Arteast Collection: Die Kunst Osteuropas im Dialog mit dem Westen:
Von den 1960ern bis in die Gegenwart: Ausstellung von Werken für eine aufkommende Sammlung: Museum für Moderne Kunst, Neues Museum, 24 June – 24 September 2000) Moderna galerija, Ljubljana 2000.
6
Die Serie schließt folgende Shows mit ein: Form-Specific (2003), 7 Sins:
Ljubljana- Moscow, Prekinjene zgodovine (Interrupted Histories) (2006), Arteast Collection 2000+23 (2006).
7
Prekinjene zgodovine/Interrupted Histories (ur. Z. Badovinac, T. So-
ban), Moderna galerija, Ljubljana 2006. Slowenische Künstler, die an der Ausstellung mit ihren eigenen Prozeduren des Archivierens/der Selbsthistorisierung im Postsozialismus teilnahmen waren: IRWIN, Žiga Kariž, Borut Peterlin, Alenka Pirman, Tadej Pogacˇ a r & P.A.R.A.S.I.T.E.
8
East Art Map: Contemporary Art and the Eastern Europe (ur. Irwin),
Afterall, London, 2006, str. 11–15 (Irwin, General Introduction). www.scca-ljubljana.si
9
10
www.worldofart.org/aktualno/laboratorij-2006-07
3
places for remnants
50 Theatergeschichte per Mausklick
JAHRBUCH ITI YEARBOOK Orte des Verbleibens
Die Berliner Theater-Archive – eine Vision Seit ungefähr zwei Jahren treffen sich VertreterInnen von Berliner Institutionen, die Theatermaterialien aufbewahren und sammeln. Die Initiative ging damals von Sylvia Marquardt (Maxim-Gorki-Theater), Thilo Wittenbecher (Mime Centrum Berlin) und Stephan Dörschel (Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste) aus. Schon an diesen drei Personen wird die Vielfalt der theatersammelnden Institutionen deutlich: An diesem „Runden Tisch der Berliner Theaterarchive“, moderiert vom ITI und der Akademie der Künste, versammeln sich zweimal im Jahr sowohl KollegInnen, die in Theatern für das dortige Archiv verantwortlich sind, wie diejenigen, die in Museen und Archiven die Sparte Theater bearbeiten und betreuen, bzw. selbst eine derartige Institution repräsentieren. So unterschiedlich wie die Profile der Institutionen sind auch deren Träger: der Stadtstaat Berlin, die Bundesrepublik Deutschland, eine öffentliche Stiftung oder ein Universitätsinstitut. An diesen Orten wird Berlins reiche theatralische Vergangenheit repräsentiert – über mehrere Jahrhunderte hinweg und bis in die Gegenwart hinein.
Bunte Mischung und Potenziale So verschieden wie die Institutionen sind auch deren „Befindlichkeiten“: Das Mime Centrum Berlin, ein ständiges Projekt des deutschen Zentrums des ITI, versteht sich als ein offener Ort der Produktion, Weiterbildung, der Kooperation und des internationalen Austausches. Ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit ist die Mediathek, die Videos und heute natürlich digitale Aufzeichnungen von Tanz und Bewegungstheater herstellt, sammelt und bereitstellt. Hier gilt es die Herausforderung der Sicherung analoger und digitaler „Bewegt„Ein Rundgang durch die bilder“ zu meistern – ein Höhepunkte der Berliner Problem, mit dem sich aber Theatergeschichte.“ alle Theaterarchive auseinanderzusetzen haben. Die Theaterabteilung der Stiftung Stadtmuseum hat eine große Anzahl herausragender Theaterkostüme, Bühnenrequisiten und Bühnenbildmodelle – deren konservatorische Erhaltung und Lagerung nicht nur ein allgemeines logistisches Problem ist. Viele Archive in den Theatern – mit ihren manchmal über hundert Jahre alten Beständen an Rollen- und Regiebüchern, Inszenierungs- und Intendanzunterlagen – besitzen weder die nötige räumliche noch die personelle Ausstattung, um umfangreiche und/oder zahlreiche Recherchen bearbeiten bzw. betreuen zu können. Das Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste bewahrt in seinen Beständen u.a. eine überaus große Anzahl von Korrespondenzen auf. Was das Zugänglichmachen für die Nutzerin oder den Nutzer betrifft, bzw. deren Kopier- und Veröffentlichungswünsche, ergeben sich z.T. große urheber-
und personenrechtliche Hürden. Auch dieses Problem betrifft nahezu alle theatersammelnden Institutionen. Darüber hinaus ist der Erhalt der Institutionen, die wegen Umstrukturierungsmaßnahmen womöglich in Gefahr geraten, ganz von der Bildfläche zu verschwinden, eines der Themen, die am Runden Tisch erörtert werden. Der Runde Tisch der Berliner Theaterarchive versteht sich als informeller Treffpunkt und Austauschforum. Theatersammelnde Institutionen, die bisher noch keinen Vertreter oder Vertreterin zu den Treffen entsandten, sind herzlich eingeladen, teilzunehmen: je mehr wir sind, je unterschiedlicher auch die Profile unseres recht bunten Runden Tisches sind, desto wirksamer und nachhaltiger können wir als Interessenvertretung fungieren. Informell bedeutet aber nicht unverbindlich. So soll in nächster Zeit eine gemeinsame Webseite online gestellt werden, die die theatersammelnden Institutionen mit ihren Beständen vorstellt: Die Blickrichtung ist dabei nicht unbedingt „wer hat was?“, sondern „wo finde ich was?“ Auch hier ist auf die jeweilige Situation der unterschiedlichen Institutionen zu achten: Für die einen gilt das Hauptinteresse, auf sich und die eigenen Schätze, die man für die Wissenschaft und die interessierte Öffentlichkeit bewahrt, aufmerksam zu machen. Für die anderen ist genau dies mangels Kapazität keine Option. Jeder Vertreterin, jedem Vertreter der beteiligten Institutionen ist das Bohren starker Bretter vertraut – so auch hier.
Archiv-Visionen Dennoch möchte ich hier eine Vision aufzeigen, meine ganz persönlichen Wünsche und Träume: Ich stelle mir ein großes, dezentrales, virtuelles Berliner Theaterarchiv vor, in dem ich online recherchieren kann und in dem ich nicht nur die Fundstellen, sondern auch gleich die Dokumente angezeigt bekomme. Ich habe die unterschiedlichsten Möglichkeiten zu recherchieren: eine abstrakte Datenbank, einen Zeitstrahl, eine Straßenkarte von Berlin, auf der ich auch die Jahreszahl einstellen kann: ob ich das Berlin des Jahres 1760, 1812, 1848, 1869, 1890, 1930, 1940, 1950, 1980 oder 2013 sehen will und auf der die Theater mit kleinen Symbolen kenntlich gemacht sind. Und wenn ich auf diese Symbole klicke, erhalte ich die Kontaktdaten, die Geschichte oder die jeweiligen Inszenierungsverzeichnisse; ich habe eine DarstellerInnen-Liste und eine der Regisseure und Ausstatter, deren Rollenportraits, Regiebücher oder Skizzen ich mir auf den Schirm hole. Ich kann nach Stücken suchen und nach Autoren. Die angezeigten Dokumente verweisen mich auf den Rechte-Inhaber, den ich „per Mausklick“ um Genehmigung bitten kann, dieses Dokument für meine Publikation, meinen Vortrag, meine Examensarbeit oder meine Webseite nutzen zu dürfen.
Ich kann mir – blog-artig – meine eigene virtuelle Berliner Theaterausstellung zusammenstellen und sie mit anderen „teilen“, oder sie zusammen mit anderen „bauen“. Ich kann mir aber auch historische Ausstellungen ansehen, etwa die von 1910 in den Messehallen am Zoo, oder die von der Stiftung Stadtmuseum von 2001-2003. Ich stelle mir aber auch ein echtes, „analoges“ Berliner Theatermuseum vor, an dem alle Berliner Institutionen einen wirklichen, funktionalen Anteil haben: als Dauerausstellung einen Rundgang durch die Höhepunkte der Berliner Theatergeschichte (Iffland spielt Schiller, Ludwig Devrient und E.T.A. Hoffmann, die Taglionis, „abends um acht dreht sich bei Reinhardt der Wald“ – die Jessner-Treppe(n), Gründgens als Mephisto, der Jüdische Kulturbund spielt Nathan der Weise, die Bollmann-Haltung in Becketts Endspiel, Peter Steins Theaterexkursionen, Heiner Müller, Frank Castorf, Schillertheaters Ende) und wechselnde Themenausstellungen, die Schlaglichter auf zu Unrecht Vergessenes werfen, in die Vergangenheit Versunkenes wieder an die Oberfläche bringen oder einfach auch Neues, Gegenwärtiges mit Altem kontrastiert (das Berliner Themenjahr Zerstörte Vielfalt 2013 wäre so eine Gelegenheit gewesen, aber vielleicht finden wir Themen wie z.B. „die lustige Person auf den Bühnen Berlins“, „das Zeitstück im Wandel der Zeiten“ oder „die Vergänglichkeit des Klassikers“ – „die Mode/ Fashion auf der Bühne“, „Traum-Raum Bühne: technische Bühnen-Innovationen“). Das Theatermuseum wird und soll keine „Theaterbegeisterung“ wecken – das macht das Theater selbst. Aber wen Kulturgeschichte interessiert, wer wissen möchte, ob auf dem Theater wirklich jeden Abend das Rad neu erfunden wird oder wie revolutionär Castorf oder Pollesch wirklich sind, der wäre in „meinem“ Theatermuseum genau richtig. „Ich glaube an die Unsterblichkeit des Theaters“ – dies sagte ein Unsterblicher des Theaters. Wir würden heute sagen: Das Theater ist nicht totzukriegen.
Stephan Dörschel ist Leiter des Archivs Darstellende Kunst der Akademie der Künste, Berlin.
theatre history via mouseclick The Berliner Theatre archives – a vision For the last two years, representatives of Berlin institutions that store and collect theater material have been meeting. The initiative came from Sylvia Marquardt (Maxim-Gorki-Theater), Thilo Wittenbecher (Mime Centrum Berlin) and Stephan Dörschel (Performing Arts Archive of the Academy of the Arts, Berlin). Colleagues from institutions that collect theater documents meet twice a year. The institutions’ profiles are as diverse as their legal representatives: the City and Federal State of Berlin, the Federal Republic of Germany, a public foundation and a university institute. Berlin’s rich theatre history is stored at these locations – over the course of centuries and up until the present. And as diverse as the institutions are, so their “sensitivities”: the Mime Centrum Berlin, a long-term project of the German ITI Centre, sees itself as an open site for productions, further
education, cooperation and international exchange. An important part of its work is the media library that produces and collects videos and digital recordings of dance and movement theatre and guarantees their accessibility. In this case, the challenge of saving analogue and digital “moving pictures” must be mastered – a problem that all theatre archives are dealing with. The theatre division of the Stiftung Stadtmuseum has a large number of excellent theatre costumes, stage props and stage design models; their conservation and storage is not just a general logistical problem. Many archives in the theatres – with their sometimes centuries-old inventory of role and directors’ books, staging and theatre managers’ documents – not only don’t have enough space, but also not enough personnel to work on or accompany expansive and/ numerous research requests. The Performing Arts Archive of the Academy of the Arts, Berlin has a large amount of correspondence in its stocks. In making them available to users, and also in dealing with their desire to copy and publish them, major copyright problems and issues relating to individuals’ rights crop up. These issues also effect almost all institutions that collect theatre documents. In addition, the preservation of these institutions, which are sometimes at danger due to restructuring measures, are up for discussion at the round table. The Berlin theatre archives’ round table sees itself as an informal meeting point and exchange forum. Informal doesn’t mean non-binding. In the near future, a common website will go online that presents the institutions that collect theater material and their stocks. At this point I would like to propose a vision of my personal wishes and dreams: I envisage a large, decentralized and virtual Berlin theatre archive where I can research online and not only find the locations of documents, but also see them. I have a wide variety of possibilities to research: an abstract databank, a timeline, a street map of Berlin in which I can also set the year: if I want to see Berlin in 1760, 1812, 1848, 1869, 1890, 1930, 1940, 1950, 1980 or 2013, and where all the theatres are marked by little symbols. When I click on these symbols, I receive the contacts, the history or the respective list of pieces. I have a list of actors and actresses, the directors and costume designers, their role portraits, directors’ journals and sketches. I can search according to piece or author. The listed documents make references to copyright holders that I can ask with a “mouseclick” for permission to use the material. I also imagine a real, “analogue” Berlin theatre museum in which all of Berlin’s institutions have a real, functional stake. It would be a permanent exhibition with a walkway through the highlights of Berlin’s theatre history as well as alternating exhibitions that shed light on things that have been unjustifiably forgotten – or simply new things, current works that are contrasted with the old. Those who are interested in cultural history, or want to know if theatre invents the wheel again every night and how revolutionary Castorf or Pollesch really are – “my” theatre museum would be perfect for them. “I believe in theatre’s immortality” – one of theatre’s immortals said this. Today we would say: theater will never die.
