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Nie zu spät für Solidarität ein kritischer Jahresrückblick

Nie zu spät für Solidarität

Während der Corona-Beschränkungen wurde das solidarische Verhalten gepriesen. Doch wie weit geht unsere Solidarität wirklich?

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Isabella Bachleitner

Fotos: unsplash.com Isabella Judith

Zu Beginn dieses Artikels öffne ich den digitalen Duden. Solidarität, die: „unbedingtes Zusammenhalten mit jemandem aufgrund gleicher Anschauungen und Ziele“. Solidarität hat etwas mit Verbundenheit zu tun, mit Werten, die man teilt, mit Gemeinschaft.

Tatsächlich lässt sich der Begriff der Solidarität bis in das Alte Rom zurückverfolgen. Wie so oft ging es dabei ums Geld. Familienmitglieder verband der sogenannte „obligatio in solidum“. Lebte ein Familienmitglied in Saus und Braus und verprasste sein Einkommen, mussten seine Angehörigen gerade stehen und die Schulden begleichen. Noch in der juristischen Fachsprache von heute haftet man „solidarisch“. Im Lauf der Zeit ging Solidarität innerhalb der Familie auf den Nationalstaat über. In Österreich sorgt unser Sozialsystem dafür, dass Einkommen umverteilt wird. Löhne werden progressiv besteuert. Das bedeutet, dass Personen, die mehr verdienen, einen höheren, relativen Anteil ihres Einkommens an den Staat zahlen. Dieses Geld wird dann umverteilt. Familien mit Kindern bekommen eine Familienbeihilfe oder Personen ohne Einkommen erhalten eine Mindestsicherung. Solidarität ist ein Grundwert, auf dem unser Staat aufbaut. Aber auch als Person kann man sich bewusst dazu entscheiden, solidarisch zu handeln und zu denken. Es beginnt damit, ein Gegenüber mit seinen Ansichten, Einstellungen, Sorgen und Ängsten gleich wichtig zu nehmen wie sich selbst und mit ihm zu empfinden.

Solidarität macht stark, glücklich und erfolgreich

Kennst du das? Du hast gerade jemandem geholfen: Dein Schulkamerad wurde unfair benotet und du bist für ihn eingestanden. Oder du erklärst einer Touristin den Weg und sie bedankt sich herzlich. Dann kann man sich das Lächeln kaum verkneifen und so ein wohlig warmes Gefühl breitet sich im Bauch aus. Das Wohlempfinden, das wir fühlen, wenn wir andere unterstützen, nennen Psycholog*innen „warm glow“, warmes Glühen. Es tut gut und macht glücklich, wenn wir zusammenhelfen und füreinander

» Es tut gut und macht glücklich, wenn wir zusammenhelfen und füreinander einstehen. Wir sind in unserem Dasein miteinander verbunden und deshalb auf einander angewiesen. Das heißt andere Menschen sind entscheidend, ob und wie ich meine persönlichen Ziele erreiche. «

einstehen. Wir sind in unserem Dasein miteinander verbunden und deshalb aufeinander angewiesen. Das heißt, andere Menschen sind entscheidend, ob und wie ich meine persönlichen Ziele erreiche. Solidarität bedeutet nicht, die eigenen Ziele und Verpflichtungen hintan zu stellen. Durch Solidarität definiert man gemeinsame Ziele. Sie durchbricht die Aufteilung in „die anderen“ und „ich“. Sie überschreitet die Grenze von Egoismus - ich denke nur an mich - und Altruismus - ich helfe nur den anderen. Denn sie zeigt uns, wozu wir gemeinsam fähig sind, dass wir gemeinsam etwas erreichen können, das für uns alleine außer Reichweite ist. Die Ziele und Aufgaben unserer Generation sind viel zu groß für einen Nationalstaat, sie sind sogar zu groß für einen ganzen Kontinent. Erreichen kann man sie nur gemeinsam, wenn man sich aufeinander einlässt und dem Gegenüber die gleiche Wichtigkeit, die gleichen Rechte und die gleichen Chancen einräumt, wie sich selbst.

