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EINER WELT NAHE KOMMEN

EINER WELT NAHE KOMMEN

Ein Gespräch zwischen Wiebke Puls, Verena Regensburger und Kassandra Wedel

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Um der (De-)Konstruktion von Wahrheit und Wahrnehmung auf die Spur zu kommen, treffen in „Luegen“ eine hörende — Wiebke Puls — und eine gehörlose Schauspielerin — Kassandra Wedel — aufeinander. Virtuos begeben sich die Künstlerinnen unter der ebenso freien wie einfühlsamen Regie von Verena Regensburger in ein Experiment. Die Bühne wird zum Versuchsraum für bewusst und unbewusst Kommuniziertes, zu einem Authentizitätslabor, das einlädt zu dechiffrieren, genauer hinzusehen und zu beobachten. Der Text entstand über die Unmittelbarkeit von im Probenprozess formulierten Gedanken und versucht sich auf diesem Weg einer Form von Wahrheit anzunähern. Über Worte wie über Gestik, Mimik oder zwischenmenschliche Kommunikation werden die Inhalte vermittelt. Es geht um Perspektiven- und Identifikationswechsel — nicht zuletzt mittels Sprache, sei es Laut-, Gebärden- und/ oder Körpersprache.

Dann machen sie dies zusammen, Musik, bauen über Echoschleifen einen Song, Wedel tanzt, Puls tanzt, beide singen – und zwischen ihnen ist keine Lüge, nichts Falsches mehr. (Süddeutsche Zeitung, Egbert Tholl)

Die Inszenierung „Luegen“ war die erste Regiearbeit von Verena Regensburger, die im April 2017 an den Münchner Kammerspielen Premiere hatte. Auch wenn es in dieser Inszenierung nicht um das Übersetzen als solches geht, sagt die Inszenierung doch viel darüber aus. Wiebke Puls, Verena Regensburger und Kassandra Wedel setzten sich nach drei Jahren, in denen die Inszenierung auch bei internationalen Gastspielen gezeigt wurde, für uns zusammen und reflektierten gemeinsam über ihre Arbeit.

VERMEINTLICHE SPRACHBARRIEREN

WIEBKE PUL S: Verena, hattest du bei den Proben das Gefühl, übersetzen zu müssen? Du hattest dir ja viele Gedanken gemacht, wie der Abend sich hörenden und gehörlosen Menschen vermitteln kann. Hattest du eigentlich auch den Eindruck, dass du innerhalb unseres Teams Übersetzungsarbeit leisten musstest?

VERENA REGENSBURGER: In meiner Erinnerung ist es nicht so gewesen. Vermeintliche Sprachbarrieren, unterschiedliche Formen von Kommunikation sind immanentes Thema des Abends und durchziehen fast alle Spielprozesse. Aber im Team gab es vielmehr so etwas wie neue Spielregeln. Wir mussten uns beispielsweise dran gewöhnen, dass wir uns – egal zu wem wir gerade sprechen – zu dir, Kassandra, wenden, damit du von unseren Lippen ablesen kannst. Bei den langen Gesprächen hatten wir eine Dolmetscherin dabei. Ich denke, dies führte unabdingbar zu einer noch ausgeprägteren Auseinandersetzung mit Sprache. Die Beschäftigung mit und das teilweise Erlernen von Gebärdensprache beeinflusste die Art der Kommunikation in der Produktion und ermöglichte sowohl dem Team als auch den Zuschauer:innen einen alternativen Zugang zu unseren alltäglichen Formen der Interaktion.

WIEBKE PULS: Es wurde oft beschrieben, dass wir auf der Bühne so gut miteinander sind. Das, glaube ich, liegt daran, dass wir von Beginn an sehr direkt kommuniziert haben und dass auch vieles über die Augen läuft — Verabredung ohne Übersetzung. Irgendetwas was zwischen uns sehr direkt funktioniert, ungeachtet der Versprachlichung oder der Verkörperung.

Raum gegeben hat. Ich hatte schon andere Produktionen, in denen viel unterbrochen wurde — auch gerade, weil gedolmetscht wurde.