Stephan Dörschel is manager of the archive ‘performing arts’ at the Academy of the Arts, Berlin.
JAHRBUCH ITI YEARBOOK Orte des Verbleibens
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52 TanzlanD DeuTschlanD unD sein kulTurelles erBe
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Die deutschen Tanzarchive und ihr Projekt zur Vernetzung und Digitalisierung herausragender Dokumente des Tanzes Tanz ist die vielleicht vergänglichste unter den Künsten. Zugleich baut jede neue Schöpfung und jede ästhetische Entwicklung auf früheren Arbeiten auf, führt weiter oder entwirft radikale Gegenpositionen. Anders als im Theater bleibt aber kein Dramentext, keine vorgegebene Struktur als kulturelles Wissen erhalten – die Vielfalt des Schaffens wäre verloren, würden nicht die Dokumente des Tanzes in den Archiven und Sammlungen bewahrt. Deutschland ist ein Tanzland. Tanzschaffende haben hier bedeutende ästhetische und pädagogische Beiträge geleistet, welche die Entwicklung des Tanzes in Deutschland und weltweit beeinflusst haben. Die deutschen Tanzarchive bewahren einen großen Schatz: Dazu gehören rund eine Million Dokumente zur Tanzgeschichte, nicht nur Manuskripte, Briefe und Kritiken, sondern auch Fotos, Kostüme, Filme oder Videos. Dieses kulturelle Erbe gilt es zu bewahren und für kommende Generationen auch über Landesgrenzen hinaus sichtbar zu machen.
risch bearbeitet werden. Kompetenzen und Technologien, die in diesem Projekt erstmalig für den Tanz erarbeitet werden, sollen auch Künstlern und Kompanien (u.a. Pina Bausch, William Forsythe, Sasha Waltz) helfen, ihre Dokumentationen in Zusammenarbeit mit den Archiven zu bewahren und für das Publikum sichtbar zu machen.
Unterstüt zung und Finanzierung der Archivierung
Die Kulturstiftung des Bundes (KSB) unterstützt dieses Projekt in besonderer Weise: Mit dem Digitalen Atlas Tanz, für die Präsentation von Materialien des zeitgenössischen Tanzes und der Tanzgeschichte im Internet, hat sie bereits im Rahmen ihres Initiativprojektes „Tanzplan Deutschland“ (2006 bis 2010) ein erstes Pilotprojekt gestartet. In einer Kooperation der KSB mit der Akademie der Künste wurde 2012 mit dem VdT ein Vorprojekt realisiert, in dessen Rahmen für Aufwand und Kosten in den Bereichen der Verbund deutscher Tanzarchive Verzeichnung, Sicherung und Digitalisierung sowie der Vernetzung der Datenbanken eine belastbare Kostenschätzung Fünf Tanzarchive – Akademie der Künste Berlin, Deutsches erarbeitet wurde. Tanzarchiv Köln, Deutsches Tanzfilminstitut Bremen, Mime Der Verbund deutscher Tanzarchive hat die erforderCentrum Berlin und Tanzlichen Arbeitsschritte im Projekt „Sicherung und Zugänglicharchiv Leipzig – agieren machung der Bestände der deutschen Tanzarchive“ formuliert: „Die Vielfalt des Schaffens seit 2007 im Verbund deutVernetzung der Datenbanken, Erschließung und Verzeichwäre verloren, würden scher Tanzarchive (VdT). nung, Retrokonversion, Konservierung und Sicherung, Dokumente des Tanzes nicht Gemeinsam arbeiten sie an Digitalisierung sowie Lizenzklärung. Aus insgesamt über 500 in Archiven bewahrt.“ einer Präsentation ihrer Sammlungseinheiten in den fünf Archiven wurden nach abgeSammlungen im Internet, stuften Kriterien die 50 bedeutendsten Sammlungseinheiten d.h. zunächst vor allem an ausgewählt und die Kosten abgeschätzt, die sich auf einen Lösungen für die enormen rechtlichen, technologischen und Gesamtbedarf von ca. 8,5 Millionen Euro belaufen. Davon ist sachlichen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind. ein noch zu definierender Eigenanteil durch die Archive selbst Die Digitalisierung und Onlinepräsenz der Materialien soll auf zu erbringen, der größte Teil jedoch in einer Reihe aufeinander künstlerische und wissenschaftliche Fragen Antworten geben, abgestimmter Förderanträge einzuwerben. aber auch einem breiten Publikum die Vielfalt des Tanzes nahe Der Dachverband Tanz Deutschland (DTD), in dem alle bringen, wie das in einigen europäischen Nachbarländern beArchive des VdT Mitglied sind und der als rechtlicher Träger reits geschieht, besonders in Frankreich, des Verbundes agieren kann, hat eine Belgien und England. Reihe von Workshops mit Experten „Die Digitalisierung soll Von herauszuhebender Bedeurealisiert, welche die Archive auf den auch einem breiten tung ist die Entwicklung zukunftssicherer aktuellsten Stand technologischer Publikum die Vielfalt des Datenbank-Strukturen: Die Vielfalt des zu Entwicklungen und rechtlicher DiskusTanzes nahe bringen“ digitalisierenden und online zu stellensionen gebracht haben. Herausragende den Materials der Tanzarchive verweist Expertinnen und Experten der Inforauf grundsätzliche Probleme, mit denen mationswissenschaft und der Tanzwisauch die Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) und die Europeana senschaft, Museumsfachleute, Juristen und Vertreter großer konfrontiert sind. Diese können durch die im TanzarchiveWissensplattformen im Internet (z. B. Wikipedia Deutschland) Projekt beteiligten Informationswissenschaftler exemplawurden eingebunden.
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www.tanzarchive.de
Prof. Dr. Patrick Primavesi lehrt am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig und ist Direktor des Tanzarchivs Leipzig. Er war 2012/13 Sprecher des Verbunds deutscher Tanzarchive (VdT).
Franziska Latell erarbeitete 2012 im Auftrag der Akademie der Künste eine umfangreiche Bestandsaufnahme und Kostenerhebung zum Digitalisierungsprojekt des VdT.
Michael Freundt
ist Stellvertretender Direktor des ITI und
Geschäftsführer des Dachverband Tanz Deutschland. Der
Tanzland Germany and Its Cultural Heritage The German dance archives and their project to network and digitalize prominent dance documents Dance is possibly the most fleeting of art forms. At the same time, each new creation and each aesthetic development is based on earlier works, develops the art form further or takes up radical positions of opposition. In contrast to the theatre, no dramatic text or predetermined structure remains – the multiplicity of creation would be lost, if the documents of dance were not stored in the archives and collections. Germany is a Tanzland. Dance professionals have made important aesthetic and educational contributions that have influenced the development of dance in Germany and the world. The German dance archives safeguard a big treasure: approximately one million documents of dance history. These are not just manuscripts, letters and critiques, but also fotos, costumes, films or videos. This cultural heritage must be preserved and made visible and tangible for coming generations – also across national borders.
Dachverband Tanz übernimmt mit der Akademie der Künste die Steuerung des umfangreichen Digitalisierungsvorhabens des VdT.
Verbund deutscher Tanzarchive Five dance archives – Akademie der Künste Berlin, Deutsches Tanzarchiv Köln, Deutsches Tanzfilminstitut Bremen, Mime Centrum Berlin and Tanzarchiv Leipzig – have been joined together since 2007 as members of the Verbund deutscher Tanzarchive (VdT – Association of Dance Archives). They are working together on a presentation of their collections in the internet. This means, above all, finding solutions for the enormous “The multiplicity of legal, technological and orcreation would be lost, if ganisational difficulties that the documents of dance this entails. were not stored in the The digitalisation archives and collections“ and online presence of the material should give answers to artistic and academic questions, but also offer a broad public easy access to the multiplicity of dance in the way it already happens in other European neighbouring states such as France, Belgium and England. The development of databank structures that are sustainable for the future is of utmost importance: The diversity of the dance archive material that must be digitalised and placed online causes problems also met by the Deutsche Digitale Bibliothek (DDB) and the Europeana. These can be approached in an exemplary manner by the computer scientists who are involved in these platforms. Competencies and technologies that will be developed for dance for the first time here will also help artists and companies (Pina Bausch, William Forsythe, Sasha Waltz, etc.) store their documentations and make them available to the public in cooperation with the archives.
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Dieses Know-How wird nunmehr in Argumentationen für Anträge bei öffentlichen und privaten Geldgebern umgesetzt. Die Akademie der Künste und der DTD übernehmen die Trägerschaften für Teilprojekte im Gesamtprojekt, für welche Fördermittel auf Länderebene, auf nationaler und EU-Ebene eingeworben werden. Begleitet von der Kulturstiftung des Bundes wird in den nächsten Monaten der Dialog mit potentiellen Förderern aufgenommen und werden Anträge gestellt. Die Realisierung des Gesamtprojekts ist im Zeitraum der kommenden fünf Jahre vorgesehen.
54 Supporting and Financing the Archives
The Dachverband Tanz Deutschland (DTD), an umbrella interest group in which all of the VdT archives are members and which can operate as a legal representative of the group, realised a series of workshops with experts that updated the archives on the latest technological developments and legal discussions. Renowned experts from the computer and dance sciences, museum specialists, lawyers and representatives of knowledge platforms in the internet (i.e., Wikipedia Germany) were all involved. This know-how will be used in application texts for public and private grants. The Academy of the Arts, Berlin and the DTD will assume the legal responsibility for parts of the entire project; here public financing will be sought on the state, federal and European levels. Accompanied by the German Federal Cultural Foundation, dialogues will be initiated with potential supporters and applications will be finalised. The entire project is expected to be finished in the next five years.
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„The digitalization should offer a broad public easy access to the multiplicity of dance.“
The German Federal Cultural Foundation (KSB) supports this project in a special way. For the Digitale Atlas Tanz – designed for the presentation of contemporary dance and dance history material in the internet – the KSB had already begun a pilot project in the context of their initiative “Tanzplan Deutschland”. In a cooperation between the KSB and the Academy of the Arts, Berlin, a pre-project was realized with the VdT in 2012: the effort and costs in the areas of cataloguing, securing and digitalising as well as networking the databanks were recorded in a realistic estimate. The Verbund deutscher Tanzarchive formulated the necessary steps in the project “Securing and gaining access to the archives of the German dance archives”: networking the databanks, accessing and indexing, retro-conversion, conservation and securing, digitalisation and licensing. From a total of over 500 units in the five collections, the 50 most important units were selected according to weighted criteria and the costs estimated: the total required sum was approximately 8.5 million Euro. Of this sum, the archives must gather an undefined amount of funds on their own; however, the majority of the amount will be raised in a series of coordinated grant applications.
www.tanzarchive.de
Prof. Dr. Patrick Primavesi
teaches at the Institute for Theatre
Studies at the University of Leipzig and is director of the Leipzig Dance Archive. In 2012/13 he was the spokesman of the Verbund deutscher Tanzarchive (VdT / Network of German Dance Archives).
