BDK Sichere Kindheit – Gesamtgesellschaftliche Verantwortung

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1. Gefahren im Netz

Ich fahre jeden Morgen an den schönsten Ort der Welt. Ich liebe meinen Beruf. Ich arbeite mit den wichtigsten Menschen dieser Welt. Ich arbeite an einer Schule.“

Spiegel-Bestseller-Autorin Silke Müller über den Alltag im Klassenchat

Silke Müller ist Schulleiterin und engagierte Bildungsexpertin mit Schwerpunkt auf digitaler Bildung und Medienkompetenz. Als Journalistin und Autorin setzt sie sich intensiv für einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien im schulischen Umfeld ein.

Mit dem obigen Zitat beginnt SPIEGELBestseller-Autorin Silke Müller ihr Buch „Wir verlieren unsere Kinder“. Die vielleicht bekannteste Schulleiterin Deutschlands berichtet darin über den verstörenden Alltag im Klassenchat und gibt Einblicke über digitale Bedrohungen, denen unsere Kinder tagtäglich ausgesetzt sind. Zwei ihrer Erlebnisse schildert sie im Folgenden.

Es beginnt mit der Geschichte von Volcan, 13 Jahre, der eines Tages vor meiner Bürotür steht. Irgendwie traut er sich nicht richtig einzutreten. Er schaut zu Boden, in der Hand sein Smartphone. Ich frage ihn, ob er zu mir wolle. Der Junge, der erst seit einigen Monaten an unserer Schule ist und zuvor aus einem Kriegsgebiet geflüchtet war, nickt, ohne mich dabei anzuschauen. Wenig später bricht Volcan in Tränen aus und schluchzt bitterlich, sodass es mir kaum gelingt, ihn zu beruhigen. Ich verstehe ihn

nicht wirklich und frage ihn, ob ich einen Mitschüler dazuholen könne, der die gleiche Muttersprache spricht.

Durch die Übersetzung von Erkan verstehe ich schließlich, dass es um ein gefaktes Instagram-Profil geht, das als Volcans Profil ausgegeben wird. Das Profil hat bereits über 100 Follower. Die dort geposteten Fotos zeigen Volcan in teilweise ungünstigen, bisweilen sogar demütigenden Posen. Volcan neigt ein wenig zu Übergewicht. Ein Bild, das ihn liegend auf dem Rasen zeigt, ist kommentiert mit „Ich bin ein arabisches Walross“. Es folgen Bilder aus dem Bus, dem Gehweg und mindestens zwanzig weitere.

Die hämischen und bitterbösen, demütigenden Kommentare, die teils auf Deutsch, teils auf Arabisch unter den Bildern gepostet sind, machen mich betroffen. Vor nichts machen die Kommentierenden halt. Volcans Aussehen, seine Kultur, seine Sprache, sein Gewicht, sei-

ne Familie. Alles wird beleidigt und über alles wird sich lustig gemacht. „Ich mache Werbung für Cremes, die Pickel erzeugen, schau mich an“, „Mein Parfüm riecht wie meine Mutter. Nach Pommesfett und Schweiß, geil, oder?“. Das sind nur wenige und noch harmlose Kommentare, die ein 13-Jähriger lesen, sich übersetzen lassen und ertragen muss, ohne etwas dagegen tun zu können. Selbst wenn der Junge sein Smartphone einfach ausmachen würde, weiß er, dass diese Hetze gegen ihn ununterbrochen weitergeht. Völlig anonym. Ich erfahre nur wenig über Volcans Gemütszustand oder die möglichen Hintergründe, warum er von jemanden derart gequält und bloßgestellt wird. Gemeinsam melden wir den Account als gefälscht. Tatsächlich ist der Account bereits nach wenigen Tagen nicht mehr auffindbar.

Ändert das aber etwas an der Situation? Nein. Fake Accounts, Fake News und Hassrede, also die sogenannte Hatespeech, gehören für Kinder- und Jugendliche längst zum Alltag. Wir haben eine virtuelle Welt erschaffen (lassen) und bedienen und füttern nun bildlich gesprochen ein Monster, das wir selbst nicht mehr beherrschen können.

Spreche ich mit Eltern, Kolleginnen und Kollegen oder der Polizei, so kann fast jeder einen Fall aus dem eigenen Umfeld beitragen. Zum Beispiel von einem Mädchen aus der 8. Klasse, 13 Jahre alt. Das Mädchen wird beim Messengerdienst Discord von einem etwa 25 Jahre alten Mann kontaktiert und für ihre Selbstporträts, die sie täglich bei Instagram postet, bewundert. Das Mädchen hinterfragt nicht, ob der Mann tatsächlich ihren Instagram-Account kennt. Die beiden wechseln schnell

zu Whats-App. Sehr schnell verschickt das Mädchen Bilder ihrer Unterwäsche und heimlich Fotos der Unterwäsche ihrer Mutter. Der Mann bittet sie, sich doch mal in der Unterwäsche der Mutter zu zeigen. Das Mädchen kommt der Bitte nach, fotografiert sich vor einem Spiegel. Der Mann schreibt, er würde sich über ein Video freuen, in dem er sich einen Gegenstand in ihrem Zimmer aussucht, mit dem sie sich selbst befriedigen soll. Auch diesem Wunsch kommt sie nach. Als der Mann die Schülerin bittet, sie treffen zu dürfen, weigert sie sich zunächst, worauf er ihr droht, die Bilder dann an ihre Freunde zu versenden. Gott sei Dank vertraut sie sich einer Mitschülerin an, die sie davon überzeugt, sich an die Klassenlehrerin zu wenden. Die Eltern werden eingeschaltet, die Polizei verständigt.1

Volcan und das Mädchen sind mit ihrem Erlebten leider keine Einzelfälle und zeigen nur einen Ausschnitt an Gefahren, denen unsere Kinder im Netz ausgesetzt sind. Doch was gibt es alles an Gefahren im Internet und was bedeuten sie?

1.2 Die häufigsten GefahrenPhänomene im Netz

Cybermobbing

Beleidigende Bemerkungen über das Aussehen, ständiges Lästern oder Ausgrenzungen – gemobbt wird auf ganz verschiedene Art und Weise. Eine spezielle Form ist das sogenannte Cybermobbing, bei dem das Smartphone zu einem Tatmittel wird. Betroffene erhalten Nachrichten auf den unterschiedlichsten Kanälen und werden systematisch und andau-

1: Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder, Droemer Verlag 2023

ernd durch den Inhalt dieser Nachrichten gequält. Es werden im Internet oder per Messenger Gerüchte gestreut, Beleidigungen ausgesprochen oder unangemessene Bilder und Filme in sozialen Netzwerken geteilt. Gibt es in diesem Moment keinen geschützten Raum mehr? Selten. Was einmal eingestellt wurde, wird meist so schnell verbreitet, dass eine Löschung nicht mehr möglich ist.

Fake News

Fake News sind absichtlich verbreitete, falsche oder irreführende Informationen, die oft so gestaltet sind, dass sie wie echte Nachrichten wirken. Sie können sowohl in schriftlicher Form als auch als Bilder oder Videos verbreitet werden, vor allem über soziale Medien, Webseiten oder Nachrichtenportale.

Hatespeech

Unter Hatespeech ist eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu verstehen, die ihren Ausdruck in gewalttätiger verletzender, die persönliche Menschenwürde missachtende Sprache findet.

Cybergrooming

Unter Cybergrooming versteht man das gezielte Ansprechen von Minderjährigen im Internet mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen. Es handelt sich dabei um eine Form des sexuellen Missbrauchs, bei der Erwachsene versuchen, ein Vertrauens- oder Abhängigkeitsverhältnis zu Kindern und Jugendlichen aufzubauen, um sie zu manipulieren und zu sexuellen Handlungen zu bewegen. Mit Empathie gewinnen sie das Vertrauen, suchen den Kontakt und manipulieren die Wahrnehmung der jungen Menschen. Sie manövrieren sie in eine Form der Abhän-

gigkeit und sorgen dafür, dass sie sich niemandem anvertrauen. Die Tatpersonen suchen im Internet nach ihren Opfern. Über die Profile der Kinder und Jugendlichen erlangen die Täterinnen oder Täter wertvolle Informationen über Musikgeschmack oder Hobbys, und schon ist der erste Ansatz da, um in einem Chat Vertrauen zu erschleichen. Gemeinsamkeiten werden vorgetäuscht und eine angebliche Nähe hergestellt. Das potenzielle Opfer, in der Regel im pubertären oder vorpubertären Alter, fühlt sich verstanden – anders als von den Eltern, die einen ja angeblich nicht verstehen. Hinzu kommt die vermeintliche Sicherheit, weil man zu Hause ist. Sämtliche Schutzmechanismen werden durch die betroffenen Kinder und Jugendlichen außer Acht gelassen.

Kriminelle, die sich in diesem Kontext an Kinder und Jugendliche wenden, verfolgen mehrere Ziele. Ist das Vertrauen der Opfer erschlichen, geht es um den Austausch von intimen Bildern. Diese Bilder werden entweder durch die Täterin oder den Täter zur Befriedigung eigener sexueller Wünsche genutzt oder zum Verkauf in entsprechenden Foren angeboten. Sobald das erste Foto in dieser Form verschickt wurde, haben die Tatpersonen ein Druckmittel in der Hand und nutzen dies schamlos aus. Die Opfer werden erpresst, noch mehr Bilder von sich zu zeigen, sexuelle Handlungen an sich selbst vorzunehmen oder weitere Nacktbilder von sich zu versenden. Ein weiteres Ziel der Täterinnen oder Täter ist es, ihre Opfer auch im realen Leben zu treffen. Bei diesen Treffen kommt es immer wieder vor, dass die Opfer massiv missbraucht werden. Hinterher verschweigen sie, was ihnen passiert ist, vor Scham oder weil sie etwas vermeintlich Verbotenes getan haben.

Sexting

Sexting setzt sich aus den Begriffen „Sex“ und „texting“ zusammen und meint das Verschicken von E-Mails oder Messengernachrichten mit erotischen Inhalten, unter anderem auch Nacktfotos von sich selbst. Dieser Trend ist derzeit vor allem unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen verbreitet. Der elektronische Versand von persönlichen Bildern mit erotischem Charakter birgt jedoch Risiken: Schnell können sie in soziale Netzwerke gelangen oder allgemein im Internet verbreitet werden. Diese Bilder lassen sich dann unter anderem für Cybermobbing, aber auch für Erpressungen nutzen. Es gibt keine sichere Form des Sexting, denn man weiß nie, wofür diese Bilder irgendwann mal verwendet werden. Hinzu kommt, dass je nach Aufnahme ein solches Bild alleine bereits eine Straftat darstellen könnte. Es ist in diesem Zusammenhang ganz wichtig, die Begriffe Medienkompetenz, Umgang mit Medien und Mediensicherheit zu kennen und ihre Grundsätze umzusetzen: Muss ich wirklich so ein Bild machen? Wenn ich diese Frage mit Ja beantworte: Weiß ich um die Gefahren? Wie kann ich diese Gefahren minimieren? Was mache ich, wenn es zu Erpressungen mit sexuellem Hintergrund kommt? Das ehemals freiwillig und selbst angefertigte Foto wird dann gegen den Willen des oder der Dargestellten als Erpressungsgegenstand benutzt.

