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WIR HABEN NUR
from ITI Jahrbuch 2019
by ITI Germany
WIR HABEN NUR EIN ODER ZWEI CHANCEN
Stefan Fischer-Fels und Guy Dermosessian im Gespräch
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Wir haben Stefan Fischer-Fels, den Leiter des Jungen Schauspiels am Schauspielhaus Düsseldorf und Guy Dermosessian, Projektmanager im Diversity Management für die Kulturstiftung des Bundes, getroffen und mit ihnen über ihre internationalen Erfahrungen mit Kinder- und Jugendtheater gesprochen. Wo liegen die Schwierigkeiten bei der Vermittlung und was haben Kinder uns voraus?
S TEFAN FISCHER-FEL S: Im Kinder- und Jugendtheater haben vielleicht 80% der Kinder und Jugendlichen andere Hintergründe als die „(bio)deutschen“ Bildungsbürger:innen. Wir finden, dass das ein Grund ist, unsere Arbeit fundamental zu überprüfen. Wenn wir dieses sehr interkulturelle Publikum ansprechen wollen, müssen wir Vermittlungsarbeit leisten und Übersetzungsleistungen auf allen Ebenen anbieten. Nur dann kann unser Theater mehr sein als ein Ort für Eliten.
GUY DERMOSESSIAN: Als ich anfing in Deutschland ins Theater zu gehen, war mir die deutsche Literatur noch fremd. Mir war es sehr unangenehm, in einer Gruppe zu stehen und die ganze Zeit gespiegelt zu bekommen, wie dumm ich bin. Dabei hielt ich mich nicht für dumm; ich war einfach nicht mit der deutschsprachigen, sondern mit der französischsprachigen Literatur vertraut – was natürlich wiederum einen unschönen kolonialen Hintergrund hat. Ich hatte das Gefühl, ich habe eigentlich etwas zu erzählen, aber irgendwie kam ich nicht durch, wurde nicht gehört.
S TEFAN FISCHER-FEL S: Das ist genau der Punkt, der mich so beschäftigt. Unser junges Theaterpublikum von heute ist ja immer auch das Publikum von morgen, und wir haben die Chance, dass Menschen, die sonst nie mit Theater in Berührung kommen würden, bei uns und durch uns eine Liebesbeziehung zum Theater entwickeln. Aber wir haben nur ein oder zwei Chancen. Wenn sie nach der Vorstellung sagen, das ist nichts für mich, weil da nichts von meinem Leben drin ist, dann ist es vermutlich für immer vorbei.
GUY DERMOSESSIAN: Meine Kinder sind jetzt vier und fünf und oft im Theater. Bei ihnen funktioniert alles über Bilder, die sie teilweise ohne Sprache sehr frei speichern. Üblicherweise werden sie aber von Lehrer:innen vorbereitet, was schade ist, denn dann können sich die Bilder nicht mehr frei entwickeln. Aber genau darin sehe ich im interkulturellen Bereich eine große Chance. Denn ‚etwas zu verstehen‘ hat nicht unbedingt immer etwas mit Sprache zu tun. Emotionen transportiere ich z. B. meinen Kindern gegenüber auf Arabisch. Auf Deutsch regeln wir eher praktische Dinge, wie beispielsweise Zähne putzen, schlafen... Das heißt, sie drücken, wie sehr viele ihrer Generation, Traurigsein, Lustigsein, Glücklichsein in einer anderen Sprache aus. Mit diesem inneren Widerspruch nehmen sie dann Theater auf Deutsch wahr oder die Bücher, die ich ihnen vorlese.
