MAGAZIN FÜR BILDGESTALTUNG
01 jitter 07 www.jitter-magazin.de
12 EUR
zeichnung: Natalie Huth
Schwerpunkt Zeichnung : Interview / Nora Krug . Andreas hykade :: Reviere / starjump . Silke Schmidt . Patrick Hartl . Natalie Huth . Centerblock . Katharina Gschwendtner . Frank maier . YVONNE WINKLER . DANIEL SCHÜSSLER . Olivier Kugler . LARS HENKEL ::: Bild und Geschichte / dessins automatique . Geschichte des Bleistifts . visuelle erkenntnis: das Bild in den geheimwissenschaften :::: Ausstellungen / LowBrow Art ::::: Buchrezensionen / POE . BASTARD . SHOP AMERICA . vitamin z ::::::: hochschulen ISSN 1864-0702
ISSN CHF 1864-0702 12 EUR 19,60
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i Fr e
#3 l i st
Best of European Commercial Illustration. Verlag Hermann Schmidt Mainz. 544 Seiten. Euro 39,80. Jetzt erh채ltlich.
Editorial
von Andreas Rauth
Die Darstellbarkeit von Erfahrung Der Mensch, aus der Einheit der Welt verstoßen, fertigt Bilder, um eine Brücke dorthin zurück zu schlagen. Die Bilder zeigen nicht wie die Welt ist – täten sie das, bräuchten wir sie nicht –, sondern wie wir sie uns vorstellen. Von einem magischen Standpunkt aus glaubten die Menschen an die Beeinflußbarkeit der Welt durch Bilder, etwa wenn die in den berühmten Höhlenzeichnungen von Lascaux dargestellten Tiere ein gutes Jagdergebnis bewirken sollten. Bis heute wird die Zeichnung mit Magie assoziiert, mit der Vorstellung im Bild die Welt selbst darzustellen. Die Unmittelbarkeit mit der die Zeichnung unseren Gedanken, Vorstellungen, Erfahrungen, auch unbewusst (It‘s Automatic – André Massons »Dessins automatique«, S. 32) Ausdruck verleiht, verleitet zu der Annahme, es zeige sich darin die „Welt wie sie wirklich ist“. „Warum gewinnt die Zeichnung gerade heute an Bedeutung?“, fragt Emma Dexter in ihrem einleitenden Essay zu Vitamin Z – Neue Perspektiven in der Zeichnung (Rezension S. 68), und findet zahlreiche Gründe: Die Nähe der Zeichnung zur Narration, zur Emotion, zum persönlichen Ausdruck, „ihre Neigung zum Populären und zur lokalen Tradition“, zur Romantik, zum Phantastischen, zum Verlust. „Das neu erwachte Interesse am Narrativen und ihre Nähe zum Literarischen haben die Rückkehr der Zeichnung beschleunigt“, stellt Dexter weiter fest. Das betrifft nicht nur die Bildproduktion, narrative Ansätze in Psychologie und Managementtheorie betonen seit einigen Jahren die Bedeutung der Erzählung für die Identität von Individuum und Unternehmen in einer unter dem Globalisierungsdruck immer stärker fragmentierenden Welt. In der Narration werden identitätsstiftende Beziehungen sichtbar, die aus dem bloßen Informationsgehalt eines Textes nicht hervorgehen. So kann die Rückkehr der Illustration als Teil eines allgemeinen Interesses am Narrativen gelesen werden. Vor diesem Hintergrund erstaunt es auch nicht, wenn im Bereich des Dokumentarischen Arbeiten von Nora Krug (Interview, S. 18) oder Olivier Kugler (Die Welt zeichnen, S. 36) derzeit sehr gefragt sind, oder der erzählerische Reichtum von Katharina Gschwendtners Arbeiten (Die Wiederverzauberung der Welt, S. 46) selbst von einem Automobilmagazin genutzt wird. Ebensowenig wundert man sich über das Interesse des Museum of Modern Art für die autobiografischen Animationsfilme von Andreas Hykade (Interview, S. 82), oder dass die ARD den Trailer für ein Wissensmagazin(!) mit den romantisch-melancholischen Bildwelten von Lars Henkel (Uhrwerk Rotwild, S. 54) austattet. Illustration zeigt sich heute in der Narration als Ausdruck eines Weltverständnisses, das Zusammenhänge dort erkennbar macht, wo sie selbst Ausdruck des Fragmentarischen ist.
inhalt Titelzeichnung: Natalie Huth, Cagewasher 2005 Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 03
:::: Ausstellung
Autoren und Illustratoren dieser Ausgabe . . . . . . . . . . . 06
Don‘t Wake Daddy: Lowbrow Art bei Feinkunst Krüger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 07
::::: HOCHSCHULEN THEMA ZEICHNUNG : INTERVIEW
Fachhochschule Mainz: Sofie und das Walroß. . . . . . . . 74 The German Film School: The Sacred Stone of Horus. . 78
Es gibt heute in der Illustration keine Regeln mehr: JITTER sprach mit Prof. Nora Krug über ein neues Selbstverständnis der Illustration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Die Fortschreibung der Gnadenkapelle: Prof. Andreas Hykade über Kunst, Kommerz und seine HeimatfilmeTrilogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
:: REVIERE Castle: Ein Platz selbstverwalteter Freiheit . . . . . . . . . . . 12 Olivier Kugler: Die Welt zeichnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Natalie Huth: Der Mensch als Ruine . . . . . . . . . . . . . . . . 40 ARTWORK EXKLUSIV: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natalie Huth / Katharina Gschwendtner: Gebrauchsanleitung zum Emsiolux . . . . . . . . . . . . . . 44/45 Katharina Gschwendtner: Die Wiederverzauberung der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Silke Schmidt: Refugien der Wahrnehmung . . . . . . . . . 50 Lars Henkel: Uhrwerk Rotwild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Frank Maier: Design-Klassiker und Cartoon . . . . . . . . . 58
:::::: BÜCHER Kein Bild erklärt sich selbst: Bilder lesen Bilder erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 Wir reden von Pop: Freistil. Best of European Commercial Illustration 3 . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Anarchie und Marmelade: Gaiman/McKean: Die Wölfe in den Wänden. . . . . . . . . .66 Der Rest ist Delirium: Poe: Illustrated Tales of Mystery and Imagination . . . . 67 Geschichten vom Verlust: Vitamin Z – Neue Perspektiven in der Zeichnung . . . . . 68 Ritt um den Globus: Bastard – Choose My Identity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 La soirée avec Monsieur Teste: Künstlerbuch von Kai Pfankuch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit: American Shop Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Doc Baumann: Photoshop Basiswissen . . . . . . . . . . . . . . 73
::::::: Miniatur Text und Zeichnung: David von Bassewitz. . . . . . . . . . . 88 ::: Bild und Geschichte: Mehr als Illustration: Visuelle Erkenntnis. . . . . . . . . . . . 25 It‘s automatic: André Massons »Dessins automatique« 32 Der Bleistift: Das Zeichengerät und der Name Faber-Castell . . . . . . . 60
Portfolio-Anzeigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
Buesch - Beinhorn
Comic - Werkstatt
Tom Cool Illustratoren-Agentur Jutta Fricke Von-Vincke-Str.11-13 D - 48143 M체nster Fon 02 51-4 28 66 Fax 02 51-4 27 00 info@jutta-fricke.de www.jutta-fricke.de
Danielle
De Picciotto
Jan Duehring
Duehring - 3D
Sandra Engelke
Martina Irion
Antje Kahl
Andrzej Koston
Thom. Kuhlenbeck
Jutta Fricke is member of I.O. Illustratoren Org. Germany supporting member RFI e.V. Interessens verband der Repr채sentanten f체r Fotografen und Illustratoren BPW Germany Business and Professional Women Germany Most of her illustrators got respectable honours a. awards
Langer - Style
Marcus Langer
Mago
Nora Nowatzyk
Werner Opitz
Retro Factory
K. Roeckenhaus
Isabella Roth
Roth - Spezial
Veronique Stoher
Transfercat
Autoren und Illustratoren dieser Ausgabe
AUTOREN Pia Daute (It‘s automatic, S. 32, Hölzerne Linien, S. 50) wurde 1975 in Rheinland-Pfalz, studierte Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Sie lebt in Berlin und arbeitet zurzeit in einer Galerie für internationale zeitgenössische Kunst. Eva Linhart (Buchrezension: Kai Pfankuch – Monsieur Teste, S. 71) promovierte in Basel bei Gottfried Boehm über den Passionsgedanken in der Moderne entlang der Christusdarstellungen von James Ensor und ist seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Museum für Angewandte Kunst Frankfurt, wo sie seit 2003 die Abteilung Buchkunst und Graphik leitet. Zu den von ihr kuratierten Ausstellungen gehören neben traditionellen Bereichen wie Stundenoder Stammbücher auch die „additiven plakate“ von Almir Mavignier, „Das richtige Buch. Johannes Gachnang als Verleger“ oder die Malerbücher der Künstlerin Burgi Kühnemann. Regula Fankhauser (Mehr als Illustration: Visuelle Erkenntnis. S. 25), geboren 1958 in Bern. Studierte Germanistik, Philosophie und Romanistik in Bern, Zürich und Berlin, promovierte 1996 über den Dichter-Philosophen Novalis. Arbeitet als Forschungsbeauftragte und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Bern. Arbeitsschwerpunkte: Aesthetik und Wissenschaftsgeschichte, Bildlesetheorien, Bildrezeption in Schule und Unterricht, Psychoanalyse und Kulturtheorie. Leitet zur Zeit ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, das die Rezeption von naturwissenschaftlichem Bildmaterial im gymnasialen Unterricht untersucht. Mareile Oetken (Buchrezension: Die Wölfe in den Wänden, S. 66) Buchhändlerin, Doktorandin am kunstwissenschaftlichen Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Mitglied der Forschungsstelle Kinder- und Jugendliteratur, amtierendes Vorstandsmitglied des Arbeitskreises für Jugendliteratur e.V., Rezensentin für Kinder- und Jugendliteratur mit Schwerpunkt Illustration. Richard Rabensaat (Die Welt zeichnen, S. 36, Uhrwerk Rotwild, S. 54, Buchrezension: Bastard S. 70, ) freier Journalist und Künstler in Berlin; bis 1999 Tätigkeit als Rechtsanwalt und Jurist; regelmäßige Veröffentlichungen u.a. in Zitty, Die Welt, Neues Deutschland; zahlreiche Ausstellungsbeteiligungen, kuratorische Tätigkeit. Tanja Rommelfanger (It‘s automatic, S. 38), geboren 1974, Studium der Kunstgeschichte, lebt und arbeitet in Berlin. 2006 war sie als freie Mitarbeiterin am Europäischen
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Haus der Stadtkultur e.V. in Gelsenkirchen für die Ausstellungsplattform DESIGNCITY tätig. Zur Zeit arbeitet sie für das European Art Projects. Ralf Krüger (Don‘t Wake Daddy: LowBrow-Art Group Show S. 8) Galerist, geboren 1963 in Schleswig Holstein, seit 1998 Betreiber der Galerie Feinkunst Krüger und des Smart Mailorder in Hamburg. Kam über die Musik zur Kunst und hat im Leben schon viele verschiedene Dinge gemacht, ist aber jetzt glücklich mit seiner Galerie.
ILLUSTRATOREN David von Bassewitz (Miniatur, S.88), geboren 1975 in Giessen. Frühe Ziele: Die Erkundung der Tiefsee und des Weltraums; im Jahre 1986 entstehen erste Entwürfe von U-booten und Raumkapseln; die Konstruktion dieser Vehikel gestaltet sich schwierig. Aus Entwürfen werden Zeichnungen, aus Zeichnungen werden Illustrationen. Studium der Cinematographie an der Universität Erlangen bis 1997; Studium der Illustration an der Fachhochschule Würzburg bei Professor Nicolai Sarafov bis 2002; seitdem Erkundung der Untiefen unserer Träume und der Endlichkeit menschlicher Vorstellungskraft als freischaffender Illustrator in Hamburg. www.davidvonbassewitz.net, mail@davidvonbassewitz.de Castle (Reviere S. 12) Patrick Hartl www.hartl-art.org, hartl_patrick@hotmail.com Michael Matthias www.centerblock.de, info@centerblock.de Daniel Schüßler daniel.schuessler@gmx.de Yvonne Winkler www.vierfarbraum.de, info@vierfarbraum Alexander Zöbisch www.starjump.de
Katharina Gschwendtner (Artwork, S. 44/45 u. Reviere, S. 46) www.gschwendtner.info, kgschwendtner@yahoo.com Lars Henkel (Reviere, S. 54) www.reflektorium.de, lars@reflektorium.de Natalie Huth (Reviere, S. 40) nataliehuth@web.de
Andreas Hykade (Interview, S. 80) www.hykade.de, andreas@hykade.de
Silke Schmidt (Reviere, S. 50) www.silkeundich.de, sillysilks@web.de
Nora Krug (Interview, S. 18) www.nora-krug.com, norakrug@gmx.net
Das Copyright der Texte und Bilder liegt, soweit nicht anders vermerkt, bei den Autoren.
Olivier Kugler (Reviere, S. 36) www.olivierkugler.com, oli_illu@gmx.net Frank Maier (Reviere, S. 58) www.fm-illustration.de, mail@fm-illustration.de
Kai Pfankuch (Buchrezension: Kai Pfankuch‘s Malerbuch – Monsieur Teste. S. 71) wurde 1949 in Berlin geboren. Nach dem Abitur studierte er an der Städelschule in Frankfurt/M. bei Prof. Schreiter Monumentalmalerei. Im Anschluß folgten ein Lehramtsstudium und die Promotion in Germanistik. 1986 kehrt er wieder zur Kunst zurück und arbeitet seitdem kontinuierlich in den Bereichen Malerei, Zeichnung und Druckgraphik. 1994 gründet er seinen Eigenverlag «Ikarus-Presse», in dem er Künstlerbücher mit Texten von Autoren der literarischen Moderne, z.B. Camus, Beckett und Duras, herausgibt. Die mit Originalgraphik ausgestatteten Bücher erscheinen in Kleinstauflagen. www.buchkunst.hofheim-seiten.de
Impressum Erscheinungsweise:
drei mal im Jahr
Auflage: 1.000 Stck. Herausgeber: Redaktion:
Andreas Rauth Andreas Rauth (Chefredakteur) info@jitter−magazin.de
www.jitter−magazin.de
Art Direction:
Andreas Rauth, Iris Luckhaus
Grafik/Layout:
Andreas Rauth, Iris luckhaus
Anzeigen: Druck: Druckverfahren:
anzeige@jitter-magazin.de Druckhaus Berlin Mitte Offsetdruck
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::::
Im vergangenen Dezember zeigte die Hamburger
künstlerische Themen wie Autos und Rock’n’Roll.
Galerie Feinkunst Krüger unter dem Titel Don‘t
In ihren technischen und gestalterischen Fähig-
Wake Daddy eine Ausstellung mit Werken von 40
keiten unterschieden sich diese Künstler nicht von
Künstlern der internationalen Lowbrow-Art-Szene,
ihren Kollegen in den »White-Wall«-Galerien, doch
die sich abseits der etablierten Galerien zu einem
die elitäre Kunstszene war ihre Sache nicht: Hoch-
ganz eigenen Kunstmarkt entwickelt hat. Ameri-
gezogene Augenbrauen beim Betrachten der Kunst
kanische Künstler, die sich dem Diktat der Museen
hielten sie für unangebracht, die Brauen blieben
und großen Galerien nicht beugen wollten, began-
unten. Lowbrow eben.
nen in den 1950er Jahren in meist comicartigem
Sucht man nach den Ursprüngen von Lowbrow in der amerikanischen Subkultur, wird man bei den mittlerweile altehrwürdigen Surf- und Hot Rod-Bewegungen (Hot Rod, wörtl. Heißes Pleuel, Bezeichnung für getunte Oldtimer, Anm. d. Red.) der 1950er Jahre fündig. Dabei spielte das soge-
Stil über das zu malen was sie wirklich bewegte. Und dazu gehörten neben Frauen auch ganz un-
jitter:
D
o n ‘ t Wa k e D a dd y !
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owbrow rt r o u p s h o w
nannte Custom Painting (customizing: Anpassung eines Serienprodukts an die individuellen Bedürfnisse, Anm. d. Red.) eine wichtige Rolle. Denn es wurden nicht nur Karosserie und Technik der Fahrzeuge angepasst; krönender Abschluß der Behandlung war eine aufwändige Lackierung. Aus den dabei verwendeten Motiven wie züngelnde Flammen, Totenschädel und Pin Ups entwickelte sich durch die gegenseitige Beeinflussung von Customizing Szene und musikalisch geprägten Subkulturen eine Ikonografie des Rock‘n‘Roll. Nachdem der Stein einmal ins Rollen gebracht war, nahm er alles mit, was sich dem „guten Geschmack“ entzog: Science Fiction-Fernsehserien, psychedelische Rockmusik, Softpornos, Animes, usw. Wer Monsterfilme aus den Sechzigern gesehen, Cartoons
von Ralf Krüger
von Robert Crumb gelesen oder sich einmal mit amerikanischen Werbeplakaten aus den letzten zwanzig bis dreißig Jahren beschäftigt hat, dem werden die Lowbrow-Welten vertraut vorkommen. In Laufe der Jahrzehnte emanzipierte sich Lowbrow im Marsch durch die Institutionen der Kunstwelt. Viele Künstler des Genres stellen heute in Galerien und Museen aus, und Hollywoodstars schmücken sich mit ihren Werken: Die Zeiten ändern sich! Der Begriff »Lowbrow« wurde 1979 von dem Amerikaner Robert Williams geprägt, der nach einer „tour de force“ durch die etablierten (sprich: »High Brow«) Galerien feststellen musste, dass dort kein Platz für seine Bilder ist. Heute ist Williams Heraus-
geber des Juxtapoz-Magazins, und die Künstler, die er darin veröffentlicht, verkaufen ihre Werke längst nicht mehr nur im Untergrund. In gewisser Art und Weise kann man Lowbrow auch als Vorläufer und Wegbereiter der Streetart sehen, mit der sie die Verweigerungshaltung gegenüber dem „normalen“ Kunstbetrieb teilt. Heute kreuzen sich oft die Wege der alten und der neuen Bewegung. Die Grenzen verschwimmen und Künstler wie Gary Baseman sind in beiden Szenen anerkannt und etabliert. Und darüber hinaus auch in der »High Brow«Szene. Trotzdem ist in der Bewegung noch genug Wut, Ungeduld und Verweigerung zu spüren, aus der sie schließlich einen wesentlichen Teil ihres Selbstverständnis‘ zieht. Lydia
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Lunch, die »Queen of Siam« des musikalischen Undergrounds, formulierte es in ihrem Vorwort zu Robert Williams‘ 1989 erschienener Monographie »Visual Addiction« so: „THE TIME IS NOW! And Robert Williams stubbornly plays the AntiChrist to all Holy Mary‘s … Questioning every taboo known to mortal imagination […]“
Die Galerie „Weder Pökelmettwurst noch Brennesselkäse werden bei Feinkunst Krüger zu finden sein. Feinkunst beglückt die LiebhaberInnen der Popkultur und bietet ein Forum für junge Künstler.“ Die Galerie existiert seit Mai 1998, und die erste Ausstellung fand am 26. September des selben Jahres statt. Angefangen hatte alles mit der Idee, für den der Galerie angeschlossenen SMART-Mailorder einen Platz zu finden, an dem die angebotenen
Rock-Art Drucke auch einem Laufpublikum zugänglich sind. Da die Räumlichkeiten aber viel zu schön sind, um sie „nur“ mit Drucken zu bestücken, beschloß man, ein Konzept für eine Galerie zu entwickeln und geeignete Künstler dafür zu finden. Nach einigen Startschwierigkeiten und den üblichen An-
fängerfehlern wurde die Arbeit immer professioneller und ausgereifter. Einen regen Publikumszulauf und ein großes Interesse der Presse gab es erfreulicherweise schon bei der ersten Ausstellung. Beides hat sich im Laufe der Jahre kontinuierlich gesteigert und heute kommen nicht selten 250 Gäste zu den Vernissagen. Das Hauptanliegen der Galerie war und ist die Förderung junger Künstler. Dabei muss es sich nicht immer um Studierte der freien Kunst handeln, auch Vertreter der angewandten Künste, Designer, Illustratoren, sogar Buchhalter haben hier schon ausgestellt. Viele hatten hier ihre erste Ausstellung überhaupt und einige Künstler ihre erste Einzelausstellung. Ein schönes Beispiel ist Kathrin Günther, die hier erstmalig ihre Diplomarbeit ausstellte, die später in New York und Seoul ausgestellt wurde. Ähnliche Erfolgsgeschichten wiederhol-
ten sich mit den Künstlern Till Gerhard und Henning Kles, die mittlerweile internationale Anerkennung genießen. Selbst amerikanische Künstler wie Derek Hess, Jay Ryan und Van Arno haben bei Feinkunst Krüger ihre Europa-Premiere gefeiert – und sind dadurch einem größeren Publikum bekannt geworden. Kunst aus allen Richtungen und jeglicher Art gab es
hier schon zu sehen: Malerei und Zeichnung, Fotografie und Installation. Die Vernissagen werden immer von einem DJ begleitet. Wohl mit ein Grund, dass sich auch Menschen einfinden, die sonst nicht in Galerien oder Museen anzutreffen sind.
Mark Elliott »Very Long Minute«, 29 x 22 cm, Acryl auf Karton. Rechte Seite v. o. n. u. und l. n. r. : Colin Johnson »Intimate Tempest Series #17«, 7 x 10 cm, Acryl auf Holz. Colin Johnson »Intimate Tempest Series #19«, 7 x 10 cm, Acryl auf Holz. Colin Johnson »Intimate Tempest Series #18«, 7 x 10 cm, Acryl auf Holz.
Abbildungen: S. 9 /10: Charles Glaubitz »A Horseman«, 76 x 37 cm, Acryl auf Leinwand. Linke Seite v. o. n. u. und l. n. r. : Oksana Badrak »Little Clare«, 20 x 25 cm, Öl auf behandeltem Digitaldruck. P-Jay Fidler »A Conscious Torpid Progenitor«, 31 x 45 cm, Mischtechnik auf Leinwand. Johnny Yanok »Down The Rabbit Hole« 13 x 18 cm, Gouache auf Aquarellpapier. 7teen »Lessons Learned«, 31 x 38 x 3,2 cm, Mischtechnik.
Brendan Danielsson »Portrait of William Ekgren«, 28 x 36 cm, Öl auf Karton. Anthony Pontius »The Golden Fawn«, 19 cm Ø, Ölfarbe, Graphit und Aquarell auf Papier. Angie Mason »Tree House Refuge«, 25 x 35 cm, Acryl auf Karton. Chrigel Farner »Daddy Cool«, 44 x 35 cm, Acryl auf Karton. Marcus Schäfer »Family Portrait« 40 x 40 cm, Acryl auf Leinwand.