Phishing

Als Phishing werden Versuche von Täterinnen oder Tätern genannt, an die persönlichen Daten einer Internetbenutzerin oder eines Internetbenutzers zu gelangen, damit Identitätsdiebstahl zu begehen und beispielsweise über gefälschte Web-

Adressen, E-Mail oder Kurznachrichten die entsprechenden Personen zu schädigen. Der Begriff ist ein englisches Kunstwort, das sich an „fishing“ („angeln“, „fischen“), auch „password fishing“, bildlich das „Angeln nach Passwörtern mit Ködern“, anlehnt. Die Nachrichten haben zum Beispiel Betreffzeilen wie „Ihr/Dein Konto wurde für eine zufällige Überprüfung ausgewählt“, „Ein Paket konnte nicht zugestellt werden“. In den Nachrichten wird die Empfängerin oder der Empfänger unter den unterschiedlichsten Vorwänden aufgefordert, einen beigefügten Link anzuklicken.

Mehr Informationen zum Thema Cybermobbing, Fake News, Phishing oder dem Recht am eigenen Bild hat der BDK übrigens in dem Comic „Charly und die KripoKids – Der Fall Cyermobbing“ zusammengestellt. Reinschauen lohnt sich!

1.3 Was tun, wenn das eigene Kind die Tatperson ist?

Zahlreiche Statistiken belegen, dass Tatpersonen vormals selbst Opfer von Straftaten waren. Opfer, so die Einschätzung

von Expertinnen und Experten, denen vermutlich nicht geholfen wurde und in der Folge feststellten, dass es einfacher ist, sich selbst zu wehren. Wehren, indem die gleichen Waffen verwendet werden, um so unverwundbar zu erscheinen und nach außen stark und unverletzlich zu sein. Daher gilt hier insbesondere: Sprechen Sie mit Ihrem Kind über die Situation, versuchen Sie zu erfragen, was es in die Täterrolle getrieben hat. Wo war oder ist ein Auslöser zu finden, was ist zu unternehmen, um diesen Auslöser aufzuarbeiten? Oder was ist noch zu unternehmen, um seinem Kind die Augen zu öffnen, ihm oder ihr also die Sinnlosigkeit und aber auch die Strafbarkeit darzustellen? Hierzu gehört auch, wie leicht es passieren

kann, dass durch eine eingehende Strafanzeige ganze Zeiträume des eigenen Lebens ruiniert werden können. Der Ruf in der Schule, das Verhältnis zum Lehrpersonal, aber auch ein eventueller Eintrag nach einer Gerichtsverhandlung oder einem Strafbefehl können weitreichende Folgen für spätere berufliche Qualifikationen mit sich führen. Es muss deutlich sein, dass Mobbing, Cybermobbing oder andere Straftaten, ob im Netz oder analog begangen, eben nicht das sind, was leider viele denken: macht doch jeder. Im Gegenteil. Es ist nicht mehr oder weniger als eine Straftat, mit all ihren Folgen. Deswegen gilt: Haben Sie keine falsche Scham, sich professionelle Hilfe zu holen, wenn Sie nicht weiterwissen.

Warum die Polizei ein richtiger Ansprechpartner ist

In ganz Deutschland hat die Polizei eigene Kommissariate oder Stellen eingerichtet, die sich ausschließlich mit der Bearbeitung von Jugendschutz und Jugendkriminalität befassen. Hier arbeiten Profis, die genau wissen, wie es den Betroffenen geht, was zu tun ist, und die über ein hervorragendes Netzwerk für weitere Hilfsangebote verfügen. Die Polizei ist nicht in dem Maß an Datenschutz gebunden, wie es unter Umständen die Schule ist.

Die „Polizeiliche Kriminalprävention“ im gesamten Bundesgebiet informiert über Erscheinungsformen der Jugendkriminalität, Delinquenz2 von Minderjährigen, Gefährdungseinschätzungen, Opferrisiken sowie tatbegünstigendes Verhalten. Sie weist auf Beratungsangebote von Opferschutz- und Hilfeeinrichtungen hin. Sie vermittelt ihre Kenntnisse zur Prävention von Delinquenz bei Minderjährigen insbesondere an Multiplikatoren, zu deren Aufgaben die Befassung mit Minderjährigen gehört, sowie an Personensorgeberechtigte und an andere Präventionsträger. Neben Schulen bietet die Polizeiliche Kriminalprävention auch anderen mit Kindern und Jugendlichen betrauten Akteuren wie Sportvereinen und Freizeiteinrichtungen aktive Kooperationen im Themenkomplex an.

2:

Straffälligkeit

Praxistipps von Schulleiterin und Spiegel-Bestseller-Autorin Silke Müller

Was können wir tun, damit wir und unsere Kinder gar nicht erst zu Opfern werden? Die erfahrene Schulleiterin Silke Müller gibt Eltern und Angehörigen Tipps an die Hand, damit sie sich und ihre Kinder besser auf die Herausforderungen der digitalen Welt vorbereiten und vor den Gefahren im Netz schützen können:

» Bilden Sie sich fort: Legen Sie sich bei den bekanntesten Netzwerken und Plattformen ein eigenes Profil an und recherchieren Sie zu Inhalten. Sie müssen die Funktionen und Mechanismen verstehen, um Ihrem Kind auf Augenhöhe zu begegnen.

» Ihr Kind sollte niemals ein Onlinespiel spielen, das Sie nicht selbst mindestens eine Woche gespielt haben. Suchen und entdecken Sie dabei auch die Chatfunktionen und erleben Sie einmal selbst den wachsenden Suchtfaktor

» Spielen Sie ab und zu auch gemeinsam oder fragen Sie Ihr Kind, ob Sie einfach mal zuschauen oder sich dazusetzen dürfen, weil es Sie interessiert, was das Kind macht

» Schauen Sie sich einmal die Netflix-Dokumentation „Das Dilemma mit den sozialen Medien“ („The Social Dilemma“) aus dem Jahr 2020 an.

» Sprechen Sie mit Ihrem Kind über die Gefahren in der digitalen Welt, bevor es einen eigenen Zugang zum Netz bekommt. Dazu gehört das gemeinsame Betrachten von guten und schlechten Beispielen bei TikTok und Co.

» Bilden auch Sie sich in der Familie zum Thema Fake News und Deepfake fort, also zu Inhalten, die durch Techniken der künstlichen Intelligenz abgeändert, erzeugt oder verfälscht worden sind.

» Eignen Sie sich an, den Wahrheitsgehalt von Nachrichten wie selbstverständlich zu überprüfen, indem Sie zumindest noch ein, zwei weitere Nachrichten oder Artikel lesen, um das jeweilige Thema zu prüfen. Leben Sie genau das selbstverständlich zu Hause vor, spielen Sie gemeinsam Onlinespiele zum Thema Fake News (eine Sammlung finden Sie beispielsweise auf der Homepage meiner Schule oder bei guten und seriösen Angeboten wie www.diefakehunter-junior.de, https://swrfakefinder.de, www.der-newstest.de und vielen mehr).

» Prüfen Sie die Sicherheitseinstellungen in den Profilen Ihrer Kinder bei sozialen Netzwerken, entdecken Sie gemeinsam die Blockierfunktion, zeigen Sie, wie man Profile auf privat umstellt, unterbinden Sie das direkte Herunterladen von Bildern und Videos aus Messengern in die Fotogalerie auf dem Smartphone, indem Sie mit Ihrem Kind die entsprechenden Einstellungen vornehmen.

» Erklären Sie immer wieder, dass nichts, nichts, NICHTS von dem, was im Netz gepostet wird, privat bleibt und man immer damit rechnen muss, dass irgendjemand einen Screenshot von einem Gespräch oder einem Bild oder eine Bildschirmaufnahme von Videos macht und diese möglicherweise weiterleitet oder postet, und das vielleicht nicht mit den besten Absichten.

» Gehen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind von Zeit zu Zeit die Liste der vermeintlichen Freunde und Follower durch.

» Stellen Sie sich den Diskussionen mit Ihren Kindern über den Wert einer Anzahl von Followern oder Likes im Vergleich zu echten Freundschaften.

» Vielleicht führen Sie in der Familie einen gemeinsamen medienfreien Tag ein. Damit sich niemand aus dem Umfeld Sorgen macht, warum Sie an diesem Tag nicht online sind oder antworten, reicht letztlich ein Hinweis im WhatsApp-Status oder als Post in den Netzwerken und auf Plattformen wie „Wir sind heute off“ oder „digitalfreier Familientag“.

» Wenn es der berufliche Alltag möglich macht, dann essen Sie einmal am Tag gemeinsam – ohne Fernseher oder Handy. Nur die Familie, nur Sie und Ihr Kind.

» Ein Smartphone hat im Kinderzimmer zur Schlafenszeit nichts zu suchen! Wecker gibt es sehr günstig zu erwerben, falls das die Ausrede sein sollte. (Ein eigener Fernseher hat im Kinderzimmer eigentlich auch nichts zu suchen.)

» Versichern Sie Ihrem Kind immer wieder, dass Sie ein offenes Ohr für seine Anliegen haben und nichts von dem verraten werden, was es Ihnen erzählt. In erster Linie sollten die Kinder ihre Angst abbauen, mit Ihnen über delikate oder brutale und grausame Dinge zu sprechen, weil Sie vielleicht zu forsch oder zu hart reagieren könnten. Dafür müssen Sie es sein, der oder die genau das deutlich vermittelt. Dafür müssen Sie die Inhalte im Netz kennen, um über Challenges wie „Wofür ich blown würde“ mit Ihren Kindern sprechen zu können. Reden Sie offen über Pornografie, eine normale Einstellung zur Sexualität und darüber, dass in Pornos oft nichts echt ist, sondern die Szenen gestellt sind. Hier müssen dringend Barrieren in der Kommunikation abgebaut werden.

» Legen Sie vielleicht ein gemeinsames Familienprofil an (nur mit der Verwandtschaft und Freunden als Follower), auf dem Sie über spannende Themen berichten und somit ein positives Beispiel für die Gestaltung eines Profils in sozialen Netzwerken geben.

» Nutzen Sie im Urlaub oder im Restaurant bitte kein Tablet oder Smartphone, um die Kinder beim Essen „ruhigzustellen“. Bücher, Stifte, Geschicklichkeitsspiele tun es für die Kleinen auch und passen genauso in die Handtasche.

Praxistipps

» Lassen Sie sich von Ihren Kindern Apps für kreatives Arbeiten zeigen, bewundern Sie Ihre Kinder.

» Wenn Ihr Kind nicht lesen mag, versuchen Sie es mit Hörbüchern oder kindgerechten Podcasts, um die Aufmerksamkeit zu schärfen und um Kreativität und Fantasie zu fördern.