S TEFAN FISCHER-FEL S: Das sind für mich alles Übersetzungsleistungen. Guy arbeitet im Diversitäts-Management für die Kulturstiftung des Bundes und fragt sich aus seiner Perspektive: Wie kann man so ein Haus anders denken und öffnen? Mir ist klar geworden, dass einige wesentliche Übersetzungsleistungen von Seiten der Institution noch fehlen. Welche Sprache spricht wen an? Sind die Codes, die wir im Theater benutzen, überhaupt verständlich für die Leute, die wir ansprechen wollen? Die Stücke, die wir spielen, können religiöse Gefühle, Verbote, Ängste berühren – nicht nur psychologisch, sondern ganz real. Unsere Arbeit muss also etwas mit Kenntnis und Sensibilität für andere Kulturen zu tun haben, die Teil unserer Gesellschaft sind. Diese Kontextualisierung müssen wir lernen und beachten, um allen Kindern und Jugendlichen den Weg ins Theater zu öffnen. Wir müssen überlegen, ob die ‚deutsche‘ Perspektive in Gegenwartsstücken, Märchen und Klassikern
der einzige Zugang zu Theatergeschichten sein sollte. Wir haben beispielsweise unser Ensemble, aber auch die Autor:innen diversifiziert, weil wir gesagt haben, wir können ja nicht einem Publikum, das total divers ist, das Erfahrungen, Geschichten und andere Hintergründe mitbringt, ausschließlich „biodeutsche“ Mittelschichtsperspektiven vor die Nase setzen. Es geht darum, auf sein Publikum zu reagieren, auch von ihm zu lernen und das Theater verständlich zu machen für Menschen, denen die Ästhetiken und Sprachen, die wir hier benutzen, nichts sagen. Die sich von uns (noch) nicht angesprochen fühlen.
GUY DERMOSESSIAN: Ein spannendes Beispiel ist eine Stückentwicklung in Dortmund. Eine Familiensituation mit Jugendlichen verschiedener Nationalitäten, die immer die gleiche Handlung in jeweils ihrer Sprache aus verschiedenen Perspektiven erzählt haben. Es gab keine sprachliche Übersetzung, sondern eine bildliche. Es ging um die bildliche Übertragung, bei der es mal für zehn Kinder lustig war, für zwei traurig oder umgekehrt. Ein transkultureller Transfer, der im Theater oft vorkommt. Ich z. B. sehe vor dem Hintergrund, dass meine Eltern in Beirut leben, ein Stück über Revolution und Krieg anders als jemand mit einer anderen Biografie. Aber jenseits der Notwendigkeit der sprachlichen Übersetzung beschäftigt mich oft die Frage der Übersetzung im Sinne von Kontextualisierung. Wie können wir Zugänge schaffen, damit sich ein Publikum ganz anders einlassen kann – nicht nur auf die Stücke, sondern auch auf das Haus? Es geht uns darum Möglichkeiten zu finden, die meist europäischen Erzählungen zu öffnen. Damit meine ich nicht: ‚Weg mit dem Kanon‘, sondern eher: ‚Lasst uns den Kanon neu verhandeln!‘
S TEFAN FISCHER-FEL S: Ja, ich finde es wichtig das Theater für die Personen zu öffnen, die sich von uns bisher noch nicht wirklich angesprochen gefühlt haben. Das ist wirklich nicht leicht und dazu kommt, dass der Gap zwischen der Medienerfahrung und der Theatererfahrung, vor allem bei Jugendlichen, unendlich groß ist. Eine Untersuchung darüber, was Besucher:innen vom Theaterbesuch abhält, hat ergeben, dass es vor allem Angst vor Langeweile und Angst vor dem Nichtverstehen ist. Hier ist die Arbeit der Theaterpädagog:innen ganz wichtig, die versuchen, Themen, Theatersprachen und Menschen zusammenzubringen. Für mich ist das alles eine Frage von Übersetzung. Wenn jeder nur in seiner Blase bleibt, führt uns das gesellschaftlich ja nicht weiter. Wir müssen Konflikte ansprechen, ohne uns die Köpfe einzuschlagen. Und immer wieder geht es zentral um Übersetzung und Vermitt„Wie können wir lung. Für mich ist das Möglichkeiten finden, der entscheidende die europäischen Punkt, was Theater Erzählungen zu überhaupt machen öffnen?“ muss. Kann ich mich connecten oder nicht?