Franziska Latell in 2012 elaborated an extensive inventory and cost survey for the digitalization project of the VdT. This study was commissioned by the Akademie der Künste.
Michael Freundt is Assistant Director of the ITI and Managing Director of the Dachverband Tanz Deutschland, who – together with the Akademie der Künste – takes over the management of the digitalization project of the VdT.
Fotos © Susanne Fern
55 Wie organisieren wir unseren Zugang zur Kunst? Ein Plädoyer für die Schaffung leistungsfähiger Archive des zeitgenössischen Theaters in Afrika. Thomas Engel sprach mit Alex Moussa Sawadogo. fast fünfzehn Jahre her ist. Wir müssen unbedingt In einigen afrikanischen Ländern gibt es seit ein paar Jahrzehnten darüber nachdenken, wie man einen systematischen eine erfolgreich wachsende zeitgenössische Tanz- und TheaterszeZugang zu diesem Material in Afrika schaffen kann. Und ne. Wie sieht dort die Materiallage aus? das nicht nur zum zeitgenössischen Theater, sondern alex moussa sawadogo : auch zu den traditionellen Formen und Praktiken von In Afrika gibt es seit vielen Jahren eine Kultur der Tanz und Theater. Im Senegal, der Elfenbeinküste und in Wissensübertragung zwischen den Generationen. Die Ghana gibt es über 70 ethnische Gruppen, die jeweils anSchwierigkeit dabei ist, dass die Alten immer weiter dere Tanzformen haben. Die junge Generation lebt heute arbeiten und die Jungen Schwierigkeiten haben, sie zu überwiegend in den Städten und hat kaum noch eine kritisieren. Kritisieren dürfen sie nicht, während sie Ahnung von diesem kulturellen Erbe. Wenn die Alten selbst natürlich kritisiert werden. sterben, gehen diese Traditionen verDas sieht man den Arbeiten an. loren. Wir müssen uns jetzt Gedanken „Die junge Generation Die meisten der älteren Generadarüber machen, wie wir den Zugang zu ist nicht mehr dort, wo tion leben heute im Ausland - in unserer Kunst organisieren! die Alten sind.“ Deutschland, Frankreich, England oder in den USA. Sie waren Traditionell wurden diese Praktiken ja die Pioniere des zeitgenössischen direkt vermittelt, da brauchte man keine Tanzes und Theaters in Afrika. Aber mit ihnen ist auch Aufzeichnungen. Doch jetzt leben die Generationen – wie von dir ihr Wissen weggegangen. In Afrika bleibt im Moment beschrieben – nicht mehr zusammen ... fast nichts. Ab und zu einmal wird der Versuch unterJetzt ist die junge Generation nicht mehr dort, wo die nommen, Workshops oder ein Festival zu organisieren. Alten sind. Früher kamen die Jungen im Urlaub oder zu In Burkina Faso haben Salia Sanou und Seydou Boro Familienfeiern aufs Land und haben die Tänze dabei eine Tancompagnie gegründet, die eine der bekanntesgelernt. Heute ist das nicht mehr cool. Auch die Eltern ten Afrikas ist. Auch ein Tanzfestival, Dialogue de Corps, schicken die Kids nicht mehr aufs Dorf. haben sie auf die Beine gestellt. Inzwischen ist es in Schwierigkeiten, weil die Gründer nicht mehr da sind. Gibt es gar keine einschlägigen Archive, wo man so etwas findet? Die einzige, die geblieben ist, ist Germaine Acogny, mit Ist das alles nur in Europa? der École des Sables im Senegal. Aber sie pendelt viel. Es gibt ein paar kleine Sammlungen, das sind Inseln; am Das heißt, sie ist zwei oder drei Monate im Jahr vor Ort. Nationaltheater in Ghana zum Beispiel. Sie haben traditiNatürlich wird wichtige Arbeit durch ihre Mitarbeionellen und zeitgenössischen Tanz sowie Theater gesamter geleistet. Aber die Jungs brauchen auch die ältere melt. Dann hat einer meiner Professoren vor zehn Jahren Generation, die sich wiederum nicht darauf vorbereiin einem Forschungsprojekt mit Studenten versucht, Dotet hat, ihr Wissen an die Jungen weiterzugeben. kumentationen zu machen. In Südafrika an der University of Kwazulu Natal gibt es noch ein Tanzfestival, wo Sind Universitäten nicht die Institutionen, die dieses Wissen beneben zeitgenössischem Tanz auch traditioneller Tanz wahren und weitervermitteln könnten? gezeigt und jeweils dokumentiert wird. Aber es geht bei Im Senegal oder in Burkina Faso, im ganzen frankophoder Dokumentation ja nicht allein um das Filmen und die nen Westafrika, gibt es keine tanzwissenschaftliche DVDs, sondern auch um die ganzen Informationen zum Fakultät. Ich wollte in Burkina Faso Tanz- und FilmwisProjekt. Beim Tanzzentrum in Burkina Faso war mein Job senschaft studieren - das gab es dort nicht. Ich habe unter anderem, auf die Dörfer zu gehen und bei BegräbKunstgeschichte studiert mit Schwerpunkt Tanzgenisfeiern oder Hochzeitsfesten Fotos und Aufzeichnunschichte und bin zwischen Afrika und Europa gependelt. gen zu machen. Aber sie hatten kein Budget dafür. Das Am Ende wollte ich meine Magisterarbeit über Tanz und sind also alles ganz kleine Archivpools. Theater in Burkina Faso schreiben. Mein Professor meinte: „Oh, das ist mutig, sehr mutig, das schaffst du nicht.“ Wenn die ältere Generation verschwindet, wird sie ihr ganzes WisGott sei Dank habe ich es geschafft und meine Magistersen über ihre eigene Pionierarbeit mitnehmen? arbeit ist immer noch die einzige Referenz zum zeitgeJa, absolut – wobei ich natürlich nicht alle afrikaninössischen Tanz in Burkina Faso, obwohl das inzwischen schen Länder kenne. Aber überwiegend trifft das zu.
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thomas engel:
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56 In Burkina Faso haben wir einen Pionier des zeitgenösEs war egal, ob das Material darüber in Europa war oder sischen Tanzes, Alassane Congo. Der war ein richtiger sonstwo. Das ist heute nicht mehr so. Sie haben mitbeKünstler, hochintelligent. Er hat kommen, dass man auch forschen muss. die berühmten Tänzer in Burkina „Es gibt nur wenige Faso ausgebildet. Bisher gab es kein Studenten in Afrika, die Alex Moussa Sawadogo ist FestivalkuArchiv über seine Arbeit. Für meine über Tanz und Theater rator und unter anderem Leiter des Magisterarbeit habe ich ganze Tage forschen wollen.“ Filmfestivals AFRIKAMERA und des mit ihm verbracht, bin mit ihm Festivals Zeitgenössischer Tanz aus Afrika spazieren gegangen, habe viele in Berlin. Er hat Kunstgeschichte / ArWorkshops von ihm verfolgt, damit chäologie in Ouagadougou und Kulturmanagement in Hamburg ich noch so viel wie möglich von ihm lerne. Vor einigen studiert und sich dabei auf Tanz und Film spezialisiert. Jahren ist er gestorben und ich frage mich, wie wir sein Material zusammen bekommen. Natürlich hat seine Dr. Thomas Engel ist Geschäftsführender Direktor des deutFamilie DVDs. Aber seine ganze Theorie – die ist nur in schen Zentrums des Internationalen Theaterinstituts (ITI). Er meiner Magisterarbeit festgehalten. Das ist nur ein Beiist Sprecher des ITI European Forum und Sekretär des Action spiel. Von der Arbeit von Koffi Kôkô ist natürlich vieles Committee for Artists Rights (ACAR) des ITI, Jurymitglied dokumentiert, aber hauptsächlich in Europa zugängund Berater für internationale Festivals sowie Kuratoriumslich. Ich hoffe, seine Verwandten kümmern sich um sein Archiv. Und der Sohn von Germaine Acogny hat Tanzwis- mitglied des nationalen Kinder- und Jugendtheaterzentrums. senschaft studiert. Er will wohl ein paar Arbeiten von ihr dokumentarisch aufarbeiten. Aber wie gesagt: Für mich ist Dokumentation mehr als nur Videos und Fotos. Es sind auch und vor allem die Erkenntnisse, die Methode, die man festhalten und aufschreiben muss. Nicht nur die Arbeit der Künstler auf der Bühne zählt, sondern auch, was sie im Kopf haben. Und es gibt nur ganz wenige Studenten in Afrika, die über Tanz und Theater forschen wollen.
how do we organise our approach to art?
Liegt das daran, dass die Materiallage so schlecht ist und man sich daher lieber mit europäischen oder internationalen choreografischen Arbeiten auseinandersetzt? Zum Einen ist der Anreiz gering, eine Magisterarbeit oder Doktorarbeit über etwas zu schreiben, wovon man sich nicht sicher ist, ausreichend Material zu finden. Die Gefahr ist zu groß, dass es viel zu viel Zeit kostet. Und am Ende unklar ist, ob einen das überhaupt für irgendeine Anstellung qualifiziert. Da wird einem sofort abgeraten. Und die meisten Eltern haben nicht genug Geld, ihre Kinder nach Europa zu schicken, um in den Archiven zu forschen. Entsteht unter den Theatermachern ein Problembewusstsein hinsichtlich der Notwendigkeit, Theaterformen und Methoden zugänglich zu machen? In der jungen Generation wird zunehmend mehr Wert auf Qualität gelegt als auf Quantität. Klar, die meisten wollen auf der Bühne gut aussehen. Aber für mich ist derjenige ein guter Künstler, der seine Arbeit auch reflektiert. Das war früher nicht oft der Fall. Aber zum Beispiel Dieudonné Niangouna (artiste associé und künstlerischer Ko-Leiter des Festival d’Avignon 2013, TE), der für mich einer der besten Vertreter des Theaters der jüngeren Generation ist: Er macht ein Theater, das die zeitgenössischen Probleme Afrikas sehr engagiert aufgreift und sie in Beziehung zur Kolonialgeschichte, aber auch zur Situation in Europa und der Welt setzt. Viele aus der jüngeren Generation sehen heute die Notwendigkeit, an die Uni zu gehen, Kunstgeschichte zu studieren oder Dramaturgie. Früher war man Künstler und fertig.