VERENA REGENSBURGER: Für mich war es ein Geschenk, meine erste Stückentwicklung mit euch zu erarbeiten. Gerade die Konzentration, die die Zusammenarbeit verlangt hat — nicht in Verbindung mit einer Anstrengung, sondern mit einem besonderen Fokus — war eine ungewöhnliche Erfahrung, die ich in meiner Arbeitsweise in Ehren halte und pflege. Was ich spannend fand, war die Art und Weise, wie wir auf der Bühne geprobt haben — ich glaube, das liegt mir auch nicht, dass man unterbricht „Es ging uns nie um oder reinruft… das Übersetzen als Ich denke, man solches, sondern um muss sich die Zeit eine Gleichwertigkeit nehmen. Einmal im Verstehen und seid ihr 45 Minuten

Erleben.“ mit Taschenlampen durch den Raum und dabei wie in einen Flow geraten — in dem ihr extrem aufeinander konzentriert wart, in dem ihr euch so aufeinander eingespielt und zusammen etwas herausgefunden habt. Das empfinde ich als ein viel kraftvolleres Entstehen, als wenn ich euch von außen zurufe, was ich gerne sehen möchte.

KASSANDRA WEDEL: Manchmal muss man einfach Geduld haben. Die erste Probe von ‚Lippenlesen‘, in der Wiebke die Kopfhörer aufhatte und von meinen Lippen ablesen sollte, war ein furchtbarer Moment. Ich hatte das Gefühl, wie eine Gehörlosen-Lehrerin zu sein und merkte, wie bei Wiebke die Wut hochkam. Ich wollte das beenden — die arme Wiebke! Aber dann habe ich zu Verena geschaut (lacht) und du gabst mir das Zeichen, ich solle weitermachen.

WIEBKE PULS: Während es frustrierend war und mich wütend gemacht hat, habe ich gleichzeitig gewusst: Das ist eine Erfahrung, die ich jetzt machen muss.

K ASSANDR A WEDEL : Hätten wir unterbrochen, wäre die Erfahrung so nicht zustande gekommen. Das hat mich nachhaltig geprägt.

EIN SICH BEGEGNEN AUF AUGENHÖHE

VERENA REGENSBURGER : Zu Beginn der Proben stand für uns noch nicht fest, ob oder in welcher Form wir den Abend für ein gehörloses Publikum zugänglich machen können. Es gab die Überlegung, ob die Vorstellungen gedolmetscht werden. Aber wir haben einen solchen Ehrgeiz entwickelt, es aus dem Team heraus zu lösen. Es ging uns nie um das Übersetzen als solches, sondern um eine Gleichwertigkeit im Verstehen und Erleben — auch wenn über unterschiedliche Kanäle wahrgenommen, rezipiert wird.

K ASSANDR A WEDEL : Ein sich Begegnen — auf Augenhöhe.

VERENA REGENSBURGER : Meinst du, das Wissen darum, dass Wiebke Schauspielerin ist und keine professionelle Dolmetscherin, macht einen Unterschied fürs Publikum?

K ASSANDR A WEDEL : Man sieht den Unterschied. Doch viele Gehörlose haben mir gesagt, dass sie Wiebkes Gebärden mögen — da sie eine andere Art hat.

WIEBKE PULS: Ich hatte nie den Eindruck, dass ich bei „Luegen“ perfekt adaptieren muss, sondern dass es viel mehr darum geht, wie man sich etwas zu eigen macht. Das ist eine Qualität von dem, was wir da machen.

ÜBERSETZUNG KOMMT EINER WELT NAH

K ASSANDR A WEDEL : Wenn du, Wiebke, gebärdest, was ich spreche, fühlt sich das für dich wie eine Übersetzung an oder so, als würdest du etwas in einer anderen Sprache erzählen?

WIEBKE PULS: Das ist schon eine Übersetzung. Einige Vorstellungen lang warst du beispielsweise ziemlich frei im Umgang mit deinem Text. Du bist in den Bildern geblieben, aber hast die Reihenfolge verändert, etwas weggelassen oder es ein bisschen anders ausgedrückt. Ich hatte nur eine bestimmte Anzahl von Gebärden gelernt. Aber auch wenn du etwas Neues sagen würdest, würde ich trotzdem

versuchen, das mit Gesten auszudrücken. Ich glaube, dass mit Wohlwollen jeder verstehen kann, was ich zeigen will. Und darum geht es, oder? Es gibt ja noch viel mehr Möglichkeiten als die Gebärden: den Gesichtsausdruck, den Körper…

VERENA REGENSBURGER : …den Kontext.

WIEBKE PULS: Auch wenn „Luegen“ weitestgehend für Gehörlose wie für Hörende zu verstehen ist — über die Visualisierung, Vertextung von Sprache, Gebärden — habe ich jedes Mal ein ganz kleines bisschen ein schlechtes Gewissen, was die Musik betrifft. Gehörlose können dir zusehen, wie du im Tanz den Text performst, sie können die Vibrationen über die Bassboxen spüren, aber sie hören die Musik und den Gesang nicht.