:: CASTLE: ein Platz selbstverwalteter Freiheit Die Künstlergruppe Castle realisiert seit 1993
auf alle möglichen Bereiche von Illustration, De-
gemeinsam Ausstellungen und Projekte. Patrick
sign und bildender Kunst und ausgedehnt. Micha-
Hartl, Alexander Zöbisch und Daniel Schüßler
el Matthias, Yvonne Winkler stießen zur Gruppe,
lernten sich bereits an der Fachoberschule für
als sie gemeinsam mit Patrick Hartl an der Fach-
Gestaltung in München kennen. Ihr gemeinsames
hochschule Augsburg Kommunikations-Design
Interesse galt damals vor allem dem Graffiti und
studierten.
der Streetart. Heute haben sich ihre Aktivitäten
von Castle
Seit 1999 hat die Gruppe, zusammen mit den Künstlern Zrok und Flin, in der Färberei in München ein Atelier gefunden, in dem sie zusammen arbeiten. So haben sie über die Jahre zahlreiche Projekte und Ausstellungen zusammen realisiert. Das neueste und momentan wichtigste Projekt der Castle-Crew ist ein regelmäßig erscheinendes PDF-Online-Magazin, dass sich mit Illustration, Design, bildender Kunst und vielen anderen kreativen Bereichen beschäftigt. Inspiriert durch eine alte Marvel-Reihe aus den 1950er Jahren stand anfangs der Name »Showcase« im Raum, der dann aber zu Gunsten von »Castle« wieder fallen gelassen wurde. Mit der Zeit entwickelte der Name ein immer größeres Identifikationspotential. Denn, ausgehend von der Überzeugung, dass eine Gruppe mehr bewegen kann als der Einzelne, stand der Gemeinschaftsaspekt bei »Castle« von Anfang an im Vordergrund. Es geht um gegenseitige Inspiration und Unterstützung: Die Arbeiten der einzelnen sollten regelmäßig gemeinsam präsentiert werden, um dadurch erhöhte Aufmerksamkeit bei potentiellen Kunden, Galeristen, Veranstaltern, etc. zu bekommen. Da die fünf Künstler mit diesem Ziel nicht alleine sind,
wollten sie mit dem Magazin nicht nur ein paar nutzlose Pixel mehr ins Netz stellen, sondern auch eine berechtigte Plattform schaffen. Durch ein enormes Interesse der Online-Leser hat sich das Projekt heute zu einem weltweiten Netzwerk talentierter Illustratoren, Künstler und Designer ausgeweitet. Mittlerweile erscheinen im Castle Magazin immer mehr Interviews, Berichte zu Ausstellungen, Wettbewerben, Messen und Neuigkeiten aus der Szene. So können sie künstlerische Positionen, die ihnen wertvoll und wichtig erscheinen, propagieren und unterstützen. Besonders der zeitgenössischen Illustration in Deutschland wollen sie wieder ein adäquates Forum bieten und versuchen, Illustratoren den Bereich der Bildenden Kunst zu öffnen. Da sie selbst vor allem Künstler und erst in zweiter Linie Publizisten sind, beziehen sie ihre Motivation für das Projekt hauptsächlich aus der künstlerischen Tätigkeit. In der Nähe zur Szene bewahren sie sich eine hohes Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit. Sie verstehen Castle als einen Platz selbstverwalteter Freiheit, der genügend Raum für die Entwicklung von neuen Ideen bietet – und das nicht nur im Web: www.castlemagazine.de
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Patrick Hartl:STYLEFIGHTING Patrick Hartl ist 1976 geboren, lebt und arbeitet in München als freier Grafiker, Illustrator und Stylefighter. Er beschäftigt sich seit mittlerweile ca. 15 Jahren intensiv mit Kunst und Design. Angefangen mit Graffiti hat sein Weg ihn bis heute über eine Vielzahl anderer Experimente hauptsächlich zu Illustration, Kalligrafie und digitaler Bildbearbeitung geführt. „Vom 850er Edding zum Pinsel, der Bandzugfeder und dem Grafik-Tablett.“ Hartl arbeitet weitaus lieber mit der Hand und bevorzugt wegen ihrer Ehrlichkeit generell eher analoge Arbeiten. Die Möglichkeiten, die digitale Gestaltungsmittel bieten, sind jedoch unbestreitbar zu verlockend, um nicht immer wieder darauf zurückzu-
greifen. Der größte Reiz besteht für ihn momentan in der Kombination beider Techniken, um die jeweiligen Vorteile nutzen zu können - das Alte mit dem Neuen verbinden. Hartl möchte mit seinen Arbeiten keine eindeutige Aussage machen, ihm geht es mehr darum eine Art Stimmung, Kraft oder Gefühl zu transportieren. Bewußt hält er die Interpretationsmöglichkeiten offen; das Thema Konfrontation allerdings ist so etwas wie ein Leitmotiv seiner künstlerischen Arbeit, in der sich Erlerntes und Erlebtes intuitiv miteinander verbindet.
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Daniel Schüssler Daniel Schüßler ist 1976 geboren und hat mit dem Malen, Zeichnen und Bauen schon in frühester Kindheit begonnen. Seit 1999 ist Malerei und Zeichnung das bevorzugte Medium für ihn geworden. Momentan studiert er Malerei und Bildhauerei an der Akademie der bildenden Künste in München. Die Weiterentwicklung seiner Bildsprache in den letzten sechs Jahren beruht auf der Verbindung von digitaler Photographie, bildhauerischen Elementen und gemaltem Bildraum. Zu inhaltlichen Grundlagen seiner Werke gehören Zerstörung und Katastrophen, die als Türöffner für urbane Neuerfindung und die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Möglichkeiten und Modelle zu verstehen sind. Im Zeitalter des »Clash of the Cultures« und der Verbreitung fun-
damentaler Werte und Ideologien ist für ihn und seine Werk die Frage der destruktiven Kreativität von zentraler Wichtigkeit. In seiner Malerei erörtert er Entwicklungen und Möglichkeiten des Umgangs mit post-destruktiven Gesellschaften, oft anhand von städtebaulicher Entwicklung, Architektur und deren Umfeld. Seine technische Herangehensweise, fotografische bzw. digitale Elemente im gemalten Bildraum zu vereinen, stellt für ihn zum einen immer wieder die Frage nach Realität und Fiktion, zum anderen bietet sie die Möglichkeit, bildhauerische Elemente mit dem Medium Malerei zu verknüpfen. Und hier, zwischen analoger und digitaler Arbeitsweise, sieht Daniel Schüßler auch einen wichtigen Schnittpunkt der Castle-Crew. In
der Liebe zur Handarbeit und für das Haptisch-Visuelle, kombiniert und abgestimmt mit digitaler Ästhetik und den Vorteilen der digitalen Technik, liegt nach seiner Ansicht ein grundlegendes, alle fünf verbindendes, Element. Was für ihn das Magazin und die Zusammenarbeit mit der Castle-Crew vor allem interessant macht, ist der jeweils andere Blickwinkel. Zwar gibt es große Übereinstimmungen in der grundlegenden Haltung, doch jeder hat andere Vorlieben, wenn es um Details in der Bildsprache geht. Das Resultat ist ein spannungsreiches und wohl ausbalanciertes Verhältnis. Daniel Schüßler versteht das Castle Magazin als eine Heimstatt bildnerischer Qualität und künstlerischen Niveaus, welches es gerade im Internet fest zu verankern und zu verteidigen gilt.
Yvonne Winkler:VIERFARBRAUM Yvonne Winkler wurde 1978 in München geboren. Aufgewachsen in der elterlichen Malerwerkstatt erwachte zwischen allerlei Pigmenten und Farbeimern schon früh der Wunsch, später einen kreativen Beruf zu ergreifen und den Dingen mittels Farbe und Form Berechtigung und in gewissem Maße auch Beständigkeit zu geben. Ihr beruflicher Weg führte sie im Jahr 2000 an die FH Augsburg, wo sie ihr Studium zur Kommunikations-Designerin aufnahm. Dort fand sie schnell zur Illustration, die ihrer Meinung nach ein hervorragendes Medium ist, um in kurzer Zeit und auf einem klar definierten Raum Geschichten von epischem Ausmaß zu
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realisieren. Ausgehend von analogen Techniken wie Zeichnung, Malerei und Fotografie entwickelte sich eine immer größere Affinität zu digitalen Gestaltungsmitteln. Heute arbeitet Yvonne Winkler vorwiegend mit den Programmen Photoshop und Illustrator. In Form von handgemachten Texturen, fotografischen Elementen und filigranen Linien fließen aber immer wieder analoge Bildtechniken in die Arbeit mit ein. Ihr Spektrum reicht von der klassischen Bildbearbeitung über Composings bis hin zu detailreichen, malerischen Illustrationsserien. Die künstlerische Auseinandersetzung mit einem digitalen Medium ist ihre Verbindung zum Castle. War
sie anfangs noch regelmäßiger Gast im Magazin, ist sie mittlerweile fester Bestandteil der Redaktion und unter anderem mitverantwortlich für die grafische Umsetzung und das Layout des Magazins.
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Michael Matthias:CENTERBLOCK „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, lautet ein berühmter Satz von Karl Valentin, und wenn Michael Matthias alias centerblock erklärt, „Fahr‘ nur einmal mit offenen Augen U-Bahn und du bist aufgefüllt bis oben hin. Den Rest erledigt der Stift dann wie von selbst“, klingt das leichter, als es vermutlich ist. Wenn man dann noch erfährt, dass es für ihn nichts gibt, was künstlerisch so reizvoll wäre wie ein interessantes Gesicht, wird klar, dass die Eindrücke einer U-BahnFahrt für jemanden wie ihn fast schon
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eine Überforderung bedeuten müssen. In seinen Arbeiten mischen sich denn auch Erlebnisse und Techniken zu einer flirrenden Melange, wie Benzin auf regennasser Fahrbahn. Bei der Umsetzung der Eindrücke in visuelle Zeichen gilt für ihn, dass „der Zufall einen Ehrenplatz bekommt, während Vernunft und zeichnerische Disziplin der führende Tanzpartner im Prozess der Entstehung sind.“ Centerblock. In der Namenswahl klingt zwar noch seine anfängliche Begeisterung für schwarze, massive
Blocks an, die hat sich aber immer mehr Richtung Konstruktivismus, abstract Neodada und Comic verlagert. Dabei beeindrucken den Grafiker und Illustrator die leuchtenden, nur auf Bildschirmen darstellbaren RGB Farben und digitale Perfektion genauso wie eine satte Ölfarbe oder die Struktur eines handgemachten analogen Originals. Auf der Schnittstelle zwischen dem Digitalen und Analogen wird er in Zukunft noch weiter balancieren, und beide Techniken ganz gezielt in Kontrast zueinander setzen.
Alexander Zöbisch:STARJUMP Worin besteht der grundlegende Unterschied zwischen uns - zwischen Euch und mir? Das wisst Ihr bereits. Er besteht in den abgestammten Erinnerungen. Die meinen kommen bei vollem Bewußtsein. Eure kommen aus der Richtung, in die ihr nicht sehen könnt. Manchmal werden sie Instinkt oder Schicksal genannt. Die Erinnerungen wenden auf jeden von uns ihre Hebelwirkung an - auf das, was wir denken und tun.
Ihr glaubt, Ihr seid gegen solche Einflüsse immun? Ich bin Galilei. Ich stehe hier und sage euch: „Und sie bewegt sich doch.“ Das, was sich bewegt, kann seine Kraft auf eine Weise zur Geltung bringen, dass keine Macht der Welt gegen sie ankämpfen kann. Ich bin hier, um dies zu wagen. Licht sickert durch die Fenster meines Universums.
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: INTERVIEW NORA KRUG
Es gibt heute in der Illustration keine Regeln mehr Nora Krug studierte in Liverpool, Berlin und New York Dokumentarfilm und Illustration. Sie arbeitete u. a. für den Playboy, die New York Times, Brigitte und ELLE. Seit 2005 ist sie Professorin für Illustration an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. In ihren Arbeiten verbindet sie einen grafischen, reduzierten Stil mit politischen und gesellschaftlichen Themen. Wir sprachen mit Nora Krug über Bilder, Geschichten und die Notwendigkeit eines neuen Selbstverständnisses für die Illustration.
jitter: In einem ungewöhnlichen Animations-Projekt
J: Du warst mehrfach in Japan und hast auch die Sprache
hast du dich intensiv mit japanischen Höflichkeitsformen auseinandergesetzt und den Ratgeber »How to bow« entwickelt. Woher kam das Interesse an der japanischen Kultur? Nora Krug: Ich habe drei Jahre in England studiert und mich dort mit japanischen Studenten angefreundet, bin nach Japan gereist und habe mich mit der Kultur auseinandergesetzt. Je mehr ich darüber erfuhr, desto fremder und kurioser erschien mir diese und ich habe versucht, das Denken und Handeln der Japaner besser nachzuvollziehen. Mit dem animierten Ratgeber wollte ich die japanische Kultur Menschen aus dem Westen zugänglicher machen. Dazu musste ich viel über die japanische Verhaltensetikette recherchieren. Das Projekt ist aus intensivem persönlichem Interesse heraus entstanden. J: Das Projekt steht unter www.how-to-bow.com im Internet zur Ansicht. Man findet dort nicht nur die Animationen, sondern auch ausführliche Erklärungen. K: Ich bin sehr gründlich, manchmal auch übergründlich. Wenn ich an einem Thema arbeite, muß ich alle Bücher und Filme die es dazu gibt, beschaffen. In der Bibliothek der Japanologie der Humboldt-Universität Berlin habe ich z.B. Ratgeber für junge japanische Geschäftsleute, die eine Anstellung in einem traditionellen Unternehmen anstreben, gefunden, aber auch Ratgeber für westliche Geschäftsleute, sowie Romane westlicher Schriftsteller über Japan. Ich habe sehr viel über die japanische Geschichte und Tradition gelesen. Außerdem sind meine eigenen Erfahrungen mit eingeflossen.
erlernt. K: Ich war dreimal dort und habe dort auch während eines zweimonatigen Aufenthalts für eine CI-Agentur gearbeitet. Dabei konnte ich die Hierarchie im Unternehmen genau beobachten. Japanische Unternehmen haben eine ausgeprägte hierarchische Struktur, die aber auch sehr persönlich, sehr familiär ist. Alle werden von Anfang an in Entscheidungen mit einbezogen J: Wäre ein Ratgeber über westliche Geschäftskultur für dich genauso interessant? K: Es ist viel schwieriger zur eigenen Kultur die nötige Distanz einzunehmen, die man braucht, um ihre Besonderheiten wahrzunehmen. Ich habe damals auch einen Film über zwei Japanerinnen gedreht, die nach Deutschland gekommen waren, um hier eine Ausbildung zur Konditorin zu machen. Ein Jahr lang habe ich die beiden mit der Kamera begleitet. Es war sehr interessant, auf diesem Weg das eigene Land aus einer ganz neuen Perspektive zu betrachten. Ich habe versucht, durch ihre Augen einen Blick auf meine eigene Kultur zu werfen. Meine Rolle dabei war eher passiv, beobachtend. Bei How-to-bow habe ich hingegen versucht, die japanische Kultur auf den Punkt zu bringen – vielleicht ein bißchen zu sehr. J: Du hast zunächst Dokumentarfilm studiert, danach aber deinen Schwerpunkt auf Illustration gelegt. Jetzt verbindest du Dokumentation mit Illustration. Worin liegt das Besondere dieser Kombination? K: Ich wollte nicht von vornherein Illustratorin werden. Viele meiner Freunde haben in ihrer Kindheit amerikanische Comics kopiert und wollten immer nur Illus-
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Abbildung: Für Playboy Magazine über einen Arbeiter, der versehentlich zum Mörder seiner Freundin wird.
trator werden. Das war bei mir nicht der Fall. Ich habe mich immer für ganz viele verschiedene Dinge interessiert, habe Musik gemacht, mich bei Schauspielschulen beworben, Dokumentarfilme gedreht und eher nebenbei gezeichnet. Illustratorin bin ich geworden, weil ich zu einer bestimmten Zeit Menschen kennen gelernt habe, die Illustratoren waren und mich auf diesen Beruf aufmerksam gemacht haben. Aber mir geht es weniger um ein bestimmtes Medium, als vielmehr um den Inhalt. Bei meinen persönlichen Arbeiten überlege ich zuerst, was mich interessiert und welche Themen ich behandeln möchte. Ich höre immer wieder von Zwar arbeite ich heute vorwiegend Menschen, die ein Leben fühals Illustratorin, ren, das so interessant, so lege aber nicht von vornherein packend und ungewöhnfest, ob die Arbeit lich ist, wie es eine fiktive eine Animation, Geschichte gar nicht sein ein Comic oder eine Bildergekönnte. schichte werden soll. Der Schwerpunkt liegt auf jeden Fall auf dem Inhalt. Erst vor kurzem habe ich für mich eine Verbindung von Illustration und Dokumentation gefunden. Momentan gibt es, was politische und gesellschaftliche Themen angeht, eine starke Strömung im Bereich Graphic Novel. Das finde ich sehr spannend. Die Arbeiten von Spiegelman, Ulli Lust, David B., Joe Sacco, Guy Delisle oder Linda Barry sind gute Beispiele für eine zeichne-
rische Auseinandersetzung mit der Realität. Ich habe früher gedacht, das sei nichts für mich. Ich wollte immer nur Fantasiewelten erschaffen. Erst kürzlich habe ich entdeckt, dass ich auch Schicksale von Menschen, die mich interessieren, in Form von Bildergeschichten verwenden kann. J: Hat das damit zu tun, dass du in verschiedenen Ländern gelebt und dort ganz unterschiedliche Menschen kennen gelernt hast? K: Ich habe gemerkt, dass es ist nicht so einfach ist, eine gute Geschichte zu erfinden und zu erzählen. Es fällt mir leichter, Material zu verarbeiten, das schon existiert und dieses aus meinem Blickwinkel darzustellen. Ich höre immer wieder von Menschen, die ein Leben führen, das so interessant, so packend und ungewöhnlich ist, wie es eine fiktive Geschichte gar nicht sein könnte. Das inspiriert mich dazu, diese Geschichte mit meinen eigenen Bildern weiter zu erzählen. Das Schwierige dabei ist, den Respekt vor der Person nicht zu verlieren. Das bedeutet, man darf sich nicht zu sehr von der wirklichen Person entfernen, darf sie nicht in eine poetische, heroische Figur verwandeln. Der Mensch und sein Leben müssen im Mittelpunkt bleiben, auch wenn man die Geschichte aus dem eigenen ästhetischen Empfinden heraus erzählt. J: Journalistisches Zeichnen ist momentan sehr beliebt. Die meisten dieser Zeichner pflegen einen realistischen Stil. Du arbeitest wesentlich freier, abstrahierter. K: Es kommt mir nicht so sehr darauf an, ob eine Zeichnung realistisch ist oder nicht. Es geht darum, wie man eine Geschichte erzählt. Dass man versucht urteilsfrei zu sein, dass man eine beobachtende Position einnimmt.
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Beim Dokumentarfilm sieht man sich mit denselben dann ist es egal, wie unterschiedlich diese sind. Ich Problemen konfrontiert. Grundsätzlich kann man keiselbst stand am Anfang auch vor dem Problem, zu nen Film drehen, ohne zu manipulieren. Man filmt viele unterschiedliche Stile zu haben und glaubte, Art den Protagonisten und schneidet das Material auf eine Direktoren würden mich deshalb nicht anrufen. Aber bestimmte Art und Weise. Mit ‚beobachtender Positiirgendwann habe ich gedacht, im Grunde darf das on‘ meine ich wohl eher eine respektvolle Haltung. Es nicht so wichtig sein. Wichtig ist, dass man – mit welgeht immer darum, wie etwas gezeigt und wie eine Gechem Stil auch immer – sein Innerstes zum Ausdruck schichte erzählt wird. bringt. Man muß einfach seinen Weg verfolgen und J: Hilft die Abstraktion dabei eine distanzierte, beobachtwenn man merkt, man hat mehrere Interessen und ende Position einzunehmen? auch Talente, dann muß man sie ausschöpfen. K: Illustration erhebt nicht den Anspruch objektiv zu sein, J: Während deines Studiums in Liverpool, Berlin und New sie kann es auch gar nicht sein. Den ObjektivitätsanYork hast du mit ganz unterschiedlichen Medien gespruch hat sie vor hundert Jahren an die Fotografie abarbeitet, neben Dokumentarfilm auch Bühnenbild getreten, wobei Fotografie natürlich auch nie objektiv entworfen und vieles andere mehr. Beeinflußt dieser ist. Illustration zeigt vor allen Dingen die eigene PerHintergrund heute noch deine Arbeit? spektive. Es ist wichtiger Fragen aufzuwerfen, als den K: Im Zentrum steht der Mensch mit seinen Interessen. Bei Versuch zu unternehmen, sie zu beantworten. mir ist das z.B. Musik, Literatur, Film, kurz, alles was J: Die momentane Beliebtheit von Illustration scheint wemich im Leben interessiert. Das läßt sich weder vonniger inhaltlich als stilistisch begründet. Es gibt eine einander, noch von meiner Persönlichkeit trennen. unüberschaubare Zahl unterschiedIch arbeite gerade an einem Comic licher Stile. Es ist nicht notwendig für das amerikanische Magazin BLAB! K: Ich glaube, man muß hier unterscheiund merke dabei deutlich den Einfluß realistisch zeichnen zu den zwischen kommerziellem, oberdes Dokumentarfilms. Wenn man seikönnen, das heisst aber ne Person in die Arbeit mit einbringt, flächlichem und inhaltlichem, tiefer gehendem Interesse. Es gibt heute nicht, dass man alles dann natürlich auch alles, was diese viele Illustratoren, die in traditioPerson im Leben ausmacht. Und das machen kann. nellem Sinne nicht „richtig“ zeichnen bestimmt wiederum den Inhalt der können, deren Arbeiten aber eine nie Arbeit. gekannte, neue Ausdruckskraft besitzen. Gleichzeitig J: Viele haben Probleme damit, ihre persönlichen Inhalte kann das Ungekonnte natürlich auch oberflächliche zu finden. Sie haben Schwierigkeiten, Themen zu finAttitüde sein. Es ist schwer zu sagen, weshalb jemand den, mit denen sie sich auseinandersetzen wollen. mit einer bestimmten Art zu zeichnen erfolgreich ist K: Das kann ich bestätigen. Mich fragen Leute, wie ich denn oder nicht. Für mich ist entscheidend, dass jemand auf diese oder jene Idee gekommen sei. Dann fällt mir eine starke visuelle Sprache entwickelt, egal, ob das eine Antwort immer schwer, denn für mich ist es ganz auf handwerklichem Können beruht oder nicht. Das selbstverständlich, dass ich mich für verschiedene fertige Bild ist entscheidend. Da sollte man eine interDinge interessiere. Ich finde es sehr schade, dass viele essante persönliche Ausdrucksform erkennen könscheinbar gar nicht wissen, was sie interessiert. Vielnen, die emotional oder intellektuell anspricht. Es gibt leicht liegt es daran, dass es uns generell sehr schwer heute in der Illustration keine Regeln mehr. Es ist nicht fällt das eigene Leben aus der Distanz zu betrachten, notwendig realistisch zeichnen zu können, das heißt und etwas Neues zu wagen, z.B. woanders zu leben. aber nicht, dass man alles machen kann. Intuition darf J: Ist die Hinleitung zum eigenen Thema Bestandteil des man nicht mit Willkür verwechseln. Aber wie erkennt Studiums? man, ob die eigene Zeichnung gelungen ist oder nicht? K: Konkret wurde so etwas nur in Amerika vorgeschlaDas Urteilsvermögen, das man dazu braucht, läßt sich gen. An der School of Visual Arts in New York lehrte schwer in Worte fassen, und der Erkenntnisprozess Robert Weaver das so genannte ‚Location Drawing‘, hat auch ganz viel mit Intuition zu tun. Der Betrachter das Zeichnen vor Ort. Seine ehemaligen Schüler, die muß sich angesprochen fühlen. Mich persönlich sprejetzt dort unterrichten, führen dieses Fachgebiet fort. chen Arbeiten, die sich auf einer bestimmten OberfläDie Auseinandersetzung mit der eigenen Umgebung, che bewegen und etwas darzustellen versuchen, was für die man diesen distanzierten, beobachtenden sie nicht wirklich sind, nicht an. Blick braucht, fördert unbekannte Themen zu Tage. J: Ist es für einen Illustrator notwendig einen unverkennIn Liverpool arbeitete man ganz eng mit Musikern, baren Stil zu entwickeln? Schauspielern, Filmemachern zusammen, was autoK: Ich glaube, es ist wichtig, sich immer wieder zu überlematisch dazu führte, über das eigene Medium nachgen, was man ausdrücken will, und mit welchen techzudenken, einen mehr interdisziplinären Ansatz zu nischen und formalen Mitteln das erreicht werden finden – und damit auch neue Themen. In meiner eikann. Das Wort Stil verwende ich nicht gerne, weil es genen Lehre ist mir das sehr wichtig, weil ich finde, so festgefahren und oberflächlich klingt. Wenn sich jean einer Kunsthochschule muss in erster Linie Kreamand glaubwürdig in verschiedenen Stilen ausdrückt, tivität geschult werden. Kreativität bedeutet Denken
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Abbildungen: »Der Wolf: Das Märchen vom Rotkäppchen aus der Perspektive des Wolfs erzählt«. Eigenes Projekt (Ausschnitt), 2004.