Und last, but not least:

» Bitte schützen Sie die Privatsphäre Ihrer Kinder, zumindest so lange, bis diese eine klare Entscheidung treffen können und der Frage, ob es in Ordnung ist, ein Bild bei sozialen Netzwerken oder im WhatsApp-Status zu veröffentlichen, bewusst zustimmen können. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, gefragt zu werden, ob sein Bild der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wird, auch die Kinder.

» Und bitte posten Sie um Gottes willen niemals ein Bild Ihres nackten Kindes. Wenn Sie Ihr Kind wirklich schützen wollen, posten Sie am besten gar kein Bild Ihres Kindes. Es ist klasse und wunderschön, wenn Eltern stolz auf Ihre Kinder sind, dazu bedarf es aber keiner öffentlichen Selbstdarstellung im Netz.3

Mehr Informationen zu Silke Müller und ihren Büchern finden Sie hier:

3: Silke Müller, Wir verlieren unsere Kinder, Droemer Verlag 2023

Medien- und Internetsucht

Es ist kurz vor Weihnachten. Der 8-jährige Leo sitzt an seinem Schreibtisch und schreibt wie jedes Jahr seinen Wunschzettel. Doch das Blatt ist gegenüber dem vergangenen Jahr außergewöhnlich übersichtlich. Kuscheltiere, Spiele, Bücher, Bastelsachen und sogar das lang ersehnte Haustier sind von der Liste verschwunden. Stattdessen stehen in großen Buchstaben nur zwei Wörter auf dem Zettel: „Ein Smartphone“. Viele seiner Klassenkameraden besitzen bereits eins, und Leo will unbedingt dazugehören. Immer wieder betont er, wie praktisch es wäre, seine Freunde nach der Schule per WhatsApp zu erreichen oder in der Klasse auf dem Pausenhof bei den Spielen, die über Apps liefen, mitzumachen.

Seine Eltern, Sabine und Markus Winter, sind jedoch unsicher. „Ist er nicht noch zu jung?“, fragt Sabine ihren Mann, wäh-

rend er die Teetassen auf den Tisch stellt. „Ein Smartphone verändert so viel. Er wird mehr Zeit allein mit dem Gerät verbringen und weniger draußen spielen.“ Markus nickt nachdenklich. „Andererseits“, wirft er ein, „könnten wir es auch als Mittel nutzen, um ihm Verantwortung beizubringen. Mit klaren Regeln und Zeitlimits müsste es doch gehen, oder?“

Internetnutzung von Kindern in Deutschland

Gemäß der Studienerfassung des Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs), der seit 1998 unabhängige Basisdaten zum Medienumgang von Kindern und Jugendlichen in Deutschland erhebt und letztmalig diese Zahlen 2022 erhoben hat, geben 48 Prozent der Eltern an, ihr Kind dürfe unbegleitet ins Internet. Die Internetnutzung nach Altersklassen sieht wie folgt aus:4

4: www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2022/Charts_Broschuere_KIM2022_final.pdf

Dabei sind Kinder bis zum Alter von 13 Jahren in Deutschland schon umfangreich mit digitalen Endgeräten ausgestattet, wie nachfolgende Studienzahlen von 20225 zeigen:

Im Besitz beziehungsweise uneingeschränkt Zugang zu digitalen Endgeräten (Tablet, Handy, Smartphone, Spielekonsole) haben laut der Erhebung 2023 der MiniKIM-Studie

Zurück zu Leo: Weihnachten rückt näher und Heiligabend liegt schließlich ein nagelneues Smartphone unter dem Weihnachtsbaum. Leo ist überglücklich und verspricht, sich an die Vorgaben zu halten. Anfangs scheint alles gut zu laufen. Leo darf das Smartphone nur eine Stunde am Tag benutzen, in der er mit Freunden Nachrichten austauscht. Doch nach wenigen Wochen bemerken Sabine und Markus erste Veränderungen. Zunächst sind es kleine Dinge: Leo ist morgens häu-

fig müde und kommt nur schwer aus dem Bett. In der Schule lassen seine Leistungen nach und die Lehrerin ruft an, um die Eltern darauf hinzuweisen, dass Leo unaufmerksam und oft abgelenkt wirkt. Auch zu Hause wird es zunehmend schwieriger, ihn für seine Hausaufgaben zu motivieren oder ihn zu gemeinsamen Aktivitäten zu überreden. Seine Augen sind oft glasig und er scheint nur noch an einer Sache Interesse zu haben: dem Smartphone.

5: www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/KIM/2022/Charts_Broschuere_KIM2022_final.pdf

Eines Abends, als Sabine nachsehen will, ob Leo schläft, entdeckt sie etwas Unerwartetes: Unter der Bettdecke glimmt ein schwaches Licht. Als sie nähertritt, sieht sie, dass Leo heimlich das Smartphone in der Hand hält und spielt. Wie wild tippt er auf dem Display herum und bemerkt nicht, wie seine Mutter näherkommt. Als Sabine ihm das Handy aus der Hand nimmt, erschrickt er.

„Ey, was soll das?“, schreit er seine Mutter an. „Das ist meins, da hast du kein Recht zu, gib mir das sofort wieder!“ Er flippt vollkommen aus, schreit seine Mutter an und tritt sogar nach ihr. Sabine geht schweigend aus dem Zimmer, so fassungslos und ratlos ist sie über diese Situation.

Was ist hier passiert?

Leo scheint sich in einem „Tunnel“ zu bewegen. Er merkt nicht, dass seine Mutter das Zimmer betritt, so sehr ist er in die digitale Welt seines Smartphones vertieft. Als er es dann ohne Vorwarnung weggenommen bekommt, reagiert er mit körperlichen und verbalen Aggressionen bis hin zu körperlichen Angriffen. Zuvor wurden die Eltern ja bereits durch die Lehrerin angesprochen und auf Veränderungen von Leo in der Schule aufmerksam gemacht. Die eher rhetorische Frage der Lehrerin, dass sie davon ausgehe, dass Leo abends nicht mehr über sein Smartphone verfüge, hatten Sabine und Markus als völlig ausgeschlossen ignoriert. Schließlich hatten sie mit Leo doch feste Regeln vereinbart. Diese unbeobachtete, ja sogar nicht überwachte Internetzeit hat Leo offensichtlich in die Situation gebracht, alles um sich herum zu vergessen

und sich nahezu ausschließlich in der virtuellen Welt zu bewegen. Eine durchaus gefährliche Situation, sowohl für seine eigene Gesundheit als auch für sein Wahrnehmungsvermögen in der Realität. Das Leo in der Folge sogar seiner eigenen Mutter gegenüber übergriffig wird, zeigt deutlich, wie tief Leo bereits in die Abhängigkeit geraten ist.

Verhaltensauffälligkeiten – welche Warnzeichen gibt es?

Folgende Verhaltensauffälligkeiten werden häufig mit einem problematischen oder suchtartigen Internetgebrauch assoziiert:6

» Ständiges Nachdenken über die vergangenen oder die kommenden Internetaktivitäten. Die Internetnutzung entwickelt sich zur vorherrschenden Aktivität im Leben der Betroffenen.

» Fehlt die Möglichkeit, online zu sein, tauchen vermehrt Gefühle wie Gereiztheit, Traurigkeit oder Ängstlichkeit auf.

» Um sich gut zu fühlen, muss immer mehr Onlinezeit aufgebracht werden.

» Versuche, die eigene Nutzung zu kontrollieren und sich an Regeln zur Nutzungszeit zu halten, bleiben erfolglos.

» Onlinespiele, zu chatten und/oder sich in sozialen Medien zu präsentieren wird früheren Hobbys und Freizeitbeschäftigungen vorgezogen.

» Trotz bereits entstandener Schwierigkeiten wird der Computer, das Tablet, die Konsole oder das Smartphone weiter genutzt.

6: Brand, M. & Laier, C. (2013). Neuropsychologie der pathologischen Internetnutzung. Sucht, 59, 143-152. doi: 10.1024/0939-5911.a000246

» Die Dauer der Zeit im Netz wird verschwiegen oder falsch dargestellt.

» Man verbringt seine Zeit darin, um negative Stimmung zu vermeiden oder vor negativen Gefühlen zu flüchten.

» Die Leistung in der Schule oder der Kontakt mit Freundinnen und Freunden, Mitschülerinnen und Mitschülern sowie Angehörigen leidet infolge der genannten Handlungen.

Sollten Eltern gleichzeitig mehrere der aufgelisteten Verhaltensweisen bei dem Kind beobachten, kann dies auf eine Problematik hindeuten. Eine zuverlässige Diagnose kann jedoch nur von ausgebildeten Fachtherapeuten gestellt werden –und diese entscheiden dann auch, welche Therapie ggf. vonnöten ist.

Was Eltern und Angehörige bei Mediensucht von Kindern tun können:

» Suchen Sie das Gespräch und klären über die Folgen von Mediensucht auf.

» Beschränken Sie den Konsum, indem Sie individuelle, auf Ihr persönliches Umfeld und auf Ihre Lebensgewohnheiten passende Regeln aufstellen. Verfolgen Sie die Einhaltung konsequent.

» Schlagen Sie andere Beschäftigungen vor und setzen Sie sie gemeinsam um.

Die Stiftung Warentest gibt umfangreiche Empfehlungen, mit welchen technischen Möglichkeiten unter anderem Zeitlimits gesetzt und Kindersicherungen eingerichtet werden können:

Zur Vertiefung des Themas Internetsucht bei Kindern und Jugendlichen empfehlen wir das „internet-abc für Eltern“. Unter den verschiedensten Rubriken werden Lösungsmöglichkeiten und Vorbeugemaßnahmen zu allen im Themengebiet anfallenden Fragen kompetent beantwortet.

1.6 Influencing: Manipulation oder gute Ratgeber?

Wie viele in ihrem Alter verbringt die 16-jährige Marlene viel Zeit im Internet. Schon seit einigen Monaten folgte sie regelmäßig dem angesagten Lifestyle-Influencer „Philipe de Luxe“, der auf Instagram und YouTube sein scheinbar perfektes Leben zur Schau stellt. Er hat Millionen von Followern und präsentiert stets die neuesten Mode- und Beautytrends, redet über Selbstverwirklichung und wie man „das Beste aus sich herausholt“. Marlene ist begeistert von seiner Art, wie er es schafft, alles so leicht und glamourös wirken zu lassen. „Er versteht mich einfach“, denkt sie oft.

Anfangs sind es nur kleine Dinge, die Marlene verändert. Sie beginnt, sich mehr Gedanken über ihr Äußeres zu machen, lässt ihre Haare auf eine bestimmte Art stylen und kauft Produkte, die Philipe bewirbt. Doch nach und nach verändert sich auch ihr Verhalten. Marlene wird verschlossener, ihre Eltern bemerken, dass sie immer mehr Zeit alleine in ihrem Zimmer verbringt, meistens mit ihrem Smartphone in der Hand. Gespräche über Schule oder Freunde verlaufen im Sand, weil Marlene genervt reagiert. Ihre Eltern machen sich Sorgen, wissen aber nicht, wie sie zu ihr durchdringen sollen. Mit der Zeit hängt Marlenes Selbstwertgefühl zunehmend von den Likes und Kommentaren ab, die sie in den sozialen Medien erhält. Ihre Mutter bemerkt, dass Marlene plötzlich keine Lust mehr hat, an Familienaktivitäten teilzunehmen. Sie zieht sich komplett zurück und verbringt ihre Freizeit nur noch damit, stundenlang Videos anzuschauen.