Schau‘ auf dich, schau‘ auf mich

In einer Gesellschaft lebt Solidarität besonders dann auf, wenn man eine gemeinsame äußere Bedrohung wahrnimmt. Das haben wir dieses Jahr erlebt, als das Corona-Virus unseren Alltag auf den Kopf gestellt hat. Doch mit den politischen Beschränkungen wuchsen auch das Gemeinschaftsgefühl und das Vertrauen aufeinander. Nachbarn gingen für einander einkaufen, Masken wurden genäht und verschenkt, man blieb zu Hause, um einander zu schützen. Das Vertrauen in die Politiker und Politikerinnen er-

Während der Schulzeit teilte Judith mit mir ihr Jausenbrot, um meinen knurrenden Magen zu besänftigen. Im Flüchtlingslager Moria brach sie das Fasten mit Flüchtlingen in einem Tageszentrum.

reichte unbekannte Hochs. Für mich herrschte die Übereinkunft: „Wir sitzen alle im selben Boot, rudern wir gemeinsam.“ Auch unser Staat, die Politik nahmen eine solidarische Haltung ein. Hilfspakete wurden geschnürt, in Österreich wurden dafür 18 Milliarden Euro veranschlagt, eine Riesensumme. Würde man mit diesem Geld Einfamilienhäuser im Wert von 400.000 Euro pro Stück bauen, hätte man viel zu tun. Nach 45.000 Häusern wäre das Geld aufgebraucht, man könnte die Stadt Wels neu errichten. Kurzum, es gab Tage, an denen ich von diesem Gemeinschaftsgefühl überwältigt war. Es bereitet mir Freude, darauf zurück zu schauen und zu sehen wie viel Herzlichkeit in unserem Miteinander stecken kann. Ich war und bin dankbar in einem Land zu leben, in dem man aufeinander schaut. Ich bin dankbar, dass mein Staat seine Bürgerinnen und Bürger schützt. Trotzdem, ein Gedanke schleicht sich immer wieder ein. Je enger man zusammenrückt, desto kuschliger und bequemer wird es innerhalb. Aber was ist mit jenen, die außerhalb stehen? Denen zeigt man vielleicht einmal mehr die kalte Schulter.

Und alle anderen? Na ja …

Über Österreich hinaus betrachtet hat unsere Solidarität hat einen blinden Fleck. Einen blinden Fleck, der seit Jahren in der europäischen Politik existiert. Die griechische Insel Lesbos liegt im entferntesten Winkel Europas, unweit vom türkischen Festland. Darauf befindet sich das Flüchtlingsauffanglager Moria, das größte Lager auf den griechischen Inseln und das bekannteste. Tatsächlich muss ich schreiben, es befand sich dort. Anfang September stand es in Flammen, der blinde Fleck wurde ins Bild gerückt. Begeben wir uns auf eine kurze Zeitreise in das Jahr 2015. In Syrien, Afghanistan, Nigeria herrschen Krieg und Terror. Menschen fliehen, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu schützen. Angrenzende Flüchtlingslager sind überfüllt, Europa ist eine Verheißung für ein Leben ohne Bombenalarm. Über eine Million Menschen schaffen die beschwerliche Reise nach Europa. Zwei Jahre später, 2017, einigen sich europäische Spitzenpolitikerinnen und -politiker darauf, Ankunftszentren an den Außengrenzen zu schaffen. Von dort aus sollten Flüchtlinge geordnet verteilt werden. Moria wurde geschaffen, mit einer Kapazität für knapp 3000 Personen. Fünf Jahre später ist die Anzahl an Untergebrachten sechs Mal so hoch. Für die improvisierte Kleinstadt stehen nur zwei Ärzte zur Verfügung. Menschen verbringen ihre Tage zusammengepfercht, ungewiss wie und wann sie ihr neues Leben beginnen können. Die hoffnungslose Lage setzt vor allem Kindern sehr zu: Viele verlieren ihre Freude am Leben, sie spielen nicht mehr, sie reden nicht mehr. Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) versuchen zu helfen. Meine langjährige Freundin Judith, gemeinsam drückten wir die Schulbank, reiste nach Lesbos. Vor einem Jahr war sie zweieinhalb Monate dort, gerade bereitet sie sich wieder auf einen zweiten Aufenthalt vor. Sie arbeitete in einem Tageszentrum für Flüchtlinge, in dem sie Programm für Jugendliche gestaltete. Inmitten des Chaos und der Unsicherheit wollte sie einen sicheren Ort für Heranwachsende schaffen, an den diese sich zurückziehen können. Der Einsatz für Flüchtende