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und geistige Entwicklung. Ich werde immer wieder einmal im Semester einen Schwerpunkt mit Sympogefragt, ob ich auch Storyboarding oder Scribbling sium und Workshop-Woche an. Dann laden wir natiunterrichte, aber das sind Dinge, gegen die ich mich onale und internationale Kunsttheoretiker und -phiwehre. Ich gehe zwar auf technische Aspekte ein, aber losophen zu einem Vortrag ein. Im Anschluß werden ich sage den Schülern, die zur Mappenberatung komzum selben Thema praktische Workshops mit Künstmen und mir Gemüse und Aktzeichnungen vorlegen, lern angeboten. Ich halte das für eine gute Kombinatiauch: „Sucht euch einen Ort, einen Menschen aus, on, die auch an anderen Hochschulen angeboten wermacht eine Reihe von Fotografien oder Zeichnungen den sollte. Im Schaffensprozess kommt der Intuition zu einem Thema, bindet daraus ein Buch und legt das aber eine besondere Bedeutung zu. Man darf nicht so in eure Mappe.“ Wie soll man sonst die Persönlichkeit viel theoretisieren, dass man am Ende Angst hat eierkennen? Im ersten Semester sucht sich jeder Student nen Stift in die Hand zu nehmen, weil man unter dem einen Beruf oder Ort aus, den er oder Druck steht alles genau durchdacht haben wenn man merkt, man zu müssen. sie zeichnerisch dokumentiert. Aus diesen Zeichnungen stellt dann jeder Künstler sind nicht so sehr behat mehrere Interes- J: ein Buch zusammen. Hierbei kommt kannt für ihre theoretischen Neigungen. sen und auch Talente, Über Kunst zu sprechen ist scheinbar es nicht so sehr auf Naturtreue an, sondern vielmehr auf den persöndann muss man sie nicht Sache von Künstlern. lichen Ausdruck und eine gut erzählK: Das trifft leider zu, besonders für ausschöpfen. te Geschichte. Durch diese Übung Illustratoren. Sie können häufig nicht über erschließen sich die Studenten neue ihre Arbeiten reden. Interessensgebiete. J: Ist diese mangelnde Artikulationsfähigkeit schlecht für J: Du hast eben von der Distanz gesprochen, die für die die Berufsausübung? Bearbeitung eines Themas notwendig ist. Theorie verK: Man kann natürlich als Illustrator gut leben und seine hilft ganz allgemein zur Distanz. Allerdings zählen Arbeiten vermarkten, auch wenn man nicht darüber Wissensgebiete wie Soziologie, Psychologie, Philososprechen kann, denn letzten Endes geht es hier um die phie und Kommunikationstheorie nicht zur AusbilBeherrschung einer visuellen Ausdrucksform. Aber die dung eines Illustrators. Fähigkeit sich sprachlich ausdrücken zu können schadet K: Im Idealfall gehen Theorie, Vorstellungskraft und Praxis nie, ganz gleich welchen Beruf man ausübt. Es fällt jeHand in Hand. Ich denke dabei an Pestalozzi‘s „Kopf, doch auf, dass beispielsweise Designer und Typografen Herz und Hand“. An der Hochschule in Kiel bieten wir sich viel besser ausdrücken können als Illustratoren.
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K: Diese Gruppe scheint auch ein besseres
Respekt zu verhelfen. Es gibt immer noch Selbstverständnis zu haben. Typografen dieses Klischee vom Zeichner, der vor allem sehen sich gerne als Hohepriester der Spaß an seiner Arbeit hat, die, weil mehr Schriftkultur. Hobby als Beruf, auch nicht so gut bezahlt K: Das Problem bei einigen Illustratoren ist, dass werden muß. Illustration wird nicht als sie selbst ein zu romantisches Bild von ihernst zu nehmender Berufszweig akzeprem Beruf haben. Sie sehen sich im stillen tiert. Auch die Definition ist zu eng gefasst. Kämmerlein sitzend, ihrer Seele Ausdruck Ich achte in meiner Lehre sehr darauf, dass verleihend, kaum das Lebensnotwendige Illustration von den Studenten nicht nur als verdienend. Entsprechend wird dieses BeBuchillustration verstanden wird. Es ist mir rufsbild nur wenig anerkannt und schlecht wichtig, ein Bewußtsein dafür zu schaffen, honoriert. Fotografen, dass es sehr viele neue Illustratoren müssen die Au- Bereiche gibt, die IllusTypografen und Designer werden zum Großtorenschaft für ihre Projekte tratoren sich erschließen teil viel ernster genomkönnen, und dass auch übernehmen und dafür ist die Studenten Verantmen. J: Illustratoren sind Künst- Streetart ein gutes Beispiel. wortung dafür tragen, ler, die keine Kunst mawie sich das Berufsbild chen und zwischen allen in Zukunft erweitern Stühlen stehen? kann. In Amerika sind beispielsweise IllusK: Ja, von Künstlern wird man belächelt, wenn trationen im Produkt-, Schmuck- und Texman zu kommerziell arbeitet. Wir befinden tildesign viel stärker vertreten als hier. Ich uns auf einer Grenzlinie zwischen Kunst biete gemeinsam mit dem Bereich Interiorund Design. Ich finde es sehr wichtig, dass design an unserer Hochschule im nächsten wir lernen uns als Illustratoren zu positioSemester ein Projekt an, bei dem es um Panieren, um unsere Situation zu verbessern. piertheater geht – eine Verbindung von IlIch bin froh, dass es jetzt die Illustratoren lustration und Innenarchitektur. Organisation gibt, und ich finde es muß J: Steht der Begriff Illustration einer Öffnung gerade in Deutschland noch ganz viel gedes Berufsbildes im Weg? tan werden, um der Illustration zu mehr K: Ja, ich habe schon oft überlegt, welcher Be-
Abbildungen v. l. n. r.: S. 22: Für Northwest Meetings Magazine über Eventmanagement, 2006. Für Carlsen im Gedichtband »Hör zu, es ist kein Tier so klein, das nicht von dir ein Bruder könnte sein«, 2006. S. 23: Beide für Seed Magazine über Politik und Gentechnologie, 2004.
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griff dieses Berufsbild besser beschreiben könnte. Ich habe noch keinen gefunden, aber der Begriff Bildermacher würde von vornherein andere Bereiche mit einschließen. Die Impulse, die zur Zeit aus der Streetart kommen finde ich sehr wichtig, weil es hier um den Ausdruck eines Lebensgefühls geht. Hier sehe ich meine Position bestätigt, dass ein Illustrator heute nicht nur Zuarbeiter sein sollte, der vorgegebene Inhalte illustriert, sondern sich selbst als Autor seiner eigenen visuellen Welten begreift. Illustratoren müssen die Autorenschaft für ihre Projekte übernehmen. Dafür sind Streetart und Graphic Novels gute Beispiele. Solange sich die Arbeit auf hohem Niveau bewegt, verhilft die Vermarktung illustrierter Produkte den Illustratoren auch zu mehr Ansehen. Im Characterdesign dient Illustration häufig als Grundlage für ein ganz anderes Produkt, beispielsweise eine Kunststofffigur. Die erfolgreiche Pictoplasma-Konferenz zeigt, wie populär dieser Bereich ist. Ich bin ganz froh, dass jetzt diese Bereiche entdeckt werden, auch wenn ich mich persönlich nicht so sehr damit identifizieren kann. Wir müssen weg kommen von einer eingefahrenen Vorstellung, was Illustration ist und sein darf oder nicht sein darf. Wird Illustration von anderen Künstlern wahrgenommen? Fragen sich Theaterleute mit welchem Illustrator sie ihr nächstes Projekt realisieren können? Das kommt wohl auf die Künstler an. Ich denke an David Hockney‘s Bühnenbilder, Zeichnungen und Malerei. Aber auch an Maurice Sendak, der mit dem Dramaturgen Tony Kushner ein Bühnenstück inszeniert hat, das von Kindern im KZ geschrieben wurde. Die verschiedenen Bereiche sind eng miteinander verwandt. Als Professorin möchte ich das Verständnis dafür fördern. Wenn sich die richtigen Leute finden, steht einer interdisziplinären Zusammenarbeit nichts im Wege. Du hast selbst ein internationale Ausbildung, würdest du angehenden Illustrations-Studenten eine Zeit im Ausland empfehlen? Ja, unbedingt. Aber ich wollte schon immer ins Ausland und habe diese Aufenthalte nie bloß als Zwischen- oder Probezeit betrachtet, sondern das neue Land immer als Arbeits- und Lebensraum verstanden. Momentan lebe ich mehrere Monate im Jahr in Amerika. Ich habe hier wie dort Freunde und Auftraggeber, auf die ich nicht verzichten möchte. Es ist eine große Bereicherung, die zu mehr Flexibilität verhilft, sowohl im persönlichen, wie auch im professionellen Bereich. Welche Hochschule mir am meisten zugesagt hat, kann ich nicht sagen. Alle hatten ihre Vor- und Nachteile. Ich hätte jedenfalls an einer deutschen Hochschule alleine nie so viele unterschiedliche Einflüsse erlebt. In Amerika ist die Art, wie man über Illustration denkt, die Art zu unterrichten, Korrekturen zu geben, ganz anders als in Deutschland. Wie unterscheidet sich die Auftragssituation in Amerika von der in Deutschland? Der Umgang in Amerika ist sehr freundlich aber auch
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sehr professionell. Es muß schneller gehen, die Leute haben weniger Zeit. Vor allem in New York. Man hat nur selten Gelegenheit sich persönlich vorzustellen. Man gibt seine Mappe irgendwo ab, dann wird sie an einem bestimmten Tag angeschaut und man kann sie anschließend wieder abholen. Manchmal findet man eine kleine Notiz vom Art Director – oder auch nicht. Das ist schade, aber es geht wohl nicht anders. Einer der wenigen, die noch persönliche Termine ausmachten, war Steve Heller, der ehemalige Art Director der New York Times Book Review. Jeden Morgen empfing er zwei Illustratoren, aber auch nur jeweils fünf Minuten lang. Man muß also auch sehr sicher sein in seinem Stil, wer experimentiert ist automatisch langsamer. Man muss vor allem Inhalte schnell verstehen können. In Amerika werden Fragen offener gestellt, nicht so konkret. Deutsche sind sehr direkt, da fühlen sich Amerikaner schnell vor den Kopf gestoßen. Wenn man eine Verständnisfrage stellt, wird das häufig als Kritik aufgefasst. Ich habe gelernt, keine komplizierten Fragen zu stellen, sondern freundlich, pragmatisch und professionell zu funktionieren. Ob man experimentieren kann hängt ganz von der Art des Auftrags und dem jeweiligen Zeitrahmen ab. Wie kam es zu dem Lehrauftrag in Kiel? Kurz vor Ablauf meines USA Stipendiums hatte ich von der Stelle gehört und mich beworben, ohne mir wirklich Chancen auszurechnen, denn ich hatte mich zuvor noch nie auf eine Professur beworben. Ich war dann sehr überrascht und natürlich auch erfreut, als ich die Zusage bekam. War der Fachbereich bereits vorhanden? Nein, es gab keinen Schwerpunkt Illustration und auch die Möglichkeit für ein Diplom in Illustration war nicht gegeben. Das war einerseits schön für mich, da ich viel Gestaltungsspielraum bei der Konzeption des Curriculums hatte. Andererseits bedeutete das eine große Verantwortung und viel Arbeit. Aber die Resonanz war gut und meine Klasse ist groß. Es gibt ein großes Bedürfnis, sich mit Illustration zu beschäftigen. Ich glaube es war an der Zeit, dass Illustration dort eine größere Bedeutung bekommt. Das Gespräch führte Andreas Rauth
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More hieroglyphico vs more mathematico 1617 kommt Johannes Kepler an der Frankfurter Buchmesse ein Buch in die Hände: Robert Fludds »Utriusque cosmi historia«, gedruckt bei de Bry in Oppenheim, dem Distributionszentrum für europäischen Hermetismus und Rosenkreuzertum. Das Werk enthält in zwei Teilen eine Metaphysik und eine Physik – genetisch entwickelt aus der biblischen Schöpfungsgeschichte. Fludd, englischer Arzt und Geheimwissenschaftler, wird der Mitgliedschaft bei den Rosenkreuzern verdächtigt, einer Art virtuellen Diskursgemeinschaft, die wissenschaftliche Forschung mit der Utopie politisch-gesellschaftlicher Erneuerung verbindet. Sein Hauptwerk, das Kepler von Frankfurt mit nach Hause nimmt, verdeutlicht auf exemplarische Weise Fludds visuelles Wissenschaftsverständnis: überaus reich bebildert – die Stiche stammen fast alle von Matthaeus Merian, dem zukünftigen Erben der de Bryschen Offizin und Insider im Kreis der Alchemisten und Hermetiker – übt es v.a. dank seiner Illustrationen eine Anziehungskraft aus, die auch den heutigen Betrachter noch zu irritieren vermag. Die Wirkung auf Kepler ist belegbar: das Buch wurde zum Anlass für eine Kontroverse zwischen Kepler und Fludd, in der es vordergründig um die Funktion von Bildern im wissenschaftlichen Diskurs, grundsätzlicher aber um den Begriff der Wissenschaftlichkeit selbst geht. Sie kann deshalb als komprimierte Form zweier sich voneinander abgrenzender „Mentalitäten“ (Vickers 1984) und in der Ablösung der einen durch die andere als Paradigmenwechsel (Kuhn 1977) innerhalb der Wissenschaftsgeschichte gelesen werden.
mehr als illustration: Visuelle Erkenntnis Bildeinsatz und Bildfunktion in den hermetischen Geheimwissenschaften
von Regula Fankhauser
Was der deutsche Astronom, Mathematiker und Mystiker dem englischen Hermetiker in der Folge vorwirft, ist schnell referiert: Fludd schreibe einen dunklen und verworrenen Stil, er mystifiziere mehr, als dass er erkläre, und er verwende insbesondere die Bilder in einer Art und Weise, die ihm, Kepler, als Mathematiker, fremd sei: während seine eigenen Diagramme „more mathematico“ zu verstehen seien, so diejenigen Fludds „more hieroglyphico“. Und während er in seinen Arbeiten sich unmittelbar auf die physikalische Wirklichkeit (der Planetenbahnen) beziehe, so fokus-
siere Fludd in seiner Epistemologie auf das Bild: „To him, the subject of World Harmony is his picture of world (conceptus suus Mundi); to me it is the universe itself or the real planetary movements.“ (Hervorhebungen R.F.). Nun ist es aber nicht etwa so, dass Kepler sich symbolischem und numerologischem Denken gegenüber völlig abstinent verhalten hätte. Symbolisches Denken durchwirkt auf einer eher unbewussten Ebene in Form eines trinitarischen Subtextes seine wissenschaftlichen Konzepte. Und auch explizit hat sich Kepler mit kabbalistischer Symbolik befasst – wertet das aber als Zeitvertreib und Spielerei. Alles in allem formuliert er also eine Position, die sich als naturwissenschaftliche im Verlaufe des 17.Jahrhunderts etablieren konnte und ausreichend bekannt sein dürfte. „More hierogylphico“ und „more mathematico“ werden in diesem Prozess als zwei konträre methodologische Vorgehensweisen auseinanderdividiert und aufgrund der historischen Entwicklung, die als wissenschaftliche Fortschrittsgläubigkeit bezeichnet werden könnte, hierarchisiert. Von hier aus ist es auch nicht verwunderlich, wenn einige Exponenten der Wissenschaftsgeschichtsschreibung den Moment dieses Auseinanderdriftens enthistorisieren und die beiden Methodologien zu unveränderlichen und einander grundsätzlich ausschliessenden „Mentalitäten“ umdefinieren. So ist für Brian Vickers der ausufernde Gebrauch der Analogie charakteristisches Merkmal magisch-hermetischer Denkmentalitäten und unvereinbar mit einer szientifischen Mentalität, die sämtliche metaphorischen Vorgehensweisen zu
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eliminieren versucht. Das Bildsetzen, wurde andererseits das verständnis der Hermetiker, wissenschaftliche Bild gemäss das Kepler als „more hieroglyeinem naturalistischen Fehlphico“ bezeichnet, wird in dieschluss lange Zeit als Abbild sem Zusammenhang zu einem missverstanden, ohne dass Sonderfall eines allgemeineren die medialen Bedingungen der Problems, an dem exemplarisch Bildproduktion reflektiert wordie konträren Methodologien den wären. Erst mit der modervon hermetisch-magischer und nen Bilderflut und den neuen rational-szientifischer Mentalibildgebenden Verfahren in den tät abgelesen werden können: Naturwissenschaften scheint dem Problem nämlich, wie sich die Frage, was denn nun die Sprache zu der Wirklichkeit, die Bilder, die die Hochglanzmasie beschreibt, verhält. Die Vergazine von Science bis Nature wechslung oder mangelnde Unfüllen, eigentlich genau zeigen, terscheidung zwischen Zeichen aktuell geworden zu sein. und Sache kennzeichnet dabei Mit der strikten Trennung die hermetische Position, die von Zeichen und Sache haben als semiologische, d.h. als in die neu entstehenden Natureinem Zeichenuniversum verwissenschaften des 17.Jahrhunankerte charakterisiert werden derts sich von einem vorwiskönnte (Foucault 1971). Das hersenschaftlichen, hermetischen metische Sprachverständnis Zeichenuniversum abgelöst tendiert gerade dazu, einen Zusamlogie nur noch in der Hypothesenbilund dabei einiges verloren. Verloren menhang zwischen Wörtern und Dindung eine gewisse Bedeutung. Bildlichging nicht nur ein qualitativer Zugang gen herzustellen und sprachmagisch symbolische Repräsentationen sind zu den Phänomenen der Natur und ein die Manipulation von Wörtern als Einzwar für Kepler nicht bedeutungslos; differenziertes Bewusstsein bezüglich wirkung auf die Dinge zu begreifen. Keplers Polyeder als Bild für Gottes der Rolle, die Zeichen für die menschDie analogische Denkweise, die liche Erkenntnisleistung spielen, Sprache und Realität voneinander sondern insbesondere die ReflexiDas hermetische Sprachverständabhängig begreift, stützt sich dabei on auf Formen und Funktionen der nis tendiert dazu, die Manipulati- Bildlichkeit. vor allem anderen auf die Bildlichkeit, die als Ähnlichkeit zwischen Aber: Was zeigen denn nun on von Wörtern als Einwirkung Zeichen und bezeichneter Sache hermetische Bilder? auf die Dinge zu begreifen. die beiden verschiedenen Ebenen miteinander überblendet. Zum Beispiel: Bilderschriften Es ist deshalb nicht weiter erarchetypische Ideen gehört zu den Bastaunlich, dass Fludd dem bildgesics der wissenschaftsgeschichtlichen Wenn Kepler auf den Begriff der benden Verfahren methodologisch Bildergalerie. Aber sie sind „more maHieroglyphe zurückgreift, um Fludds einen zentralen Stellenwert einräumt; thematico“ zu verstehen, d.h. sie sind Diagramme zu charakterisieren, so die Bilder in seinen Werken sind mehr nachträgliche Übersetzungen von entspricht dies dem Sprachgebrauch und anderes als Illustrationen. Sie sind etwas, was nur mathematisch angeder Zeit: Hieroglyphe bezeichnet im Visualisierungen eines Erkenntnispromessen formuliert werden kann. Daweiteren Sinne jede Art symbolischer zesses, der seinen Gegenstand im Momit sind sie von abegeleitetem und Codierung, hieroglyphisch zu sprement der pikturalen Darstellung erst sekundärem Status und weisen von chen bedeutet in diesem Zusammenentstehen lässt. Oder wie Fludd sich sich selber weg auf etwas prinzipiell hang, in übertragenem oder bildlichem ausdrückt: „The true philosophy ... Unanschauliches. Sinne zu sprechen. Hieroglyphe ist will diligently investigate heaven and Hier zeichnet sich der Verlust der hier also Synonym für Symbol. earth, and will sufficiently explore, exAnschaulichkeit ab, der die modernen Die Vorliebe für Bilderschriften amine and depict Man, who is unique, Naturwissenschaften zunehmend chaund Piktogramme entspricht dem seby means of pictures.“ rakterisieren sollte. Er geht Hand in miologischen Denken der Zeit und Demgegenüber spricht sich KeHand mit einem „naiven“, aber janusversucht, Schrift und Körper einanpler mit der Zurückweisung des more köpfigen Bild- und Sprachverständnis: der noch stärker anzunähern. In der hieroglyphico für eine Trennung von während einerseits das Ideal einer Signaturenlehre des Paracelsus wird Wort und Ding aus und vertritt eine eindeutigen und streng formalisierten jeder Sachverhalt als Zeichen lesbar, szientifische Position, in der Zeichen Sprache sich blind zeigte für die (notdas auf etwas verweist, das ihm – beiund Dinge als unabhängige Variablen wendigen) Metaphorisierungen, die spielsweise in der Gestalt – ähnlich verstanden werden. Hier hat die Anadie wissenschaftlichen Codes durchist. Dem Wuchern dieser natürlichen
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Schriftzeichen versucht PaDas hermetische racelsus‘ Sprachpraxis nachDiagramm zueifern, indem er in ständigen Neuschöpfungen und Werfen wir nun aber Metaphern diese sprachlich einen Blick auf Fludds Dianachzubilden sucht. Dies gramme. Was genau visuagilt auch für die in der Renailisieren sie? Und inwiefern ssance gepflegte Piktoralistehen sie für einen symbosierung der Schrift: Bilderallischen, oder eben „hieroglyphabete und Bilderschriften phischen“ Stil? (vgl. Abb. 01, S. 26) versuAls Beispiel soll das erschen, die Schriftzeichen den te der Genesis-Diagramme Signaturen anzugleichen dienen, die den ersten Teil und sie dadurch im Sein der des Buches über die MetaDinge zu verankern. Sowohl physik des schon zitierten in den Signaturen wie in Werkes »Utriusque cosmi den Piktogrammen verkörhistoria« illustrieren (Abb. 02, pert sich der Schriftsinn; s.27). das Piktogramm ist – im Abgebildet wird ein Unterschied zum litteralen schwarzes Quadrat, an desSchriftzeichen – nicht arbitsen vier Seiten je die Worte rär, d.h. auf Konventionen „et sic in infinitum“ angeberuhend.; die ikonische bracht sind. Es handelt sich Ähnlichkeit zwischen Zeium die Visualisierung des chen und Bedeutung natuNichts als Anfang und Ausralisiert das Schriftzeichen gangspunkt der Schöpfung. und metaphorisiert im GeDas Diagramm ist für seine genzug das Bild, das als Schrift nun der Interpretation in Gang bringen. Zeit spektakulär: würde man die Kopfmehr und anderes ist als simple AbbilDie metaphorisierende Rhetorik zeile der Buchseite, die hier mitabgedung eines Gegenstands. der Hermetiker dient also der Ausweidruckt ist, weglassen, so könnte es sich Die mythische Bedeutung, die tung und Öffnung der Bedeutungsproblemlos um ein Werk abstrakter den Hieroglyphen anhaftet, deckt sich gebung. Indem zwei unterschiedlich moderner Kunst handeln. Die Kopfzeimit der Erkenntnisleistung, die die le jedoch weist es als Veranschaulihermetisch-neuplatonische Phichung eines Begriffs in einem TrakDas Diagramm ist für seine losophie in ihnen zu entdecken tat aus – eben demjenigen von der Zeit spektakulär: würde man die Beschaffenheit des Nichts oder in vermag. Im Rückgriff auf Plotin vertritt Marsilio Ficino die Ansicht, Kopfzeile weglassen, könnte es der philosophischen Terminologie: dass die Hieroglyphen bei den alten der Privation. sich problemlos um ein Werk moÄgyptern eine Art gottähnlicher Auf die Schwierigkeit dieses Wesenserkenntnis ermöglichten, Begriffs nimmt auch der Text mit derner Kunst handeln. da sie den Begriff einer Sache dareinem kurzen begriffsgeschichtzustellen vermochten, und zwar lichen Abstecher Bezug. Im Rücknicht in diskursiver Form, sondern in organisierte Codes – hier der bildliche, griff auf Augustin und dessen Ausder simultanen Vollständigkeit eines da der schriftmässige – nebeneinander einandersetzung mit den Manichäern, Bildes. Die Auffassung, dass sich in gestellt werden, eröffnet sich ein neudie ein dualistisches Weltbild und dader Hieroglyphe Sachwissen über den er Deutungsspielraum. Bild und Schrift mit eine eigenständige Seinsweise des bildlich dargestellten Sachverhalt verlassen sich nicht ineinander übersetDunklen vertraten, rekapituliert Fludd dichte, setzt sich bis zu Erasmus fort, zen. Sie verweisen aber aufeinander die christlich-aristotelische Position, der für das Lesen und Verstehen der und transformieren sich so gegenseidie die Dunkelheit oder das Nichts als Hieroglyphen gründliche Kenntnisse tig. Im metaphorisierenden Spielraum Negation verstehen: als Abwesenheit der Eigenschaften der dargestellten wird nicht nur die Schrift naturalisiert, des Lichts oder Mangel an Form. Die Tiere, Pflanzen und Gegenstände vorsondern vor allem das Bild zum Träger begrifflichen Schwierigkeiten, die die aussetzt. eines Schriftsinns. Bestimmung eines absolut BestimDie Bilderschriften der RenaiNaturalisierung der Schrift – Memungslosen bieten, sind Teil der Phissance – so lässt sich zusammenfastaphorisierung des Bildes, auf diese losophiegeschichte und werden von sen – verdeutlichen auf exemplarische Formel liessen sich die verschiedensFludd in einem Nebensatz erwähnt. InWeise den Versuch, Zeichensysteme so ten „hieroglyphischen Techniken“ der teressant und für unseren Zusammeneinzusetzen, dass sie den Mechanismus Hermetik zurückführen. hang relevant ist die Konsequenz, die