Ein Wendepunkt ist erreicht, als Marlene beginnt, ihren Eltern Vorwürfe zu machen. „Ihr versteht das alles nicht! Ihr habt ja keine Ahnung, wie die Welt heute funktioniert!“, schreit sie eines Abends wütend, als ihre Mutter vorsichtig versucht, ein Gespräch zu führen. Es ist, als ob der Kontakt zu ihrer Tochter völlig abgerissen sei. Die Eltern wissen nicht mehr weiter. Wo ist die fröhliche, offene Marlene geblieben, wie sie noch vor einem Jahr war? Die Auswirkungen werden immer spürbarer. Marlene vernachlässigt ihre schulischen Pflichten und auch die Freundschaften in der realen Welt verlieren an Bedeutung. Sie lebt in einer virtuellen Blase, in der nur noch die Meinungen und Inhalte eines Influencers zählen. Die Eltern merken, dass sie immer weniger erreichen. Es fühlt sich an, als ob Marlene ihnen durch die Finger gleitet, als ob sie in eine Welt abdriftet, die für sie als Familie nicht mehr zugänglich ist.

Die Geschichte von Marlene steht beispielhaft für das, was viele Jugendliche heute erleben. Die Macht von Influencern kann stark und manipulativ sein, ohne dass Betroffene es zunächst bemerken. Was als harmloses Interesse beginnt, kann schnell zu einer tiefen Abhängigkeit führen, die nicht nur die Jugendlichen selbst, sondern auch ihr familiäres Umfeld belastet.

Der Einfluss von mehr oder weniger prominenten Influencern ist mittlerweile so groß, dass sich ein ungesundes Ernährungsverhalten oder aber der Zwang zu kosmetischen Eingriffen entwickeln kann. Auch ein diskriminierendes Verhalten gegenüber anderen Kindern und Jugendlichen ist keine Seltenheit.

Aufgrund des manipulativen Vorlebens von Schönheitsidealen werden andere Personen schnell abgewertet und ausgeschlossen. Das Phänomen Bodyshaming hat Einzug in den Alltag vieler Kinder und Jugendliche genommen.

Lehrmaterial zum Thema

Einfach schön – ganz ohne Schönheitsideale! Kompetenztraining zur Akzeptanz der eigenen individuellen Schönheit. Lehrmaterial des bayerischen Staatsinstituts für Schulqualität und Bildungsforschung:

Nahrungsergänzungsmittel –rechtliche Hinweise

In sozialen Medien werden Nahrungsergänzungsmittel häufig mit Gesundheitsversprechen, sogenannten Health Claims, beworben. In vielen Fällen sind die Aussagen rechtlich nicht korrekt. Der Lebensmittelbericht 2021, herausgegeben vom Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz BadenWürttemberg7, hat genau das gezeigt. Aussagen über Lebensmittel, insbesondere über deren Gesundheit, müssen der Wahrheit entsprechen. Eine Täuschung ist nicht zulässig. Die Verordnung der Europäischen Union über die Health-ClaimsVerordnung erlaubt nur Angaben, die eine wissenschaftliche Prüfung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bestanden haben und von der EU-Kommission zugelassen worden sind. Diese Vorgaben gelten auch für Werbung in sozialen Medien – für die Lebensmittelunternehmen selbst, aber auch für beauftragte Influencerinnen und Influencer.

Schönheitsideale und Bodyshaming

Der Begriff Bodyshaming bedeutet, dass ein Mensch aufgrund seines Aussehens beleidigt, diskriminiert oder gedemütigt wird. Menschen, die nicht den gesellschaftlich vorgegebenen Schönheitsidealen entsprechen, werden dabei abgewertet. Umso wichtiger ist es, Kinder darin zu bestärken, dass sie diesem medial vorgegebenen Bild nicht entsprechen müssen.

7: https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/m-mlr/intern/dateien/publikationen/jahresbericht-lebensmittelueberwachung_2021_.pdf

1.7 Influencing: Hilfe für Eltern und Angehörige

Auch hier gilt: Aufklärung und gemeinsame Gespräche sind das A und O, um unsere Kinder und Jugendlichen zu schützen:

Ansprechpersonen bleiben

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Privatsphäre – auch in ihrer digitalen Kommunikation. Gleichzeitig gilt die Fürsorgepflicht von Eltern und Lehrkräften. Kinder und Jugendliche brauchen Erwachsene, die sie hinsichtlich Internet begleiten und an die sie sich immer mit Fragen und Problemen wenden können. Deshalb: Kommunizieren Sie offen, seien Sie ansprechbar und fördern Sie aktiv kritisches Hinterfragen.

Auf Altersbeschränkungen achten

Jedes soziale Netzwerk hat eine Altersbeschränkung. Zum Beispiel ist YouTube mit Zustimmung der Eltern generell ab 16 Jahren erlaubt. Auch „YouTube Kids“ können Kinder und jüngere Jugendliche grundsätzlich nur nutzen, wenn Sie als Eltern zustimmen. Sprechen Sie also mit Ihren Kindern, denn Altersbeschränkungen sind für Sie auch ein guter Anhaltspunkt, welche Inhalte den Kindern und Jugendlichen auf der jeweiligen Plattform begegnen könnten. Eine aktuelle Listung der gängigen Altersbeschränkungen, wie sie in den AGBs der Forenbetreiber benannt ist, finden Sie hier:

Problematische Inhalte besprechen

Stellen Sie Fragen: Woher kommt die Information? Wer hat sie geteilt? Warum? Was und wer soll damit erreicht werden? Warum sind diese Inhalte bedenklich? Wer profitiert davon?

Plattformen gemeinsam anschauen und einrichten

Wer ist auf welchen Plattformen unterwegs? Welche Informationen werden geteilt? Wer kann auf das eigene Profil zugreifen? Sensibilisieren Sie Kinder dafür, dass dies wichtige Punkte sind, die vor der Nutzung gemeinsam mit ihnen besprochen werden sollten. Einige Messengerdienste erlauben, dass man eine Nachricht von einer komplett fremden Person erhält oder in eine unbekannte Gruppe hinzugefügt wird. Bei diesen ist das Risiko höher, ungewollt Nachrichten und Inhalte zugesandt zu bekommen, die möglicherweise falsche Informationen oder jugendgefährdenden Content enthalten.

Über Beeinflussung reden

Influencerinnen und Influencer gibt es inzwischen zu fast jedem Thema und auf jeder Plattform. Sie rezensieren, werben und sagen ihre Meinung. Insbesondere weil sie viel von sich zeigen und so Nähe zum jungen Publikum aufbauen, können sie potenziell problematische Inhalte zielgerichtet und ungehindert weitergeben. Daher ist es hier besonders wichtig, Kindern den Unterschied zwischen Meinung und Werbung zu vermitteln und die Inhalte kritisch zu sehen. Hinterfragen Sie mit Ihren Kindern, was Influencerinnen und Influencer motivieren könnte, falsche Informationen zu verbreiten: Verdienen sie damit Geld?

1.8 TikTok, Instagram, SnapChat & Co

Medienangebote wie Instagram und TikTok, aber auch SnapChat und andere erfreuen sich insbesondere bei Kindern und Jugendlichen einer immer größer werdenden Beliebtheit. So gehört es fast zum guten Ton, so früh wie möglich über eigene Kanäle zu verfügen, Follower zu haben und anderen, in der Regel vollkommen unbekannten Menschen ebenfalls zu folgen und deren Inhalte zu studieren. Jeder „Like“ zählt. Unweigerlich werden Botschaften, die über diese Plattformen an oftmals unkritische Konsumenten versandt werden, als DIE EINZIGE Wahrheit aufgenommen. Die beispielhaft nachfolgend aufgezählten Nutzerzahlen von TiKTok zeigen die große Beliebtheit:

» TikTok hatte im Jahr 2023 weltweit 1,677 Milliarden Nutzerinnen und Nutzer, davon waren 1,1 Milliarden monatlich aktiv.

» Die Markenbekanntheit von TikTok lag innerhalb Deutschlands bei 89 Prozent, wie eine Umfrage von Juni 2023 unter 1154 Befragten herausfand.

» Die Nutzerzahl innerhalb Deutschlands betrug 20,22 Millionen.8

Hinweise für Eltern zum Umgang mit diversen Angeboten im Internet für Kinder und Jugendliche

» Viele Apps sind optimal an die Bedürfnisse Jugendlicher zwischen 10 und 13 Jahren angepasst, denn sie sprechen den sich entfaltenden Charakter der Jugendlichen und ihren Wunsch zur Selbstdarstellung an. Wichtig ist, dass Eltern sich mit den Apps und der Nutzung durch ihre Kinder vertraut machen und auf Privatsphäre, Datenschutz, Urheberrecht und ungeeignete Inhalte hinweisen.

» Achten Sie auf das Eintrittsalter, zahlreiche Apps sind erst ab einem bestimmten Alter zugelassen, TiKTok zum Beispiel erst ab 13 Jahre.

» Richten Sie Apps und andere Angebote wie zum Beispiel Onlinespiele immer gemeinsam mit Ihren Kindern ein.

» Klären Sie über Werbungen und In-AppKäufe auf.

Legen Sie eigene Sicherheitsregeln fest, in dem Sie sich die folgenden Fragen selbst stellen, und finden Sie für sich die richtigen Antworten. Bitte bedenken Sie hier immer das Kindeswohl und bleiben Sie ein vertrauensvoller Ansprechpartner.

» Was darf gepostet werden?

» Wie verhalte ich mich, wenn ich scheinbar unangebrachte Kommentare oder Nachrichten bekomme?

» Wie sperre ich andere Nutzerinnen und Nutzer, wie kann ich Nutzerinnen und Nutzer melden oder blockieren?

» Warum sollte das Profil bei Minderjährigen nicht auf öffentlich gestellt werden?

» Wieso sollte ich die „Wo bin ich“-Funktion (zum Beispiel bei SnapChat) ausschalten?

» Wie gehe ich mit dem seit 2023 für Minderjährige voreingestellten Bildschirmzeitlimit von 60 Minuten am Tag für die Nutzung von TikTok um?

Exkurs Überwachung von Medienzeiten am Fallbeispiel der meistgenutzten App, TiKTok

Über den „Begleiteter Modus“ können Eltern eine Nutzungszeit zwischen 40, 60, 90 und 120 Minuten am Tag festlegen. Ist das Kontingent aufgebraucht, kann nur vom Smartphone der Eltern aus mit einem Passwort weitere Zeit freigeschaltet werden. Um die Kontrollfunktion nutzen zu können, müssen Eltern die App ebenfalls auf ihr Handy herunterladen und einen QR-Code vom Gerät des Kindes scannen. Anschließend lässt sich der „Begleiteter Modus“ in den „Digital Wellbeing“-Einstellungen unter „Privatsphäre und Einstellungen“ aktivieren. Die Aktivierung der Kontrollfunktion sollte vorher mit dem Kind abgesprochen sein. Welche Inhalte sich das Kind auf der Plattform anschaut und welche Nachrichten und Kommentare es verschickt, können Eltern über die Einstellung nicht einsehen.