K ASSANDR A WEDEL : Musik-Übersetzung ist eine riesige Diskussion! Es ist schwierig. Was kann man übersetzen? Was ist schon Interpretation?

WIEBKE PULS: Du kannst Sinneseindrücke synästhetisch übersetzen. Du kannst versuchen, einem auf anderen Kanälen die Wahrnehmung nahe zu bringen. Aber es ist keine Musik mehr, es ist etwas anderes.

K ASSANDR A WEDEL : Ich glaube, dass es ‚visuellen Klang‘ gibt, dass Musik nicht nur akustisch sein muss. „Wenn man versucht, Selbst bei der Überalles zu übersetzen, setzung vom Englikann man auch etwas schen ins Deutsche kaputt machen.“ kann man sich z.T. nur an Begriffe annähern.

WIEBKE PULS: Ich glaube, dass Sprachen diese Lücke überbrücken können, weil du sie einfach weiter strapazieren kannst und am Ende steht für ein Wort ein ganzer Absatz. Aber dann hat jemand begriffen, was es ist, auch wenn das eine Wort fehlt. Die Sinne zu übersetzen, das ist etwas anderes in meinen Augen. Wenn du vom ‚visuellen Klang‘ sprichst, dann bin ich hin und her gerissen, weil ich denke, es ist großartig, dass du diese Übersetzung gefunden hast, weil sie dich teilnehmen lässt am Klang und gleichzeitig denke ich, arme Kassandra, sie sieht nicht, was…

KASSANDRA WEDEL: …du hörst.

WIEBKE PULS: Nein, noch schlimmer, was alles fehlt. Egal, wie viel Übersetzung sie leistet, es bleibt eine Welt, die für sie so niemals erlebt werden kann. Ich bin dann hin und her gerissen zwischen tiefem Respekt und großem Mitleid.

K ASSANDR A WEDEL : Übersetzung ist nicht 1:1. Sie kommt einer Welt nah.

WIEBKE PULS: Du hast eine erstaunliche Intuition. Wenn wir z. B. gesungen haben und du die Hand auf meine Brust oder meinen Rücken gelegt hast, dann hast du allein über die Resonanz so viel verstanden, dass ich jedes Mal beeindruckt war.

DIE SCHÖNHEIT DER GEBÄRDENSPRACHE

VERENA REGENSBURGER: Kassandra, du hast es mir mal so erklärt: Für viele Gehörlose ist die Gebärdensprache die Muttersprache und die Lautsprache Zweitsprache. Also vergleichbar, wie wenn ich Englisch lerne. Bei dir ist es evtl. nochmal etwas anders, da du nicht von Geburt an gehörlos bist. In einer Szene haben wir mit unterschiedlichen Verknüpfungen, Gewichtungen von Laut- und Gebärdensprache gearbeitet. Wann fühlt es sich für dich am natürlichsten an?

KASSANDRA WEDEL: Wenn ich entweder nur rede oder nur gebärde. Wenn du beides machst, funktioniert das zwar, aber es ist schwierig. Lautsprachbegleitende Gebärden sehen nicht mehr schön bzw. sauber aus. Die Sätze sind unklarer — man schwimmt eher, muss mehr suchen. Wenn du beides zusammen machst, ist es, als würdest du rennen und singen. Man kommt außer Atem. Die Sprachen haben

einen anderen Rhythmus. Wir haben es als Kunstform benutzt. Es verschwimmt, wie der Klang über ein Hörgerät. Das haben wir visuell veranschaulicht. Am Anfang wird klar gebärdet (Gebärden begleitende Lautsprache) und es wird immer weniger, Bruchstücke (Lautsprache begleitende Gebärden). Somit kehrt sich die Verständlichkeit für das hörende und gehörlose Publikum nach und nach um.

WIEBKE PULS: ‚Übersetzen‘ beschreibt, was wir gemacht haben, ohne vom eigentlichen Übersetzen zu sprechen, so wie man es im Allgemeinen versteht. Was wir mit „Luegen“ gemacht haben, ist ‚über setzen‘, sich ‚rüber setzen‘, auf die andere Seite setzen. In dem Sinn finde ich den Begriff fast noch schöner, nämlich eine Erfahrung, einen Standpunkt teilen, die eigene Position verändern!