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Fludd aus dieser statuierten Schwienehmbar, solange noch eine Spur von Das Emblem rigkeit zieht: „Sed si recte considereLicht vorhanden ist. Totale Finsternis tur tenebrarum significatio, illam lakappt auch die Wahrnehmung der Auch die Emblematik hat die spetius quam privationis vocabulum se Finsternis. zifische Erkenntnisleistung bildhafter extendere percipiemus.“ („Wenn wir Dass dieses schwarze Quadrat, Darstellung zu nutzen gewusst. In der aber die Bedeutung des Dunklen richdas im Übrigen die Strichführung frühneuzeitlichen, vorwiegend protig bedenken, so kann diese besser als und damit die Technik seiner Hersteltestantisch geprägten Buchproduktidurch das Wort „privatio“ (begriffen) lung deutlich erkennen lässt, für das on markieren emblematische Darsteldurch ein sich Ausdehnendes wahrNichts steht, ist unmittelbar evident; lungsformen, die sich der vielfältigen genommen werden.“) Was also bereits und doch kommen wir sofort in grosse Wechselbeziehungen von Wort und auf der sprachlichen Ebene entschieSchwierigkeiten, wenn wir erklären Bild bedienen, eine unübersehbare den wird – der Vorzug des bildlichmüssen, was wir nun genau sehen, Präsenz. konkreten Ausdrucks, „tenebrae“, vor wenn wir das Nichts als schwarzes Zur Diskussion steht ein Emblem dem abstrakt-begrifflichen, „privatio“ Quadrat sehen. Das schwarze Quadrat aus der »Atalanta fugiens« von Micha– enthält seine Entsprechung im Diaist ein Modell des Nichts, insofern es in el Maier (Abb. 03, S. 31), einem der begramm, das versucht, Finsternis als analoger Weise etwas zur Anschauung kanntesten alchemistischen EmblemMetapher für das Nichts zu visuabücher seiner Zeit. Die »Atalanta Vom sinnlosen Versuch, sich ein fugiens«, erschienen 1617 wiederlisieren. Doch was genau zeigt dieses Nichts vorzustellen, können um bei de Bry in Oppenheim, beDiagramm, wenn es das Nichts steht aus fünfzig Emblemen, gestoschon Kinder erzählen als schwarze Fläche, die man sich chen von Matthaeus Merian, mit in unendlicher Ausdehnung vorje einem erklärenden Textteil und zustellen hat, visualisiert? Das Diabringt, das Gegenstand der Reflexion in der ursprünglichen Fassung mit gramm –so die Antwort - versucht die sein kann, dem aber nie eine Anschaueinem musikalischen Fugensatz. In Negation der Sichtbarkeit sichtbar zu ung direkt korrespondieren kann. üblicher Dreiergliederung präsentiemachen. Der kreative und erkenntnisproren sich die Emblemata als Ensemble Ein paradoxes Unternehmen duzierende Aspekt der Modellbildung von zusammenfassender Inscriptio, – aber ein Unternehmen, das in der wird in Fludds Genesis-Diagrammen visualisierender Pictura und präziModellbildung nicht unbekannt ist. offensichtlich. Schritt für Schritt entsierender Subscriptio. Ihnen folgt ein Fludds Diagramm fungiert als Modell steht hier die Welt, wie es in der Bibel längerer diskursiver Haupttext, der - als Modell von etwas, das Inhalt phivorgesehen und beschrieben ist, Bild das vom Emblem eingeführte und losophischer Reflexion sein kann, dem für Bild lässt der Maler/Stecher Form verrätselte Thema aufnimmt, ausdie Philosophie aber begrifflich nicht aus der Materie entstehen. Und auch breitet und erweitert. Wichtig scheint Herr wird. Davon zeugen all die Anwenn sich Fludds Traktat in der Tramir zu betonen, dass die Stimmigkeit strengungen der Philosophiegeschichdition der Genesis-Kommentare situzwischen Emblem und diskursivem te, die den Begriff des „Nichts“ zu iert, so ist er doch mehr und anderes Haupttext oft nicht zu erzwingen ist; bestimmen versuchen, dabei jedoch als das. Die Prinzipien von Licht und noch können Emblem und Text als immer von etwas Gesetztem abstraDunkel, die sowohl für den göttlichen zwei verschiedene, aber in sich konhieren müssen. Ein Modell aber auch Schöpfungsakt wie für den künstlesistente Aussagen betrachtet werden. von etwas, das man sich nicht vorstelrischen Malakt konstitutiv sind, werVielmehr müssen die vielfältigen Verlen kann. Vom sinnlosen Versuch, sich den als kreativer Malprozess vor dem weisungsmöglichkeiten, die sich aus ein Nichts vorzustellen, können schon Leser/Betrachter entfaltet und fungieder Verschränkung von verbalem und Kinder erzählen. ren als Modell für die in der Genesis visuellem Code und aus dem IneinanEin Modell also – aber welchen beschriebene Entstehung der Welt. derspiel von Emblem und Verbaltext erkenntnistheoretischen Status hat Fludds Werk macht deutlich: Schöpfen ergeben, ins Auge gefasst und bedieses Modell? Man könnte sagen, heisst Sichtbarmachen. Von hier aus schrieben werden. dass es etwas ins Bild bringt, das sich wird der besondere erkenntnistheoDas Emblem, das hier näher beder Anschauung entzieht, aber anderetische Status der hermetischen Ditrachtet werden soll, präsentiert als rerseits nur als Anschauliches Gegenagramme verstehbar. Erkenntnis entBildthema die geometrische Konstrukstand des Nachdenkens werden kann. steht im Akt der Visualisierung und ist tion. Die Inscriptio formuliert lapidar, Unanschaulich, nicht weil versteckt ohne diesen nicht einlösbar. Das Bild wie die Utopie schlechthin, nämlich oder unter einer Oberfläche verborgen, ist nicht sekundäre Illustration einer der Stein der Weisen, zu realisieren sondern weil prinzipiell dem Sehen unabhängig von ihm gewonnenen Ersei. Rezeptartig fasst sie zusammen, und der Wahrnehmung nicht zugängkenntnis, sondern primäres Erkenntwas der Alchemist auf der Pictura vorlich. Denn auch wenn man statt des nismittel. Fludds Diagramme sind unführt, und stiftet den Zusammenhang abstrakten Begriffs des Nichts oder verzichtbare Elemente seines visuellen zwischen dem singulären Emblem der Privation den bildlichen der FinsWissenschaftsverständnisses. und dem übergreifenden Textganzen ternis wählt: Finsternis ist nur wahrder »Atalanta«, d.h. zwischen geomet-
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rischer Konstruktion und können. Ihnen entsprealchemistischem „Groschen die drei Prozessstusem Werk“. Die Subscriptio fen der formalen Auflödann wiederholt erst noch sung (die „Schwärzung“), einmal die Anweisung, der Sublimatio oder Reium dann am Schluss das nigung (die „Weissung“) Rätsel mit dem Hinweis und der Fixatio oder Verauf die Pictura als Pointe festigung. Schliesslich der zu bringen: „Solt‘ dein Veräusserste Kreis, der die stand und Sinn auch alles letzte Transformationsgleich ergründen/ So seh‘ stufe versinnbildlichen die Mess-Kunst an/ darsoll, nämlich die Herstelinn ist es zu finden.“ Was lung der Quintessenz, des genau aber in der MessElixiers, des Steins der Kunst gefunden werden Weisen. soll, das bleibt offen – es Was aber sofort und ist das eigentliche Rätsel, noch vor jeder sorgfäldas die emblematische tigen Lesart augenscheinLektüre zu lösen hat. lich wird, ist die Tatsache, Sehen wir also die dass die Konstruktion Mess-Kunst, die auf der nicht aufgeht. Auf keinem Pictura dargestellt wird, anderen alchemistischen genauer an : Bild wird das Scheitern Die Konstruktion, die der Alchedukt, das schliesslich den alchemistides grossartigen Projekts derart unmist vorführt, erinnert entfernt an schen Prozess krönt und abschliesst, missverständlich und anschaulich all die vielen Proportionsbilder in der das in der Natur Angelegte vollendet dargestellt. Bildkompositorisch wird Tradition des Vitruvmanns, die die und den Alchemisten/Menschen von der Zwischenraum zwischen oberer alchemistische Bildproduktion kennden Schlacken seines Menschseins Ecke des Dreiecks und dem Punkt, zeichnen. Auch hier nämlich haben reinigt und erlöst. wo der Zirkel auf dem äusseren Kreis wir ein Quadrat und einen Kreis, aufruht, d.h. also der klaffende in die zwei menschliche Figuren Zwischenraum, in dem sich das Der Alchemist, der hier als Geomeeingeschrieben sind. Die ganze Scheitern zeigt, zum Zentrum des ter agiert, versucht als zweiter ganzen Bildes. Dies ist umso erKonstruktion versinnbildlicht das alchemistische Werk, sein hochgeGott den Schöpfungsakt zu wie- staunlicher, wenn man diese embsetztes Ziel wie – und dies ist nur lematische Darstellung mit den derholen. in der Pictura lesbar - das Verfehvitruvianschen Proportionsbildern len dieses Ziels. Die Quadratur des vergleicht, die sonst die alchemisZirkels – höchstes Desiderat alchemisDie geometrische Konstruktion tische Bilderwelt schmücken: die hier tischen Strebens - misslingt. nun versinnbildlicht die verschiedenen dargestellte Konstruktion zentriert Der Alchemist, der hier als GePrinzipien des alchemistischen Werks: nicht den Menschen, der in die geoometer agiert, versucht als zweiter zuinnerst die Dualität mit Mann und metrischen Formen eingelassen ist, Gott den Schöpfungsakt zu wiederFrau, die im sie umgebenden Kreis in sondern rückt die Lücke in der Konsholen. Unterstrichen wird damit das die Einheit überführt wird – alchemistruktion in den Vordergrund. Der ProSchöpferisch-Konstruktive des alchetische coincidentia oppositorum, die portionsmann wird hier nur zitiert, mistischen Laborierens, das selbsttäoft als Androgynität allegorisiert wird. um auf sein Gegenteil zu verweisen. tige Hervorbringen von etwas Neuem, Quadrat und Dreieck alsdann stehen Die Disproportionalität ist augenfällig. nie Dagewesenem. Dieses Neue kann für die zwei Eckpfeiler alchemistischer Der Zirkel nämlich ist zu gross für den sich in unterschiedlichen Phantasien Theorie, die wiederum mit ProzessstuMenschen – sein Unternehmen ist desausprägen: in seinen bescheideneren fen analogisiert werden. Das Quadrat halb von Vornherein zum Scheitern Formen ist es ein Heilmittel zur Berepräsentiert die aristotelischen vier verurteilt. Und der Kreis, der auf einer kämpfung verschiedener Krankheiten Elemente, in die – so die Erläuterung quadratischen Mauer aufgezeichnet oder ein Lösungsmittel zur Metallim Discursus – die gemischten und ist, passt schlecht in das Quadrat, seischeidung und -bestimmung. In sei„unreinen“ Stoffzusammensetzungen ne Position wirkt zufällig. Die Mauer nen anspruchsvolleren Varianten verwandelt werden müssen. Das Dreiist überdies in einem erbärmlichen dagegen tritt es als Lebenselixier auf, eck wiederum steht für die drei paraZustand; die Architektur, seit den italials Metalltransmutation oder gar als celsistischen Prinzipien Sal/Körper, enischen Renaissancekünstlern InbeHomunkulus. Allen Formen aber ist Sulphur/Geist und Mercurius/Seele, in griff konstruktiven Kunstwillens und gemeinsam, dass das künstliche Prodie die vier Elemente überführt werden Vorbild für Proportionalität, ist selbst
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vom Verfall gezeichnet, der Zeit Im Bild also wird auf einen Schlag nie verleugnet hat. Auch in dieser unterworfen. Hinsicht kann es als vor-wissensichtbar, was im Verbaltext nur Die Tatsache, dass in diesem schaftliches bezeichnet werden. umständlich als These entwickelt Zu einem sogenannt wissenschaftEmblem die Geometrie als Bildthema bemüht wird, ist signifikativ. lichen Denken gehört spätestens wird. Der Zweifel, den das Bild festhält, seit dem 19.Jhd. eine klare Auseintrifft nicht nur das alchemistische einen Algorhythmus erinnert, so inanderdifferenzierung von Kunst und Opus, sondern ebenso die Sache, die szeniert der visuelle Text den Fehler, Wissenschaft. Ästhetische Kriterien hier als Zeichen zur Darstellung von der im algorhythmischen Vorgehen haben seither in der Wissenschaft etwas anderem eingesetzt wird: die selbst steckt: die Unangemessenheit nichts mehr zu suchen. Das Ideal einer Geometrie. Die Geometrie gilt seit Plades Vorgehens an den Gegenstand, der szientifischen Objektivität, das seiton als Königin der Wissenschaften; in der Alchemie als Erkenntnisgegennen Ausgangspunkt paradoxerweise sie ist eine Art Initiationswissenschaft stand fokussiert wird. in der Kunst der Renaissance, d.h. in – wer nichts davon versteht, der soll Im Bild also wird auf einen der Thematisierung von Perspektive jede wissenschaftliche Anstrengung Schlag sozusagen sichtbar, was im und Proportion hat, schliesst Kategosein lassen; dies jedenfalls legt die InVerbaltext umständlich und z.T. werien des Subjektiven wie Imagination schrift über der Türe zur platonischen nig stringent als These entwickelt und Bildhaftigkeit von sich aus und Akadamie dem Eintretenden nahe. wird: spricht sich letzterer gegen den definiert sich als eine Sphäre der ReDarauf nun nimmt wiederum der erPrimat der Geometrie und die theogeln, der Logik und der Berechenbarläuternde Discursus Bezug: dort findet retisch-konstruktive Methode aus, so keit. Aus dieser Perspektive erscheint sich nämlich eine explizite Kritik an visualisiert ersteres die Mess-Kunst die Bilderwelt der Alchemisten als der platonischen Anamnesistheorie als fehlgeschlagenes Projekt. Nur als Ausdruck eines vorwissenschaftund am programmatischen Dialog Bildanschauliches wird es möglich, lichen, gewissermassen „primitiven“ „Menon“, welcher für den Beweis, dass die Gleichzeitigkeit von Konstruieren Denkens, das bestenfalls für die Kuldie Seele im Besitz präexistenter Ideen und Verfehlen in Szene zu setzen und turwissenschaften von Interesse sein ist, an die sie sich nur zu erinnern evident zu machen. dürfte. braucht, ein Beispiel aus der Geometrie Durch den verbalen Text wird Dass diese strenge Grenzziehung benutzt. Die Kritik trifft so nicht nur diese Bedeutung vorerst in einem zwischen einem rational-objektiven die Anamnesistheorie, sondern auch konkreten KommunikationszusamWissensbereich und einem ästheden Primat, der in der platonischen menhang verankert: die Konstruktion tisch-subjektiven Imaginationsbereich Erkenntnistheorie der Geometrie zusteht für eine bestimmte Methodoloso nicht haltbar ist, rückt zunehmend gewiesen wird. Diesem antwortet der gie, auf die sich die Alchemie immer ins Bewusstsein einer zumeist interAlchemist mit dem Primat der Physik, wieder abgestützt hat und die hier disziplinär ausgerichteten Wissend.h. einer an der Materie sich orientiekritisiert wird. Als fehlgeschlagene schaftsgeschichte, die die „Piktoralirenden, (al-)chemischen VorgehensKonstruktion steht sie überdies für sierung“ der Natur in den modernen weise, die die geometrischen Formen das alchemistische Projekt als Ganzes Naturwissenschaften und die Art und nur als Repräsentationsmodus für und formuliert einen latenten ZweiWeise, wie epistemische Stile in Bilder stoffliche Vorgänge betrachtet. fel, in den das Phantasma des Grossen Eingang finden und damit kommuniDie Zeitlosigkeit abstrakter, geoWerks immer wieder umkippt. Nur ziert werden, ins Auge fasst. metrischer Formen steht seit Platon für durch die Pictura jedoch wird eine Diese jüngste Hinwendung zum die Nobilität theoretischer Erkenntnis; noch grundsätzlichere Ebene ins Spiel Bild könnte in den Hermetikern der die Sicherheit, die methodologisch gebracht. Sie macht nämlich eine Ausfrühen Neuzeit eine interessante Aldurch ein streng deduktives Fortsage über das Verfahren der Bildgeternative zur Bildvergessenheit, verschreiten gewährleistet ist, führt unter bung selbst. Oder anders: nur im Bild standen als Ignoranz gegenüber Status Rationalisten der Epoche zur Übernahwird die Gleichursprünglichkeit von und Wirkungsweise von Bildern in der me des „more geometrico“. Die Geo„Bilden“ und „Verfehlen“ sichtbar. Nur mechanistischen Wissenschaftstradimetrie kennt kein Ungefähres. Entweim Bild wird die irreduzible Differenz tion, finden. Die hermetische Fokusder stimmt die Konstruktion oder sie von Wirklichkeit und Bild, das wir uns sierung auf das Bild, die bereits Kepstimmt nicht. Erkennbar allerdings von ihr machen, fassbar. Genauer: in ler aufgefallen ist und von der er sich wird dies in der Anschauung. Dieses der Lücke, die das Bild zu seinem Zenabgegrenzt hat, gibt Zusammenhänge Faktum weiss die Figura des Emblems trum macht. zwischen ästhetischen und wissenzu nutzen. Die Evidenz, die von dieschaftlichen Kriterien frei, die lange sem misslungenen Meisterstück ausVorläufige Thesen Zeit gar nicht erkannt werden konngeht, spricht für sich und steht aussaten, weil sie tabuisiert wurden. genlogisch in krassem Widerspruch Das hermetische Denken, und zu dem verbalen Emblemtext, der die speziell dessen alchemistische AusFigur einrahmt. Suggeriert der Verbalprägung, ist ein Bilder-Denken, das text ein operatives Vorgehen, das an seine Affinität zu Kunst und Ästhetik
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Dieser Artikel ist erstmals erschienen in: Fankhauser, Regula (2007): Visuelle Erkenntnis. Zum
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Abbildungen Abb. 01 (s.26): Colonna, Francesco: „Hypnerotomachia Poliphili“. Riproduzione ridotta dell’edizione aldina del 1499, tomo primo, Milano 1998: 41.
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Abb. 02 (s.27): Fludd, a.a.O.: 26. Abb. 03 (s.29): Maier, a.a.O.: 61.
Rolf Dibbert 0221 – 14 42 019
Kuhn, Thomas S.: „Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte“. Frankfurt/M. 1977.
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It‘s automatic „Die Hand bewegt sich, als würde sie von einer fremden Kraft geführt, und die Formen schreiben sich auf das Papier nieder, ohne dass der Ausführende willentlich interveniert.“ (Rogues de Fursac: Les écrits et les dessins dans les maladies mentales et nerveuses/ Die Schriften und die Zeichnungen von Nerven- und Geisteskranken, 1905) von Pia Daute und Tanja Rommelfanger
Eine Freundin ruft an. Während sie detailliert die Erlebnisse der letzten Kurzreise schildert, beginne ich gedankenverloren mit einem Kugelschreiber kleine Figuren, riesige Augen und Münder und geometrische Formen, wild aneinander gefügt, auf einen herumliegenden Zettel zu kritzeln – wie immer, wenn ich telefoniere. Ich überlasse meine Hand den unbewussten Impulsen, die sie in bildhafte Zeichen übersetzt. Ungerichtet laufen sie über das Papier, mal offener zur einen, mal dichter zur anderen Ecke hin. „ [… W]eil der Sprache das Bild fehlt, weil Körper und Hand danach verlangen, sich am Ausdruck zu beteiligen, weil [ich mich] ablenken will, weil [ich mir] unbewusst selbst Mitteilungen schreib[e] über Ebenen des Gesprächs, die jedenfalls nicht hörbar sind“ . Dabei geht es aber weniger um Kompensation, als vielmehr um einen „kreativen Akt der Verselbstständigung“ , um beiläufiges, gedankenverlorenes Zeichnen ohne zweckgerichteten Zusammenhang. Das Ergebnis meiner Telefonkritzeleien, die ja meist aus unbestimmbaren Grundfiguren entstanden sind, bleibt vieldeutig. Die Zeichnungen sind weniger Metaphern für etwas, als vielmehr selbstreflexiv, Romain, Lothar: Rufen Sie doch mal an: Ich
möchte zeichnen! http://www.hanneskater.de/ pagetext/zeichnen/zeichnen_romain.php3#top. Ebd.
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sie erzählen ihre eigenen Geschichten. Einem »objet trouvé«, einem gefundenen Objekt vergleichbar, entstehen so während des Telefonierens »dessins trouvées«. Wo automatisch gefunden wird, ist eine Vorstellung von dem zu Findenden nicht nur entbehrlich, sondern sogar hinderlich. Schon die Absicht zu finden bedeutet einen unzulässigen Eingriff und läßt erkennen, dass eine erfolgreiche Anwendung nur unter besonderen Umständen gelingen kann. Wie eben beim Telefonieren, wenn geteilte Aufmerksamkeit den kontrollierenden Verstand zeitweilig abzieht. Der französische Künstler André Masson (1896-1987) bezeichnete diese, der rationalen Kontrolle entzogene Methode, als »automatisches Zeichnen«, mit der er ab 1923 experimentierte. Die Ergebnisse zeigen meist ein labyrinthisches Gewirr aus angedeuteten konkreten Formen und abstrakten Linien, wie auf der »dessins automatique« von 1925 (Abb. 01) Hier fällt der Blick auf eine deformierte Hand in der Mitte des Blattes, einen leichten Schauder hinterlassend, dort verliert er sich im Chaos der Linien. Orientierungslos fegt das Auge über ein Konglomerat von Linien, über kantige leere Flächen und gerundete geschlossene kleinere Formen, auf der Suche nach Erkennbarem, nach Zusammenhängen. Findet es ihm bekannte Figurationen, löst
es sich sogleich wieder, um weiter die Spuren zu lesen, die Masson auf dem Blatt hinterlassen hat: Neben Händen tauchen Füße aus dem Liniengefüge auf, ein männliches Glied, eine weibliche Brust – von schraffierten Feldern hervorgehoben. Es scheint beinahe so, als ob die Linien auf dem Blatt den sinnlichen Wünschen und dem Begehren des Zeichners Ausdruck verleihen. Hier und da ähnelt eine Linie aber auch einem Schriftzug. Die locker geführte Feder des Zeichners webt ein Netz von skurrilen Formen, ein wildes Neben- und Ineinander, obwohl horizontale Linien die diagonal fließende Zeichnung zu stabilisieren versuchen. Massons offene Linien gleiten von figürlichen Details und bizarren erotischen Gebilden immer wieder ins Abstrakte, so dass der Betrachter mit einer verstörenden „Zwischengegenständlichkeit“ konfrontiert wird. Die Zeichnung changiert geradezu zwischen Zweidimensionalität und angedeuteter Tiefenillusion. Sie ist ein Vexierbild, dessen Mehrdeutigkeit zugleich irritiert und fasziniert. Dessen Widersprüchlichkeit die Vorstellungskraft herausfordert und frei flottierende Assoziationsketten auslöst. Aus dessen ambivalenter Verschmelzung Spies, Werner: Die Welt ist niemals abge-
schlossen, in: Ausstellungskatalog, Museum Würth (Hrg.): André Masson. Eine Mythologie der Natur. Künzelsau 2004, S. 14.