Weitergehende Hinweise insbesondere für Kinder finden Sie auf der Website „polizei für dich“ der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes (ProPK):

Ratgeberreihe Kripo-Tipps

Tipps für mehr Sicherheit und Schutz im Alltag.

Kripo-TIPPS

Ein Ratgeber des Bund Deutscher Kriminalbeamter ACHTSAM IM ALTER

Kripo-TIPPS INTERNET? ABER SICHER

Ein Ratgeber des Bund Deutscher Kriminalbeamter

Kripo-TIPPS

Ein Ratgeber des Bund Deutscher Kriminalbeamter SICHERE KINDHEIT? GESAMTGESELLSCHAFTLICHE VERANTWORTUNG!

Kripo-TIPPS

Ein Ratgeber des Bund Deutscher Kriminalbeamter

2. Radikalisierung

Von der Radikalisierung (im Netz) zum Extremismus in der Realität

Im Mai 2022 hat die Essener Polizei einen Anschlag an einem Essener Gymnasium verhindert. Nach Hinweisen fanden die eingesetzten Kräfte der Polizei in der Wohnung eines Jugendlichen ein riesiges Waffenarsenal: 26 selbstgefertigte Rohrbomben, zum Teil funktionstüchtig, drei Armbrüste, zahlreiche Messer und Schreckschusswaffen. Ebenfalls gefunden wurde ein Notizbuch mit gezeichneten SS-Runen sowie rechtsextremen, antisemitischen und antimuslimischen Aufzeichnungen.

Im weiteren Verlauf wurde bekannt, dass der Schüler über den Social-MediaKanal Twitch einen Livestream mit seiner

geplanten Amoktat vorbereitet hatte und dass er in seiner Schule der „Jahrgangsstufen-Nazi“ genannt wurde, weil er offen seine rechtsextreme Gesinnung, rassistisches Gedankengut und entsprechende Fantasien nach außen trug.

Im Laufe der letzten Monate sprach der Beschuldigte immer wieder in bewundernder Weise über die Amokläufe von Halle und Columbine und erwähnte auch, dass er selber im Besitz von selbst gebauten Rohrbomben und Gewehren wäre.

Weitere Ermittlungen ergaben, dass er im Besitz von kinderpornografischen Bildern sowie gewaltverherrlichenden Videos war. Er zeigte Fotos seiner Waffen in der Schule herum, ließ sich über einen Mitschüler eine Zündschnur bestellen und

sprach mehrfach von seinen Anschlagsplänen. Er trug Militärkleidung, zeigte das „White Power“-Zeichen auf einem Klassenfoto und ein starkes Interesse an der NS-Zeit. Er konsumierte rechtsextreme Musik, Videos und Manifeste von Amokläufen. Er wurde nicht ernst genommen.

2.1 Was ist Radikalisierung?

Radikalisierung ist die zunehmende Hinwendung von Personen oder Gruppen zu einer extremistischen Denk- und Handlungsweise und die wachsende Bereitschaft, zur Durchsetzung ihrer Ziele illegitime Mittel bis hin zur Anwendung von Gewalt zu befürworten, zu unterstützen und/oder einzusetzen. Die Ziele sind dabei nicht maßgeblich, so können es religiöse, politische oder ganz andere gesellschaftliche Denkweisen sein.

Radikalisierung ist nicht strafbar. Radikalismen haben in unserer Gesellschaftsordnung einen legitimen Platz, solange sie sich im Rahmen der Verfassung befinden. Was als radikal gilt, wird auch vom gesellschaftspolitischen Kontext der Zeit bestimmt.

Radikalisierung im Netz

Digitale Kommunikation spielt in unserem Alltag eine immer größere Rolle. Vor allem Jugendliche nutzen insbesondere das Internet zum Austausch mit Freundinnen und Freunden, als Informationsquelle und zur Unterhaltung. Extremistische Akteure wissen das und nutzen Internetplattformen und -dienste zur Kommunikation, zur Rekrutierung neuer Mitglieder, zur Verbreitung von propagan-

distischem Material, zur Agitation und zur Vernetzung untereinander.

Die Beteiligten, also jene, die radikalisieren, und jene, die radikalisiert werden, profitieren dabei von einer (größtenteils) unkontrollierten, schnellen und kostengünstigen Informationsvermittlung nahezu in Echtzeit und über Ländergrenzen hinweg sowie einer (vermeintlichen) Anonymität. Laut Verfassungsschutz nutzen extremistische Akteure das Internet, um zu mobilisieren und potenzielle Anhängerinnen und Anhänger hinzuzugewinnen (BfV 2013: 10).9

Die nachfolgende Grafik erläutert theoretische Erklärungsansätze und sogenannte Auslösefaktoren:

9: www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/200407_bpb_Reflect-your-past-Online-Radikalisierung.pdf

Radikalisierungsprozesse – theoretische Erklärungsansätze

Auslösefaktoren

Entfremdung von der Gesellschaft

Wunsch nach sozialer Zugehörigkeit

Relative Deprivation Identitätssuche

Frustration

Empfundene Ohnmacht

Soziale/Politische Unzufriedenheit

Kränkung/ Demütigung

Diskriminierung Viktimisierung

Gesamtgesellschaftliche Faktoren

Quelle: Prävention politisch motivierter Kriminalität: Radikalisierungsprozesse Düsseldorf, 2024

Die Rolle von Ideologien bei der Radikalisierung:

Der Prozess einer Radikalisierung läuft insbesondere durch Ideologien im Netz ab, die Orientierung und Halt versprechen. Dabei gehen sie meist Schritt für Schritt nach folgendem Muster vor: Zunächst identifiziert man gemeinsam einen Schuldigen für die angeblich so schlechte Situation, das kann eine Person im Elternhaus, in der Schule, aber auch die allgemeine Politik sein. Im weiteren Schritt werden dem jungen Menschen Lösungen präsentiert, sogenannte Erlösungsszenarien, wie man sich dem Schuldigen entledigen beziehungsweise ihn aus seiner eigenen Meinungsbildung entfernen kann. Im Nachgang wird versucht, Gleichgesinnte hinzuzuziehen, also andere Jugendliche, die sich in der gleichen Situation befinden, oder es werden andere Jugendliche vorgestellt, denen man so schon geholfen hat. Die gesamte Komplexität des Themas wird

reduziert auf einfache Möglichkeiten, seinen Frust zu kanalisieren und in eine politische Richtung zu lenken.

2.2 Radikalisierungstendenzen erkennen

Es gibt keine Anzeichen, die für sich genommen eindeutig und alleinstehend auf eine Radikalisierung hindeuten. Vielmehr muss eine Kombination aus Hinweisen aus verschiedenen Bereichen vorliegen, damit ein hinreichender Verdacht auf Radikalisierung besteht. Die im Folgenden dargestellten Hinweise sind beispielhaft zu verstehen. Berichte aus der Praxis zeigen, dass Personen, die sich in einem Radikalisierungsprozess befinden, häufig im ersten Schritt sich von ihrem eigenen sozialen Umfeld entfremden. Im nächsten Schritt werden aus der Entfremdung eine Abgrenzung und dadurch entstehende Definitionen von Feindbildern.

Andere Meinungen und Informationsquellen als die eigenen werden konsequent abgelehnt. Ihnen gegenüber wird dogmatisch und aggressiv vorgegangen. In einer weiteren Steigerung fühlen sich Personen in diesen Prozessen allem anderen überlegen. Ihre Überlegenheit und Verhaltensänderung äußern sie häufig in der Veränderung ihres äußeren Erscheinungsbilds.

In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass eine Radikalisierung vor allem an erheblicher (äußerlicher) Wesens- und Verhaltensänderung erkennbar ist, aber nicht notwendigerweise an Äußerlichkeiten, und dass die politische Gesinnung in vielen Fällen nicht auslösender Faktor für die Radikalisierung ist. Oft ist es nur dem Zufall geschuldet, in welche Richtung sich ein Jugendlicher radikalisiert.

Wenn eine Person in Ihrem Umfeld sich radikalisiert, ist es wichtig, richtig zu reagieren, so kann der Prozess möglicherweise noch aufgehalten werden. Sich radikalisierende Personen sind selten durch rationale Argumente und Belehrungsversuche aufzuhalten. Viel wichtiger ist es daher, die Gründe für das Verhalten oder die Meinung zu hinterfragen und vorsichtig auf Widersprüche hinzuweisen, sodass bei der betroffenen Person selbst eine kritische Reflexion stattfinden kann. Insbesondere bei Personen, die in ihrem Radikalisierungsprozess bereits weiter fortgeschritten sind, kann eine argumentative Konfrontation sogar kontraproduktiv wirken, vor allem wenn zusätzlich noch gruppendynamische Faktoren im Spiel sind, und sollte vermieden werden. In diesen Fällen sollten Sie sich professionelle Unterstützung suchen. Die Polizei kennt zahlreiche Beratungsstellen, die in den unterschiedlichsten Deliktsfeldern der Radikalisierung tätig sind,

und vermittelt Sie gerne weiter. Abwertenden Aussagen und sachlichen Falschinformationen sollten Sie konsequent widersprechen. Dabei ist darauf zu achten, der Person trotz aller ideologischen Grenzen persönlichen Respekt entgegenzubringen und Unterstützung anzubieten. Auf keinen Fall sollte man den Kontakt abbrechen und so mögliche Ausstiegswege kappen.

Zu guter Letzt sollte man sich auch nicht scheuen, sich Hilfe von außen oder aus dem nahen Umfeld zu suchen.

Im Ernstfall empfiehlt es sich aber dringend, sicherheitsrelevante Hinweise der Polizei zu melden. Das kann zum Beispiel auch durch Screenshots von Nachrichten auf dem Computer oder Smartphone sein oder durch Sprachnachrichten.

2.3 Verhaltenshinweise für Eltern und weitere Bezugspersonen

» Gründe hinterfragen und auf Widersprüche hinweisen

» Reagieren und Widersprechen

» Grenzen setzen

» Unterstützung anbieten und Kontakt halten

» Hilfe suchen

» Sicherheitsrelevante Hinweise der Polizei melden und Beweise sichern

Weitere Hilfsangebote finden Sie bundesweit bei der Beratungsstelle Radikalisierung10 unter der Telefonnummer +49 911 9434343.

Die Mitarbeitenden der „Beratungsstelle Radikalisierung“ beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind erste Anlaufstelle und bieten konkrete Hilfe:

» Sie geben Antworten auf häufige Fragen und klären im Rahmen eines ersten Überblicks über die Problematik auf.

» Sie finden für Sie Hilfsangebote in Ihrer Nähe.

» Sie vermitteln im Einzelfall persönliche Beratung und Betreuung durch eine geeignete Stelle.

