Die fetten Jahre sind vorbei - Strategien für die Stadt der Zukunft

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Jennifer Weil

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Hochschule Rhein-Main, LST - Lehrgebiet für Städtebau und Gebäudelehre B 5202 - Stadtbaukunde II - Stadtmodelle | Stadt als Prozess SoSe 2013 - 14.07.2013

Die fetten Jahre sind vorbei

Strategien für die Stadt der Zukunft

Inhalt • Situation der Städte heute • Thesen zum Umgang mit Schrumpfungsprozessen • Stellungsnahme im Hinblick auf den Umgang mit Schrumpfungsprozessen • Literaturverzeichnis


Die fetten Jahre sind vorbei

Strategien für die Stadt der Zukunft

‚Schrumpfung‘ - das ist das Wort, welches die stadtplanerischen Prozesse in vielen Städten heute prägt und beschäftigt. Ehemals prosperierende Städte wie etwa die Automobilstadt Detroit (USA), Industriestädte wie Manchester und Liverpool (GB) oder ostdeutsche Städte wie Halle an der Saale (D) stehen vor den drastischen Folgen von Deindustrialisierung, Suburbanisierung, Metropolarisierung und politischem Wandel und gehören zu den sogenannten ‚Shrinking Cities‘. Ganze Stadtviertel sind geprägt vom Leerstand. Es enstehen Stadtbilder vergleichbar mit einem Flickenteppich aus genutzten und brach liegenden Gebieten. D/E_1_Future_7

POlarISIerung / Polarization 2005–2015

Einwohnerentwicklung 2005–2015 Population development 2005–2015 Einwohnergewinne Population gains >5% Stabile Einwohnerzahl Stable population -5%–5% Einwohnerverluste Population losses >5%

Bevölkerungsdichte (Einwohner/km2) Population density (inhabitants / km2) 0–2 2–10 10–100 >100

Weltkarte der Polarisierung von 2005-2015 Quelle/Source: Center for International Earth Science Information Network (CIESIN), Columbia University, 2008 Weitere Erläuterungen unter / further explanation see www.shrinkingcities.com/prognose.0.html

Die Entwicklung der Städte polarisiert immer mehr zwischen Gewinnern und Verlierern. In den alten Industrieländern konzentrieren sich Bevölkerung und wirtschaftliche Aktivitäten zunehmend in den großen städtischen Ballungsräumen, während sich die ländlichen Peripherien entvölkern.

the development of cities is becoming more and more polarized into winners and losers. in the old industrial countries, population and economic activity are becoming increasingly concentrated in the large urban high-density areas, while the rural peripheries are depopulating.

Quelle: Center for International Earth Science Information Network (CIESIN), Columbia University, 2008 www.shrinkingcities.com/prognose.0.htm


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Doch die Problematik ist nicht neu. Schon in den Achtzigerjahren veröffentlicht DIE ZEIT den Artikel „Die Chancen des Schrumpfens“ von Hartmut Häußermann und Walter Siebel, die sich mit eben dieser Thematik auseinander setzen. Spätestens mit der Internationalen Bauaustellung von 1977 - 1987 in Berlin beginnt die Debatte über ‚Kritische Rekonstruktion‘ und ‚Behutsame Stadterneuerung‘. Ein weiterer wichtiger Meilenstein für den Stadtumbau ist die Internationale Bauaustellung ‚Emscher Park‘ von 1989 - 1999, die mit der Parole ‚Städtebau ohne Wachstum‘ gezielt die Problematik der perforierten Stadt der Gegenwart aufgreift und „ [...] zur attraktiven Strategie der Umwertung und Wiederaneignung altindustrieller Infrastrukturen [...] “ wird. (Oswalt, Overmeyer, Prigge, 2001) ‚Leerstand‘ - ein Begriff, der automatisch mit etwas Negativem in Verbindung gebracht wird. Doch sind Schrumpfung und Leerstand wirklich so negativ zu werten? Fakt ist, dass ‚Wachstum‘ nicht immer die Realität war, sondern lediglich ein Phänomen der Industrialisierung ist. Diese „ [...] 300-jährige Periode eines historisch einzigartigen Wachstums [...] “ (Oswalt, 2002) geht nun zu Ende. Die IBA STADT 2010 sieht Schrumpfung nicht als Dilemma, sondern vielmehr als „ [...] Chance zur Transformation von Städtebau und Stadtgestaltung.“ (Oswalt, Overmeyer, Prigge,2001) Tatsächlich ist es ja die Art der Herangehensweise in einer bestimmten Situation, die entscheidend ist. Die Planung von schrumpfenden Städten kann nicht mehr vom Wachstum ausgehen und auf Investitionen setzen, sie muss dem Umgang mit dem Bestand Priorität einräumen.