Abb. 01: »Dessin automatique« (Automatische Zeichnung), 1925. Tinte auf Papier; 31 x 42 cm.
von Groteske und Grusel, von Humor und Horror eine Spannung hervorgeht, die letztlich nicht aufgelöst wird, den Betrachter mit einem Gefühl von Unergründlichkeit und dem Wunsch nach Entzifferung der Bildspur zurücklassend. Zeichnete Masson wirklich ohne Vorstellung? Bewegte sich seine Hand tatsächlich so frei über das Blatt, wie er behauptete? Dann waren der Zeichenakt und dessen Ergebnis für ihn ebenfalls unvorhersehbar und bedeuteten auch für ihn ein Moment der Ungewissheit. Das automatische Zeichnen begann der Künstler im Zentrum des Zeichenblattes; dann dehnte sich die Abbildung in Richtung der Ränder aus. Vereinzelt enden daher offene Linien unvermittelt am Blattrand und suggerieren Ausschnitthaftigkeit und Fortsetzbarkeit. Manchmal musste Masson sogar zusätzlich ein Stück Papier ankleben, um seinen Impulsen
genügend Raum zu schaffen. Außerdem konnte die Zeichnung so über den Rand des Blattes hinaus wachsen. Den passiven und rezeptiven, tranceartigen und traumverwandten Zustand, in den man sich während des „automatischen“ Zeichnens hineinversetzte, beschrieb Masson selbst als <Leere>. Damit meinte er ein Entleertsein auf rationaler Ebene, um so offen für aus dem Innersten an die Oberfläche dringende Bilder sein zu können. Massons »dessins automatiques« sind visuelle Umsetzungen des von den Surrealisten erprobten schriftlichen Automatismus (»écriture automatique«). Bei dessen Ausübung es in Übereinstimmung mit der von André Breton Vgl. Reifenscheid, Beate: Modernität und
Abstraktion im malerischen Werk André Massons, in: Ausstellungskatalog, dies. (Hrsg.): André Masson: Rebell des Surrealismus. Bielefeld 1998, S. 23.
(1896-1966), selbsternannter „Leiter“ und Theoretiker der Bewegung, im »Ersten Surrealistischen Manifest« (1924) verfassten Definition, ebenfalls auf spontanes, unvermitteltes Vorgehen ankam: „Def. SURREALISMUS, Subst., m. – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. DenkDiktate ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ Nach der Veröffentlichung des Manifestes wurden vornehmlich künstlerische Techniken angewandt, die analog dem Konzept der »écriture automatique« ablaufen. Während der »écriture automatique« sollte die bewusste Kontrolle des Schreibprozesses zeitweise außer Breton, André: Erstes Manifest des Surrealis-
mus, in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus. Reinbek 1968, S. 26f.
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Kraft gesetzt werden, so dass gespeicherte Bilder und Vorstellungen das Geschriebene nicht mehr beeinflussen können. Geschwindigkeit spielte dabei eine maßgebliche Rolle. Das „automatische“ Schreiben oder Zeichnen wurde strategisch angewandt, um ein „spontanes“ Ereignis auszulösen, zu dokumentieren und ästhetisch verwertbar zu machen. Anders als von Breton beabsichtig, war es tatsächlich eine halbautomatische und rationale Methode zur Aktivierung der Inspiration und wohl kaum ein „reiner“ Automatismus. Außerdem führte die automatische Bildpraxis entgegen Bretons Intention zu sich ähnelnden, sich wiederholenden Bildmustern. Wie jede künstlerische Avantgarde wollten auch die Surrealisten mit künstlerischen Traditionen brechen: „Wir waren alle von dem Wunsch besessen, über die plastische Integrität des Kubismus hinauszugelangen. Das unbeweglich auf dem kubistischen Tisch liegende Messer sollte endlich ergriffen werden. Ich erinnere mich, dass Miró damals zu mir sagte: ‚Ich werde ihre Gitarre zerbrechen‘.“ Die Bildorganisation von Massons automatischen Zeichnungen erinnert dennoch an die kubistischen Werke Picassos oder Braques. Hier und da entspringen dem unwillkürlichen Linienfluss Mas-
Vgl. Schneede, Uwe M.: Die Kunst des Surre-
alismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film. München 2006, S. 92. André Masson zit. nach: Spies, Werner: Der
Surrealismus. Kanon einer Bewegung. Köln 2003, S. 68.
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sons ähnlich gegenständliche Details wie die realistisch dargestellten Objekte im Facettengerüst analytisch kubistischer Darstellungen. Außerdem kannte Masson die künstlerischen Arbeiten Paul Klees (1879-1940). Klee bringt nicht mehr wie im Kubismus das Sinnhafte und Abstrakte durch die Flächenorganisation in Einklang miteinander, sondern er hält die Spannung zwischen beidem aufrecht und forciert sie sogar. Sein spielerischer Umgang mit der Linie, die traditionell Gegenstandskontur und konstruktive Fluchtlinie war, diente Masson als Anregung, wie auch Klees kindlich anmutende gegenständliche Kürzel. Die Linienführung Massons provoziert schließlich, ähnlich wie in Klees Werken, einen Eindruck von unbestimmtem Raum und Schwebezustand. Der Automatismus kam auch in den surrealistischen Spielen kreativ zum Einsatz, mit denen sich die französischen Künstler ab Mitte der 1920er Jahre beschäftigten. Das wohl älteste und prominenteste surrealistische Spiel ist das »Cadavre exquis« (Köstlicher Leichnam, Abb. 02). Das zeichnerische »Cadavre exquis« erfanden André Breton, Marcel Duchamp, Jacques Prévert und Yves Tanguy 1925 übrigens parallel zu dem gleichnamigen schriftlichen Spiel. In »La Révolution Surréaliste« Nr. 9, Oktober 1927 veröffentlichte die Gruppe kommentarlos die frühesten Beispiele von gezeichneten und geschriebenen »Cadavres exquis«. Das Prinzip ist einfach: Eine Zeichnung soll durch mehrere Personen und damit unterschiedliche Ein-
zelzeichnungen entstehen. Wichtig ist dabei, dass durch Faltung das jeweils vorhergehend Gezeichnete verdeckt wird. Lediglich die Linienansätze verraten dem anschließend Zeichnenden, wo er das Spiel fortsetzen kann. Wurde das Blatt horizontal geknickt, entstanden Figurenkompositionen, bei vertikaler Faltung aber Landschaften. Auf dem Prinzip der Montage basierend offenbarten sich im Medium der Zeichnung völlig neuartige Bildkombinationen und unvorhersehbare, vom Zufall gelenkte metamorphotische Darstellungen. Die Brüche in der Bildlogik, das Eröffnen von Zwischenräumen, sollten das Unbewusste bewusst machen und dem Zufall eine angemessene Bedeutung einräumen. Außerdem hatte das Spiel auch eine kollektive Dimension. Der gemeinsame Schaffensprozess löschte die individuelle Künstlerhandschrift. Damit entpuppte sich das Spiel als geeignete Methode, der surrealistischen Kritik am Künstlerdasein als geistigem Sonderstatus und der Forderung nach Emanzipation des künstlerischen Vermögens eines jeden Menschen Ausdruck zu verleihen. Schon vor dem Surrealismus gab es die Erkenntnis, dass im „reinen psychischen Automatismus“ und in Assoziationsformen wie dem Traum ein geeignetes Potential für neue Text- und Bildschöpfungen steckt. Das Konzept des Automatismus war historisch längst vorbereitet. Die Surrealisten übertrugen zwar den Begriff »Automatismus« erstmalig auf ein künstlerisches Prinzip, ursprünglich entstammt dieser aber medizinischen
und psychologischen Diskursen des 19. Jahrhunderts. Der französische Neurologe und Psychiater Jules Baillarger (1809-1849) verfasste 1845 eine »Theorie des Automatismus«. Wie von selbst ablaufende Aktivitäten während des Schlafes und in den traumverwandten Zuständen der Trance und Vision interessierten damals neben Medizinern und Traumforschern auch die breite Öffentlichkeit. Eine weitere und direkte Anregung bot die 1889 verfasste Dissertation »L‘Automatisme psychologique« des Psychiaters Pierre Janet, den Breton persönlich kannte. In dieser Zeit erfassten die französischen Künstler Grandville (18031847), Victor Hugo (1802-1885), Charles Meryon (1821-1868) und Odilon Redon (1840-1916) die Themen Traum und Vision auch bildlich mittels surrealer Strategien. Besonders auf dem Feld der Grafik agierten die Künstler äußerst experimentierfreudig mit einem extravaganten Technikrepertoire – die Zeichnung gilt schließlich als das Medium zur Bearbeitung der klassischen Künstlertopoi Traum und Phantasie. Als Versuchsfeld für ungewöhnliche Gestaltungsformen dient die Zeichnung schon seit der Renaissance. Indem Grandville „mit der Genauigkeit eines Stenographen“ (Charles Baudelaire) seine Motive assoziativ aneinander reiht, veranschaulicht er Traumbilder. Mit Feder oder Bleistift skizziert er Metamorphosen und stellt Verbindungen zwischen thematisch disparaten Objekten mit dennoch ähnlicher Form her. So verwandelt sich schon mal eine männliche Figur von einem Suppentopf in ein gehörntes Tier, eine Schere und einen Hasen (Abb. 03). Das rasante Tempo und die Dynamik der Traumsequenzen akzentuiert er mit Hilfe von unvermittelt hinzugefügten Schraffuren. Auch Victor Hugo geht assoziativ vor. Anders als Grandville aber spielt er mit dem kalkulierten Zufall (Abb. 04). Er lässt Tinte auf dem Papier verlaufen oder streut Salz auf die frische Farbe. Abgebrochene Federn und abgebrannte Streichhölzer dienen ihm als zeichnerische Hilfsmittel. Zudem macht er Papierabklatsche, die ideale Projektionsflächen für das Entdecken
von fantastischen Gestalten bieten. Hugos ungewöhnliches, assoziatives Vorgehen ähnelt André Massons künstlerischer Arbeitstechnik. Es ist also kein Zufall, dass Hugo als wichtiger Wegbereiter des Surrealismus gilt und dass André Masson von der Bewegung zu einer zentralen Figur stilisiert wurde: Der Mythos vom beinahe unbewussten, intuitiven, zufälligen Schaffen beider Künstler passte gut zu André Bretons Automatismus-Dogma. Das Medium Zeichnung hat seine traditionelle Funktion als Werkzeug zur Naturnachahmung unter anderem dank der Vorläufer des Surrealismus im 19. Jahrhundert erweitert. Wie die »automatische Zeichnung« oder das »Cadavre exquis« zeigen, hat sich die Zeichnung als autonomes künstlerisches Medium emanzipiert. Aktuell erfährt sie eine Renaissance, in der uns die bereits im Kontext des Surrealismus erprobten Spielarten wieder begegnen. Der 1968 in den Niederlanden geborene Mark Manders greift in seinen Bleistiftzeichnungen stilistische Elemente des Surrealismus und Dadaismus auf. Seine „Handgeburt“ »Still Life« etwa vereint ein Neugeborenes mit einem zerbrochenen Stuhl – eine ebenso merkwürdige und zufällige Begegnung wie die „einer Nähmaschine mit einem Regenschirm auf einem Seziertisch“ . Julie Mehretu, 1970 in Äthiopien geboren und heute in New York lebend, kombiniert in ihren Zeichnungen abstrakte und konkrete Motive miteinander. Dynamisch geradezu schwindelerregend, berauschend, verworren erinnern sie auch an die wilden Linienkonglomerate der »automatischen Zeichnungen« André Massons. Die meist schwarzen Linien verschiedener Länge und Stärke dominieren die Bildfläche und werden von farbigen, teils amorphen Bildelementen begleitet oder gar überlagert. Wie „Zeichenmaschinen“10 verarbei-
Heraeus, Stefanie: Traumvorstellung und Bildidee. Surreale Strategien in der französischen Graphik des 19. Jahrhunderts. Berlin 1998. Lautréamont: Chants Maldoror, 1869. 10 Adriano Pedrosa über Julie Mehretu, in:
ten ihre künstlerischen „Produkte“ zahlreiche Quellen und Zitate; ein breites Spektrum, das von Piet Mondrian, Wassily Kandinsky, Albrecht Dürer, Jackson Pollock über Stadtpläne wie auch Architekturmodelle von Le Corbusier oder Mies van der Rohe bis hin zu Computerdiagrammen reicht.11 Die aktuelle Neubewertung des Mediums Zeichnung findet sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene statt, genre- und medienübergreifend experimentieren zeitgenössische Künstler mit diesem. Schon bei Masson wuchs die Zeichnung über den Blattrand hinaus, gegenwärtig expandiert sie sogar vom Blatt auf die Wand, wird zum dreidimensionalen Bestandteil von Rauminstallationen oder kombiniert mit elektronischen Medien.
Abbildungen: S. 34: 02 (li): Zeichnung von André Masson, Max Ernst und Max Morise »Cadavre exquis«, März 1927. 03 (re): J. J. Grandville, »Folgen analoger Formen«, um 1847, 6,8 x 12,8 cm. Feder und braune Tinte. S. 35: 04: Victor Hugo »Der Traum«, undat. (Exilzeit), 27 x 17,3 cm. Feder, braune Tinte, laviert, frottierte Partien.
Vitamin Z. Neue Perspektiven in der Zeichnung. Berlin 2006, S. 196. 11 Mehr über die beiden Künstler: siehe Vitamin Z. Neue Perspektiven in der Zeichnung. Berlin 2006. Auch unsere Rezension auf S. 70.
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Die Welt zeichnen
Olivier Kuglers Reisezeichnungen sind in England und Amerika heiss begehrt von Richard Rabensaat
„Hip Hop is karaoke“ schießt es dem Journalisten durch den Kopf. Das ist seine Idee, damit will er reich werden – wie all die anderen, denen die Banken noch mit dem blödsinnigsten Businessplan Geld hinterher werfen. Singen für Millionen – im Internet, im Lifestream vor der Webcam. Die Idee muss er verkaufen. Heraus aus seiner versifften Bude mit einer Wohnzimmereinrichtung aus Sperrholz und vollgestapeltem Bürochaos. Hinein in die glitzernde Welt voll klimatisierter Konferenzsäle mit Deckenflutern und teuren Drehstühlen. Davon träumt der Schreiber. Er hockt noch immer in seiner Bude hinter dem aufgeklappten Laptop. Aber wie es dort im Jahr 2001 aus-
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gesehen hat, zeigt das Portfolio von Olivier Kugler. 12 Szenen, mit denen das New York Magazine die Geschichte vom Journalisten als Entrepeneur bebildert hat, zeichnete der Illustrator. Der Auftrag eröffnete dem DAAD Stipendiaten Kugler die Möglichkeit, ein weiteres Jahr in der amerikanischen Metropole zu verbringen. Nach einem Studium an der Freien Kunstschule Stuttgart und der Fachhochschule für Gestaltung in Pforzheim war Kugler zwar als Zeichner glänzend ausgebildet, aber auch ohne konkrete Job-Perspektive. Eine Reportage über die Reeperbahn, die er 1997 zum Diplom zeichnete, brachte ihm nicht die erhofften Aufträge. „Damit habe ich mir auf der Frankfurter Buch-
messe die Füße platt gelaufen. Aber die Reaktionen waren gleich Null“, erinnert sich Kugler. Heute veröffentlicht er regelmässig in englischen und amerikanischen Zeitungen und Magazinen. Da Deutschland ihm nicht gerade ein El Dorado für Zeichner zu sein schien, entschloss sich Kugler, erst einmal Erfahrungen in der weiten Welt zu sammeln. Er bewarb sich für ein Stipendium in den USA. Von Georgia/Athens gelangte er nach New York. Mit einem DAAD Stipendium schloss er dort ein Masters Studium ab, das es in Deutschland nicht gibt. Ein Lehrer riet ihm, sich bei Verlagen vorzustellen. Dem New York Magazine gefiel Kuglers Strich. Deshalb erhielt er den Auftrag für die Zeichnungen zur Ge-
Abbildungen: S. 38: Cuban Roadtrip. »On the road«, Kuba. Für The Guardian 2006 S. 39: »Who wants to be a millionaire?«, Manhattan, New York. Für New York Magazine, 2001.
schichte des Journalisten in den Wirren des Internethypes. Kuglers lakonischen, auf die wesentlichen Elemente reduzierten Zeichenstil, schätzen mittlerweile auch britische Blätter. The Guardian veröffentlichte »Kuglers Welt«, ein 20-blättriges Reisetagebuch, das die Impressionen des Deutschen zeigte. Die Fahrt führte ihn von England über Schottland, die Faröer-Inseln und Island schließlich nach Kuba. Mit Schiff, Fähre und Fahrrad bereiste er die Inseln. Unterwegs schoss er Fotos, aus denen dann später die veröffentlichten Zeichnungen entstanden. Für eine Serie, in der Kugler die Helden des Alltags portraitierte, erhielt er den zweiten Preis des »Victoria & Albert Illustration Award«.
„Zeichnungen sind in England generell beliebter als in Deutschland“ resümiert Kugler. In London arbeitet er gegenwärtig in einem Gemeinschaftsatelier. 15 Freiberufler, darunter Grafiker, Designer und Architekten, teilen sich die Miete. „Man bekommt einen Küchenkoller, wenn man die ganze Zeit am heimischen Tisch studiert“, hat Kugler festgestellt. Zudem seien die Mieten in London so hoch, dass es schon notwendig sei, sich die Kosten für ein größeres Büro zu teilen. Auch wenn in England die Arbeitsbedingungen besser seien als in Deutschland, habe sich aber in London noch keine speziell deutsche Zeichnerszene gebildet, sagt Kugler.
Über Auftragsmangel kann er derzeit nicht klagen, seine Reisezeichnungen sind beliebt. Sein markanter Stil zeigt einen Blick auf die Welt, der aufgeschlossen ist für skurrile Details und mit wachem Auge die Besonderheiten von Milieus und Persönlichkeiten erfasst. „Follow me, beautiful stranger“ blöckt ein Faröer Schaf – und man folgt ihm gerne.
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Diese Seite: Sequenz von Zeichnungen aus »Herrn Hommer‘s Garten«, 2005. Hochzeitsgeschenk. Simmozheim, am Rande des Schwarzwaldes. »Skull«, Tätowierer. Lower Eastside in Manhattan. Studienprojekt, 2002. Illustration für Reader‘s Digest für einen Artikel über die Mafia. Palermo, Sizilien, 2003. Gegenüberliegende Seite: »Mr. Ren‘s Bicycle Repair Shop« Shanghai, China für The Guardian, 2004. »Das Postschiff „Masin“« Hvannasund, Faröer Inseln für The Guardian, 2006. »Alter Mann, betrunken«. Mile End, East London, 2004. Freie Arbeit.
:: Der mensch als Ruine: Natalie Huths verstörende restebilder von Andreas Rauth
Eine Frau fährt Rad ohne Rad. Hinter ihr auf keinem Gepäckträger sitzt ein Kind. Dort, wo normalerweise die Hände die Lenkstange greifen, ist diese durch ein Seil ersetzt, an dem Frau und Kind sich halten, ohne dass dieses Halt gäbe. Das Fehlen des ge-
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wohnten Gegenstandes lenkt zunächst die Aufmerksamkeit auf die Haltung der Rad fahrenden Person und könnte so auch in einer Anleitung zum richtigen Gebrauch eines Fahrrades abgebildet sein. Mit dem funktionslosen Seil bekommt die Situation etwas ab-
surd Komisches, ja Tragisches. Ein Mensch in der Fortbewegung, seines Fortbewegungsmittels beraubt ist ein Mensch im Stillstand. „Erstarrt, wie in einem unheimlichen bewußtseinslosen Zustand gefangen“, erklärt dazu die 1975 in Zell a.d. Mosel gebo-
rene Künstlerin. Natalie Huths Zyklus »Les fantômes de …« erzählt vom Verlust. Den dargestellten Figuren fehlen nicht nur die Objekte ihres Handelns. Es fehlt ihnen auch der Ort, sie sitzen und stehen ohne Grund. Auch die Körper selbst sind unvollständig: zur Hülle entleert fehlen ihnen häufig ganze Gliedmaßen, manchmal sogar der Kopf; den Gesichtern Augen und Nasen. Die Konturen kratzt und ritzt Huth mit der Feder in die weiße Ölkreideschicht der Unterlage und überzieht das Bild anschließend mit einer Leimschicht, die „die rote Farbe aus den Ritzen hervorbluten läßt“. Aus der verletzten Schicht treten klaffende Wunden, Flecke und Risse hervor. Hier verbindet sich der Verlust mit dem Schmerz und der Zeit. Nicht nur dass die Linien auch an rostiges Metall erinnern, die Vorlagen zu ihren Arbeiten findet die Künstlerin in alten Fotografien und selbst in der Reduktion läßt sich noch erkennen, dass die Abgebildeten nicht der Gegenwart entstammen. Vergänglichkeit, Verlust und Schmerz sind nicht nur Grundbedingungen menschlicher Existenz, sondern auch Quellen von Geschichten, Schicksalen, Geheimnissen. „Jedes Foto ist ein Geheimnis, aus dem einfachen Grund, da ich nicht weiß, wer die abgebildeten Personen sind.“ Vielleicht sind deshalb häufig die Münder geblieben. Dass sie erzählen können von dem Leid, noch sprechen können vom Verlust. Und von der Macht sogar, der Macht, selbst zu verletzen. „Ich habe ein tief sitzendes Bedürfnis, mich den verdrängten Themen wie Gewalt, Krankheit und Tod
zu stellen“. Das Wesen des Menschen interessiert sie, etwas allgemein Gültiges möchte sie herauslösen aus den Fotografien, den Menschen zeigen als „tragische Figur, vergeblich gegen die Sterblichkeit kämpfend.“ Für diese brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens (Vilém Flusser), so scheint es, bestraft er gerne seine Umwelt, Mensch oder Tier. Der Mensch ist beides, ein verletztes und verletzendes Wesen. Gefangen im Dilemma des Daseins halten die Figuren in der Bewegung inne, wenn sie nicht ohnehin nur still stehen, die Hände in den Schoß gelegt. Hier sind keine handelnden Personen versammelt. Die Tat als Ausdruck eines Glaubens an die Allmächtigkeit des Geistes und Umformung der Natur in dessen Sinne, wird in Frage gestellt durch die in leidender Stille aufplatzenden Konturen einer zum Tode verurteilten Kreatur, die sich selbst zuviel ist. Aus der Erkenntnis um die Vergeblichkeit der Tat appellieren die Arbeiten an unsere Fähigkeit zum Mitgefühl, worin auch gleichzeitig die Hoffnung auf ein Besseres auftaucht. Wie in einer der eindrucksvollsten Arbeiten »Frau Bär Mann« (Abb. linke Seite): Zwei Mediziner führen einen aufrecht stehenden Bär, der sich bei ihnen stützend untergehakt hat. Der mitleidigste Mensch, den Lessing den besten Menschen genannt hat, wird hier gefordert; wenn der Bär, der gar kein Bär ist, sondern ein Mensch in Bärengestalt, dessen Oberfläche! – es ist die einzige Figur, die nicht bloß Hülle ist, weil sie Natur ist und dann doch wie-
der Bär, in dessen Gestalt der Mensch sich selbst etwas antut – dessen Oberfläche eine einzige offene Wunde ist und an ein fehlgeschlagenes Gentechnik-Experiment denken läßt. Und die Hohepriester der Machbarkeit stehen genauso hilflos da, wie die Kreatur in ihren Armen. „Wollen wir nicht ein Leben in der Hölle führen, bleibt uns nur der Respekt vor Allem, was lebt“, sagt Natalie Huth, die von 1999 bis 2004 in Hamburg bei Anke Feuchtenberger Illustration studierte, sich aber bereits während des Studiums auf ihre eigenen Themen konzentrierte. Nach Vorgabe zu arbeiten ist ihre Sache nicht. Sie gibt der kompromisslosen Subjektivität des Ausdrucks den Vorzug gegenüber einer veranschaulichenden Illustration. Und was sollten Industrie und Medien, denen eine auf Hochglanz polierte Hülle alles und der Inhalt nichts bedeutet, mit diesen Schmerzensbildern, die sich einer öffentlichkeitswirksamen Ausbeutung von Emotionen verweigern, auch anfangen? An der HAW in Hamburg lernte sie Katharina Gschwendtner (Artikel ab S. 46) kennen, mit der sie exklusiv für »jitter« auf den folgenden Seiten eine Gemeinschaftsarbeit erstellt hat. Beide sind außerdem Mitglieder der Künstlerinnengruppe »Spring«, die in unregelmäßigen Abständen ihre Arbeiten in Magazinform unter selbigem Namen veröffentlicht. Alle Abbildungen: Natalie Huth, »Les fantômes de …«, 2006.