» Sie stellen den direkten Kontakt zu Spezialisten in allen Bereichen her.

» Sie vermitteln den Kontakt zu anderen Betroffenen in ähnlicher Situation und/ oder Selbsthilfe-Initiativen.

Glaube oder Extremismus?

Die Broschüre des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) informiert Sie über das Angebot der „Beratungsstelle Radikalisierung“ im BAMF.

10: www.bamf.de/DE/Behoerde/Beratungsstelle/beratungsstelle-node.html

3. Kindesmissbrauch

Lena ist sieben Jahre alt und besucht die Klasse 2 b der Eulengrundschule. Sie ist ein stilles Mädchen, das selten auffällt. Meistens sieht man Lena alleine. In den Pausen, im Schulflur oder auch auf dem Weg zur Schule. Einzig ihr brauner Kuscheltieraffe ist immer dabei, den sie stets fest in der Hand oder um ihren Hals trägt.

Frau Steinmann, ihre Klassenlehrerin, hat in den letzten Wochen bemerkt, dass Lena immer häufiger abwesend wirkt. Hausaufgaben fehlen und im Unterricht ist sie oft zerstreut. Doch es ist nicht nur Lenas Verhalten, das Frau Steinmann beunruhigt.

Eines Morgens kommt Lena mit einem blauen Fleck am Arm in die Schule. „Was ist denn da passiert?“, fragt die Lehrerin behutsam, als sie das Mädchen zur Seite

nimmt. Lena blickt sie an, zuckt nur mit den Schultern und murmelt etwas von einem Sturz. Doch der Fleck sieht nicht aus wie das Ergebnis eines einfachen Stolperns. Frau Steinmann spürt, dass hier etwas nicht stimmt, kann aber ihre Befürchtungen nicht in Worte fassen. Soll sie die Eltern ansprechen? Oder ist das vielleicht nur eine Kleinigkeit? Lenas Verhalten ändert sich jedoch nicht und es folgen weitere kleine Verletzungen. Blaue Flecken an den Beinen, ein Kratzer auf der Wange. Immer dieselben Erklärungen: „Ich bin gestolpert“ oder „Ich habe mich gestoßen“.

Gleichzeitig bemerkt Frau Steinmann, dass Lena oft krankgemeldet wird. Mal ist es eine Erkältung, dann klagt sie über Bauch- oder Kopfschmerzen. Auffällig ist, dass Lena immer wieder von verschiede-

nen Ärzten entschuldigt wird. Eine Praxis hier, eine andere dort – die Lehrerin kann das Gefühl nicht abschütteln, dass Lenas Familie von einem Arzt zum nächsten geht. Frau Steinmann ist besorgt und die Gedanken lassen sie nicht mehr los.

Zur selben Zeit in einer kleinen Stadt, knapp 40 Kilometer von Lenas Schule entfernt: Frau Bauer lebt hier schon seit über zwanzig Jahren in der kleinen Wohnsiedlung mit den bunten Häusern. Sie kennt fast jeden, zumindest flüchtig, und der Alltag in ihrer Straße ist ruhig und unspektakulär. Doch seit einiger Zeit fällt ihr immer wieder die Familie im Haus gegenüber auf. Ein junges Paar mit zwei kleinen Kindern ist vor etwa drei Monaten eingezogen. „Familie Teschner“ steht mit blasser Schrift auf dem Klingelschild. Merkwürdig ist, dass man von den Kindern kaum etwas bemerkt. Ganz anders als bei den Bergmanns gegenüber. Deren Kinder sind meist in der ganzen Straße zu hören und lieben es, die Nachbarn mit ihren Flöten- und Trompetenkünsten zu unterhalten, besonders in der Mittagszeit. Doch hier ist es ganz anders. Man hört die Kinder nie lachen oder spielen. Meist sind die Rollläden auch am Tage heruntergelassen und der Garten wächst ungenutzt wild.

Eines Nachmittags, als Frau Bauer die Straße mit ihrem Dackel Waldemar entlanggeht, sieht sie die Kinder von der Bushaltestelle kommen. Zwei blasse Gestalten, vielleicht sechs und neun Jahre alt, die eng nebeneinander hergehen. Beide tragen abgenutzte Kleidung, die zu groß wirkt, und halten den Blick fest auf den Boden gerichtet. Als Frau Bauer ihnen freundlich zulächelt und ein leises „Hallo“ ruft, erschrecken die Kinder sichtbar und gehen hastig weiter, als wollten sie unsichtbar werden. Frau Bauer ist irritiert. Als sie an einem kühlen Herbstabend kurz

vor Mitternacht eine letzte Gassirunde mit Waldemar dreht, ist das oberste Fenster im Haus der Teschners ausnahmsweise gekippt und ein leises Wimmern und Weinen dringt auf die Straße. „Nein, nein, nein“, hört man immer wieder eine Kinderstimme schreien, wie inmitten eines kindlichen Albtraums.

Mit jedem Tag wächst in Frau Bauer das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Ist das nur Übervorsicht? Oder haben die Kinder vielleicht Angst? Frau Bauer weiß nicht, was sie tun soll.

Was ist hier passiert?

Die Geschichten von Lena und Familie Teschner sind leider keine Seltenheit. Auf unterschiedliche Art und Weise werden eine Lehrerin und eine Nachbarin mit einer Situation konfrontiert, bei der es sich um eine Form der Kindesmisshandlung handeln könnte. Eine Reihe von kleinen, scheinbar unzusammenhängenden Vorfällen und Auffälligkeiten, die Frau Steinmann und Frau Bauer in Sorge versetzen. Kindeswohlgefährdung zu vermuten, ist für beide keine leichte Aufgabe. Doch das Gefühl, etwas übersehen zu können, lässt sich ebenso schwer ertragen. Ärztehopping, wiederholte Fehltage in der Schule, Verletzungen, die nicht schlüssig erklärt werden können, oder ein Kind, das sich immer weiter zurückzieht. Erst wenn mehrere dieser Beobachtungen zusammentreffen, wird das Ausmaß des Problems sichtbar.

Beide machen den entscheidenden Schritt und melden ihre Sorgen an eine Beratungsstelle beziehungsweise die Polizei.

3.1 Kindesmisshandlung und ihre Formen

Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige, bewusste oder unbewusste, gewaltsame körperliche und oder seelische Schädigung, die das Wohl und die Rechte eines Kindes beeinträchtigt oder bedroht. Sie geschieht in Familien oder Institutionen wie Kindergärten, Schulen oder Heimen und führt zu Verletzungen, Entwicklungsverzögerungen oder sogar zum Tod. Hierzu zählen körperliche oder emotionale Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, psychische Misshandlung, alle Formen von Kindesmissbrauch und sexualisierte Gewalt.

Körperliche Vernachlässigung

Eine körperliche Vernachlässigung kann aus mangelnder Ernährung, unzureichender körperlicher Pflege oder gesundheitlicher Fürsorge bis hin zur völligen Verwahrlosung bestehen. Den Kindern fehlt es vor allem an ausgewogener Ernährung, an witterungsgerechter Kleidung, an Körperpflege, an einem intakten Rhythmus des Schlafens und Aufstehens sowie ausreichender Versorgung bei der Behandlung von Krankheiten und dem schützenden Verhalten von Erwachsenen gegenüber dem Kind bei Gefahrensituationen.

Körperliche Vernachlässigungen lassen sich in der Regel leicht erkennen, zumindest dann, wenn das Kind den Kindergarten oder die Schule besucht, aber auch ein wachsamer Blick eines jeden oder einer jeden im Alltag kann ein weiterer Schritt zur Sicherheit der so schützenswerten Gruppe der Kinder sein.

Emotionale Vernachlässigung

Entwicklungsbedürfnisse eines Kindes können nur in einem sozialen Kontakt verwirklicht werden, der ein Mindestmaß an ausreichendem Schutz, Ernährung, Sicherheit und menschlicher Zuwendung garantiert. Eine emotionale Vernachlässigung liegt vor, wenn die Entwicklungsbedürfnisse eines Kindes nach sozialer Bindung und Verbundenheit unzureichend beachtet und erfüllt werden. Sie beinhaltet dauerhaft feindliche, abweisende oder ignorierende Verhaltensweisen von Eltern oder Erziehenden gegenüber ihrem Kind.

Der Entwicklungsprozess eines Kindes wird nicht gefördert, die kindgerechten Interessen werden ignoriert und nicht berücksichtigt. Oft fehlt es an altersgerechtem Spielzeug und einem „sich Zeit nehmen“ für das Kind. Die körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes führt dadurch zu erheblichen Schäden. Die Folge einer emotionalen Vernachlässigung ist, dass das Kind sich selbst als wenig liebenswert und

Kindesmisshandlung

Haben Sie einen berechtigten Verdacht, dass Kindesmisshandlung vorliegt, gilt es zum Schutz des Kindes aktiv zu werden. Allerdings sollten Sie die weitere Abklärung entsprechenden Fachleuten überlassen. Dazu gehören Beratungsstellen, das Jugendamt und die Polizei.

von anderen nicht akzeptiert empfindet. Vernachlässigte Kinder haben oft große Schwierigkeiten, anderen Menschen mit Vertrauen zu begegnen, und neigen dazu, sich sozial zu isolieren.

Körperliche Misshandlung

Die körperliche Misshandlung ist eine gezielte Gewaltausübung, die dem Kind körperliche Verletzungen oder Schäden zufügt. Sie stellt eine Form impulsiver sowie reaktiver Gewalttätigkeiten dar, die von den Tatpersonen in Stresssituationen nicht mehr kontrolliert werden können. So kommt es zum Kontrollverlust als Folge einer psychischen Gesundheitsstörung oder eines emotionalen Ausnahmezustands. Die Formen der körperlichen Misshandlung sind dabei sehr vielfältig. Wird ein Kind geschlagen oder auf eine andere Weise körperlich misshandelt, so deuten fast immer sichtbare Verletzungen wie blaue Flecken, Blutergüsse, Abschürfungen, Brand- und andere Wunden oder Knochenbrüche auf eine Gewaltanwendung hin. Einen Hinweis auf solche Verletzungen kann auch das Verhalten des Kindes geben, wenn es sich etwa weigert, nach dem Sport zu duschen, oder wenn es im Unterricht nie kurze Hosen oder T-Shirts trägt. Unrealistische Erklärungen für den Grund einer Verletzung sind ein weiterer Warnhinweis für körperliche Misshandlungen.

Psychische Misshandlung

Psychische Gewalt hinterlässt dagegen fast nie direkt sichtbare Spuren. Die mit den Polizeien der Länder gemein-

sam gestaltete Onlinedatenbank für Betroffene von Straftaten11 beschreibt diese Form der Misshandlung als eine seelische oder psychische Gewalt und damit einhergehend als eine sehr subtile Form der Gewalt. In einigen Fällen kann sie auch die Vorstufe von körperlicher Gewalt sein. Sie ist durch viele unterschiedliche Erscheinungsformen geprägt und nicht einfach zu erkennen, insbesondere Außenstehende können sie kaum wahrnehmen.