A plea for the creation of efficient archives of contemporary theatre in Africa. Thomas Engel in an interview with Alex Moussa Sawadogo.
thomas engel: What is the resource situation in the African countries where there has been a successfully growing contemporary dance and theatre scene for several decades now? What form does the dialogue between the generations take? What do theatre makers know about each other, about this part of their own culture, and how do they inform themselves about it? alex moussa sawadogo : In Africa, there has been a culture of knowledge transfer between the generations for many years. The difficulty is that the older ones keep working and the young people have trouble criticizing them. They are not allowed to criticize, while they themselves are, of course, exposed to criticism. This is reflected in their work. Most members of the older generation now live abroad – in Germany, France, England or the United States. They were the pioneers of contemporary dance and theatre in Africa, but their knowledge has left with them. Almost no trace of it remains in Africa at the moment. From time to time, an attempt is made to organise workshops or a festival. One of Africa’s most famous dance companies was founded in Burkina Faso by Salia Sanou and Seydou Boro, who also established the Dialogue de Corps dance festival. This event is now in trouble because its founders are no longer there. The only one that remains is Germaine Acogny, with the École les Sables in Senegal, but since she commutes a lot, she is only on site two or three months per year. Naturally, her colleagues
57 When the older generation disappears, it will take with it all its knowledge about its own pioneering work? This is true for the most part. In Burkina Faso, we have a pioneer of contemporary dance, Alassane Congo. He Aren’t the universities the institutions that could preserve and was a real artist, highly intelligent. He trained the most convey this knowledge? famous dancers in Burkina Faso. So far there has been In Senegal or in Burkina Faso throughout francophone no archive about his work. For my thesis I spent whole West Africa, there is no faculty of dance studies to be days with him, went for walks with him, followed a lot found. I wanted to study dance and film in Burkina Faso, of his workshops, so I could learn as much as possible but no such course was available. from him. He died a few years ago and I Instead, I studied art history with a wonder how we can collect his material. „Now the younger focus on dance history and moved Of course, his family owns DVDs. But the generation is no longer back and forth between Africa and entire theory aspect of his work is only where the old ones are.“ Europe. In the end, I decided to write documented in my thesis. This is just one my thesis on dance and theatre in example. A great deal of the work of Koffi Burkina Faso. My professor said: Kôkô is documented, of course, but main“Oh, that is brave, very brave; you‘ll never manage.” ly accessible in Europe. I hope his relatives are taking Thank God I did and my thesis is still the only reference care of his archive. And the son of Germaine Acogny has on contemporary dance in Burkina Faso, although I wrote studied dance. He seems to intend to review some of her it almost fifteen years ago. We really need to think about works in the form of a documentary. But as I said: For how to create systematic access to this material in Africa me, documentation is more than just videos and photos, – not only to contemporary theatre, but also to the tradiit is also and above all the knowledge, the method, that tional forms and practices of dance and theatre. In Seneyou have to document and write down. It is not only the gal, the Ivory Coast and Ghana there are over 70 ethnic work of the artists on stage that counts, but also what’s groups, each of which has different forms of dance. The in their heads. young generation now lives mainly in the cities and has hardly any knowledge about this cultural heritage. When Are theatre makers developing an awareness of the problem with the old ones die, these traditions will be lost. We need to regard to the need to make theatre forms and methods accessible? consider now how we can organize access to our art! The young generation is placing an increasing amount of importance on quality rather than quantity. Sure, Traditionally, these practices were passed on directly from person most of them want to look good on stage. But for me, a to person and records were not needed. But now the generations good artist is one who also reflects on his work. This was no longer live together due to the generation gap that you have often not the case in the past. But, for example, look at described … Dieudonné Niangouna (artiste associé and artistic coNow the younger generation is no longer where the old director of the Festival d’Avignon 2013, TE), who for me ones are. In earlier days, young people came to the counis one of the best representatives of the theatre of the try for holidays or family gatherings and learned the younger generation: He makes theatre which addresses dances there. Nowadays, that is no longer cool. Even the the contemporary problems of Africa in a highly involparents no longer send the kids to the villages. ved manner and correlates them to colonial history as well as the situation in Europe and the rest of the world. Are there no relevant archives at all that contain this information? Many members of the younger generation today see the Is it all just in Europe? need to attend university, to study art history or drama. There are a few small, isolated collections, for example at People used to be artists and that was it. It didn’t matter the National Theatre in Ghana. These collections focus on whether the material about it was in Europe or elsewhetraditional and contemporary dance and theatre. Then, re. Today, this is no longer the case. People have come to ten years ago, one of my professors tried to make docuunderstand that it is also important to conduct research. mentaries as part of a research project with students. In South Africa, a dance festival still takes place at the Alex Moussa Sawadogo is a festival curator and director of the University of Kwazulu Natal, where contemporary dance AFRIKAMERA film festival and the festival Zeitgenössischer Tanz is presented and documented alongside traditional dance. However, the documentation does not only involve aus Afrika in Berlin, amongst other things. He studied art history/archaeology in Ouagadougou and cultural management shooting the films and making the DVDs but also focuses in Hamburg and specialises in dance and film. on information about the project. At the dance centre in Burkina Faso, my job, among other things, was to Dr. Thomas Engel is the Manager and Director of the German visit the villages and to take pictures and recordings at Centre of the ITI. He is spokesman of the ITI European Forum funerals or wedding celebrations, but the budget simply and Secretary of the Action Committee for Artists Rights wasn’t there for it. As a result, these archive pools are all (ACAR) of the ITI, a juror and consultant for international fesvery small. tivals and a member of the board of trustees of the National Centre for Children and Youth Theatre.
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complete important work in her absence, but the youth also need the older generation, which has not made preparations to pass on its knowledge to the young.
58 Orte des Wissens für das freie Theater
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Für das freie Theater soll ein Videoarchiv geschaffen werden – eine Initiative der Impulse Theater Biennale Das Projekt, ein Archiv des freien Theaters chenden Auswertung, einer diskutierbaren zu begründen, scheint ein anachronistisches Archivierung. Denn Archive sind nicht nur und paradoxes Projekt zu sein. AnachronisAufbewahrungsorte, sondern ebenso Protisch, weil es gegenwärtig eine weitreichende duktionsorte von Wissen. Deshalb kommt es Diskussion über die Transformation darauf an, wie ein Archiv des freien Theaters der Archive im Zeichen der aktuelstrukturiert wird, wie seine Arbeitsweise „Freies Theater len Mediensituation gibt, paradox, aussieht und wer die Zugänge organisiert ist kein weil ein Archiv der Einschreibung und verwaltet. Das Wissen darüber, was Übergangsphänomen“ in einen kulturellen Kanon dient, freies Theater tut, was es ausmacht und wie aus dem auszubrechen das Ziel frei- es entsteht, hat noch immer randständigen er Theaterarbeit gewesen zu sein Charakter, auch im Kontext der Theaterwisscheint. Schwierigkeiten der Aufzeichnung senschaft. Die Ausstrahlung aber, die die und Aufbewahrung performativer Arbeit Arbeit von freien Gruppen auch international lassen wir hier noch beiseite. Die Entwickhat, ist erheblich. lung der Theaterarbeit, die unabhängig von Wir brauchen also ein Archiv des institutionalisierten Häusern entsteht, hat Freien Theaters, das eine Forschungsgrundim letzten Jahrzehnt eine rasante Professilage für Rechercheinteressen aus dem In- und onalisierung erfahren. Längst schon gelten Ausland ebenso liefert, wie eine zugängliche Spielstätten wie das HAU, die Sophiensaele, Datenbank für interessierte Veranstalter, die Forum Freies Theater oder Kampnagel Hamvon einer Arbeit gehört haben, sie nicht live burg (um nur einige zu nennen) nicht mehr sehen können, aber gern einladen möchten. Im Rahmen der Impulse Theater als Talentschmiede für die festen Häuser. Wir brauchen ein Archiv, das eine ernsthafte Biennale erfolgte der „Startschuss Sondern es haben sich, von frei arbeitenden Vermittlung der breiten Vielfalt freier Theafür ein Videoarchiv des Freien Theatermachern ausgehend, dort eigene Ästerarbeit kulturell tradiert. Theaters“, die Diskussion wurde am thetiken entwickelt, die Freies Theater ist 26. November im Mime Centrum nicht nur intern diskukein ÜbergangsphänoBerlin fortgesetzt. „Die Aufnahme in tiert, sondern auch von men, das den Kinderden kulturellen Kanon einer breiten Publikumsschuhen demnächst www.festivalimpulse.de fehlt noch.“ schicht wahrgenommen entwachsen und in die www.mimecentrum.de werden. Die entspreklassischen Formen chende Aufwertung im übergehen wird. Freies kulturellen Bewusstsein hat sich eingestellt, Theater ist auch nicht mehr notwendig an die Aufnahme in den kulturellen Kanon fehlt eine prinzipielle Abkehr von den Institutiallerdings noch. Das mag mit den Produktionen gebunden. Vielmehr antwortet freie onsbedingungen zusammenhängen, die eben Theaterarbeit in der Erprobung ästhetischer freier sind, als das am Stadttheater der Fall Formen – mit unterschiedlichsten theatralen sein dürfte. Frei von einem Text als GrundFormaten und Experimenten – auf Fragen, die lage könnte ein Kriterium sein, das auf die unsere Gesellschaft, unsere Realität stellt. Es Notwendigkeit einer Archivierung der Thewäre grob fahrlässig, diese Selbstvergegenaterarbeiten hinweist. Denn eine Textbasis, wärtigung des Theaters nicht mit den Mitteln die vor der Bearbeitung existiert, ist hier nur eines Archivs zu unterstützen und zu besehr selten vorhanden. gleiten. Längst ist dieses Theater eine eigene, künstlerisch einflussreiche und akklamierte Sparte der performativen Künste, viele seiner Potenziale des freien Theaters Produktionen gehören zum kulturellen Kanon verfügbar machen – und doch muss es noch immer um seine Existenz und Anerkennung kämpfen und Wenn das freie Theater kulturelle Praktistets aufs Neue seine Relevanz begründen. ken versammelt, die unsere Gegenwart so Das Archiv des freien Theaters im deutschverhandelt, dass Zuschauer sie sich hierdurch sprachigen Raum soll das Bewusstsein für vergegenwärtigen, sich ihrer bewusst werden diese besondere Tradition schärfen, ihre können, dann bedarf es auch einer entspreBedeutung manifestieren und es stärker in
Videoarchiv
das kulturelle Gedächtnis einschreiben. Es besteht noch ein starker Entwicklungsbedarf, was die Profilierung des Archivs betrifft. Bei herausragenden Beispielen, wie künstlerischen Archiven oder bei nicht linearen Archivierungsweisen – wie beispielsweise dem Aby Warburg Archiv – lassen sich entsprechende Vorbilder finden, von denen sich das Archiv des freien Theaters inspirieren lassen kann.
Eckpunk te und Desider ate des Archivs In einer ersten Diskussion zu diesem Thema wurden zunächst die Bedürfnisse zusammengefasst, die das Archiv befriedigen sollte: - eine operative Wissensplattform mit digitalem Zugriff - einen qualitativ hochwertigen Zugang zu zeitgenössischen Produktionen des freien Theaters ermöglichen - eine breitere Sichtbarkeit des freien Theaters garantieren - der Vernetzung und Vermittlung des freien Theaters national und international dienen. Hierfür müsste es professionelle Dokumentationen der Arbeiten geben und eine langfristige Pflege des Archivs soll erreicht werden. Auf der Ebene der Forschung wurde die Sicherung des Erbes als wichtiger Punkt hervorgehoben, ein breites internationales Interesse auch an bereits historischen Produktionen aus dem Bereich des freien Theaters konstatiert und die Notwendigkeit der Sicherung von historischen Dokumenten betont. Nach jetzigem Diskussionsstand scheint ein rasches Sammeln bereits vorliegender archivierter Materialien in einer Datenbank sinnvoll. Die nächsten Schritte und Fragestellungen – wie die Schärfung des Archivbegriffs, die Klärung der Bestände und Materialien an entsprechenden Häusern, Finanzierungsmöglichkeiten, Lokalität, beispielhafte Archive, mögliche Kooperationspartner – soll das Symposium in November thematisieren.