WENN MAN VERSUCHT, ALLES ZU ÜBERSETZEN, KANN MAN AUCH ETWAS KAPUTT MACHEN. Verena Regensburger ist freischaffende Regisseurin, Theater- und Kunstschaffende. „Luegen“ war ihr WIEBKE PULS: Abschlussprojekt als Regieassistentin an den Am Ende haben wir oder hast du Momente für die Bühne Münchner Kammerspielen. Im Rahmen ihrer gewählt, in denen es um eine Distanz geht, die es zu Goethe-Institut Residenz in Bangalore (Indien) überbrücken gilt. In den Proben gab es noch die Szene entwickelte sie gemeinsam mit Schüler:innen „Das Telefonat“, in der wir uns nicht der Abhinaya Taranga Schauhörten und nicht sahen — aber erspielschule das Stück staunlicherweise, wie über Telepathie, „Was ist es eigentlich, „My Name Is I Love You“. doch ein Gespräch zustande kam. was sich den Menschen neben all Wiebke Puls ist seit 2005 EnsemK ASSANDR A WEDEL : den Worten erzählt?“ blemitglied der Münchner Die Frage war, wie übersetzt man es? Kammerspiele. Für ihre Arbeit „Das Telefonat“ lebte davon, dass es wurde sie mehrfach ausgeaus dem Moment heraus improvisiert wurde. Wenn man zeichnet, u. a. 2003 mit dem Boy-Gobert-Preis versucht, alles zu übersetzen, kann man auch etwas der Körber-Stiftung, 2005 mit dem Alfred-Kerrkaputt machen. Darstellerpreis für die Rolle der Kriemhild in „Die Nibelungen“ und zuletzt im Rahmen des VERENA REGENSBURGER : 55. Berliner Theatertreffens 2018 mit dem 3satMan muss den Abend nicht Wort für Wort verstehen — Preis für ihre darstellerische Leistung in „Tromim Gegenteil. Mir ist es wichtiger, dass man euch zusieht. meln in der Nacht“.

WIEBKE PULS: Der verbale Anteil der Information ist viel geringer, als wir eigentlich denken. Ich finde das relativ magisch. Was ist es eigentlich, was sich den Menschen neben all den Worten erzählt? Worüber nehmen sie die Information auf? Das sieht man hier, dass Kommunikation über die Worte hinaus geht. Trotzdem ist die Sprache essenziell — worüber wir in „Luegen“ sprechen und auf welche Weise wir das tun.

VERENA REGENSBURGER: Der Abend dreht sich bereits inhaltlich darum — wir versuchen zu übersetzen, nämlich innere Vorgänge oder die eigenen Wahrnehmungsweisen, und möchten dabei herausfinden, wo wir uns wirklich begegnen.

Kassandra Wedel ist freischaffende Tänzerin, Choreografin und Schauspielerin. Sie ist Ensemblemitglied des Deutschen Gehörlosen Theaters und zweifache Deutsche Hip Hop Meisterin und Weltmeisterin im Solo und Duo der inklusiven Hip Hop Meisterschaften. Mit der Tanzgruppe Nikita Dance Crew tritt sie in ganz Europa auf. Wedel spricht neben der deutschen und englischen Lautsprache auch die deutsche sowie die internationale Gebärdensprache.

„ WIE KAMST

DU AUF DIE „Der Text ist im Theater nur eine der Komponenten bei einer IDEE DRAMA Theaterinszenierung. Erst PANORAMA E. V. durch die Verkörperung auf der Bühne wird er lebendig. Diesen ZU GRÜNDEN? “ Prozess kann man am besten nachvollziehen, wenn man sich als

Übersetzerin als Teil des Inszenierungsprozesses sieht. In unseren Workshops haben wir wichtige fachspezifische, aber auch politische Debatten (z. B. über Autor:innenrechte für die Übertitler:innen) geführt. Heute ist Drama Panorama ein gemeinnütziger Verein mit mehreren parallel arbeitenden Teams, die unterschiedliche Projekte, vor allem im Bereich Gegenwartsdramatik und ihrer Vermittlung, entwickeln. In der gleichnamigen Reihe werden beim Neofelis Verlag Berlin neue, ins Deutsche übersetzte Stücke herausgegeben.“

Dr. Barbora Schnelle ist Theaterwissenschaftlerin, Theaterkritikerin und Übersetzerin namhafter Autor:innen ins Tschechische. Als Übersetzerin und Herausgeberin entdeckte sie Jelinek für Tschechien. Außerdem Gastdozentin in Brno und Gründerin der Internet-Theaterzeitschrift Yorick.

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