Bei dieser Gewaltform wird das Opfer zum Beispiel herabgesetzt, beleidigt, gedemütigt, terrorisiert und bedroht. Angst und Einschüchterung sind die Folgen. Zudem versucht die Peinigerin oder der Peiniger nicht selten, das Opfer von der Außenwelt zu isolieren und in diesem das Gefühl aufkommen zu lassen, verlassen und einsam zu sein. Seelische Gewalt geschieht über Handlungen, Worte und Blicke. Die Täterinnen und Täter können in ihren Handlungen sehr subtil vorgehen. Daher wird diese Form der Gewalt sowohl von den Betroffenen selbst als auch von ihrem Umfeld zunächst nicht als solche wahrgenommen.

Neben den aktiven Formen von psychischer Gewalt kann sie auch durch Unterlassen geschehen. So wird das Opfer beispielsweise über einen längeren Zeitraum gemieden, ignoriert und mit andauerndem Schweigen „gestraft“.

11: https://www.odabs.org/informationen/moegliche-arten-von-gewalt/seelische-gewalt.html

In allen Fällen von Kindesmisshandlung, so auch hier, können Verhaltensänderungen Hinweise sein: Wenn Kinder etwa besonders aggressiv oder auch still werden und sich aus ihrem sozialen Netz zurückziehen. Misshandelte Kinder können auch auf einmal einen starken Leistungsabfall oder unerklärliche Lernschwächen beziehungsweise ohne fassbaren Grund Sprachstörungen aufweisen und wieder beginnen einzunässen.

3.2 Was tun bei Verdacht auf Kindesmisshandlung?

Hilfe bei seelischer/psychischer Gewalt

Viele Einrichtungen sind auf die professionelle Unterstützung von Gewaltopfern – auch bei seelischer Gewalt – spezialisiert. Auf der Onlinedatenbank für Betroffene von Straftaten (odabs.org) finden Sie schnell und unkompliziert Beratungsstellen in Ihrer Nähe – ganz anonym. Die Unterstützung in den Beratungsstellen kann Betroffenen von seelischer Gewalt zurück ins Leben verhelfen und Auswege aufzeigen.

Hinweise für alle Bürgerinnen und Bürger

» Greifen Sie beim Verdacht auf Kindesmisshandlung zum Schutz des Kindes rasch ein – das Kind braucht Ihre Hilfe!

» Nehmen Sie ein Kind ernst, wenn es von Gewalt zu Hause erzählt. Bewahren Sie Ruhe und hören Sie zu, ohne bohrende Fragen zu stellen.

» Ermitteln Sie nicht selbst, sondern schalten Sie Fachleute von staatlichen/kirchlichen Beratungsstellen, Jugendämtern, Beratungsstellen in

12: Wiederholte Opferwerdung

freier Trägerschaft (beispielsweise dem Kinderschutzbund), Familien- und Erziehungsberatungsstellen und der Polizei ein – notfalls auch anonym.

» Eine Mitteilung an die Polizei schließt die Hilfe anderer Einrichtungen nicht aus und gewährleistet offizielle, professionelle Ermittlungen. Damit auch die zum Schutz des Kindes notwendigen Maßnahmen getroffen werden können, werden das zuständige Jugendamt oder auch das Familiengericht von der Polizei unterrichtet.

» Zwar ist die Polizei keine Einrichtung der Opferhilfe, doch gibt es auch hier Fachleute – etwa die Jugendbeauftragten oder die Jugendsachbearbeiterinnen und -bearbeiter, die Ihnen gerne weiterhelfen.

» Beratungsstellen und das Jugendamt behandeln Informationen auf Wunsch vertraulich (auch das Jugendamt ist nicht zur Anzeige verpflichtet). Die Polizei dagegen nimmt in jedem Fall Ermittlungen auf und erstattet Strafanzeige, nur so können Sie in jedem Fall sicher sein, dass die zuständigen Beratungsstellen schnellstmöglich involviert werden und eine sekundäre Viktimisierung12 des Kindes möglichst gering gehalten wird.

» In akuten Notsituationen vermitteln Kinder-, Jugend-, Sorgen- und Nottelefone, aber auch die Polizei sofort Hilfe, vor allem außerhalb der Dienstzeiten der Beratungsstellen und Jugendämter.

Für bestimmte Berufsgruppen gelten besondere rechtliche Regelungen, die im Folgenden zusammengefasst werden.

Zusätzliche Hinweise für Lehrkräfte

Lehrerinnen und Lehrer sind durch ihren Erziehungsauftrag dazu verpflichtet, tätig zu werden, sofern begründete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass anvertraute Schülerinnen und Schüler Misshandlungen oder Vernachlässigungen ausgesetzt sind. In Absprache mit der Schulleitung sollten Lehrkräfte im Regelfall zunächst die Eltern informieren und fachliche Beratung in Anspruch nehmen. Ist Gefahr im Verzug oder durch die Beteiligung der Eltern der wirksame Schutz des Kindes gefährdet, muss das Jugendamt unmittelbar benachrichtigt werden. Eine Strafanzeige bei der Polizei kann, muss aber nicht erstattet werden.

Hinweise für Erzieherinnen und Erzieher Erzieherinnen und Erzieher sowie sozialpädagogische Fachkräfte sind gesetzlich verpflichtet, beim Verdacht auf Misshandlung oder Vernachlässigung eines von ihnen betreuten Kindes tätig zu werden (§ 8a Sozialgesetzbuch (SGB) VIII). Nichtstun kann sowohl arbeits-, ziviloder gar strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Was Erzieherinnen und Erzieher konkret tun müssen, hängt von ihrem Qualifikationsgrad ab und ergibt sich aus der Kooperationsvereinbarung zwischen der jeweiligen Einrichtung und dem Jugendamt. Zunächst müssen sie gemeinsam mit einer insoweit geeigneten Fachkraft eine Gefährdungseinschätzung vornehmen, dann auf die Sorgeberechtigten zugehen und diesen Hilfe anbieten. Bei akuter Gefahr für das Kind, beispielsweise auch durch die Beteiligung der Eltern, sollen sie unmittelbar die jeweiligen Stellen wie Jugendamt, Familiengericht, Ärzte oder Polizei einschalten. Eine Strafanzeige bei der Polizei kann, muss aber nicht erstattet werden.

Hinweise für ehrenamtlich Tätige in Jugendhilfeeinrichtungen

Der Schutzauftrag des § 8a SGB VIII gilt nur für Träger von Einrichtungen und Diensten, die Leistungen nach dem SGB VIII erbringen und hier wiederum unmittelbar nur für dort beschäftigte Fachkräfte. Fachkräfte sind Personen, die sich im Sinne von § 72 Abs. 1 SGB VIII für die Aufgabe eignen und eine dieser Aufgabe entsprechende Ausbildung erhalten haben.

Ist eine ehrenamtlich tätige Person zugleich Fachkraft, gilt für sie die Pflicht zur Wahrnehmung des Schutzauftrags. Laien hingegen, das heißt Personen ohne entsprechende Ausbildung oder Personen in der Ausbildung, sind vom Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII ausgenommen.

Einrichtungen und Dienste, die Laien einsetzen, müssen jedoch entsprechende Vorkehrungen treffen, dass auch diese bei Verdacht auf Misshandlung oder Vernachlässigung richtig und angemessen reagieren. Dies gilt für Kindertagesstätten ebenso wie für die zahlreichen Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit: Jugendtreffs, Jugendhäuser, Spielmobile und Ähnliches.

Hinweise für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der sonstigen Kinder- und Jugendarbeit

Eine ganze Reihe von Einrichtungen bietet zwar Angebote für Kinder und Jugendliche an, erbringt aber keine Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII. Dazu gehören Kinder- und Jugendsportvereine, Pfadfinder, Jugendmusikvereine, Kindertheaterclubs und viele mehr. Für sie gilt der Schutzauftrag des § 8a SGB VIII nicht. Trotzdem erwachsen aus den jeweils zugrundeliegenden Trainings-, Unterrichts- oder

Betreuungsverhältnissen auch rechtliche Schutzpflichten.

Bei Sporttrainerinnen und Sporttrainern sowie Übungsleiterinnen und Übungsleitern hängen die rechtlichen Pflichten von der jeweiligen Tätigkeit ab. In Clubs oder Jugendabteilungen unterliegen sie keiner gesetzlichen Verpflichtung zum Aktivwerden. Sie können und sollten aber aufgrund ihrer Trainereigenschaft Indizien wahrnehmen, die auf eine Vernachlässigung oder Misshandlung eines von ihnen trainierten Kindes oder Jugendlichen hindeuten. In Absprache mit ihrer Vereinsleitung können sie dann eine vom Verein benannte Anlaufstelle, zum Beispiel das Jugendamt, informieren und die Klärung einer möglichen Gefährdung anregen.

Für Lehrkräfte im Sport und Mitarbeitende der Kinder- und Jugendhilfe gelten die oben genannten Pflichten.

3.3 Phänomen Ärzte-Hopping

Bei Lena fiel der Lehrerein Steinmann auf, dass Atteste immer wieder von verschiedenen Ärzten ausgestellt wurden. Bei dem sogenannten Ärzte-Hopping gehen

Eltern mit ihren Kindern zu verschiedenen Ärzten, um abweichende Argumentationen für Verhalten oder körperliche Auffälligkeiten anbringen können. Ziel dieser Methode ist es, dass möglichst nicht auffällt, wenn

ein Kind häusliche Gewalt oder sexuellen Missbrauch erfährt, und damit erst gar keine durchgehende medizinische Dokumentation entsteht. Durch das Aufsuchen verschiedener Ärzte hoffen Täterinnen und Täter, dass keine konsistente Diagnose gestellt wird, die auf Misshandlung oder Missbrauch hinweist.

Eltern präsentieren die Verletzungen oft als Unfälle oder andere harmlose Vorfälle, wobei sie darauf setzen, dass die Ärztin oder der Arzt die Verletzungen isoliert betrachtet und den Zusammenhang nicht erkennt. Das Ziel ist oft, die Zeitspanne zu verlängern, bis jemand den Verdacht äußert, dass es sich um Missbrauch handelt. Durch das Ärzte-Hopping wird der Verdacht immer wieder aufgeschoben.

Anzahl der polizeilich erfassten Fälle von Misshandlung von Kindern in Deutschland von 2013 bis 2023:

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/157324/umfrage/polizeilich-erfasste-faelle-der-misshandlung-von-kindernseit-1995/

In Verdachtsfällen hatten Ärztinnen und Ärzte bisher wenige Möglichkeiten der Interaktion. Eine Absprache war aus datenschutzrechtlichen Gründen bisher illegal. Der Patientenschutz und die ärztliche Schweigepflicht wurden dem Schutz der Kinder vorangestellt.