Dr. Stefanie Wenner arbeitet an künstlerischen Formaten, die Theorie und Praxis verbinden. 2008 – 2012 Kuratorin für Theater am HAU Berlin, 2012 – 2013 Dramaturgin der Impulse Theater Biennale. Kuratiert Theater, Performance, Theorie und Bildende Kunst und unterrichtet an verschiedenen Hochschulen zu Philosophie, Performance, Theater und Tanz.
places of knowledge for INDEPENDENT theatre A video archive will be created for independent theatre – an Impulse Theater Biennale initiative The idea of founding an independent theatre archive seems to be both anachronistic and paradox. Anachronistic, because at present a broad discussion is taking place about the transformation of archives in the face of the current media situation; paradox, because an archive serves to inscribe something into
a cultural canon that independent theatre work seemed to want to break out of. Independent theatre is not a transient phenomenon that will soon outgrow its britches and transform into the classic forms. Independent theatre is no longer necessarily bound to a principal rejection of institutions. Instead, by testing aesthetic forms, independent theatre answers questions that our society and our reality poses. It would be grossly negligent not to support and accompany theatre’s self-realization by creating an archive. If independent theatre collects cultural practices that deal with our reality in such a way that the audience becomes aware of them, then evaluation and serious archiving is needed. The knowledge of what independent theatre does, what it represents and how it is created still has a peripheral character, even in the context of the theatre sciences. However, the international impulses that German independent theatre groups send out are considerable. So, we need an independent theatre archive that delivers a research foundation for inquiries from Germany and abroad as well as an accessible databank for interested programmers. We also need an archive that conveys and passes down a serious and professional presentation of independent theatre work’s diversity. The independent theatre archive in German-speaking countries should sharpen consciousness about its special tradition, manifest its meaning and inscribe it more deeply in our culture’s memory. There is still a great need for development in the archive’s profile. The first points of reference and priorities were collected at the Impulse Theater Biennale. The archive should be an operative knowledge platform with a digital portal, enable a high-quality access to contemporary productions of independent theatre, guarantee a broader visibility for independent theatre and serve the networking and communication about independent theatre nationally and abroad. The works must be documented in a professional manner and the archive must be cared for on a long-term basis. The next concrete steps will be determined and questions raised during an upcoming symposium.
Dr. Stefanie Wenner works on artistic formats that combine theory and practice. From 2008 – 2012 she was curator at the Berlin HAU theatre, 2012 – 2013 dramaturge of the Impulse Theater Biennale. She curates theatre, performance, theory, and visual arts, and lectures on philosophy, performance, theatre, and dance at various universities.
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erhitzung und beschleunigung wie sich Theaterfotografie verändert hat – Katrin Bettina Müller über die Verschiebung von Perspektiven in der Theaterfotografie.
61 Theaterfotografie gibt dem Theater eine neue Dimension: Sie konserviert den Theatermoment, transformiert dessen Flüchtigkeit in ein Medium, das bleibt. Doch was will und kann die Theaterfotografie dabei überhaupt festhalten? Zeigt sie die vermeintliche Realität des Theaters oder das Artifizielle? Hält sie einen wesentlichen oder einen willkürlichen Moment des Theatergeschehens fest?
Die Bedeutung des Augenblicks In der Flüchtigkeit des Mediums Theater liegt schon lange eine Herausforderung für die Theaterfotografen. In den Konzepten aber, mit denen sie darauf reagieren, hat sich etwas verändert. Schaut man etwa die oft in schwarzweiß komponierten Fotografien von Mara Eggert an, die seit Anfang der 1960er-Jahre viele Regiekarrieren begleitet hat, von Robert Wilson oder Ruth Berghaus zum Beispiel, dann geht es auch da um den Moment – aber den einen Moment, in dem sich etwas symbolhaft verdichtet. Ähnlich wie die formal strengen Bühnenbilder, die oft abstrakt und von Überflüssigem befreit dem Darsteller einen großen Raum gaben, um in ihm Bedeutung zu stiften, suchen auch Mara Eggerts Bilder die Konzentration und die Möglichkeit, das Wesentliche gerinnen zu lassen. In vielen Theaterbildern der Gegenwart hingegen wird vielmehr dem Zweifel Ausdruck gegeben, dass das Wesentliche noch zu fassen wäre und dass der flüchtige Augenblick für mehr als den flüchtigen Augenblick stehen kann. Den Verfall, das Vergängliche der Aufführung, ja sie feiern es fast. Und stellen damit den Anschluss her zu anderen Kulturen des Populären, zum Glamour und zum Trash. Das Theater will nicht mehr vom Populären getrennte Hochkultur sein. Zu dieser Botschaft tragen die Fotografen einen großen Teil bei. René Pollesch: Solidarität ist Selbstmord (Münchner Kammerspiele; 2007) © Arno Declair
Demokr atisierung durch Bilder Das Inszenierte und das Künstliche wird ausgestellt in der Theaterfotografie. Doch es gibt dazu auch eine Gegenbewegung, ein anderes Kapitel zu Theater und Fotografie, das man in vielen Spielzeitheften von Stadttheatern beobachten kann. Da geht es um den Alltag, die Normalität einer Stadt, Identifikationsangebote an jedermann. Schauspieler, Musiker, Sänger, aber auch alle Mitarbeiter der Gewerke hinter den Kulissen werden porträtiert, möglichst draußen, außerhalb des Theaters, irgendwo in der Stadt und möglichst so, dass niemand auf Anhieb sieht, dies ist ein Schauspieler und dies ein Beleuchter. Natürlich sind diese Bilder Teil von Imagekampagnen, mit denen die Institution Theater an ihrer demokratischen Legitimierung arbeitet. Sie sind auch ein Abwehrzauber gegen die Angst vor dem Verlust an Bedeutung. Auftragskunst eben.
Kunst und Journalismus Aber Auftragskunst sind die meisten Theaterfotografien eben auch. Mara Eggert, Iko Freese, Andreas Pohlmann, Arno Declair oder Thomas Aurin fotografierten und fotografieren im Auftrag der Theater. Nur die Produktionsfotografen, die für ein Haus eine Inszenierung begleiten, haben die Möglichkeit, sich während der Proben auch zwischen den Schauspielern zu bewegen. Den Standort, die Perspektive wechseln zu können, trägt viel zur Dynamisierung bei. Anders geht es den Fotojournalisten, wie David Baltzer in Berlin oder Winfried Rabanus in München, von denen viele der in Tageszeitungen veröffentlichten „Die Bildbearbeitung Bilder kommen. Sie haben findet heute sogar nur bei der Fotoprobe, beim unterwegs statt.“ einmaligen Durchlauf die Möglichkeit, Bilder zu machen. Dann stehen sie oft in einer langen Reihe nebeneinander im Zuschauerraum und das Klick, Klick, Klick ihrer Apparate begleitet die Höhepunkte der dramatischen Entwicklung. Näher an das Geschehen heran kommen sie nur mit dem Zoom. Natürlich spielt auch die Entwicklung der Technik eine Rolle. Mit der Digitalisierung hat sich auch die handwerkliche Seite der Theaterfotografen beschleunigt, die Bildbearbeitung findet, wie Arno Declair einmal erzählte, heute sogar unterwegs, in der Bahn zwischen zwei Theaterhäusern, am Computer statt. Erhöht hat sich aber auch die Zahl der Produktionen, die ein Theater in einer Spielzeit herausbringt. Auch
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Blättert man etwa durch einen Bildband, der ein knappes Jahrzehnt (2001 bis 2009) an den Münchner Kammerspielen dokumentiert, mit vielen Aufnahmen von Andreas Pohlmann und Arno Declair, dann ist da oft eine Anmutung von Beschleunigung, von überdrehten Augenblicken. Auf einem Bild von Arno Declair zu einer Inszenierung von René Pollesch (2006 an den Münchner Kammerspielen, Solidarität ist Selbstmord), sieht man fünf, nein sechs Schauspieler auf einem Haufen liegen, die Glieder verschränkt, wie Kinder erschöpft vom Spiel; darüber beugt sich ein Kameramann und ein Mikrofongalgen hängt auch noch im Bild. Theater, das ist hier ein Arbeitsplatz zur Verfertigung von Bildern und Texten. Und zugleich erzählt dieses Theaterfoto von einem Verlust im Selbstverständnis der Institution: Dass die Bühne ein Ort der Repräsentation sei, an dem sich etwas zeigt oder ereignet, das zeichenhaft auf Wirklichkeit verweist. Plötzlich ist das Bildermachen schneller als die Wirklichkeit am Start, plötzlich scheinen die medialen Konkurrenten im Bild aus dem Theater auf, Bildschirme leuchten, Videoprojektionen legen sich über Körper.
62 dieser gestiegenen Betriebstemperatur geben die Fotografien Ausdruck, der Fotojournalisten genauso wie der Hausfotografen. Der gute Theaterfotograf dokumentiert nicht bloß, er schafft seine eigene Geschichte. Das galt für die Fotografen früherer Generationen, das ist geblieben. Das Bild, das von der Aufführung erzählt, erzählt zugleich von Phänomenen der Gegewart, die längst nicht nur auf das Theater beschränkt sind.
Katrin Bettina Müller ist seit den 1980er-Jahren Journalistin für Kunst, Theater, Tanz in Berlin, seit 2002 Redakteurin bei der Ta-
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geszeitung taz. Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion, Februar 2012 Mit freundlicher Genehmigung des Goethe-Instituts.
heating and speeding up How Theatre Photography Has Changed Theatre photography gives the theatre a new dimension. It conserves the theatre moment and transforms its ephemeral nature into a lasting medium. But what does theatre photography want to capture today, and can it do so? Does it show the supposed reality of theatre, or rather its artificiality? Does it capture an essential or a random moment of theatre action?
The meaning of the moment The ephemeral nature of the theatre medium has long been a challenge for theatre photographers. Something has changed in the concepts they use, though, and they react to this. If you look at black-and-white photography by Mara Eggert, who accompanied many directors’ careers (from Ruth Berghaus to Robert Wilson), then it is also focused on the moment – but a moment in which all is condensed into something symbolic. Like the formal, strict stage sets that – often abstract and liberated of anything superfluous – gave the performers plenty of room to create meaning, Mara Eggert’s images also searched for concentration and the possibility of reducing everything down to the essential. In contrast, many contemporary theatre images often express doubt that the essential could even be grasped and that fleeting moments could represent anything other than fleeting moments. Deterioration and the transience of a performance: they are almost celebrated here. And thus they connect to other popular cultures, glamour and trash. Theatre no longer seeks to be “high” culture and distance itself from Pop. The photographers play a major role in passing on this message.
Democr atisation in images
Theatre photography presents the staged and the artificial. But there is a counter-movement, a different chapter on theatre and photography that one can see in many city theatres’ season programs. Here, daily life is the issue, the normalcy of a city – identifi„Today, digital image cation for everyone. Actors, musicians, processing also takes Katrin Bettina Müller on the shifts in persingers… and all employees from behind place on the road.“ spective in theatre photography. the curtains: portraits are made of all of them, outside if possible, outside of Theatre is changing, and with it, the theatre, somewhere in the city and, its photography. Instability and understanding of reality as a if possible, so that no one sees immediately if the person is construction site, which is expressed in many stage sets, has an actor or a lighting technician. Of course, these images are become one of the most characteristic elements of theatre pho- a part of image campaigns that theatres use to work on their tography in the last decade. If one leafs through a catalogue democratic legitimisation. They are also a magical defence that documents a short decade (2001 – 2009) at Munich’s Kamagainst the fear of losing meaning. Commissioned art, so to merspiele with many photos by Andreas Pohlmann and Arno speak. Declair, then a sense of acceleration and exaggerated moments Art and journalism is conveyed. In one of Arno Declair’s photos of a work by René Pollesch (2006 at Munich’s Kammerspiele, Solidarität ist Selbstmord), But commissioned art is what most theatre photography is you can see five, no, six actors in a pile, with crossed limbs anyway. Mara Eggert, Iko Freese, Andreas Pohlmann, Arno like children who are tired Declair or Thomas Aurin all photographed and photograph on after a game. Above them, a „It is about a moment in theatre commissions. Only the production photographers who cameraman and a microwhich all is condensed phone boom also jut into the accompany a piece for a theatre have the opportunity to move into something symbolic.“ around the actors during the rehearsals. Being able to change image. Theatre – here this the location or the perspective adds a lot to the dynamics. is a workplace for creating images and texts. And at the Photo-journalists such as David Baltzer in Berlin or Winfried Rabanus in Munich, who deliver many of the photos that apsame time, this theatre photo tells of an institution’s loss of a certain self-understanding: that the stage is a place of represen- pear in the daily newspapers, are in a different position. They only have one photo rehearsal, a one-through, to take pictures. tation on which something is shown or takes place which makes Then they often stand in a long row next to one another in a symbolic reference to reality. Suddenly, the production of the house and their cameras’ click, click, click accompany the images is faster than reality itself, suddenly the competitors in the media of images appear in the theatre: monitors are glowing highlights of the dramatic developments. They only get closer to the action with their zoom. and video projections drape the bodies.