» Der Einsatz für Flüchtende und für eine menschenwürdige Migrationspolitik wurde ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. […] … sie wollte etwas Sinnvolles machen. Die Missstände, wie Menschen behandelt werden, hätten sie geärgert und genervt. Da wollte sie sich einbringen. «

und für eine menschenwürdige Migrationspolitik wurde ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Ich frage sie, was sie dazu bewegt hat: Eigentlich hatte sie auch egoistische Gedanken, sagt sie, sie wollte etwas Sinnvolles machen. Die Missstände, wie Menschen behandelt werden, hätten sie geärgert und genervt. Da wollte sie sich einbringen.

Hauptsache, die Grenzen sind geschützt

Man muss nicht lange suchen, um diese Missstände zu entdecken. Um jeden, auch unmenschlichen Preis wird versucht, Menschen davon abzuhalten auf das europäisches Festland zu kommen. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht. Ein Staat ist dazu verpflichtet, Menschen Schutz zu bieten, die flüchten mussten. Einen Schutz, wie ihn tausende Menschen aus Österreich im zwanzigsten Jahrhundert erhalten haben. Griechenland setzte das Asylrecht im März aus, um den „Grad der Abschreckung“ and den Grenzen zu „maximieren“. Schwimmende Zäune wurden errichtet, um überfüllte Schlauchboote aufzuhalten. Im Glücksfall werden diese Menschen von NGOs gerettet, die dann lange nach einem Hafen suchen, der sie anlegen lässt. Viele Schlauchboote treiben ohne Rettung im Mittelmeer und kentern. Seit 2015 verloren 15.600 Menschen ihr Leben auf hoher See. Vor den Ufern Europas, dem Kontinent, auf dem die reichsten Länder der Welt liegen. Wo ist hier die gepriesene Solidarität? Auch wenn wegen massiver Abschottung und Überwachung die Asylanträge in der EU seit 2015 dramatisch gesunken sind - die weltweiten Wanderbewegungen wachsen. 2015 waren

» … was jeder und jede von uns braucht [ … ] : Sicherheit, ein Dach über den Kopf, ein Auskommen. Uns vereint so viel mehr als uns trennt. «

65 Millionen Menschen auf der Flucht, heute sind es beinahe 80 Millionen. Was suchen diese Menschen? Genau das, was jeder und jede von uns braucht und wir für selbstverständlich halten: Sicherheit, ein Dach über den Kopf, ein Auskommen. Uns vereint so viel mehr als uns trennt. Jeder Mensch will eine Existenz aufbauen und sein Leben gestalten, seine Lieben umarmen und am Abend sicher einschlafen. Der Corona-Frühling hat mir gezeigt, wie viel Rücksicht und Verbundenheit wir als Gesellschaft zeigen und fühlen können. Mir wird nicht klar, wie diese Solidarität vor so etwas Willkürlichem wie Grenzen Halt machen kann. Solidarität ist immer auf Augenhöhe. Schaue ich jemandem in die Augen, sehe ich nicht welche Religion mein Gegenüber hat, welche Hautfarbe oder gar welche Staatsbürgerschaft. Nach dem Brand in Moria hat der Künstler André Heller gemeint: „Das vollmundige Herabsetzen und Lächerlichmachen der Mitmenschlichkeit als naiv, realitätsfern und sentimentalen Kram ist eines der gefährlichsten gesellschaftlichen Phänomene.“ Nicht umsonst predigen alle Weltreligionen von der Mitmenschlichkeit. Wir feiern Weihnachten in Österreich, weil jemand geboren wurde, der sein Leben für alle Menschen gegeben hat.

Die Mitmenschlichkeit ist die größte Stärke, die wir besitzen. Wir müssen uns vor den Leuten in Acht nehmen, die sie uns nehmen wollen. Denn lassen wir uns unsere Mitmenschlichkeit nehmen, lassen wir sie uns klein reden, nehmen wir uns unsere Chance auf Vorankommen und Glück.

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