Projekt „RISKID”

Das Projekt „RISKID” (Risikoinformationssystem Deutschland) hat hier ein deutliches und nachhaltiges Zeichen gesetzt. RISKID fordert bereits seit vielen Jahren ein innerärztliches Informationssystem, das durch den rechtzeitigen Austausch von ärztlichen Befunden einer behandelnden medizinischen Fachkraft hilft, die Diagnose einer Kindesmisshandlung sicher und frühzeitig zu stellen. Dies ist insbesondere dann wichtig, wenn Erziehungsberechtigte, die ihre Kinder misshandeln, häufiger die Ärtzin oder den Arzt wechseln, um ihre Misshandlungen zu vertuschen. Seit 2009 unterstützt der BDK das Projekt RISKID, das auf

einer Initiative des Duisburger Kinderarztes Dr. Ralf Kownatzki und des zwischenzeitlich verstorbenen Kriminalbeamten Heinz Sprenger basiert.

Nach vielen verschiedenen Gesetzesgutachten und einem langen justiziellem Weg ist es nunmehr erlaubt, dass zum Schutz der Kinder ein solcher Austausch erlaubt ist.

Es ist alleine aufgrund der Entwicklung in den letzten Jahren unabdingbar, dass wir als gesamtgesellschaftliche Aufgabe die heutigen Bedürfnisse von Kindern auf der Grundlage der UN-Kinderrechtskonvention stützen und forcieren.

Das Recht aller Kinder und Jugendlichen auf ein gewaltfreies Aufwachsen muss ein fundamentales Bedürfnis unserer Gesellschaft werden und sein.

Die UN-Kinderrechtskonvention

Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, was genau verbirgt sich dahinter?

Diese Rechte der Kinder wurden erstmals offiziell im Jahr 1989 in der UNKinderrechtskonvention niedergeschrieben. Diese setzt sich insgesamt aus 54 Artikeln zusammen. Einer der wichtigsten Aspekte der Kinderrechtskonvention besteht darin, dass sich die Vertragsstaaten mit ihr dazu verpflichten, bei Staatshandlungen stets die Interessen und Bedürfnisse der betroffenen Kinder zu berücksichtigen. Ihre Aufgabe besteht ganz allgemein in der Achtung, dem Schutz und der Gewährleistung der Kinderrechte im jeweiligen Staatsgebiet.

Die Situation in Deutschland

Es ist unbestritten, dass es den meisten Kindern in Deutschland – leider im Gegensatz zu vielen anderen Ländern – verhältnismäßig gut geht. Aber auch in Deutschland gibt es zahlreiche Fälle von Misshandlung, Vernachlässigung oder sexuellem Missbrauch.

Ganz grundlegend werden als Kinderrechte diejenigen Rechte bezeichnet, auf die jedes Kind und jeder Jugendliche einen uneingeschränkten Anspruch hat. Auch Kinderarbeit stellt eine weitverbreitete Verletzung der Kinderrechte dar, die viel zu selten strafrechtlich verfolgt wird.

Die Rechte der Kinder

3.5 Der Fall Lüdge –ein Fall sexualisierter Gewalt

Die im Jahr 2019 im Zusammenhang mit dem Campingplatz in Lüdge, Nordrhein-Westfalen, und auch in den Jahren danach entdeckten schweren Missbrauchsfälle aus NRW zeigen mehr als deutlich, dass auch dies ein gesamtgesellschaftliches Thema ist.

Lügde ist ein Kriminalfall des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie der Produktion und Verbreitung von Kinderpornografie. Tatort war über einen Zeitraum von rund zehn Jahren ein Campingplatz. Die Staatsanwaltschaft geht von 1000 Einzeltaten innerhalb dieser Zeit aus.

Sexualisierte Gewalt umfasst alle sexuellen Handlungen, die einer Frau oder einem Mann beziehungsweise einem Kind oder einer/einem Jugendlichen aufgedrängt oder aufgezwungen werden. Sie ist eine aggressive Handlung und wird in der Regel innerhalb von Machtverhältnissen ausgeübt.

Diese verabscheuungswürdigen Straftaten lassen keinen anderen Schluss zu, als dass es notwendig und geboten ist, immer wieder den Finger in die Wunde zu legen und über dieses Thema zu berichten. Nur so ist es möglich, zu sensibilisieren und Warnzeichen zu erkennen. Denn in einem sind wir uns einig: Die bis dato aufgedeckten Fälle sind leider nur ein Bruchteil der tatsächlich verübten Taten. Da ein Großteil der Missbräuche im familiären oder sozialen Umfeld der Opfer stattfinden, muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden.

Straftaten, die nicht zur Anzeige gebracht werden, weil die Opfer zu klein sind oder die Scham zu groß oder schlichtweg die

falschen Meldewege gewählt wurden, darf es nicht geben. Die körperlichen und seelischen Schäden prägen diese Kinder oft ein Leben lang

3.6 Hinweise für Unbeteiligte/ Angehörige/Pädagogen

Es ist schwer, nahezu unmöglich, an dieser Stelle die einzige und wirksame Präventionsmaßnahme zu nennen, die auf einzelne Berufsgruppen oder Ähnliches zielen. Grundsätzlich gilt für alle Bürgerinnen und Bürger, für die unterschiedlichsten Professionen: Wenden Sie sich an unabhängige Institutionen! An dieser Stelle ist für eine erste Meldung die Polizei der richtige Ansprechpartner. Im Rahmen der professionellen Arbeit werden die dann mit dem Sachverhalt betrauten Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamten durch ihre Berichtspflichten genau die Institution informieren, die für den Einzelfall die richtige ist.

Besteht zum Beispiel der Verdacht auf eine Täterschaft innerhalb der Familie des Kindes oder kann dies nicht ausgeschlossen werden, gilt es, eine voreilige Offenlegung gegenüber den Erziehungsberechtigten zu vermeiden. Dieser Grundsatz gilt für alle.

Wenn die Tatpersonen von der Verdachtslegung zu früh erfahren, bestehen zu viele Möglichkeiten, das sie ihre Opfer derart beeinflussen oder bedrohen, dass weitere Ermittlungen nahezu unmöglich oder zumindest erschwert werden.

In vielen Fällen haben Erziehungsberechtigte, nachdem sie durch Lehrende von dem Verdacht in Kenntnis gesetzt wurden, ihr Kind zum Beispiel aus der Schule genommen, aus einer Einrichtung oder einem Sportverein abgemeldet, um es

so dem Einfluss der Pädagoginnen oder Pädagogen zu entziehen. Möglicherweise zieht die Familie sogar um und weitere Einflussnahme ist nicht mehr möglich.

3.7 Exkurs – eine Geschichte aus dem Leben

Eine Geschichte aus dem eventuellen alltäglichen, zumindest aber möglichen Leben: Samstagvormittag, Sie stehen an der Schlange im Supermarkt, da geht es los, ein ohrenbetäubendes Geschrei. Sie schauen sich um und erkennen die Situation. Ein ca. 5-jähriger Junge liegt auf dem Boden, trommelt mit Füßen und Händen auf den Boden und weint erbärmlich. Zwischen seinem lauten Weinen lassen sich immer wieder die Worte: „Ich will aber …“ heraushören. Vorstellbar sind jetzt drei Szenarien:

Das begleitende Elternteil steht teilnahmslos daneben und reiht sich in aller Ruhe in die Schlange ein.

Lösung: ?

Das begleitende Elternteil steht daneben und brüllt mit gleicher Lautstärke auf den Jungen ein, dass er sich gefälligst zusammenreißen soll.

Lösung: ?

Das begleitende Elternteil zieht den Jungen an seinen Armen, reißt ihn hoch und versetzt ihm mehrere Schläge auf das Gesäß.

Lösung: Ja

Szene 1
Szene 2
Szene 3

Aus kriminalpräventiver Sicht gibt es für die ersten beiden Szenen keine passende Lösung. Es ist schlichtweg unmöglich, immer die richtige Verhaltensweise zu empfehlen, insbesondere wenn es um Erziehung, Pädagogik und grundsätzliche Lebenseinstellung geht. Achten Sie in der Gesamtsituation eventuell auf weitere Warnzeichen, gibt es andere Merkmale (Vernachlässigung oder Ähnliche …)? Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl. Versuchen Sie es mit einem Lächeln, auch für das Kind. Zumindest in der ersten Szene. Trotzanfälle sind heftige emotionale Ausbrüche, die meist als Reaktion auf Frustration auftreten. Bei einem Wutanfall kommt es vor, dass Kinder schreien, weinen, um sich schlagen, sich auf dem Boden wälzen, mit Sachen werfen und mit den Füßen stampfen. Trotzanfälle kommen bei Kindern häufig vor. Sie treten meist erstmals gegen Ende des ersten Lebensjahres auf, erreichen ihren Höhepunkt zwischen 2 (Trotzphase) und 4 Jahren und klingen ab dem 5. Lebensjahr wieder ab. Trotzanfälle können durch Frustration, Müdigkeit und

Hunger verursacht werden. Möglich ist aber auch, dass das Kind auf diese Weise Aufmerksamkeit erlangen, einen bestimmten Gegenstand bekommen oder einer Tätigkeit ausweichen möchte. Die tatsächliche Ursache ist meist jedoch eine Kombination aus der Persönlichkeit des Kindes, den direkten Umständen und entwicklungsgerechtem Verhalten. In seltenen Fällen kann ein psychisches, physisches oder soziales Problem der Grund sein.

Tatsache ist, in der dritten Szene ist körperliche Gewalt angewandt worden, und das ist nicht hinnehmbar. Achten Sie auf Ihr Bauchgefühl und zeigen Sie Zivilcourage, fordern Sie gerne lautstark dazu auf, die Misshandlung zu stoppen, fordern Sie Umstehende etwa mit den Worten „Sie da in der roten Jacke, rufen Sie bitte die Polizei!“ auf, Ihnen in der Situation zu helfen. Sprechen Sie auch die Beschäftigten des Geschäfts an und bitten um Unterstützung.

Wegsehen ist in einem solchen Fall definitiv die falsche Lösung.

Hilfs- und Beratungsangebote

» Nummer gegen Kummer e. V.

Die „Nummer gegen Kummer“ ist das größte telefonische Beratungsangebot für Kinder, Jugendliche und Eltern in Deutschland. Es ist anonym und kostenlos.

Elterntelefon 0800 1110550

Kinder- und Jugendtelefon 116 111

www.nummergegenkummer.de

» Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch

Um Betroffene sexueller Gewalt, Angehörige, Fachkräfte sowie Personen aus dem sozialen Umfeld zu unterstützen, hat der frühere „Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs“ (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, in Zusammenarbeit mit dem Bundesjugendministerium das „Hilfe-Portal Sexueller Missbrauch“ ins Leben gerufen.

www.hilfe-portal-missbrauch.de

» Medizinische Kinderschutzhotline

Die „Medizinische Kinderschutzhotline“ 0800 1921000 ist ein vom Bundesjugendministerium gefördertes, telefonisches Beratungsangebot. Es richtet sich an medizinisches Fachpersonal, das mit Verdachtsfällen von Kindesmisshandlung, Vernachlässigung oder sexuellem Kindesmissbrauch konfrontiert ist.

www.kinderschutzhotline.de

Sollten zu den hier vorliegenden

Themen noch Fragen offengeblieben sein, dann wenden Sie sich an die folgende E-Mail-Adresse: kripo.tipps@bdk.de

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