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Katrin Bettina Müller
1
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Of course, the development of technology also plays a role. Digitalisation has also accelerated the craft element of theatre photography. As Arno Declair once explained, digital image processing also takes place on the road or in a train between two theatres – at a laptop. The number of productions that a theatre premieres has also increased. The photographs express this increased operating temperature, regardless of whether they are made by photo-journalists or house photographers. A good theatre photographer doesn’t just document something; he creates his own story. This applied to past generations of photographers, and it still applies. The picture that tells something about the performance simultaneously tells something about contemporary phenomena – and these have never been limited to the theatre. has been a journalist
for art, theatre and dance in Berlin since the 1980s. Since 2002, she has been an editor at the daily newspaper taz. Copyright: Goethe-Institut e. V., Internet-Redaktion, February 2012 By courtesy of the Goethe-Institut.
2
Fotos 1 Ruth Berghaus: Der Ring des Nibelungen – Siegfried (Oper Frankfurt; 1986)
© Mara Eggert
© Thomas Aurin
2 Biljana Srbljanovic: Barbelo, von Hunden und Kindern (Schauspiel Essen; 2009)
64 Theaterdokumentation als diskursive Medienpraxis
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1.
· das Fernsehen (Erweiterung der Programmstrukturen; die Theaterästhetik wird dabei einer ‚zeitgemäßen’ Medienästhetik unterworfen) · die Theaterwissenschaft (als Demonstrations- und Argumentationshilfen in theatertheoretischen und -geschichtlichen Diskursen im Rahmen von Lehre und Forschung) · die Gesellschaft/en in Gestalt diverser kultureller Institutionen mit Dokumentations- und Informationsauftrag (im Sinne der Schaffung eines kulturellen Gedächtnisses)
Spätestens seit den 1960er Jahren gibt es eine zyklische Beschäftigung, im Gedanklichen wie im Praktischen, mit der audiovisuellen Theaterdokumentation. Das Ergebnis lässt sich in der Regel mit einem Wort zusammenfassen: Unzufriedenheit. Was bleibt, ist die wenig akademische Feststellung: Jede audiovisuelle Aufzeichnung ist besser als gar nichts. Es scheint daher angebracht, darauf zu verweisen, was audiovisuelle Aufzeichnungen von Theater nicht sind: Sie sind keine Dokumente per se und auch keine mediale Konservierung/Rekonstruktion Die wenigen theoretischen Auseinandersetzungen mit Fragen der eines künstlerischen Ereignisses, einer Theateraufführung. audiovisuellen Theaterdokumentation im deutschsprachigen Vielmehr ist zu betonen, dass Theaterdokumentation einen Raum sind an einer Hand abzuzählen. Dazu gehören zum einen umfänglichen Korpus von Dokumenten, Materialien, Artefakdie mit praktischen Aufzeichnungsaktivitäten gekoppelten ten, Medien etc. meint, zu denen auch auReflexionen von Gylfe Schollak1 aus dem Jahre 1979 und Rainer Lindemann/ diovisuelle Theateraufzeichnungen gehö„Jede audiovisuelle Christiane Wandke2 aus den späten ren können, und aus deren Relativität sich Aufzeichnung ist besser 1980er Jahren, zum anderen die theadokumentarisch begründete Erkenntnisals gar nichts.“ tertheoretischen Problemdarstellungen se über Theateraufführungen, Theatervon Dietrich Steinbeck3 und Rainer M. strömungen, Theaterprofile, kulturgeKöppl4. Beide letztgenannten Texte sind schichtliche Linien etc. ableiten lassen. noch heute anregende Ausgangspunkte erkenntnistheoreti Im Wesentlichen lassen sich vier Interessenten an scher und methodischer Suche, zumal neben der Sammlung audiovisuellen Dokumentationen von Theaterereignissen auspraktischer Erfahrungen auch die Entwicklung einer theatermachen: wissenschaftlichen Dokumentationstheorie noch aussteht. · zunächst das Theater selbst, das meist pragmatische Für den Aufbau einer solchen Theorie sollen die folgenden Ansprüche an Aufzeichnungen hegt. (Nutzung als ProbenÜberlegungen einige Denkbausteine liefern. protokoll, Rekonstruktion von Abläufen, etwa bei Umbesetzungen u.a., Gewinnung von Material für werbetechnische Selbstdarstellung, Vermittlung von Aufführungsimpres2. sionen bei Gastspielen, etc In einer der zyklischen Debatten über Theateraufzeichnungen brachte der Fernsehdramaturg Volker Canaris bereits in den siebziger Jahren das Dilemma auf den Punkt, indem er von der „prinzipiellen Unverträglichkeit der beiden Medien“5 sprach. Was hier für das Fernsehen dargestellt wird, gilt sicher für jede audiovisuelle Theateraufzeichnung, nämlich das Dilemma, „dass eine Theaterproduktion um so weniger für den Transport im Fernsehen geeignet ist, je bewusster, gekonnter, phantasievoller und kalkulierter sie mit theatralischen Mitteln arbeitet.“ 6 Dies sollte die Theaterwissenschaft warnen, sich über das Irrtumspotential der audiovisuellen Dokumente hinwegzutäuschen. Was hier deutlich wird, ist die Tatsache, dass sich gerade das Wesen des Theaters selbst, seine eigene Realität und die spezifische Wahrnehmung dieser Realität, dem audiovisuellen Medium verschließt. Sowohl theoretisch als auch ganz pragmatisch entsteht die banale Frage, Was soll/kann eigentlich aufgezeichnet werden? Schon die allgemein akzeptierte These von der Einmaligkeit jeder Theatervorstellung, die aus dem transitorischen Charakter erwächst, lässt fragen, welche Vorstellung aufgezeichnet werden soll; oder müssten alle Vorstellungen
65 3. Die audiovisuelle Theateraufzeichnung als theaterwissenschaftlich relevantes Dokument ist als solches fragwürdig. Dies liegt zum einen an der wechselseitigen ästhetischen Unverträglichkeit, zum anderen an der Vielfalt pragmatischer Konditionen der Aufzeichnung. Sowohl Theater als auch die AV-Medien organisieren sich als komplexe Ereignisse, die ästhetisch, technisch und administrativ konditioniert sind. Eine audiovisuelle Theateraufzeichnung ist also nicht nur der gewagte Versuch, zwei ästhetisch unverträgliche Medien in eine Relation zu bringen, sondern der noch schwierigere Versuch, zwei differierende Ereignisstrukturen abzugleichen. Theaterwissenschaft funktioniert, wie jede Wissenschaft, über die historisch konkreten Subjekte/Personen, die sie betreiben. Diese greifen ihrerseits, neben verschiedenen Arbeitsmaterialien, auf ihre ureigene praktische Begegnung mit der konkreten materiellen und zugleich vergänglichen Realität des Theaters zurück. Die eigene subjektive Wahrnehmungserfahrung ist insofern ureigen, weil die subjektiven Sinne Kunde von der Theaterveranstaltung geben. Die eigene Wahrnehmung der Theaterrealität ist und bleibt, bei aller Subjektivität, die erste Ur-Kunde vom Theater. In diesem Sinne kann von · einer internen Speicherung (interne Urkunde) der Wahrnehmung (Gedächtnis) und · einer externen Speicherung (externe Urkunde) der Wahrnehmung (audiovisuelle Medien) gesprochen werden.
Was ist mit Inszenierungen, die nur aus einer kommunikaDer theaterwissenschaftliche Wert der audiovisuellen Theatertiven Struktur bestehen, nur allgemeine thematische und aufzeichnung könnte nun in der Vermittlung beider Speicherkommunikationsstrategische Verabredungen besitzen und prozesse gesucht werden, indem die externen Medien (also die durch unterschiedliche personelle Besetzung und variierende audiovisuellen Theateraufzeichnungen) Spielvorgänge modifiziert werden? · der Aktivierung / Reaktivierung des Gedächtnisses/Erinnerung er Wie soll die räumliche und zeitliche Identität des lebter Theaterrealität oder Spielvorgangs und der Kommunikation mit dem Publikum · der Aktivierung der Imagination von Theaterprozessen (bei aufgezeichnet werden? Gemeinhin wird fremden, unbekannten, ungesehenen die Kamera auf die Bühne gerichtet. Theaterinszenierungen) dienen. „Die eigene Wahrnehmung Wer aber zeichnet das Publikum der Theaterrealität ist und und sein Verhalten auf? Ist das PubliDas Wissen um diese Prozesse sollte bleibt die erste Ur-Kunde kumsverhalten nur spezielles Betrachhelfen, Algorithmen der Vermittlung vom Theater.“ tungsobjekt der Theatersoziologie oder auszubilden. ist es eine ästhetische Konstituante? Audiovisuelle Theater Die irrtümliche Stimmigkeit eiaufzeichnungen sind damit im Wesentliner Theateraufzeichnung bei Inszenierungen, deren räumlich chen kein authentisches Zeugnis von Theaterrealität, sondern gerichtete Anordnung (Gegenüber von Bühne und Publikum, eine Vermittlungskonstruktion (heute noch meistens mit in deren Rahmen eine Inszenierung als ‚Life-Film’ abläuft) Zufälligkeitscharakter, partiell konkret intendiert). tradiert ist, bricht in sich zusammen, wenn diese Perspektive Es gilt allgemein: Ein Dokument ist eine Konstruktion, ein von der Inszenierung selbst fallen gelassen wird (Aufgeben Zuordnungsprodukt. Diese Zuordnung muss durch die Theader konventionellen Theaterarchitektur, Spielen an Originalterwissenschaft unter Zuhilfenahme anderer Materialien und schauplätzen etc.). Wo also ist hier der Ort der Kamera, die spezifischer Denk-Weisen erst hergestellt werden. AudioviMedienperspektive? suelle Theaterdokumente sind nicht a priori selbsterklärend, Wie sollte die Theateraufzeichnung den Verlust im Gegenteil häufig eher irritierender / irreführender Natur. der Raum-, Zeit- und Materialwahrnehmung kompensieren? Sie sind damit nicht als Theaterdokumentationen an sich zu Gerade die wesenhafte Materialität des lebendigen Vorganges verstehen, sondern als materielle Grundlage einer dokumenTheater verschwindet in der Entmaterialisierung des Meditarischen Haltung und Praxis, die einen spezifischen Diskurs ums. Die ästhetisch konstitutive Materialität des Theaters wird unter Verwendung eben dieses Materials praktiziert. Die aufgehoben in der Materialkonstanz des Mediums (als Leinwand Diskussion über die Möglichkeiten der Theaterdokumentation oder Mattscheibe). sollten daher nicht verallgemeinernd, sondern an spezifischen
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einer Inszenierung aufgezeichnet werden? Welche Vorstellung ist repräsentativ? Die Generalprobe oder Premiere? Eine so genannte ‚eingespielte’ Inszenierung? Die letzte Vorstellung? Wie groß sind die Differenzen zwischen den Vorstellungen, wie lassen sie sich dokumentieren?
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Interessen (der Theaterpraxis, der Theaterwissenschaft, der Gesellschaft) orientiert, geführt werden. Theaterdokumentation ist zu verstehen als eine zu definierende Haltung und Tätigkeit.