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„Szenario Zero“ Quelle: Jensen, G., Lux, S., Pucci, I., Rappel, C., Stempl, M. (2004) „Sleeping Beauty - Dornröschen - Manifest für die Latente Stadt“, ARCH+, 173, 24-25. h t t p : / / w w w. a r c h p l u s . n e t / h o m e / a r c h i v / a u s g a be/46,173,1,0.html

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Bereits 2004 wurde ein internationaler Ideenwettbewerb („Schrumpfende Städte - Die Stadt neu denken / Reinventing Urbanism“) ausgeschrieben, der nach Handlungsansätzen zu dem Thema Schrumpfung sucht. Lösungsansätze hier sind etwa, dass man ein „Szenario Zero“ schafft, in dem eine Koexistenz von Koma und Wachsein herrscht. Leerstand soll der Natur zugeordnet werden, jedoch als Stadtbaustein erhalten bleiben. („Sleeping Beauty - Manifest für die Latente Stadt“, 2004) Ein weiterer Beitrag schlägt vor, Leerstand praktisch verwildern zu lassen damit die Natur Einzug nehmen kann. Industriebrachen etwa seien ein Paradies für Vögel. Es wird vorgeschlagen, lineare Räume der Stadt (Eisenbahntrassen, Flüsse) als Naturkorridore zu nutzen. („Migrations“, 2004) Wieder andere untersuchen die Möglichkeit, der Schrumpfung mit gelockerter Einwanderungspolitik entgegenzuwirken. („ich bin drin“, „Exterritories“, 2004) Der Bauhaus-Direktor und Initiator der Forschungsprojekte ‚Urban Catalyst‘ (2001 - 2003) und ‚Schrumpfende Städte‘ (2003 2005) Philipp Oswalt formuliert 2001 verschiedene städtebauliche Werkzeuge (Extensivieren, Abreißen, Umschichten, Einfrieren, Binden, Stimulieren), die als Lösungsansatz für die Planung von Schrumpfung dienen. ‚Extensivieren‘ bedeutet, Bestehendes auf mehr Raum auszudehnen, „ [...] mit Nutzungen ungewöhnlich geringer Dichte und Intensität.“. Der Ansatz sieht vor, freistehende Flächen für geringe Kosten Privatpersonen zur Verfügung zu stellen, sodass diese das Grundstück zum Wohle aller pflegen. Dies ist ein Versuch, die zwei Fliegen ‚Leerstand‘ und ‚Arbeitslosigkeit‘ mit einer Klappe zu schlagen. Die Frage ist, können Privatpersonen mit so viel Verantwortung umgehen? ‚Abreißen‘ wird als Möglichkeit gesehen, Stadtteilen, die vom Leerstand bedroht sind, neue Gliederungen zu geben, die eine Verknüpfung zwischen Urbanität und Freiräumen schaffen. ‚Umschichten‘ ist eine Theorie, die vorsieht, durch Neubebauungen mit neuen Bautypen im kleinen Maßstab die Städte zu reaktivieren, ohne ihnen ihre Struktur zu nehmen. Diese Methode kreiert einen suburbanen Raum und nimmt der Stadt ihren Charakter. ‚Einfrieren‘ beruht auf der These, dass einstige Brachen nach gewisser Zeit wieder aufleben können und schlägt vor, Leerstandsgebiete in ihren Zwischennutzungen zu belassen. Sie sollen mit kleinen Handgriffen aufgewertet werden, um „ [...] die eingefrorenen Bauten zu Hoffnungsträgern des umgebenden Quartiers [...] “ zu machen. Hier wäre zu überprüfen, inwieweit sich dieser Prozess des Ver-


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‚Binden‘ verlässt sich darauf, dass Bewohner durch Mitgestaltung von ihrem Umfeld eine starke Identifikation und Bindung zum Wohnort herstellen und diesen nicht mehr verlassen wollen. Sie räumt den Mietern Eingriffsrechte in die Baustrukturen ein. Dieser Lösungsansatz zeigt eine gewisse Kollision mit dem ‚Ensembleschutz‘ der Denkmalpflege auf. Das letzte Werkzeug ‚Stimulieren‘ zielt auf ein Umdenken in der Einwanderungspolitik des alternden Europas ab. Der Vorschlag ist, „ [...] Nischen mit besonderen Regeln für spezifische Lebensstile“ zu schaffen, welche bestimmte Akteure anziehen und ihnen jegliche Freiheiten einräumen (High-Risk-Area mit freiem Glücksspiel, Ökodorf mit Verbot von PKW-Verkehr, Global Village als Freetrade-Zone). Dieser Vorschlag akzeptiert eine zweite reale Welt innerhalb der Landesgrenzen. Es schafft ein Land-im-Land. Die Frage, die man sich hier vielleicht stellen muss ist, ob nicht die Grenzen zwischen Utopie und Realität zu sehr verwischt werden. Jeder wird seine Nische wollen. Aus Ausnahmen könnte die Regel werden und man steht einem Dilemma gegenüber ähnlich dem aktuellen. Der Stadtplaner Jürg Sulzer hingegen kritisiert die Terminologie der ‚Shrinking Cities‘ in sich, sowie bereits begonnene Planungsprozesse des Rückbaus in schrumpfenden Städten. Die Begebenheiten würden einfach kritiklos hingenommen, ohne dass sich mit der Thematik gezielt auseinander gesetzt wird. Für Sulzer sind die Qualität der Stadtbilder, sowie die Werte der europäischen Stadt wichtig. Er sagt das Wort ‚shrinking‘ sei nicht für eine zukunftsgerichtete Stadtentwicklung geeignet, da es zu negativ bewertet wird. Stattdessen schlägt er den Begriff der ‚Waiting Cities‘ vor. Sein Konzept zielt darauf ab, Bürgern immer wieder neue Perspektiven zu eröffnen und sie für eine aktive Beteiligung am ‚behutsamen Stadtumbau‘ zu motivieren. Sulzer fordert eine „ [...] Entschleunigung ohne Substanzverlust [...] “. (2012)