GUY DERMOSESSIAN: Und dafür gibt es ganz verschiedene Wege: Rabih Mroué hat sich bei seiner Inszenierung „Riding on a Cloud“, in der es um den Krieg im Libanon geht, für die arabische Sprache entschieden. Er hat mir erklärt, dass er sich mehr mit dem Rhythmus der Sprache auseinandergesetzt hat, um eine Art Soundscape zu kreieren. Es ging also nicht so sehr darum zu verstehen, sondern eher darum, sich hineinzufühlen. Für mich sind die besten Theatererfahrungen die, in denen ich emotional angesprochen werde. Oft entsteht trotz Übersetzung eine Art Entfremdung. Ich habe einmal erlebt, wie im Theater für die arabische Community übersetzt wurde. Da wurde versucht alles richtig zu machen und doch waren die Reaktionen verhalten, eher in dem Sinn: ‚Wir sind nicht blöd! Wenn wir nicht genau da lachen, wo ihr lacht, dann einfach, weil wir es nicht lustig finden.‘
S TEFAN FISCHER-FEL S: Interessant wird es natürlich, wenn man auf Gastspielreise geht und auf eine Übersetzung angewiesen ist. Wir hatten in Russland eine Aufführung, in der 800 Kinder über Kopfhörer die Verdolmetschung mitgehört haben. Man hörte die Stimme des Dolmetschers als permanentes, leises Geräusch – die Lacher kamen verzögert. Ich hatte das Gefühl, es spielt eine große Rolle, wer übersetzt und vor allem wie. Der Text wurde – meinem Gefühl nach – eher abgelesen und nicht gefühlt, dadurch entstand eine Distanz zu unserem Stück und es war eine völlig andere Aufführung. In Brasilien war es dann überraschend anders. Mangels technischer Möglichkeiten gab es keine Verdolmetschung, sondern eine Schauspielerin, die sich ein
paar Proben angesehen hatte und sich an den Bühnenrand setzte und vor jeder Szene kurz auf Brasilianisch zusammenfasste, was passieren würde. Ich dachte erst, dass sie uns den ganzen Abend zerstören werden. Aber man beruhigte mich und sagte, sie würden das immer so machen und ich könne ihnen „Was Besucher:innen vertrauen. Die vom Theater abhält, Schauspielerin hat ist die Angst vor genau den RhythLangeweile und mus des Stücks Nichtverstehen.“ aufgenommen, sich einen wunderbaren Text geschrieben und den brasilianischen Kids genauso viel erzählt, dass sie folgen konnten. Es war, als ob es zur Inszenierung gehörte. Das war sensationell, es hat großartig funktioniert. Ich hätte es nicht für möglich gehalten. Eine andere schöne Variante war, als wir einmal in Indien gespielt haben. Da haben die Schauspieler:innen einige Schlüsselsätze auf Indisch gelernt und in den deutschen Text eingestreut. Zusätzlich gab es Übertitel, die aber nur die wichtigsten Teile des Dialogs übersetzten. Diese Kombination hat z. B. gut funktioniert. Das war für mich der Königsweg. Den gesamten Text auswendig zu lernen wäre natürlich die ganz große Geste. Kann aber auch komplett schiefgehen, wenn es nur phonetisch gelernt wird und man nichts versteht.
GUY DERMOSESSIAN: In „Babel“ vom Jungen Schauspiel Frankfurt haben Jugendliche verschiedene Erzählungen aus eigener Perspektive in ihrer eigenen Sprache erzählt. Anfangs auf Deutsch, dann auf Französisch, Englisch, Arabisch, Amharisch… Obwohl man die Sprache nicht verstanden hat, konnte man den Kontext verstehen, es entstanden verschiedene Dynamiken im Raum. Und es hat einen dazu ermutigt, in Kontakt zu treten. Weil wenn du es wirklich verstehen wolltest, musstest du dir die Person merken, die gelacht hat, um sie nach dem Stück zu fragen, worum es ging. Ich fand es interessant, dass diese Form von Ohnmacht neue Strategien hervorbringt, sich in dem Moment auch auf die anderen Sprachen einzulassen. Also nicht nur im Sinne von Sprache. Es war ohne Übertitel und man hat sich gesagt, gut, dann nehme ich das jetzt mal phonetisch und ästhetisch wahr.