Ich habe ein tief sitzendes bedürnis, mich den verdrängten themen
gewalt,
krankheit
und Tod zu stellen.
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(1)* Ohne umständliche Vorbereitungen und ohne Vorkenntnisse ist man imstande, mit Schnelligkeit eine drastische Wirkung hervorzurufen. Die Vorführung ist sehr leicht und eine ideale Unterhaltung bei Abendtischen und Kaffeepausen. Das Emsiolux aus der Verpackung nehmen und über den Kopf ziehen, es schmiegt sich eng an den Körper, der Rumpf bleibt dabei beweglich.
Leicht vornüber und etwas nach allen Richtungen hin und her fallen bis es sich wie Gummi ziehen läßt. Das dient der Auflockerung und Massenzunahme. Aber unbedingt rechtzeitig stoppen bevor es sich zu einem weichen Brei umwandelt oder zu knorpelartiger Härte zusammenschrumpft und mumienartig eintrocknet.
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Das fortwährende Hin-und Herwerfen ist durchaus nicht leicht, gilt aber als die alleinseligmachende Methode. Indem es anschwillt, beginnt es sich anmutig zu wölben und entwickelt
sich zu einer lieblichen Form, die bei ihrer zarten und empfindlichen Beschaffenheit einer widerstandsfähigen Hülle bedarf.
Ein schützender Verschluß verhindert, dass es in Strahlen herausspritzt. Und es ist dringend anzuraten es nur auf einer festen Unterlage zu verwenden.
Zum Vorschein kommt ein vollendetes organisches Gebilde, das der natürlichen Form sehr nahe kommt.
Man denke sich auf der winzigen Senke die normalgroße Kurve eines Menschen.
* Text von der Redaktion gekürzt
Es kann sich blasenartig vorwölben und an der Außenfläche aufplatzen. Kolossale Schleimmengen, die tagelang fließen können, müssen mit Würde und Anmut getragen werden.
Das Spielzeug ist nicht zum a llg e m ei n e n Verkehr mit der Umgebung und der Außenwelt zugelassen, daher bitte nur bei schwacher Beleuchtung verwenden.
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:: Die idee des alltags: katharina gschwendtners wiederverzauberte welt von Andreas Rauth
Katharina Gschwendtner zeichnet hinter Glas ein sinnliches Gedankenspiel, inspiriert von Kirchenkunst, mittelalterliche Buchmalerei, Comic, Pop Art und Neuer Frankfurter Schule. Ihr geisterhafter Kosmos des Verschwindens und Entstehens wird von Kunst und Kommerz gleichermaßen geschätzt.
Ahoi! Wer in einer Küche lebt, muss schon mal in den Keller hinabsteigen um von dort Vorräte heraufzuholen. Oder auf den Speicher, um ein wichtiges, aber selten benötigtes Werkzeug zu besorgen. Was von solche Orten sonst noch so alles mitgebracht werden kann, weiß jeder, dessen Kindheit noch nicht hinterm Horizont verschwunden ist. „Die vergessenen Orte sind Batterien von Zeit und Geschichten. Im hintersten Winkel unseres Schuldachbodens fanden wir eine mumifizierte Katze, ein Highlight!“, erinnert sich Katharina Gschwendtner, Jahrgang 1970, Mittelstand. Gschwendtner zapft diese Batterien an, hebt die darin verborgene Rohmasse und knetet daraus einen Bilderkosmos der Gleichzeitigkeit. Sie hievt die Geschichten der Vergangenheit auf die Bühne der Gegenwart und segelt von dort in ein verlassenes Wolkenkuckucksheim. Daraus entsteht – und das ist das eigentlich Bemerkenswerte daran – eine Idee des Alltags. Das Leben als Bühne, die Bühne das Leben. Vielfigurige Szenen einer brüchigen sozio-kulturellen Ordnung. Ein Kasperletheater der Wiederauferstehung in elegant geschwungenen, an Runge und an den Jugendstil erinnernden Linien. Statt Religion ist heute der profane Alltag mit seinen Verrichtungen und zwischenmenschlichen Beziehungen Mittelpunkt der Gesellschaft. Und den erhebt die Zeichnerin zur Quelle transzendentaler Lebenserfahrung. Nichts ist hier, was es auf den ersten Blick scheint. Jeder Gegenstand scheint ein Eigenleben zu
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Abbildungen: S.46: »Abendbrot«, 2005, 41x30 cm. S. 47, v. o. n. u.: »WG-Küche«, 2006, 35x70 cm. »Sensorkeule«, 2006, 35x70 cm. »Der Seher«, 2006, 35x70 cm. S. 48, v. o. n. u.: Plakat für das Hotel St. Pauli, 2004 »Sitzgruppe Engel«, 2005, 100x70 cm. S. 49, v. o. n. u.: Plakat für das Hotel St. Pauli, 2004 »Familie«, 2005, 100x70 cm.
Der
alltag
als
geheimnis-
volles unkörperliches treiben. ein kasperletheater der wiederauferstehung in elegant geschwungenen linien. führen, beseelt von den Kräften der Erinnerung. Und manchmal tauchen die den Dingen innewohnenden Geister auch leibhaftig auf, wie in »Familie« oder »Sitzgruppe Engel« von 2005. Mal äußert sich das geheimnisvolle Treiben in kräftigen Farben, mal ganz zurückhaltend in zarten Tönen (Abb. diese Seite), jedoch immer ganz unkörperlich, wozu auch das ungerahmte Glas beiträgt. Ja überhaupt wird der Bildträger, der sich selbst zum Verschwinden bringt, zum Zeichen der Transzendenz: Eine durchlässige Membran, die die Trennung des inneren Bereichs der Kunst/des Geistes von dem äußeren Bereich der physischen Gegenstände aufhebt. Wie auch die wackligen Behausungen, die luftigen Zelte, hauchdünnen Baldachine, nach allen Seiten hin offen oder durchlässig sind. Lagerstätten aus Kissen, nur spärlich gegen die Aussenwelt geschützt, von Knochengerüsten oder gestapeltem Hausrat getragen, verleihen den Szenen etwas Provisorisches, Vorübergehendes. In einem Akt permanenter Grenzüberschreitung, dabei ihre Grenzen stets mit sich führend,
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treiben sie in einem gottverlassenen Universum immer auf der Schwelle zwischen Gestern und Morgen. Weder ist das Ziel, noch der Ausgangspunkt der Reise bekannt. „Das stabile Schiff hat nie existiert. Jede Generation muss sich erneut ihre provisorische Wertearchitektur selber zimmern,“ erklärt die Künstlerin. „Alltag“ heißt die Scholle von der „Insel der Seeligen“ auf dem die Moderne den Mittelstand ausgesetzt hat. Auf der man zusehen muß, wie man zurecht kommt. Mit den anderen, den gleichen, die mir so fremd sind, dass sie ich sein könnten. Da muß man sehen, dass die Scholle nicht kippt, oder entzwei bricht (nicht schon wieder), dass alle ihren Platz finden. Denn die Geschichte ist noch nicht zu Ende und es könnte sein, dass man einander noch braucht. Nicht, weil man so gesellig ist, schon gar nicht, weil ein gemeinsamer Glaube einen vereint, sondern weil man die Einsamkeit nicht erträgt (Flusser). Es geht nämlich durchaus nicht immer friedlich zu im Alltags-Welttheater der
Kathar ina Gschwendtner. Denn der unter dem Signum der Freiheit entstandene Zwang zur Selbstverwirklichung hat bei gleichzeitiger M ißacht ung des Einzelnen Egoismus, Gleic hg ü lt igkeit und auch Gewalt gefördert. Und es ist auch nicht der Alltag des „transzendental obdachlos“ (Lukács) gewordenen Menschen selbst, in dem Gschwendtner den roten Faden der Geschichte findet, sondern die ordnungslose Neuordnung dessen Repertoires. Die Figuren und Gegenstände sind, von den gelegentlichen Auftritten himmlischen Personals mal abgeseDer erzählerische Reichtum ihrer Ar- hen, allesamt dem Alltag beiten zeugt von einer grossen Lebens- ent nommen, durch lust, oder Lebenswut, wie sie es nennt aber Anordnung und man denkt an Pasolini‘s „verzweiund Herausfelte Hingabe ans Leben“. lösung aus ihrem zweckgebundenen Kontext einer poetischen Sphäre zugeordnet, aus der nicht der Alltag selbst, sondern gewissermaßen eine Idee des Alltäglichen, als dessen Transzendierung hervorgeht. Der erzählerische Reichtum ihrer Arbeiten zeugt von einer großen Lebenslust, oder Lebenswut, wie sie es nennt und man denkt an Pasolini‘s „verzweifelte Hingabe ans Leben“. Eine Wut, die den Wunsch zur Grenzüberschreitung in sich trägt und das Abseitige wie das Bekannte im Leben als auf-
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u n d niedergehende Phänomene im Strom einer elegant f ließenden P i z z at e i g - Urmasse zwischen Geburt und Wiedergeburt erfahrbar macht. Aus dieser L eb ensmasse formt sie, was immer ihr einfällt, oder auch gewünscht wird: „Innerhalb der freien Arbeiten erfinde ich Figuren oder Dinge, die sich manchmal gut für eine Auftragsarbeit nutzen lassen“. Dennoch fordern beide Arbeitsgebiete ganz unterschiedliche Strategien: „Die freien Arbeiten sind komplexer, meist größer und inhaltlich nicht
überschreitendes Mittel der Loslösung aus alltäglicher Bodenhaftung ist ja immer nur Ergebnis technischer Abläufe. Deren allzu irdische Herkunft wird bei jedem Tankstopp offenbar, wenn sich die ganze Poesie des Geschwindigkeitsrausches in natürliche Zahlen auflöst: km/h wird zu EUR/l. Weil die Bilder nicht zeigen was ist, sondern was möglich ist, eignen sie sich sogar besonders für die Wunscherfüllungsindustrie. Gottlob sieht man ihnen das nicht an.
Aus dieser Lebensmasse formt sie, was immer ihr einfällt, oder auch gewünscht wird
eindeutig. Der Dialog der Figuren ergibt innerhalb des Bildes einen empfindlichen BalanceAkt. Auftragsarbeiten dagegen müssen auf gute Reproduktionsfähigkeit und eindeutige Information angelegt sein. Meistens sind sie eine leichte und spaßige Angelegenheit.“ In der langen Liste ihrer Auftraggeber finden sich vorwiegend Zeitschriften – vom Fachmagazin für Mobilität, über Mode- und Lifestyle-Magazine, bis hin zum deutschen Zentralorgan für Popmusik, Spex und Die Zeit. Aber auch die Deutsche Grammophon nutzte ihre Fabulierlust für Poster und Messestand und zum 40-jährigen Jubiläum des Hotels St. Pauli entwarf sie eine Plakatserie, die das Geschäft mit der Lust als hohe Kunst zeigt (Abb. S. 48 u. 49 oben). Und es ist auch nur auf den ersten Blick verwunderlich, wenn ihre Zeichnungen in einem Automagazin auftauchen. Gschwendtner verleiht in ihren Darstellungen den Gefährten eine überirdische Leichtigkeit, die erahnen läßt, wie die Einlösung des Versprechens, das die Blechkisten immer geben aber nie halten, aussehen könnte. Geschwindigkeit als grenz-
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Hölzerne Linien SIlke schmidt schneidet refugien der wahrnehmung ins holz von Pia Daute
Agnes hört. Das schlicht bekleidete Mädchen steht mit aufgesetztem Kopfhörer neben einem Baum. Die Augen geschlossen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, gilt seine volle Aufmerksamkeit dem Klang. Dabei verleihen die Haltung der Figur, der Baum, die reduzierte Linie, die klare Bildaufteilung und nicht zuletzt der gleichmäßige pastellblaue Farbauftrag des Bildgrundes dem Bild eine konzentrierte Stille. Irritierend jedoch ist die Ausübung technisch verstärkten Hörens in der Natur. Umso mehr, da sich das
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Kopfhörerkabel übergangslos mit der Umrisslinie des Baums vereint. Agnes steht in direkter Verbindung mit dem Baum und hört, hört den Baum – wachsen? atmen? Geschichten erzählen? Absurde Momente wie dieser finden sich immer wieder in den künstlerischen Arbeiten von Silke Schmidt und geben Anlass für den zweiten Blick: „Meine Ideen entstehen aus persönlichen Naturerfahrungen, und in dem ich mich allgemein mit einer technisierten Umwelt auseinandersetze“, erklärt Silke Schmidt.
Hauptsächlich arbeitet die Künstlerin figürlich und geht dabei nach eigener Aussage oftmals vom Selbstportrait aus. Rein abbildend sind ihre Motive dabei nicht. In jede Arbeit spielt eine gewisse Rätselhaftigkeit, eine Widersinnigkeit mit hinein. Die dem Betrachter lebensgroß gegenüber stehenden Gestalten sind aus ihrem alltäglichen Kontext herausgenommen und auf wesentliche Sinneserfahrungen reduziert. So horchen sie in einen Baum hinein, spüren Gras unter ihren Füßen oder balancieren. Dennoch will sie mit
den betrachter zu einem elementaren sinnlichen erlebnis zurückführen ihren Arbeiten keine „Zurück-zur-Natur-Haltung“ propagieren: Die Figuren sind modern gekleidet, verwenden Kopfhörer und hören Stereo. So schafft sie neue, moderne Verbindungen zwischen Mensch und Natur. Sie möchte ihre Figuren und somit den Betrachter für einen kurzen Moment aus der Vielzahl der Sinneseindrücke herausheben, denen er im Alltag ausgeliefert ist, und zu einem elementaren sinnlichen Erlebnis zurückführen. Mit der monochromen Grundierung des Holzes verstärkte Silke Schmidt bislang die Reduziertheit des Dargestellten und letztlich die Lautlosigkeit der Szenen. In ihren jüngeren
Holzreliefs bricht sie mit farbigen Elementen die monochrome Fläche, nicht aber die Intimität der Darstellung. Bunte Vögel oder glänzend farbige Blasen eröffnen lediglich eine weitere Erzählebene in ihren Zeichnungen – oder genauer gesagt: Holzreliefs. Denn die Künstlerin schneidet ihre Motive mit dem Cutter in Sperrholzplatten. So entstehen Zeichnungen aus hölzernen Linien. Meist mehrteilig konzipiert, setzen sich die großformatigen Arbeiten aus Einzelplatten zusammen, die sie entweder direkt an die Wand schraubt oder auf ein Gerüst montiert, wie die bisher größte Arbeit »Reiterstandbild« (Abb. S. 52 unten mitte), deren neun Platten zusammengesetzt 330 x 264 cm
messen: „Hervorgegangen ist meine Arbeitstechnik aus dem Holzschnitt. Als die Motive für die Druckerpresse zu groß wurden, habe ich begonnen, die farbig eingewalzten Druckstöcke direkt an die Wand zu nageln“, erklärt Silke Schmidt, die nach einem Literaturstudium in Mainz und Edinburgh bei Prof. Dieter Hacker an der UdK Berlin Bildende Kunst studierte. Eine gewisse Nähe zur Literatur ist aber geblieben. Denn neben ihrer künstlerischen Arbeit ist sie u. a. für die Literaturzeitschrift Bella Triste und verschiedene Tageszeitungen als Illustratorin tätig.
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Abbildungen: S. 50: »Agnes hört«, 2001. Holzrelief, 9-teilig, 222 x 270 cm. S. 51: »Plattenspielerin«, 2004. Skizze für Holzrelief. Buntstiftzeichnung, digital bearbeitet, 19 x 23 cm. S. 52: »Baum«, 2006. Blei- und Buntstiftzeichnung, 29 x 21 cm. »Regen«, 2006. Holzrelief, 120 x 100 cm. »Reiterstandbild«, 2005. Holzrelief, 9teilig, 330 x 264 cm. »Storch«, 2006. Holzrelief, 200 x 135 cm. S. 53: Plakat für die Literaturzeitschrift Bella Triste. »Generation Praktikum«, für die Berliner Zeitung .
Fotos: Olle Fischer
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Uhrwerk Rotwild Trotz verschiedener Arbeitsgebiete ist Lars Henkels Stil immer erkennbar von Richard Rabensaat
In Nebelwelten schweben Baumstämme durch die Luft. Das uhrwerkfeine Innenleben amputierter Hirsche wird durch die gläserne Haut des Rotwildes sichtbar. Horizonte verschwimmen im Unbestimmten.
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Lars Henkel kreiert Traumlandschaften. Der Illustrator ist nicht nur einfach ein brillanter Zeichner. Der 33-jährige entwirft mit seinen Zeichnungen ein fantastisches Panorama, in dem alptraumhafte Kulissen sich mit wundersamen Geschichten von Raben und Flickenköniginnen verweben. Schwebende Gestalten mit offen liegenden Muskelsträngen begegnen sich mit spitzigen Zungen als wollten sie einander durchbohren. Die ziselierten Wesen mit gereckten Hälsen und verdrehten Körpern in Henkels
Zeichnungen erzählen melancholische Geschichten aus Märchenwelten. Aber sie taugen auch für die Gebrauchsgrafik, wie ein Trailer zeigt, den Henkel für die ARD entwarf. Auch Tageszeitungen und Magazine wurden auf den Illustrator aufmerksam. Mühelos wechselt Henkel zwischen den verschiedenen Genres. Webdesign, Film, Zeichnung und Entwürfe von TV-Trailern gehören zu seinem Arbeitsspektrum. Dass Henkel die verschiedenen Disziplinen souverän handhabt, ver-
Abbildungen: Seite 54 u. 55: »Blinde Waldminiatur«, 2005. Seite 56: »Orangebox: Illustrationen für Tag Nacht«, 2003. Seite 57: »Die Flickenkönigin«, Animationsfilm für Meret Becker, 2001.
dankt er einer Ausbildung, die ihn von einem Studium der visuellen Kommunikation an der Fachhochschule Aachen zu einem Postgraduiertenstudium an der Kunsthochschule für Medien in Köln führte. Gegenwärtig zeichnet er an einem Storyboard für einen Animationsfilm. Wichtig ist es ihm, sich nicht vollkommen von der Auftragsproduktion absorbieren zu lassen, denn: „Ich will auch meine eigenen Projekte verfolgen“. Mit großer Sorgfalt entwickelt er seine zwischen den Disziplinen
changierenden Szenarios. Die einmal geschaffenen Figuren lässt Henkel dabei nicht so schnell wieder fallen. So findet sich die Flickenkönigin sowohl in einem Animationsfilm, wie auch auf der Website von Meret Becker. „Im Endeffekt wird man für einen bestimmten Stil gebucht“, stellt Henkel fest. Es komme auf den Look an. Die ganz eigene Erscheinung ist sein Markenzeichen. Mechanistische Wesen agieren vor sparsamen Kulissen. Eine gedämpfte, oft auf ein mattes Beige reduzierte Farbigkeit macht
traumhafte Szenen schwer entzifferbar. Geflügelte Gestalten und Zwitterwesen aus Mensch, Tier und Automat bevölkern Zeichnungen und Filme. Entworfen mit spitzigem Strich verharren die Wesen in statuarischen Posen, sind aber immer als Schöpfungen Henkels erkennbar. Das Traumhafte, die ungewissen Welten, sich auflösende Welterklärungsmodelle - das alles erinnert an den Manierismus mit seinen Wunderwelten und Untergangsszenarios. Ist die Welt heute durch Terroranschläge
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und die dräuenden Klimakatastrophe den labyrinthische Bilderwelten und viel feingliedriger daher kommen. verunsichert, so sah sie sich auch daapokalyptische Höllenstürze, an die Aber weniger die Lust am Untermals, im 16 Jahrhundert, ErschütteHenkels heutige Szenarios erinnern. gang als vielmehr eine unbestimmte rungen ausgesetzt, Melancholie scheint die die Menschen der innere Antrieb Geflügelte Gestalten und Zwitterwesen aus Mensch, nicht verstanden. Mit des Zeichners zu sein. Tier und Automat bevölkern Zeichnungen und Filme. der Entdeckung ferDabei sind Bezüge zu ner Kontinente und Arbeiten von HR Giger, dem Bröckeln eines Floria Sigismondi oder Jahrhunderte alten Welt- GlaubensDie kleinköpfigen Pferde ParmigianniParkeHarrison erkennbar. Ähnlich gebäudes wankte der Boden, auf dem nos stehen Henkels Hirschen vielleicht der von Giger entworfenen Chimäre Gesellschaft und Kunst standen. Dieebenso nahe wie die durch die Lüfte Sil scheint sich das Figurenensemble se tiefe Verunsicherung drückte der trudelnden Körper Hendrick Goltzius, Henkels gelegentlich gegenseitig die Kunst ihren Stempel auf. Es entstanauch wenn Henkels Figuren unendlich vorschießenden spitzigen Gliedma-
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ßen in die Leiber rammen zu wollen. Wie bei ParkeHarrison kämpfen Protagonisten mit dem gestaltlosen Nichts und drohen in der vagen Landschaft zu verschwinden. Sigismondis düstere Figuren sind häufig nicht weniger bedroht als Henkels Tag- und Nachtwesen. Dabei zeichnet Henkel eine Szene zumeist nicht nur. Er entwirft Geschichten. Das Interesse an der Narration verbindet ihn mit Filmemachern wie Tim Burton oder den Lauenstein-Brüdern, die 1990 für ihren
Animationsfilm »Balance« den Oscar gewannen, oder Annette und Steffen Schäffler, die 2001 mit ihrem Film »Der Perückenmacher« für die begehrte Goldstatue nominiert wurden. Für seinen Animationsfilm »Die Flickenkönigin«, bei dem Henkel mit Meret Becker zusammen arbeitete, zeichnete ihn der Art Directors Club 2003 aus. Darin schwebt ein Zwitterwesen zwischen Mensch und Maschine durch eine Schnittmusterwelt. Sie kommt schließlich zur Flickenkönigin, die ihr
das Herz näht, in dem zahlreiche Lieben Wunden hinterlassen haben. Der auch hier konsequent durchgehaltene Stil Henkels würde sicher auch eine längere Geschichte als die des Kurzfilms tragen. Es ist zu hoffen, dass es dem Künstler gelingt, einmal Geld für eine längere Produktion aufzutreiben.
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:: Die Flächen und Linien sehen aus wie Eamesâ&#x20AC;&#x2DC; Plastic Armchair von 1948 aus glasfaserverstärktem Kunststoff auf Drahtgestell und die reduzierten menschlichen Gestalten erinnern an Le Corbusiers Modulor-Zeichnung. Dann glotzen aber ein paar Augen draus hervor, deren Herkunft ganz anderer Art ist: Klassisches Design von Bauhaus
Abbildungen, v. l. n. r.: Nonverbale Kommunikation, Traumforschung, Wieviel Kontrolle verträgt die Demokratie?
.ONVERBALE +OMMUNIKATION bis Verner Panton verbindet sich mit schwarzhumorigen Cartoon-Versatzstßcken. Heraus kommt eine plakative, leicht verständliche Bildsprache.