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4. Zu den in diesem Sinne anregenden historischen Beispielen gehört zweifelsohne die von Bertolt Brecht angeregte Dokumentationsarbeit des Berliner Ensembles. Die Leistung Brechts (von der Notwendigkeit der Produktion von Dokumenten überzeugt) besteht vor allem darin, die Dokumentationstätigkeit7 mit einer bedeutenden theoretischen Kategorie zu verbinden - dem Modell - und dadurch die dokumentarische Haltung zu funktionalisieren. Der Sinn der im Berliner Ensemble zu Brechts Inszenierungen produzierten Modellbücher liegt keineswegs allein im Aufbewahren von Inszenierungen, sondern in der Möglichkeit ihres Gebrauchs bei neuen Inszenierungen, die sich daran orientieren und Veränderungen ausloten. Die Forderung nach Veränderbarkeit macht zudem deutlich, dass es hier keineswegs (nur) um Rekonstruktion eines Theaterereignisses geht. Materialbasis dieser Modellbücher sind Fotos und Texte. Ob die filmische Aufzeichnung (heute vornehmlich mit elektronischen Apparaten) eine lineare Fortschreibung dieser Dokumentation ist oder ein neues, anderes Medium der Dokumentation darstellt, ist zu diskutieren. Von Brechts Theatertheorie ausgehend, ist dem filmischen Medium etwas eigen, was die audiovisuelle Theaterdokumentation mit dem Charakter eines Quantensprunges auszeichnet: die Dokumentation von Bewegung, allerdings nicht von Bewegung als solcher, sondern von theatralischer Qualität. Es ist die Möglichkeit der Fixierung sinnlicher körperlich-praktischer Bewegung der Schauspieler mit Darstellungsqualität im Sinne der Brechtschen Kategorien von Haltung, Gestus und Vorgang.
5. „Audiovisuelle Theateraufzeichnungen sind [kein authentisches Zeugnis von Theaterrealität, sondern] eine Vermittlungskonstruktion.“
Aus ganz anderer Perspektive stellt sich die Funktionalisierung von audiovisuellen Dokumenten für die Theaterwissenschaft dar. Ausgehend von der Notwendigkeit der Zweckorientiertheit, der Formulierung klarer Erkenntnisinteressen, hatte Dietrich Steinbeck schon 1970 auf die Bedeutung der audiovisuellen Theaterdokumentation für die Bestimmung des Gegenstandes der Theaterwissenschaft verwiesen: „Die theaterhistorische Forschung steht vor einem zentralen Problem: Sie kann über die Werke, mit denen sie sich beschäftigt und von denen sie ständig spricht, nicht verfügen. Die individuellen Ereignisse der Theatergeschichte haben sich identisch nicht überliefert (…) Theatergeschichte (…) ‚hat’ ihre Gegenstände nicht, sondern muß sie durch besondere Operationen erst ‚dingfest’ machen, sollen sie sich überhaupt wissenschaftlicher Bearbeitung erschließen.“8 Mit Recht verwies allerdings Rainer M. Köppl bereits 19909 auf ein Dilemma, das in der unreflektierten Produktion von audiovisuellen
Theateraufzeichnungen besteht: Köppl macht an dem Versuch Jorge Luis Borges’, die Poetik des Aristoteles zu verstehen, deutlich, dass dessen Scheitern an „sinndunklen Rätselwörtern“10 kritisch auf die Gegenwart bezogen werden muss, in der (in zunehmendem Maße) sinndunkle Rätselbilder produziert werden. Theaterdokumentation aber steht vielmehr vor der Aufgabe einer prophylaktischen Enträtselung der Bilder und Töne der Theateraufzeichnungen. Das ist schließlich gemeint, wenn von der Tatsache ausgegangen wird, dass Theateraufzeichnungen keine Dokumente an sich sind, sondern Dokumente erst produziert werden müssen. Theateraufzeichnungen sind keine Kopien von Aufführungen11, sie sind Transformationen in ein anderes Medium. Die interessengebundene Referenz auf das Theaterereignis ist dabei durch spezifische Produktion herzustellen. Daher, so auch Köppl, „muß Theaterdokumentation vor allem Produktion sein: Sicherung des Materials, Gestaltung der Dokumente, Herstellung des Forschungsgegenstandes Inszenierung/Aufführung“12. Theaterdokumentationen sind also theaterbezogene Diskurse aus gegebenem Wissen und Bewusstsein für potentielle Interessen, sind Dokumente zu spezifischem Gebrauch. Sie müssen daher sowohl das Material als auch die Anleitung für diesen Gebrauch liefern. Produktion von Theaterdokumentationen bedeutet daher Produktion des Referenzmaterials (z. B. audiovisuelle Theateraufzeichnung) als auch der Bedienungsanleitung. Letztere, als Kommentierung zu verstehen, ist dabei aber nicht auf sprachliche Erklärungen zurückgeworfen, sondern bedient sich bei Theaterdokumentationen mit audiovisuellen Medien auch der technischen Bearbeitungsmöglichkeiten dieser Medien im Sinne einer audiovisuellen Rhetorik. Audiovisuelle Theaterdokumentationen sind, schlichter ausgedrückt, medial präparierte Theateraufzeichnungen.
67 6.
In dem bereits zitierten Text von R. M. Köppl definiert dieser den Gegenstand der Theaterwissenschaft wie folgt: „Theaterwissenschaft schreibt die Geschichte eines spezifischen kulturellen Verhaltens. Sie erforscht Rollenspiel, Selbstdarstellung und inszenierte Wahrnehmung – im Theater, in den Massenmedien und im Alltag.“14 Genauer handelt es sich um die Erforschung der inszenierten Wahrnehmung von theatralen/ darstellerischen Vorgängen/Tätigkeiten. Daraus wäre abzuleiten, dass die (audiovisuelle) Theaterdokumentation die Produktion von (audiovisuellen) Analysen inszenierter Wahrnehmung ist.
Der analytische Umgang13 mit dem Aufzeichnungsmaterial, um dasselbe zur Dokumentation zu wandeln, besteht in ihrer produktiven medialen Verarbeitung. Zweifellos unterliegt die audiovisuelle Theateraufzeichnung schon bei der Produktion des Materials einem Gestaltungswillen in Form von Kameraführung, Bildauswahl und Schnitt. Da dabei versucht wird, den Bühnenvorgängen, den Aktionen, den Arrangements zu folgen, haben wir es hier mit einer konstruktiven Rekonstruktion zu tun. Das aufgezeichnete Material erscheint auf der Ebene der Bilder und der Bild-/Tonfolgen in spezifischer Gestalt, die jedoch als Gestalt nicht mit der Gestalt des theatralen Vorgangs, Arrangements etc. identisch ist. Den Sinn dieser theatralen Vorgänge gilt es durch Dekonstruktion des audiovisuellen Materials herzustellen. Erst die Dekonstruktion des Materials produziert das, was als Theaterdokumentation gelten kann. Der Arbeitsvorgang umfasst damit die Triade: Rekonstruktion – Dekonstruktion – Konstruktion. Die durch die Digitalisierung gesetzten Verknüpfungsmöglichkeiten jeglicher Materialformen stellen heute ein umfangreiches Gestaltungsrepertoire für solche konstruktiven Dekonstruktionen zur Verfügung. Herausragendes Beispiel für eine solche Verfahrensweise zur Produktion von Dokumenten ist die Sendung Verschollene Filmschätze des deutsch-französischen Kulturkanals arte. Obwohl es in der Sendereihe um die Dokumentation historischer Ereignisse geht, sind die Verfahren auch für die Dokumentation von Theaterereignissen als Anregung denkbar. Die Sendereihe beweist deutlich, wie die elektronische Bearbeitung einen Mehrwert an Information produziert, der a) das sachliche Filmmaterial mit strukturierter Informationen anreichert, b) diese mit bildgebenden Verfahren sichtbar macht und c) damit letztendlich erst das eigentliche Filmdokument produziert.
7. Bereits im Jahre 1888 stellte der Physiker und Philosoph Ernst Mach Überlegungen über die analytischen Möglichkeiten medialer Darstellung von Realität an.15 Für theaterwissenschaftliche, vor allem theaterhistorische Untersuchungen entscheidend ist Machs Einsicht, dass die wissenschaftliche Erkenntnis von der sinnlichen Anschauung ausgehe und diese sinnliche Anschauung über die durch Beschreibung ausgelöste Vorstellung hinaus gehe. Dazu bedarf es aber einer Verdichtung sinnlicher Daten, damit der Anschauung und letztendlich des Wahrnehmungsspielraums, sprich des analytischen Umgangs mit Realität. Bildgebende Techniken sollten dazu genutzt werden, Einsichten in Realität, und das ist auch für theatralische Ereignisse denkbar, durch die Dehnung von Raum und Zeit im Sinne von Vergrößerung und Verkleinerung sowie Beschleunigung und Verlangsamung zu erlangen. Fast ein halbes Jahrhundert später, 1931, erläutert Bertolt Brecht in seinen Anmerkungen zur Inszenierung von Mann ist Mann im Berliner Staatstheater ein anderes audiovisuelles Verfahren des analytischen Umgangs mit Theater.16 Mit dem Verweis darauf, dass „mit Unterbrechungen die hauptsächlichen Drehpunkte der Handlung“17 gefilmt wurden, beschreibt Brecht genau jenen im vorangegangenen Abschnitt „Die produktive beschrieben Vorgang der Verknüpfung von Selektion Konstruktion (des Dokuund Einfrierung produziert ments) durch Dekonstrukeinen angestrebten tion (Unterbrechung) der Mehrwert unter Filmaufnahme. Rückgriff auf das Der dokumentaristroboskopische Sehen.“ sche (Mehr)Wert dieses Verfahrens bestand darin, „dass (…) in großer Verkürzung das Gestische herauskommt“18. Dieses Moment der dekonstruktiven Konstruktion, hier als sprunghafte Unterbrechung des Kontinuums der Aufnahmen realisiert, gewinnt grundsätzliche Bedeutung, wenn man es auf den menschlichen Wahrnehmungsprozess anwendet. Das verdeutlichend, wird hier die Hypothese vertreten, dass unsere Wahrnehmung menschlichen Verhaltens auch im Alltag grundsätzlich Vorgängen der Unterbrechung gehorcht. Das Kontinuum der Ereignisse wird in unserer Wahrnehmung in Einzelvorgänge zerlegt, die als Sinn gebende Bilder ab-
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„Der Arbeitsvorgang umfasst die Triade: Rekonstruktion – Dekonstruktion – Konstruktion.“
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68 gespeichert und erinnert werden. Dadurch ergibt sich eine sprunghafte Bildfolge, die Momente, in denen ein menschlicher Ausdruck sinnträchtige Gestalt bekommt, selektiert. Ich nenne diese Art der Wahrnehmung, in Anlehnung an das entsprechende technische Verfahren der Bildbearbeitung, das stroboskopische Sehen. Auch hier wird ein Vorgang in eine selektive Bildfolge zerlegt, deren Abfolge aber das reale Zeitkontinuum nicht verletzt. Es ist interessant, dass Sergej Eisenstein in seinen Filmen ein vergleichbares Verfahren praktizierte. Da die Möglichkeit der stroboskopischen Aufzeichnung durch die Filmtechnik nicht gegeben war, realisierte er sie durch eine spezifische Darstellungstechnik der Schauspieler, die man aus heutiger Sicht als stroboskopischen Stil beschreiben könnte. Er hielt seine Darsteller an, keinen psychologischen Ausdrucksfluss zu erzeugen, sondern eine schnelle, sprunghafte Abfolge von Haltungen, Gesten und Mimiken, die eine stroboskopische Aneinanderreihung bildete. Diese Echtzeitabfolge von expressiven Gesten (Einzelbildern) erhält ihre dynamische und intensive Wirkung aus zwei Eigenschaften – erstens der Selektion von Einzelgesten und zweitens dem Vorgang eines kurzzeitigen Einfrierens dieser Gesten für die Wahrnehmung. Die produktive Verknüpfung von Selektion und Einfrierung produziert einen angestrebten Mehrwert unter Rückgriff auf das stroboskopische Sehen. Dies ist als Beispiel einer produktiven Form visueller Rhetorik der dekonstruierend-konstruktiven Gestaltung von Dokumenten zu verstehen.
8. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es für die Zukunft notwendig sein wird, durch praktische Experimente Erfahrungen für eine sinnvolle audiovisuelle Theaterdokumentation zu sammeln. Entscheidend kann dabei die Anwendung (digitaler) medialer Verfahren der analytischen Dekonstruktion im Interesse einer dokumentarischen Authentizität sein, etwa durch konsequente Nutzung der heute verfügbaren Verfahren digitaler Bildbearbeitung und multiperspektivischer Darstellungsformen. Profitieren könnten davon sowohl die Theaterwissenschaft als auch jene gesellschaftlichen Einrichtungen, die mit kulturgeschichtlicher Verantwortung ein sinnlich greifbares Archiv theatergeschichtlicher Ereignisse etablieren und damit wesentlich an der Gestaltung und Präsentation eines kulturellen Gedächtnisses der Gesellschaft mitwirken.
Dr. Erhard Ertel
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Insti-
tut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Er promovierte zu Problemen einer Semiotik der Darstellenden Kunst (unter besonderer Berücksichtigung der informationstheoretischen Ästhetik). Seit vielen Jahren dokumentiert er Theater, z. B. Aufführungen der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und das internationale Theaterfestival Plzen. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Medienlabors des Instituts für Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin.
Fotos © Erhard Ertel
fuSSnoten Schollak, Gylfe: Die audiovisuelle Theaterdokumentation. Probleme
1
der Fixierung und Demonstration von Theaterkunst mit Hilfe von Film-, Fernseh- und Videotechnik ; verwirklicht an einer 16mm-Probendokumentation zu der Inszenierung Die Bauern von Heiner Müller an der Volksbühne Berlin, Verband der Theaterschaffenden der DDR, Berlin 1981 (Dissertation, Humboldt Universität zu Berlin 1979). Referenzinszenierung der Untersuchung war die Inszenierung von Heiner Müllers Die Bauern an der Volksbühne Berlin (Regie: Fritz Marquardt, Premiere der UA: 30. Mai 1976). 2
Lindemann, Rainer/ Wandke, Christiane: Bühne im Raster. Die audio-
visuelle Theaterdokumentation, Zentrum für Theaterdokumentation und –information, Berlin 1993. Referenzinszenierungen waren Jean Genets Der Balkon (Inszenierung: Hans Neuenfels, Premiere: 19. März.1983) und Frank Wedekinds Franziska (Inszenierung: Hans Neuenfels, Premiere: 15. Dezember 1985). 3
Steinbeck, Dietrich: Probleme der Dokumentation von Theaterkunst-
werken (Habilvortrag 1970), in: Klier, Helmar (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1981, S. 179 - 191. 4
Köppl, Rainer Maria: Das Tun der Narren. Theaterwissenschaft und
Theaterdokumentation, in: Möhrmann, Renate (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1990, S. 351 – 369.
69
Volker Canaris, „Theater ist im Fernsehen nur unvollkommen zu ver-
5
mitteln“, in: Theater heute, Heft 9/1976, S.26.
ebenda, S. 27.
„Das Berliner Ensemble stellt von einigen seiner Aufführungen Mo-
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dellbücher her. Bisher liegen vor Herr Puntila und sein Knecht Matti, Die Mutter, Mutter Courage und ihre Kinder. In Vorbereitung ist Der Hofmeister. Sie bestehen aus 450 bis 600 Aufnahmen der Aufführung sowie Anmerkungen über die Erfahrungen und Erörterungen beim Einstudieren der Stücke. (…) Zur Herstellung der Modelle machen die Regieassistenten bei den Proben Anmerkungen.“ In: THEATERARBEIT. 6 Aufführungen des Berliner Ensembles, Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1967 (3. Auflage), S. 294f. Steinbeck, Dietrich: Probleme der Dokumentation von Theaterkunst-
werken (Habilvortrag 1970), in: Klier, Helmar (Hg.): Theaterwissenschaft im deutschsprachigen Raum, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1981, S. 179.
9
Köppl, Rainer Maria: Das Tun der Narren. Theaterwissenschaft und
Theaterdokumentation, in: Möhrmann, Renate (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1990, S. 351 - 369. 10
Ebenda, S. 353.
Ihre Funktion besteht also keineswegs in der Konservierung eines äs-
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thetischen Ereignisses. So formulierte auch Steinbeck seinerzeit: „Eine Dokumentation muß und kann ihrem Benutzer nicht den erlebnismäßigen Nachvollzug des Theaterereignisses ermöglichen, sondern allein ein adäquates kritisches Verstehen.“ Steinbeck, Dietrich: Probleme der Dokumentation von Theaterkunstwerken, a.a.O., S. 186. Köppl, Rainer Maria: Das Tun der Narren. Theaterwissenschaft und
12
Theaterdokumentation, in: Möhrmann, Renate (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1990, S. 360 13
In diesem Sinne argumentiert auch schon Steinbeck 1970: „Ein ästhe-
tischer Verkehr mit den Theaterkunstwerken der Geschichte ist ohnehin nicht oder nur begrenzt möglich. Für die wissenschaftliche Erfassung und Darstellung theatergeschichtlicher Entwicklungen aber scheint ein Verfahren, das ich als ‚analytische Dokumentation’ bezeichnen möchte, doch relativ brauchbar.“ Steinbeck, Dietrich: Probleme der Dokumentation von Theaterkunstwerken, a.a.O., S. 185. Köppl, Rainer Maria: Das Tun der Narren. Theaterwissenschaft und
14
Theaterdokumentation, in: Möhrmann, Renate (Hg.): Theaterwissenschaft heute. Eine Einführung, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1990, S. 356 15
Mach, Ernst: Bemerkungen über wissenschaftliche Anwendungen
der Photographie (1888), in: Kümmel, Albert/ Löffler, Petra: Medientheorie 1888 – 1933. Texte und Kommentare, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 21 – 24. 16
„Ein sehr interessantes Experiment, ein kleiner Film, den wir von
der Vorstellung aufnahmen, in dem wir mit Unterbrechungen die hauptsächlichen Drehpunkte der Handlung filmten, so dass also in großer Verkürzung das Gestische herauskommt, …“. Brecht, Bertolt: Schriften zum Theater, Bd. II 1918 - 1933, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 1964, S. 81 (Anmerkungen zum Lustspiel Mann ist Mann). 17
Ebenda; S. 81.
18
Ebenda, S.81.
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70 Vom Versuch, das Flüchtige zu materialisieren
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Der Band Theaterhistoriografie. Eine Einführung des Autorentrios Jan Lazardzig, Viktoria Tkaczyk und Matthias Warstat. Rezensiert von Andrea Specht Eine Theateraufführung oder Performance verflüchtigt sich in dem Moment, in dem sich die Gleichzeitigkeit von Zuschauer und Akteur auflöst. Was bleibt neben den subjektiven Nachklängen und Erinnerungen? Wie kann rückblickend adäquat von theatralen Ereignissen erzählt werden, gerade im Kontext wissenschaftlichen, theaterhistoriografischen Arbeitens? Welche Quellen lassen sich heranziehen und wie verlässlich daraus Aussagen ableiten? In diese Fragestellungen schreibt sich der gelungene, umfassende Einführungsband des Autorentrios Jan Lazardzig, Viktoria Tkaczyk und Matthias Warstat ein. Die Quellenlage betrachtet, lassen sich zweierlei Spuren aufnehmen – einerseits intentional für die Nachwelt und Archivierung angefertigte Informationsträger und Artefakte, die der Traditionsvermittlung dienen, und andererseits sogenannte Überreste, die eher zufällig en passant entstanden sind und rückblickend Aufschluss über ein Aufführungsereignis bieten können. Diese beiden Quellenarten stehen dem um die Materialisierung der ephemeren Bühnenkunst bemühten Theaterhistoriografen zur Verfügung. Der Band zeigt die für theaterhistoriografisches Arbeiten relevanten Quellen auf – samt deren Potentialen und Begrenzungen. Zu ihnen gehören Bühnentechnik, Maske, Fotografie und Rezension ebenso wie Strichfassung, Theaterbau, Zensurakte, etc. An ausgewählten Artefakten exemplifiziert, vermittelt das Einführungswerk dabei grundlegendes wissenschaftliches Handwerkzeug wie Quellenkritik und -analyse. Neben den materiellen Spuren, die als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung herangezogen werden, führen die drei renommierten Theaterwissenschaftler die wesentlichen Theorien und Methoden an. Erläutert werden zum einen anwendbare Perspektiven, wie ästhetische, sprachphilosophische, semiotische, phänomenologische, kommunikations- oder medientheoretische Ansätze. Sowie zum anderen einschlägige wissenschaftliche Methoden der Hermeneutik, Diskursanalyse, Quantifizierung, Vergleich etc. Die Stärke des Buchs liegt darin, die Theoriegebilde samt Kritiken und Gegenpositionen anschaulich und verständlich einzuführen, sie jeweils rückzubinden an ihre Relevanz für die Theaterwissenschaft sowie mögliche Untersuchungsgegenstände und Fragestellungen in den Blick zu rücken. Um ihren Ausgangspunkt zu verdeutlichen fächern die Autoren zu Beginn den Begriff „Theaterhistoriografie“ in dessen Bestandteile und ihre Deutung auf: Der hier zugrundeliegende Theaterbegriff werde im weitesten Sinn als Theatralität gefasst, weg von Institution oder dramatischem Kanon. Historie oder Geschichte impliziere immer eine Perspektive und verfolge die Herstellung von Sinnzusammenhängen. Ob-
jektives Erzählen von Geschichte bleibe also ein Ideal. Zudem ist dem Schreiben letztlich ein Konstruktionscharakter immanent, in dessen Praxis sich erst ein Untersuchungsgegenstand – wie transitorisch und ephemer er auch sein mag – materialisiert. So steht das Einführungswerk unter der Prämisse, dass jeder Auseinandersetzung mit Vergangenem ein narratives, ja fiktives Element anhaftet. Kein noch so präzises quellenkritisches historiografisches Arbeiten kann für sich beanspruchen, die Vergangenheit kohärent zu erfassen oder zu deuten. Erzählen als sinnstiftende Praxis konstruiert vielmehr Geschichte(n) und Bedeutung und kann nie losgelöst von Perspektive und zeitlicher Verortung des Schreibenden betrachtet werden. Vergangenes lässt sich nicht mehr mit Sicherheit fassen und wird nach seinem „Gegenwart-sein“ nur noch als Annäherung greifbar sein, deren Erzählduktus fiktive Elemente nicht vermeiden kann. Was bleibt also? Mehr als Spuren? Dass Theaterhistoriografie dennoch nicht hinfällig ist, beweist der Band quasi performativ. Sie muss sich dem Ideal größtmöglicher Objektivität durch wissenschaftliche Sorgfalt verschreiben und im Bewusstsein ihrer Rückbindung an die jeweils gegenwärtige, subjektive Perspektive stehen. Auch das Buch selbst muss – in Bezug auf den definierten Theaterbegriff, die getroffene Auswahl der Methoden und Ansätze – als eingewoben in die diskursive Praxis seiner Entstehungszeit verstanden werden. Was bleibt, wird sich zeigen.
Theaterhistoriogr afie. Eine Einführung Jan Lazardzig, Viktoria Tkaczyk, Matthias Warstat. Tübingen: A. Francke, 2012 (UTB) 22,99€ Andrea Specht
ist Mitarbeiterin in der Geschäftsstelle des In-
ternationalen Theaterinstituts und freie Publizistin. Sie leitet seit 2011 die Redaktion der ITI-Publikationen impuls/impulse und aktuell des Jahrbuchs.
71 impressum / imprint Jahrbuch des Zentrums Bundesrepublik Deutschl and des Internationalen Theaterinstituts Yearbook of the German Centre of the International Theatre Institute Pr äsident / President Dr. Manfred Beilharz
Her ausgeber / Editor Redak tion / Editorial team Andrea Specht Dr. Thomas Engel Michael Freundt Thilo Wittenbecher
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Dr. Thomas Engel
A competition and a meetingJAHRBUCH dedicated YEARBOOk to worldwide2013 exchange in new opera and music theatre. Music Theatre Now
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was bleibt