S TEFAN FISCHER-FEL S: Eine weitere Möglichkeit, die ich im Kinder- und Jugendtheater ganz stark erlebe, vor allem bei internationalen Festivals, ist, dass man eben auch ganz bewusst Stücke aussucht, die nicht textlastig sind. Weswegen das deutsche Theater in der internationalen Szene manchmal ein Problem hat. Wir gelten als großartige Theaterkultur, aber „very text-based“. Das ist ein Problem, wenn du auf dem internationalen Markt bestehen willst. Theater für die ganz Kleinen ist ein fantastisches Feld für Gastspiele und internationale Kollaborationen. Also fast jedes Festival lädt Theaterstücke für Zweijährige und Dreijährige ein, weil das sowieso fast ohne Worte funktioniert und international verständlich ist. Eine interessante Erfahrung, dass die Zweijährigen ganz selbstverständlich einen anderen Zugang finden müssen und können.
Im Gespräch mit und aufgeschrieben von Yvonne Griesel.
Stefan Fischer-Fels ist seit der Spielzeit 2016/17 künstlerischer Leiter des Jungen Schauspiels am Düsseldorfer Schauspielhaus. In gleicher Funktion war er schon von 2003-2011 in Düsseldorf tätig. 1996-2003 war er als Dramaturg und Theaterpädagoge und 2011-2016 als künstlerischer Leiter am GRIPS Theater Berlin tätig. Im Vorstand der Internationalen Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche (ASSITEJ) engagiert er sich für das Recht von Kindern auf kulturelle Teilhabe sowie für die künstlerische und kulturpolitische Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendtheaters.
Guy Dermosessian, aufgewachsen im Libanon, ist Gründer des internationalen Musiklabels Kalakuta Soul Records und als Künstler und Kurator zwischen Musik und darstellender Kunst tätig. Als Projektmanager der Zukunftsakademie NRW beriet er verschiedene Kulturinstitutionen des Landes NRW im Fachbereich Diversity Management. Seit 2019 leitet er die DiversityAbteilung des Düsseldorfer Schauspielhauses, wo er auch die Reihe Embracing Realities im Unterhaus kuratiert.
„ WAS BRAUCHT EINE GUTE „Den Blick fürs ÜBERTITLERIN BESONDERS? “ Ganze und fürs Detail in gleichem Maße. Sich einerseits bewusst zu sein, ein Rädchen im Gesamtkonzept der Inszenierung zu sein, sich unauffällig in diese einzufügen und jeden Titel so zu behandeln, als wäre er der wichtigste. Vor allem braucht es aber auch eine hohe kulturelle Sensibilität, um zwischen den verschiedenen Kulturen auf der Bühne und im Zuschauer:innenraum vermitteln zu können.“
„ WIE KAM ES DAZU?" „Schon während des Studiums habe ich mich vor allem für den kulturellen Transfer im Theater interessiert und viele deutsch-italienische Produktionen als Übersetzerin begleitet. Der Schritt, auch an der Übertitelung von Produktionen zu arbeiten, kam da als logische Konsequenz meiner wissenschaftlichen und praktischen Arbeiten. Der wichtigste und schönste Aspekt beim Übertiteln ist für mich nach wie vor möglichst vielen
Menschen Zugang zum Theater zu ermöglichen.“
Dr. Anna Kasten promovierte an der Universität Palermo und Düsseldorf zu Neuer Dramatik und deren intermedialen Bearbeitungen. Sie arbeitet als Übertitlerin und ist im Leitungsteam der Firma Panthea.