Tatsächlich liegen Frank Maiers Wurzeln im schwarzen Humor, und nach dem Grafik-Design Studium in Stuttgart arbeitete er zunächst als Cartoonist. Da er aber mit dem kontinuierlich absteigenden Niveau der Aufträge nicht mithalten wollte, verlegte er sich auf anspruchsvollere Themen. Sein besonderes Interesse gilt der Psychologie und Kommunikation. Die von den Designklassikern inspirierte
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4RAUMFORSCHUNG 7IE MAN 4RĂ&#x2039;UME FĂ R DAS ,EBEN NUTZEN KANN Formensprache eignet sich hervorragend, die oftmals komplexen Themen auf einfache Weise zu veranschaulichen. Maier sieht im pragmatischen Aspekt die grĂśĂ&#x;te Herausforderung: Eindeutigkeit und schnelle Erfassbarkeit der Bildaussage stehen im Vordergrund. Die Nähe zum Piktogramm ist deutlich erkennbar. Ihm geht es darum, Chiffren zu entwickeln, die von jedermann sofort verstanden werden kĂśnnen, keine Geheimzeichen mit verschlĂźsselter Botschaft. Schematische Bilder, die typische Merkmale, manchmal auch Ăźbertrieben, herausstellen, â&#x20AC;&#x17E;werden schneller und korrekter erkannt als andere Bildtypen. Deshalb finden sie auch in Piktogrammen Verwendung, die auf einen Blick einen Begriff oder eine Handlung aktivieren sollenâ&#x20AC;&#x153;, stellt Steffen-Peter Ballstaedt, Prof. fĂźr angewandte Kommunika-
Typisch: Frank Maier von Andreas Rauth
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tionswissenschaft fest (siehe dazu auch die Buchrezension »Bilder lesen Bilder erkennen« auf S. 68). Aber es gibt noch einen weiteren Grund für die Reduktion: In der Psychologie ist die Grenze zwischen charakterlicher Eigenart und medizinischem Krankheitsbild fließend. Häufig trennt lediglich der Grad der Intensität das Krankheitsbild von dem, was vielleicht als „Schrulle“ oder „Spleen“ gesellschaftlich noch akzeptiert wird. In der Reduktion, so Maier, vermeide man die Gefahr von Ausgrenzung und Herabwürdigung der Betroffenen. Die reduzierte Gestaltung neutralisiert und objektiviert und nimmt darin die Betroffenen ernst. Seine Vergangenheit als Cartoonzeichner kann er allerdings nicht ganz verbergen. Wozu auch, verleiht sie den Arbeiten doch eine angenehme emo-
tionale Leichtigkeit, die von den Auftraggebern geschätzt wird. Die entsprechende Technik dafür hat er in der Vektorgrafik gefunden. Früher, erklärt Maier, habe er die gleichen Arbeiten in Tusche ausgeführt, am Rechner sei dies aber schneller und genauer zu realisieren. Und auch zu korrigieren. Denn Ungenauigkeiten, die in einer spontanen Handzeichnung als Beleg für Authentizität gelten, daher keiner Korrektur bedürfen, wirken hier nur störend. Der Entstehungsprozess ist der Dynamik eines mathematisch berechneten Kurvenverlaufs untergeordnet: der Zeichner darf im Ergebnis nicht anders sichtbar sein als durch seinen glücklichen Einfall.
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::: Der Bleistift Die Geschichte des universellen Schreib- und Zeichengeräts Ist eng mit dem namen faber-castell verbunden
»Castell 9000«, Design: Alexander Graf von Faber-Castell, 1905.
„Ich wollte Dir noch erzählen von einer Sorte von Bleistiften von Faber, die ich gefunden habe. Sie sind von dieser Dicke, sehr weich und von besserer Qualität als die Zimmermannsstifte, eben ein famoses Schwarz und man arbeitet damit sehr angenehm bei grossen Studien. Ich habe eine Näherin damit gezeichnet auf grauem Papier ´sans fin` und erzielte eine Wirkung wie mit lithographischer Kreide. Diese Bleistifte sind in weiches Holz gefasst, von aussen dunkelgrün gefärbt und kosten 20 Cents per Stück.“ (Vincent van Gogh in einem Brief an den holländischen Künstler Anton van Rappard)
Verschlungene Geschichte Die Geschichte des Bleistifts ist lang und verschlungen. Doch etwas Wesentliches gleich vorweg: Mit Blei hatte der „Bleistift“ nie etwas zu tun. Zwar erwähnt Plinius der Ältere vor fast 2000 Jahren kleine, runde Scheibchen aus Blei – doch die werden, wie er notiert, nur zum Linieren verwendet, nicht aber zum Schreiben oder Zeichnen. Wenn in frühen Zeiten trotzdem von einer „bleifarbigen“ Masse die Rede ist, die sich „fettig anfühlt, die Finger färbt, einfacher zum Zeichnen ist als Tinte und Feder, und deren Striche sich leicht ausradieren lassen“, konnte es sich eigentlich stets nur um Graphit gehandelt haben, der Stoff, aus dem die Bleistiftminen tatsächlich sind – nachweislich seit 1565. Denn zu diesem Zeitpunkt entstehen in England die ersten Vorläufer der heutigen Bleistifte. Voraussetzung dafür ist die Entdeckung reichhaltiger Graphitgruben im Borrowdale-Tal des Cumberland-Gebirges. Man sägte das schwarze Material zu Stangen oder Stäbchen und legte es zwischen Holzteile – fertig
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waren die ersten einfachen Bleistifte. Ebenfalls aus dem Jahr 1565 stammt die erste, vom Schweizer Naturforscher und Mitbegründer der modernen zoologie Conrad Gesner (1516 – 1565) in seinem Werk »De omni rerum fossilium genere« verfasste Beschreibung eines Graphitschreibstiftes. Allerdings meint man in England immer noch, ein weiches „Bleierz“ gefunden zu haben. Erst 1789 weist der Chemiker Carl Wilhelm Scheele nach, dass das vermeintliche „Bleierz“ ein auf Kohlenstoff basierendes Mineral ist. 1791 führt der Mineraloge Abraham Gottlob Werner für die Substanz, die bis dahin als Bleiweiß oder Reißblei bezeichnet wurde, das Kunstwort »Graphit« – ab-
Graphit und Ton für Bleistiftminen
geleitet vom griechischen „graphein“ = schreiben, ein. Trotz dieser Entdeckung kann sich die Bezeichnung „Graphitstift“ nicht durchsetzen, der Volksmund spricht weiter von „Bleistift“. »Schwarzes Gold« Verschwenderisch wird der Graphit der englischen Cumberland-Grube ausgebeutet und lange Zeit in reiner Form nicht nur für die Produktion noch sehr einfacher Stifte, sondern im sogenannten Koalitionskrieg mit Frankreich seit 1793 auch zur Herstellung von Schmelztiegeln für Kanonenkugeln verwendet. Wegen der dadurch bedingten Verknappung der Graphitbestände verhängen die Engländer ein Ausfuhrverbot. Bei Übertretung droht angeblich sogar die Todesstrafe. Das »Schwarze Gold« ist selten und sein Wert steigt; schließlich werden bis zu 400 Francs pro Kilogramm gezahlt. Nach und nach aber verliert der englische Graphit ebenso an Qualität wie die Stifte, deren Grundmaterial er ist. Nur dank seiner Monopolstellung kann
Abbildungen v. o. n. u.: Graphitstift, 17. Jhdt.; Bleiweiß-Schneider, um 1700; Georg A. Froescheis, Sohn von Johannes Froescheis, 1848; Lothar von Faber, 1817 - 1896.
England selbst die minderwertigen Erzeugnisse noch zu hohen Preisen verkaufen. Um den Graphit zu strecken, werden Bindemittel wie Leim, Gummi, Tragant etc. beigemischt. Die ersten „Bleystefftmacher“ in Nürnberg Der „Bleystefft“, der eigentlich ein Graphitstift ist, taucht unter dieser Bezeichnung in Deutschland erstmals 1644 im Büchlein eines Artillerie-Offiziers auf. Wer aber sind die ersten Hersteller? Aus Nürnberg sind Namen wie Jäger und Jänicke bekannt, ab 1662 auch Friedrich Staedtler – dem allerdings ein Ratserlass das „Bleystefftmachen“ zunächst noch untersagt. Dagegen wird der am 7.2.1659 verstorbene Nürnberger Hannß Baumann im Ehebuch seines Sohnes bereits als „Bleystefftmacher“ bezeichnet. Demnach ist er der Erste, der in Nürnberg „Bleysteffte“ produziert hat. Der erste deutsche Qualitätsbleistift 1761 macht sich der Schreiner Caspar Faber in Stein vor den Toren Nürnbergs mit einer kleinen Bleistiftproduktion selbständig und legt damit den Grundstein für das heutige Unternehmen Faber-Castell. Entscheidend für das Aufblühen der Bleistiftindustrie in Deutschland wird die Gründung der Bleistift-Fabriken LYRA durch Johann Froescheis 1806, der Fabrik von Johann Sebastian Staedtler 1835 und schließlich durch den späteren Freiherrn und Reichsrat Lothar von Faber im 19. Jahrhundert. Er übernimmt 1839 in vierter Generation die kleine Fabrik A. W. Faber (-Castell). Daraufhin entwickelt sich der Nürnberger Raum in wenigen Jahrzehnten zum Zentrum der europäischen Bleistiftproduktion. Mit Lothar von Faber beginnen also der Ruhm und die weltweite Verbreitung
des universellen Schreibgeräts in seiner heutigen Form und Qualität. Durch sein revolutionäres Wirken, durch seine technischen und kaufmännischen Ideen wird er zum Schöpfer einer Bleistiftindustrie großen Stils. Zunächst ist diese Entwicklung nicht vorherzusehen, im Gegenteil: Die deutschen Bleistifthersteller stehen allgemein nicht gerade in hohem Ansehen. Es fehlt an Rohstoffen und es mangelt an Qualität, die Stifte dürfen nur anonym auf dem Markt erscheinen und die Abhängigkeit von den Händlern ist erdrückend. So gehen um das Jahr 1800 Produkte aus den Nürnberger Werkstätten, die nur das Aussehen von Bleistiften haben; in Wirklichkeit sind es Holzstäbchen, deren Enden mit Graphit gefüllt sind, um eine Mine vorzutäuschen. Die Bezeichnung »Nürnberger Tand« entwickelt sich allmählich zu einem Begriff für billige und minderwertige Erzeugnisse. Lothar von Faber dagegen setzt als erster deutscher Bleistiftfabrikant ganz auf Qualität. Studienreisen im Ausland haben ihn gelehrt, dass nur so der Erfolg möglich ist. 1862 wird er aufgrund seiner enormen wirtschaftlichen und sozialen Verdienste geadelt und später sogar zum Erblichen Reichsrat der Krone Bayerns ernannt. Erfolg durch neue Produktionsverfahren Das sogenannte Ton-Graphit-Verfahren, bei dem man Graphitstaub mit Ton und Wasser vermischt, wird 1790 von dem Wiener Joseph Hardtmuth entwickelt, der später das Unternehmen Koh-I-Noor gründete. Durch unterschiedlich hohe Beigaben von Ton lassen sich verschiedene Härtegrade erzielen. Die Weiterentwicklung des Verfahrens durch seinen Enkel Friedrich von Hardtmuth führt 1889 zur Produktion des »1500 Koh-i-noor« Grafitstiftes mit 17 Härtegraden
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Abbildungen: Fabrikräume A. W. Faber, um 1860, Plakat der LYRA-Bleistift-Fabrik um 1900.
Bedingt durch die englische Ausfuhrsperre entwickelt der Franzose Nicolas-Jacques Conté 1795 ebenfalls ein TonGraphit-Verfahren, das es zudem erlaubt auch unreines Graphit aus Deutschland und Österreich zu verwenden. Lothar von Faber sorgt ab 1839 für technische Verbesserungen in der Bleistiftproduktion und steigert so die Leistungsfähigkeit seiner Fabrik. Eine Wasserkraftanlage entsteht, das Sägen und Nuten der Hölzer wird mechanisiert, eine Dampfmaschine ermöglicht eine noch rationellere Fertigung. Der Weg zur modernen, industriellen Produktion ist frei. Hier verwirklicht sich ein unternehmerisches Denken, das die Erzeugnisse und ihre Vermarktung in allen Aspekten durchdringt. Lothar von Faber gilt nicht nur als Schöpfer des sechseckigen Bleistifts, sondern er legt für die Stifte auch Normen für Länge, Stärke und Härtegrade fest, die fast von allen Fabrikanten übernommen werden. »A.W. Faber« ist bereits Mitte des 19. Jahrhunderts das Synonym für Qualitätsstifte schlechthin. Auch bei Katalogen, Verpackungen, Preislisten etc., legt er größten Wert auf Qualität: „Meine Bleistiftetiketten ließ ich durch die besten Lithographen herstellen; sie gelten für die schönsten, die bis heute für Bleistifte zur Anwendung kamen. Ebenso ging ich bei der Gestaltung meiner Fakturen, Briefbögen, Tableau- und Preislisten voran ...“, notiert er in seinen Tagebüchern.
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Das Glück des Tüchtigen kann in Sibirien liegen Ein besonderer Glücksfall beflügelt den Erfolg des Nürnberger Unternehmens ganz erheblich: Im fernen Sibirien, nicht weit von Irkutsk nahe der mongolischen Grenze, erwirbt Lothar von Faber 1856 ein Bergwerk mit dem besten Graphit der damaligen Zeit (Abb. S. 63). Auf dem Rücken von Rentieren und über ungeheure Wegstrecken ohne die geringsten Andeutungen von Straßen wird das »Schwarze Gold« zunächst auf dem Landweg transportiert. Vom nächsten Hafen kann die Ware per Seeweg nach Stein weiter befördert werden. Da es zu dieser Zeit praktisch keinen englischen Graphit mehr gibt, hat Lothar von Faber für den weiteren wirtschaftlichen Erfolg nun einen zusätzlichen Trumpf in der Hand. Und er prägt diesem Erfolg sein Siegel auf, indem er die Qualitätsbleistifte ab 1837 mit dem Namen der Fabrik kennzeichnet – für die damalige Zeit etwas ganz Außergewöhnliches. Damit sind »A. W. Faber«-Stifte die ersten Markenschreibgeräte der Welt. Was seinen weltweiten Erfolg betrifft, so konstatiert Lothar von Faber rückblickend: „Mir war es von Anfang an nur darum zu tun, mich auf den ersten Platz emporzuschwingen, indem ich das Beste mache, was überhaupt in der Welt gemacht wird ...“. Als wiederum erster Bleistift-
fabrikant reist er mit Musterkoffern aus fein geschnitztem Holz durch Deutschland und ins Ausland. Dabei beansprucht er für seine Stifte angemessene Preise, wie sie sonst nur mit „englischen Sorten“ zu erzielen sind. Nürnberger Kaufleute, die deutsche Bleistiftqualität nicht gewohnt sind, fragen daraufhin, „ob Faber denn wohl Silber in seine Stifte mache“. Doch der junge Fabrikant mit den außergewöhnlichen Ideen lässt sich nicht beirren. Seine Stifte werden Mitte des Jahrhunderts zuerst im Ausland und dann auch im Inland zur begehrten Ware. Andere Nürnberger Bleistiftfabrikanten folgen seinem Beispiel. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstehen unter anderem bekannte Unternehmen wie Staedtler, Schwan oder Lyra. Zur Jahrhundertwende besitzt Nürnberg zirka 25 Bleistiftfabriken, die jährlich bis zu 250 Millionen Stifte mit einem Wert von 8,5 Millionen Mark herstellen – damals eine sehr hohe Summe. Allein A.W. Faber beschäftigt als größtes Unternehmen seiner Art zu dieser Zeit rund 1.000 Mitarbeiter. Die weltweite Führung in der Bleistiftproduktion geht damit vollends auf Deutschland über und konzentriert sich in und um Nürnberg. Frühzeitige Internationalität Lothar von Faber denkt frühzeitig über die deutschen Grenzen hin-
aus und beginnt ab 1849 mit der Internationalisierung seines Geschäfts. Zuerst gründet er eine Niederlassung in New York, um den aufblühenden amerikanischen Markt mit Stiften zu versorgen. Es folgen Handelshäuser in London, Paris, Wien und Sankt Petersburg. Die Handelsbeziehungen reichen schließlich bis zum Vorderen Orient, später sogar bis nach China. Damit setzt der Unternehmer Lothar von Faber mit Erfolg um, was ihm einst als junger Mann vorschwebte: „Schon während meiner beruflichen Studien in Paris sann ich darüber nach, welche Mittel ich zu ergreifen habe, um einstmals mit meinen Fabrikaten die ganze Welt zu beherrschen ...“. Auf Landesund Weltausstellungen erringen seine Stifte nun regelmäßig hohe Auszeichnungen. Wegbereiter des Markenschutzgesetzes Aufgrund ihres außerordentlichen Erfolgs wird die Marke »A.W. Faber« im In- und Ausland vielfach imi-
tiert. Um sie vor dem sich häufenden Namensdiebstahl zu schützen, reicht Lothar von Faber 1874 eine Petition zum Schutz des Markenartikels beim Deutschen Reichstag ein. 1875 tritt das Gesetz in Kraft. Damit ist Lothar von Faber der Wegbereiter eines einheitlichen Markenschutzgesetzes in Deutschland. Aus Faber wird Faber-Castell Als Lothar von Faber 1896 stirbt, erbt zunächst seine Frau das Unternehmen, danach seine älteste Enkelin Ottilie. 1898 heiratet Freiin Ottilie von Faber in eines der ältesten deutschen Grafengeschlechter ein und vermählt sich mit Alexander Graf zu Castell-Rüdenhausen. Auf Grund einer testamentarischen Verfügung Lothar von Fabers soll der Name »Faber« dem Unternehmen für alle Zeiten erhalten bleiben. So entsteht durch die Heirat das neue Grafengeschlecht Faber-Castell – das diese Bezeichnung auch auf das Unternehmen überträgt. Mit Graf Alexander übernimmt eine völlig andere Persön-
lichkeit die Unternehmensleitung. Obwohl der „Rittermeister a la Suite“ kein Bleistiftproduzent ist, gelingt ihm unter anderem mit der Einführung des grünen »Castell 9000« (Abb. S. 60) im Jahr 1905 ein außerordentlicher Erfolg. Der Bleistift zeichnet sich durch eine neue Qualität und Wertigkeit aus. Rasch entwickelt er sich zum absatzstärksten Produkt des Sortiments und ist noch heute der „Klassiker“ im Bleistiftmarkt. Mit über 1,8 Milliarden Blei- und Farbstiften pro Jahr ist Faber-Castell der weltweit bedeutendste Hersteller von holzgefassten Stiften. Graphit wird heute aber in Europa kaum noch abgebaut, die letzte Österreichische Mine schloß 1997, in Tschechien und der Ukraine wird noch unter Tage gefördert. Graphit kommt heute vor allem aus China, Indien und Brasilien.
Abbildungen: oben: LYRA Art Design, Bleistift mit 17 Härtegraden. v. l. n. r.: Katalogseite, um 1860; Eingang zur Graphitgrube in Sibirien; die ersten Markenbleistifte, »A.W. Faber« Polygrades; Stifte mit sibirischem Graphit.