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Ich teile die Meinung von Jörg Sulzer, dass die Vorzüge der europäischen Stadt unbedingt erhalten bleiben müssen. Jede Stadt hat ihren individuellen Charakter und ist geprägt von unterschiedlichsten identitätsstiftenden Besonderheiten, die es zu wahren gilt. Demnach gibt es auch keine einheitliche, richtige Lösung für den Stadtumbau. Deutschland besitzt ein Potential dessen sich die ‚neue Welt‘ beispielsweise nicht rühmen kann: die meisten unserer Städte stehen noch auf ihren mittelalterlichen Stadtstrukturen. Hier sollte das Ziel des Stadtumbaus liegen: diese Kernstrukturen nicht zu zerstören. Das Problem des demografischen Wandels ist zu allererst an den Wurzeln anzupacken, das heißt es wird eine enge Zusammenarbeit von Stadtplanern und Politikern benötigt, um in die jeweilige Richtung Lösungsansätze zu finden. Es gilt zu entscheiden, welche der schrumpfenden Städte das Potential zur Wiederbelebung aufweisen und in welchen Städten größere Umstrukturierungsmaßnahmen folgen müssen. Der Rückbau von außen nach innen scheint mir hier in vielen Fällen der richtige Ansatz zu sein, die Konzentration auf die Stadtzentren zu legen und diese lebendig zu halten. Auch wenn dies eine Rückentwicklung in die Vergangenheit bedeuten könnte, so waren doch weder Wachstum noch Schrumpfung Konstante, die es schon immer gab. Das Leben, die Welt und so auch die Architektur sind sowieso geprägt vom ständigen Wandel und von Anpassungsprozessen. Die Entscheidung, ob man alte Werte bewahren oder neue Werte schaffen möchte ist hier vordergründig. Eine Kombination aus beidem ist der Idealfall. Eine Alternative zum Rückbau der Stadtgrenzen sehe ich in der Transformation der Städte. Grüne Lungen zu schaffen ist eine attraktive Lösung. Jedoch sehe ich die perforierte Stadt ein Flickenteppich aus Alt und Neu und Grün - als falschen Ansatz. Hier ist Vorsicht geboten. Ein harmonisches Gesamtbild muss entsehen ohne die Stadt zu zerlöchern. Denn eine Stadt mit weiten Wegen und unendlichen Grünlandschaften ist keine Stadt mehr. In letzter Konsequenz sehe ich den Schritt zur Auflösung einer Großstadt in Kleinstädte als folgerichtig. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Thema der Stadtentwicklung und des demografischen Wandels auch in Zukunft die Architektur prägen wird und die Architekten in der Rolle des Planers immer wieder vor neue Herausforderungen stellt.


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Literaturliste • Häußermann, H. & Siebel, W. (1985) „Die Chancen des Schrumpfens“, DIE ZEIT, 22.3.1985 Nr. 13. Available from: http://pdf.zeit.de/1985/13/die-chancen-desschrumpfens.pdf • Jensen, G., Lux, S., Pucci, I., Rappel, C., Stempl, M. (2004) „Sleeping Beauty - Dornröschen - Manifest für die Latente Stadt“, ARCH+, 173, 24-25. Available from: http://www.archplus.net/home/archiv/ausgabe/46,173,1,0.html • Hawley, C., Riches, A., Hawley, P. (2004), „Migrations“, ARCH+, 173, 76-77. Available from: http://www.archplus.net/home/archiv/ausgabe/46,173,1,0.html • Oswalt, P., „Hypothesen zum städtischen Schrumpfen im 21. Jahrhunert“, Projekt Schrumpfende Städte. Available from: http://www.shrinkingcities.com/hypothesen.0.html • Sulzer, J. (2012) „Werteverschiebung: Von Shrinking Cities zu Waiting Cities“, in: Mallmann, Amelie / Katzer, Ulrich (Hrsg.): Theater für junges Publikum in Brandenburg und SachsenAnhalt, S. 19-21. Available from: http://www.stadtforschung.com/media/image/ SR_Cover/Bd5-Werte_Sulzer.pdf • http://www.shrinkingcities.com/


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