Die Stadt auf (eine) Linie gebracht. Werner Fenz, Leiter des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark Die Auseinandersetzung mit dem Thema des städtischen Lebens findet am Beginn des 20. Jahrhunderts in unterschiedlichen Formen statt. Auf der einen Seite widmen sich Künstler/innen aus dem Umfeld des Expressionismus einem geradezu elektrisierenden Leben, das sich sowohl auf den Straßen als auch in Unterhaltungsetablissements abspielt. Die Leere innerhalb urbanistischer Strukturen, vornehmlich an den Rändern der Zentren, ist ein weiteres Untersuchungsfeld, diesmal getragen von den Anhängern der Neuen Sachlichkeit. Auch wenn das Lob der Technik bei den Futuristen im Vordergrund ihrer radikalen Bildformulierungen steht, haben die dabei freigesetzten energetischen Kräfte Auswirkungen auf das Bild von der Stadt in Bezug zur eingeforderten menschlichen Dynamik. Die Kunst der Gegenwart, beginnend mit einzelnen Beispielen seit den 1970er Jahren, hat sich von einem weitgehend emotionalen Verhältnis zum menschlichen Lebensraum innerhalb großer Ansiedlungen verabschiedet. Mit den Mitteln einer klaren Struktur und eines reduzierten, wie wohl „Erkenntnis“ versprechenden, Systems werden mit Hilfe des Fotoapparats oder der Videokamera Erkundungen vorgenommen. Markus Jeschaunig zählt mit seinem Projekt Urban Tomography (2010) zu jenen, die einerseits auf Entdeckung aus sind, andererseits den unterschiedlichsten Erscheinungen von Wirklichkeit nachspüren. Das Grundkonzept der Arbeit basierte auf der Vermessung der Stadt Graz in ihrer gesamten West-OstAusdehnung. Auf der zehn Kilometer langen Linie treffen der gewählte topografische Raster und die Gleichzeitigkeit der Richtungen aufeinander. An einem Tag, zwischen 16:00 und 17:15 Uhr, wurde eine sekundengenaue Stadtaufnahme mittels 22 Videokameras erstellt. Was bereits in der Hochblüte des Kubismus – eine mit den Mitteln der Zeichnung und Farbe hergestellte Simultaneität – als Ziel formuliert und umgesetzt worden war, wird hier mit analytischer Konsequenz und dem den „Neuen Medien“ zugeschriebenen exakten Realitätstransfer als gültiger und wirklichkeitsgetreuer Schnitt durch eine Stadt vorgenommen und als Katalysator für die Konstruktion von Wirklichkeit eingesetzt. Da die gewählte Linie direkt durch das Künstlerhaus führt, hat sich die Zusammenschau der optischen Vermessung an diesem Ort folgerichtig angeboten. In dieser Form wird sowohl die Vielfalt „ungeschönter“, unterschiedliche Realitäten ausschnitthaft reproduzierender, Bilder als auch das öffentliche Leben auf dem Level der in Echtzeit gemachten Aufnahmen vom Außenraum in den Innenraum, den Kunstraum übertragen: Ein Stadtporträt im Takt linearer Entfernungen und der Zeit. Publiziert in "LICHTUNGEN – Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik“, Ausgabe 125/XXXII. Jg.