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BÜCHER
kein Bild erklärt sich selbst: Bilder lesen Bilder erkennen von Andreas Rauth
Ungefähr auf Hüfthöhe schwebt die Kamera zwischen den vorbeilaufenden Personen. Die Szene ist trist in Schwarz-Weiß gehalten, von dunklen Grauwerten bestimmt. Deutlich leuchten die Knöpfe an der Uniform des Soldaten, deutlich heben sich die hellen Armbinden der Zivilisten aus ihrer dunklen Kleidung. Dazwischen ein kleines Mädchen, dessen Kopf sich mit der Kamera auf einer Höhe befindet. Sie trägt einen roten Mantel. Die Szene aus Schindlers Liste von Steven Spielberg ist ein gutes Beispiel für die Verwendung ästhetischer Bildmittel, im Dienst von Aufmerksamkeitslenkung und inhaltlicher Aussage. Popout-Effekt nennt man die gezielte Lenkung des Bildbetrachters durch gestalterische Alleinstellungsmerkmale wie eben der rote Mantel in einem ansonsten unbunten Bild. Bilder werden in Medien ähnlich wie Text eingesetzt, um eine Botschaft zu kommunizieren. Für Bilder gelten in der Kommunikation jedoch ganz andere Regeln als für Schrift. Nicht nur lassen sich räumliche Situationen und Details in einem Bild leichter darstellen und schneller erfassen, wohingegen die Vermittlung abstrakter Begriffe besser in Worte zu fassen ist, auch muß der Betrachter ganz andere Kompetenzen mitbringen als der Leser. Schrift besteht aus arbiträren, willkürlichen Zeichen, die erlernt werden müssen, während Bilder wegen ihres wahrnehmungsnahen Charakters (wenn man von im weitesten Sinne realistischen Abbildungen ausgeht) ohne Vorwissen verstanden werden können. Der Eindruck des realistischen Bildes kann mit dem der Umgebung abgeglichen werden. Wahrnehmungskompetenzen, die etwa für das Erkennen der Lage von Objekten im Raum notwendig sind, helfen uns auch, Bilder zu erkennen. Die leichte Identifizierbarkeit führt allerdings zu der „irrigen Vorstellung, diese […] seien leicht(er) verständlich oder gar selbstverständlich.“ (Doelker)
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Bilder lesen, Bilder erkennen lautete das Thema eines im Jahr 2000 von der Typografischen Gesellschaft München veranstalteten Symposiums. Die Vorträge sind im letzten Jahr in Form eines schmalen Bändchens unter dem selben Titel veröffentlicht worden. Die Beiträge stammen von Steffen-Peter Ballstaedt, Professor für angewandte Kommunikationswissenschaft in Gelsenkirchen, Klaus Sachs-Hombach, Oberassistent am Institut für Simulation und Graphik der Universität Magdeburg, und Christian Doelker, emeritierter Professor für Medienpädagogik an der Universität Zürich. Ballstaedt beschäftigt sich in „Didaktisches Design für Abbilder“ mit Bildern in didaktischen Zusammenhängen und fragt dabei nach den Unterscheidungsmöglichkeiten verschiedener Bildtypen, deren Wissensvermittlungsfunktionen, der Steuerbarkeit ihrer Verarbeitung und nach der Zukunft der Bilder im multimedialen Zeitalter. „Philosophische Aspekte einer Allgemeinen Bildtheorie“ umreißt der Beitrag von Klaus Sachs-Hombach, in dem er eine der Sprachwissenschaft vergleichbare Bildwissenschaft fordert und sich dann mit dem Bild als wahrnehmungsnahem Zeichen auseinander setzt. Anschließend skizziert er noch Notwendigkeit und Angebot des Studiengangs Computervisualistik. Mit dem Bild als visuellem Text und seinen Bedeutungsebenen beschäftigt sich schließlich Christian Doelker in seinem Beitrag „Bildwahrnehmung und Bildsemantik“. Sieht man einmal von der Beschreibung des Studiengangs „Computervisualistik“ ab, bei dem es sich um ein Ingenieursstudium handelt, ist die Lektüre jedem Illustrator zu empfehlen. Die Texte haben mal mehr pragmatische, mal mehr theoretische Schwerpunkte, sind aber von allgemeinem Nutzen. Nicht nur diejenigen, die hauptsächlich für Kinder-, Jugendund Schulbuch arbeiten, werden vom
Wissen um Bild-Text-Bezüge oder die Bedeutung des Kontextes der Anwendung von Bildern profitieren. Zudem sind die Texte leicht verständlich und damit auch für den Einstieg ins Thema gut geeignet. Wer dann mehr wissen möchte, findet in den umfangreichen Literaturhinweisen eine gute Hilfe. Abschließend sei auch noch auf eine andere Publikation der TGM hingewiesen, die das Ergebnis eines Symposiums von 1998 ist: Lesen Erkennen beschäftigt sich zwar hauptsächlich mit Typografie, enthält aber auch den sehr lesenswerten Beitrag „Was macht Bilder informativ“ des Medienpsychologen Bernd Weidenmann. Das Ergebnis seiner jahrelangen Forschungen zum Bildverstehen fällt allerdings ernüchternd aus: „Die meisten Bildbetrachter sind ungeduldig und sie sind oft wahre Analphabeten im […] Bildverstehen.“
Paulus Gorbach (Hrsg.). Bilder lesen Bilder erkennen. München 2006. 80 Seiten. 18 EUR Zu beziehen über Typographische Gesellschaft München e.V. Unterbrunner Straße 27 82131 Gauting gassner@tgm-online.de
FS_3RedaktionVorn
12.02.2007
14:29 Uhr
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Wir REDEN von pop: Freistil 3 von Andreas Rauth Wer von Pop spricht, spricht von Glamour und Erfolg. Wer von Illustration spricht, spricht weder von dem einen noch von dem anderen. Zeichner sind keine Popstars und man erwartet von ihnen auch nicht, dass sie glamourös sind. Das ist zu verschmerzen. Erfolgreich könnten sie aber trotzdem sein. „Wie kommt es, dass gerade Illustratoren und Comiczeichner im wahren Leben so seltsam introvertierte Typen sind und oft ein betont monotones Leben führen?“ Jim Avignon aka Neoangin, Zeichner und Musiker hat diese Frage gestellt – im neuen Freistil. Best of European Commercial Illustration 3. Als Antwort auf die Frage, welche Frage er schon immer mal gestellt haben wollte. Jim Avignon ist ein aufmerksamer Mensch. Es gibt in Freistil3 auch noch Kiki Hitomi, deren Interesse an sich selbst in der allein selig machenden Frage gipfelt „Kannst du dir vorstellen, was für eine Musik du zukünftig machen wirst?“ Oder die Chicks On Speed, die es sehnlichst danach drängt „Was ist unser ultimatives Instrument?“ gefragt zu werden. Die Antworten stehen in Freistil3. Um Musik geht es in Freistil3, dessen Cover, auch diesmal wieder aufwändig gestaltet, an das Signet von Throbbing Gristle erinnert, den Erfindern des Industrial Noise und Wegbereitern des Techno. Um Musik also, genauer gesagt: Es geht um die Verbindung von Musik und Bild. Das hat Tradition. Denn beide sprechen direkt die Emotionen an und ergänzen sich ITALY
dabei mit ihren spezifischen Möglichkeiten. 1893 – lange vor Pop – legte Max Klinger dem befreundeten Johannes Brahms seine Illustrationen zu dessen Kompositionen vor. Dieser bedankte sich begeistert und fand, dass die Zeichnungen aussprächen, „was ich hätte sagen mögen, deutlicher als es die Musik vermag und dennoch ebenso geheimnisreich und ahnungsvoll. Manchmal möchte ich Sie beneiden, daß sie mit dem Stift deutlicher sein können, manchmal mich freuen, daß ich es nicht zu sein brauche […]“ . Und Kandinsky stellt in „Über das Geistige in der Kunst“ fest, dass „das absolute Grün wohl am besten durch ruhige, gedehnte, mitteltiefe Töne der Geige“ zu bezeichnen sei. Seitdem hat die Industrie immer komfortablere Werkzeuge entwickelt, um das synästhetische Erleben zu steigern. Das multimediale Gesamtkunstwerk, von dem nicht nur Klinger träumte, ist im 21. Jahrhundert endlich möglich. Jamie Hewlett, im Buch ausführlich vorgestellt, ist einer, der geschickt damit umzugehen weiß. Der Zeichner und Erfinder des Kult-Comic »Tank Girl« und, zusammen mit Blur Frontmann Damon Albarn, der virtuellen HipPop-Combo »Gorillaz«, ist so etwas wie ein Illustrator Superstar (also doch): Die virtuellen Musiker verkauften weltweit über sechs Millionen Alben. 2006 gewann Hewlett den Designer of the Year Award des Design Museums London, und im Juli wird an der Berliner Staatsoper eine Inszenierung nach einem klassischen chinesischen Roman uraufgeführt, zu der er und Damon Albarn Musik, Animation und visuelles Konzept beisteuerten. Zu den Highlights des redaktionellen Teils zählen auch zwei Interviews mit Auftraggebern. Die Artdirektoren von »Spex«, Mario Lombardo, dessen Gestaltung dem Magazin zu unerwar-
Freistil. Best of European Commercial Illustration 3
tetem Erfolg verhalf, und Joe Newton vom »Rolling Stone«, sprechen über ihren Anspruch an Illustration und die Zusammenarbeit mit Illustratoren. Wenn Mario Lombardo feststellt, dass er unter Illustratoren eine gewisse Resignation feststellt, dann deckt sich das durchaus mit deren eigenen Aussagen. Einige davon findet man in einem Auszug aus der von Herausgeber Raban Ruddigkeit angestoßenen, im Internet auf www.slanted.de geführten Diskussion zu Qualität und Entwicklung von Illustration in Deutschland. Eine wichtige Diskussion, wie jeder Illustrator bestätigen wird. Um die Bedeutung der eigenen Handschrift geht es dort, und das mangelnde Bildverständnis der meisten Auftraggeber. Der Rösler bringt es auf den Punkt, wenn er feststellt, dass hierzulande von einem Illustrator, der Katzen im Portfolio hat, nicht geglaubt wird, er könne auch Hunde zeichnen. Aber es wird auch anerkannt, dass es Fortschritte gibt. Magazine wie Neon oder Brand Eins seien gute Beispiele. Und der ewige Vorwurf, die deutsche Illustration sei international nicht konkurrenzfähig, ist wohl auch nicht mehr aufrecht zu erhalten, findet Shimun. Davon überzeugen kann man sich im umfangreichen Katalogteil von Freistil3.
Raban Ruddigkeit (Hrsg.): Freistil3. Kalbeck, Max, Johannes Brahms (Berlin 1904–1914), vol.2/2, p.361, zit. nach: Wolff, Hellmuth Christian: Max Klingers Verhältnis zur Musik. In: Max Klinger – Wege zum Gesamtkunstwerk. Ausstellungskatalog. Philipp von Zabern, Mainz 1984.
Title / Client / Year
544 Seiten mit über 1000 farbigen Illustrationen Format 17,4 x 24 cm Verlag Hermann Schmidt Mainz 2007 39,80 EUR, www. freistil-online.com Illustration: Fabio Bucciardini
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Pitti Immagine Bimbo, Levi’s, private clients
TECHNIQUES
Mixed media
Das Bilderbuch könnte kaum harmloser anfangen: In ihrem gemütlichen, alten Haus kocht die Mutter Unmengen Marmelade, der Bruder stellt neue Rekorde mit seinen Video spielen auf und der Vater übt Tuba. Doch der britisch-amerikanische Comic-Kultautor Neil Gaiman ist ein Romantiker und deshalb ist es nicht das kleine Glück, sondern sind es die großen existenziellen Gefühle, die schicksalhaften Abenteuer, von denen Die Wölfe in den Wänden angemessen ernsthaft, temporeich und originell erzählt. Gaiman und sein in langjähriger Zusammenarbeit bewährter Illustrator Dave Mc Kean sprechen auch lieber von einer ‚graphic novel for all ages’ als von einem Bilderbuch.
schließen. Als sie den Verlust ihres Schweinchens bemerkt, kehrt sie entschlossen in das Haus zurück, in dem die Wölfe mittlerweile Orgien feiern. Klug nutzt sie die Zwischenwelt der Wände, um unbemerkt ihr Schwein aus der Gefahr zu retten. Und das ist auch der Weg, den die Familie schließlich nutzt, um ihr zu Hause wieder in Besitz zu nehmen. In das bedrohliche Chaos mischen sich nun zunehmend komische Elemente. Wölfe mit Socken an den Pfoten, dicke Wolfsbacken, die versuchen, die zweitbeste Tuba zu blasen und marmeladeverschmierte Wolfsmäuler sind schwer ernstzunehmen. Schnell wandelt sich denn auch das Bild. „Auhuu!“ heulen die Wölfe, als sie die Familie in den Wänden bemerken. Panisch treten sie den Rückzug an, „denn wenn die Menschen aus den Wänden kommen, ist alles vorbei!“
Anarchie und Marmelade Gaiman/McKean: Die Wölfe in den Wänden
Eine geheimnisvolle von Mareile Oetken zweite Realität, wie sie die Grundlage der meisten seiner phantastischen Erzählungen bildet, lauert diesmal heimtückisch zwischen den eigenen vier Wänden. Es ist die Heldin Lucy, die mit ihrem (Stoff-) Schweinchen die unheimlichen Geräusche als Erste hört und auch das Fremde sofort benennen kann: ganz klar, es sind Wölfe in den Wänden. Kein Familienmitglied hört auf Lucy, zum Teil aus Bequemlichkeit, aber auch aus Angst, denn „wenn die Wölfe aus den Wänden kommen, ist alles vorbei“. Und das kann und darf nicht sein. Malerisch-expressiv gestaltet McKean die Irritationen des Anfangs in leisen Perspektivverschiebungen. Der vielseitige Brite konzentriert sich ganz auf den mimischen und gestischen Ausdruck, spielt mit Licht, sucht die Brüche in für das deutsche Bilderbuch ungewohnt unvermittelten, computergestützten Collagen von Fotografien, eigenen Malereien und Bildzitaten, Zeichnungen, Überlagerungen von Farbflächen und Übermalungen. Selbst die Schrift tanzt aus der Reihe und entwickelt als Bildelement eine ganz eigene erzählerische Kraft. Und dann kommen die Wölfe. McKean wechselt seinen Stil, zeichnet mit scharfer Feder phantastische, geifernde, gierige Wölfe mit bernsteingelben Augen, die das Doppelseitenformat mit einer unglaublich dynamischen Präsenz sprengen. Ästhetische Elemente von Comic, Film und Bilderbuch verschmelzen hier effektvoll. Dunkle Nebel steigen auf, Wölfe heulen, die Familie flieht in den Garten. „Alles ist vorbei!“ ruft der Bruder, doch Lucy mag sich diesen ohnmächtigen, formelhaften Allgemeinplätzen nicht an-
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Im englischsprachigen Raum hat Gaiman längst Kultstatus erreicht. Egal ob er Comics, Lieder, Kurzgeschichten, Theaterstücke, Kindertexte, Romane oder Drehbücher verfasst, alles wird als Pop gehandelt. „I am pop culture“, kommentierte Gaiman die Entscheidung seines Verlegers, sogar einen seiner Märchentexte in der popculture-line des Verlages zu publizieren. Zwar haben die etablierten Expertenjurys den Gewinner zahlreicher Publikumspreise bislang wenig wahrgenommen, doch in Deutschland ist Die Wölfe in den Wänden hochoffiziell für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2006 nominiert worden. Zu Recht, denn in seiner durchaus linearen Handlung im Einklang mit einer sensiblen, komischen, kraftvollen, vielschichtigen Ästhetik besetzt das Gespann Gaimann/ McKean eine ganz neue Position auf dem Bilderbuchmarkt, die narrative Linearität und ästhetischen Bruch, Klarheit und Komplexität, Ernsthaftigkeit und Entertainment wie selbstverständlich vereint.
Neil Gaiman/Dave McKean (Illu.): Die Wölfe in den Wänden. Aus dem Englischen von Zoran Drvenkar. Carlsen Verlag 2005, 56 S., 18,- EUR www.carlsen.de
Corvus corax. Der Kolkrabe. Aus der Unterordnung der Singvögel, Familie der Rabenvögel. Von imposanter Größe, mit pechschwarzem Gefieder, aus dem ebenso schwarze Krallen und ein großer, keilförmiger Schnabel ragen. Ihre vollständige Schwärze macht sie zu Unheilsverkündern und Geschöpfen der Nacht. Als Sinnbilder für Gedanken und Erinnerung, verleihen sie der germanischen Gottheit Odin Weisheit. In Edgar Allen Poe‘s berühmtestem Gedicht »The Raven« von 1845 bekommt der, vom Schmerz über seine verlorene Geliebte nervlich zerrüttete, Protagonist zur zwölften Stunde unerwarteten Besuch vom schwarzen Federvieh. „Nevermore“ krächzt der Rabe und mehrt damit die düsteren Schatten der Erinnerung. Das Gedicht ist Teil der im vergangenen Jahr erschienenen Sammlung POE: Illustrated Tales of Mystery and Imagination aus dem Gestalten Verlag, zu dem zahlreiche internationale Gestalter ihre Illustrationen beisteuerten. Edgar Allen Poe‘s Schauergeschichten haben seit ihrem ersten Erscheinen in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer wieder Künstler inspiriert. Man denke an die Zeichnungen von Alfred Kubin aus den 1920er Jahren oder Gottfried Helnweins 1979 illustrierte Sammlung »Unheimliche Geschichten«. Wer sich auf Poe einläßt, sollte sich seiner Sache sicher sein. Der Einband lockt mit Typografie in Heißfolienprägung und einer wunderschönen Zeichnung von Ivan Zouravliov (Vania). Im Inneren stilistische Vielfalt und Namen, die für Aktualität und Qualität stehen. Umso mehr verwundert der allzu sorglose Umgang einiger Zeichner mit
DER Rest ist Delirium Poe: Illustrated Tales of Mystery and Imagination von Andreas Rauth
dem Text. Allen voran Dirk Rudolph. Seine Illustrationen zu »The Raven« zeigen einen Bussard! Noch deutlicher kann man seine Gleichgültigkeit der literarischen Vorlage und auch dem Leser gegenüber wohl kaum zum Ausdruck bringen. Auch Mateo scheitert am Text – wenngleich aus einem ganz anderen Grund: In »The Oval Portrait« beschreibt Poe ein Gemälde von vollendeter Kunst, das eine junge Frau von vollendeter Schönheit zeigt. Wenn Poe sich hier des Schönen an sich bedient, ist man gut beraten, dies nicht in konkrete Bilder umzusetzen. Doch Mateo zeigt uns das Gemälde in seiner Version. Das ist nicht nur unglaublich langweilig, sondern auch ein unerfüllbarer Anspruch. Poe‘s Erzählungen leben von ahnungsvollen Andeutungen, von der Gratwanderung zwischen überscharfer Wahrnehmung und dämmrigem Wahnsinn. Ihre unheimliche Wirkung beziehen sie nicht zuletzt aus dem, wofür es keine Worte gibt. Poe selbst hat es in »Der Untergang des Hauses Usher« so beschrieben: „Wenn je ein Sterblicher vermochte, eine Idee zu malen, so war es Roderich Usher. Mich wenigstens überwältigte […] bei den reinen Abstraktionen […] eine ganz unerhörte Ehrfurcht, von der ich nicht einen Schatten hatte empfinden können bei der Betrachtung der sicherlich glühenden, aber doch zu
körperlichen Träume Füßlis.“ Das Körperlich-Konkrete zählt zu den Untiefen, die es bei der Illustration von Poe zu umfahren gilt. Kubin und Helnwein haben das gewußt. Eine glücklichere Hand hatte der Kanadier Aaron Baggio. Seine kantigen Tuschezeichnungen betonen mit hintergründiger Ironie den tragikomischen Aspekt von »The Black Cat«. Er zeigt die mißhandelte Katze als stoischen Schatten. Die Kreatur bleibt stumm, bis aus ihr die Dämonen der Vergangenheit triumphierend hervorbrechen, den eben noch Siegessicheren der gerechten Strafe ausliefernd. Baggio ästhetisiert, reduziert, distanziert. In seinen Figuren steckt ein Bewußtsein, dass diesen selbst fremd ist. Hier bricht eine Unterlage an die Oberfläche der Gestalt, die diesen die Präsenz des Wirklichen gibt, ohne in die Falle des „zu körperlichen“ zu geraten. Cheval Noir geht für »The TellTale Heart« wieder ganz anders vor: Er überführt den Text ganz ungerührt in ein ornamentales Märchenreich vorwiegend altägyptischer Prägung. Die Verbindungen zur Geschichte sind dünn, ein Auge und ein Herz – der Rest ist Delirium. Die Gleichwertigkeit der Bildzeichen dieser ornamentalen Fülle versinnbildlicht den dunklen Rausch, dem die moralische Grundlage abhanden gekommen ist. In der stilistischen Vielfalt liegt der große Reiz dieses Buches. Sie verhindert, dass sich ein Stil in der Vorstellung als „Poe-Stil“ etablieren kann. Es läßt sich »The Black Cat« auch gut von Casal vorstellen, oder »The Raven« von Baggio. Leider hat man auf einen Kommentar verzichtet, der bei der bereits erwähnten berühmten Vergangenheit von Poe‘s Werk als Illustrationsvorlage nicht nur wünschenswert Thenotwendig Oval Portrait sondern auch gewesen wäre. Illustrated by Mateo
The chateau into which my valet had ventured to make forcible entrance, rat
than permit me, in my desperately wounded condition, POE: to pass a night in open air, was one of those piles of commingled gloom and grandeur which h IllustratedsoTales of Mystery and Imagination. long frowned among the Appennines, not less in fact than in the fancy of M Radcliffe. To all appearance it had temporarily and very lately abandon In been engl. Sprache. We established ourselves in one of the smallest and least sumptuously furnis Die Gestalten Verlag 2006. apartments. It lay in a remote turret of the building. Its decorations were rich, tattered and antique. Its walls were hung with tapestry and bedecked with mani Editoren: R. Klanten, H. Hellige and multiform armorial trophies, together with an unusually great number of v 29,90 spirited modern paintings in frames of rich golden EUR arabesque. In these paintin which depended from the walls not only in their main surfaces, but in very m www.die-gestalten.de nooks which the bizarre architecture of the chateau rendered necessary – in th
paintings my incipient delirium, perhaps, had caused me to take deep inter
so that I bade Pedro to close the heavy shutters of the room – since it was alre
Abbildungen v. l.which n. r.: night – to light the tongues of a tall candelabrum stood by the head of bed – and to throw open far and wide the fringed curtains of black velvet wh Vania, Mateo copyright Die Gestalten Verlag 2006
enveloped the bed itself. I wished all this done that I might resign myself, if no
sleep, at least alternately to the contemplation of these pictures, and the peru
of a small volume which had been found upon the pillow, and which purpor to criticise and describe them. Long – long I read – and devoutly, devotedly I gazed. Rapidly and gloriously
hours flew by and the deep midnight came. The position of the candelabr
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displeased me, and outreaching my hand with difficulty, rather than disturb
Geschichten vom Verlust Vitamin Z: Neue Perspektiven in der Zeichnung von Andreas Rauth
Ganz gleich, an welcher Stelle man das Buch aufschlägt: man wird unwillkürlich hineingesogen. Vorwärts oder rückwärts blätternd folgt man einer Spur, dann der nächsten und so fort. Dabei gerät man in einen leichten Taumel, schwankt sanft von links nach rechts, beugt sich über, lehnt sich zurück. Das Buch überträgt eine gewisse Unruhe. Nicht unangenehm, aber doch zwingend. Dies mag mit dem grundsätzlich unabgeschlossenen, prozesshaften Charakter der Zeichnung zusammenhängen, den Emma Dexter, Kuratorin für zeitgenössische Kunst an der Tate Modern in London, in ihrem einleitenden Essay feststellt. Die Zeichnung, so Dexter weiter, genießt als „früheste und unmittelbarste Form des Bildermachens […] mythischen Status“ und wird immer noch mit Magie verbunden. In der Unmittelbarkeit des Ausdrucks entstehen Zeichen, die mit ihren Referenten zusammen fallen: Die Strichmännchen einer Kinderzeichnung sind nicht bloß repräsentative Linien, sie sind Mutter oder Vater oder Baum, Sonne, Haus. Die Zeichnung entstammt einer Welt, die noch vollständig ist. Gleichzeitig erscheint in ihr aber auch der Riß durch die Welt,
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mit dem diese Vollständigkeit verloren geht. „Das Zeichnen ist mit jedem Strich ein Nachvollziehen von Sehnsucht und Verlust. Es bewegt sich zwischen dem Rückzug der Spur ins Zeichen und der Präsenz der Idee, auf die sie verweist.“ Der Verlust, der die Sehnsucht gebiert, bleibt uneinholbar, entsteht mit jedem Anlauf neu und hinterläßt das Gefühl, dass irgendwie immer etwas fehlt. Daher die Unruhe. Beispiele dafür lassen sich finden bei Matthew Richie, dessen gezeichnete Kosmologie aus Elementen der „Wissenschaft, Geschichte, Philosophie, Mythologie und Religion“ stammt, und der sich vor allem mit dem beschäftigt, was sich unserer Erkenntnis entzieht. Oder bei Hayley Tompkins, die, fasziniert von der Möglichkeit der Zeichnung in besonderem Maße „Verlust zu evozieren“ in ihren sparsamen Aquarelle eine Leere hervorruft, gegen die diese sich selbst nur mühsam behaupten können. Ebenso die aus winzigen „+“- und „-“-Zeichen aufgebauten Kompositionen von Frances Richardson, in denen die Formen zumeist von Auslassungen bestimmt werden. Toba Khedoris‘ gezeichnete Wandbilder wiederum sprechen davon, „dass wir die
Abbildungen: S. 68: Trenton Doyle Hancock »Family Portrait (Mound Half and Ape half)«, 2003, Bleistift Tusche und Acryl auf Papier, Diptychon, jeweils 92,7 x 59,1 cm. © Trenton Doyle Hancock S. 69: Zak Smith »Most Accurate Self-portrait to Date«, 2004, Acryl und Tusche auf kunststoffbeschichtem Papier, 97.8 x 69.9 cm © Zak Smith
Vitamin Z, ca. 500 Farbabbildungenm 290 x 250 mm, 352 Seiten, gebunden 69,95 EUR Phaidon Verlag, Berlin 2006. www.phaidon.com
Waffen strecken müssen vor der Vergänglichkeit und Erinnerung.“ Doch es geht auch ganz subjektiv und narrativ zu, in Vitamin Z. Der persönliche Ausdruck, mit dem die Zeichnung mehr als jedes andere Medium assoziiert wird, macht sie zum idealen Träger von Geschichten. Darin öffnet sie sich dem Grotesken, Absurden, Phantastischen. Traumgestalten, Chimären, seltsame Orte verbinden sich mit Alltäglichem. Das Unbekannte im Bekannten, das Bekannte im Unbekannten. Geschichten aus Zitaten der Kunstgeschichte und Popkultur. Trenton Doyle Hancock (Abb. S. 68) entwirft in monochromen Tuscheskizzen „einen dichtgewebten Kosmos rund um die imaginäre prototypische Kleinfamilie des […] Affenmenschen Homerbuctas“, und spielt dabei mit Rassenstereotypen und Angst vor Andersartigkeit. Simone Shubucks ornamentale Zeichnungen erinnern an Adolf Wöfli, den Hilfsarbeiter, der, „wegen Notzucht an Minderjährigen zu Zuchthaus und Heilanstalt (1895–1930) verurteilt“, in der Haft „schreibend, komponierend, eigene
Zahlensysteme erfindend“, sich auf unschuldige Weise „das All und das Universum erobert“ . Wiewohl Shubucks Kosmos aus modernen Einflüssen von Haute Couture bis HipHop gespeist wird. Auf Einflüsse des Punkrock verweisen die Arbeiten von Simon Evans, in denen er „unsere obsessive Beziehung zur Bürokratie“ hinterfragt. Wo der Verlust das Chaos einläßt, erfindet der Mensch zu dessen Kontrolle gerne Strukturen und Kategorien. Für deren Visualisierung entwickelt er dann Listen, Tabellen, Diagramme. Genau darüber macht sich Simon Evans lustig, wenn er in minutiös ausgeführten Plänen und Diagrammen, wie z. B. »Directory of Purgatoire« einen „Stadtplan des Fegefeuers“ anlegt. Ganz gleich, an welcher Stelle man das Buch aufschlägt, man wird unwillkürlich hineingesogen. Großartig.
Szeemann, Harald in: Der Hang zum Gesamtkunstwerk, Frankfurt/ Main 1983, S. 245.
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Ein Ritt um den Globus mündet in einen schwergewichtigen Bildband: Bastard – Choose my identity von Richard Rabensaat
Bastard heißt das Buch – choose my Identity. Tja, das ist wohl auch notwendig; die Identität zu wählen. Denn wie ein rechter Bastard, eine Chimäre, zusammengesetzt aus verschiedenen Identitäten, kommt der Paperback-Band daher. Orangerot leuchtet der Einband. Darauf prangt ein weißes Emblem, eine Fratze, nicht eindeutig als Mensch oder Tier erkennbar. Die Personalität des Buches offenbart sich erst im Zusammenhang der Bilder, Fotos und Zeichen. „Identity, every day, ride, play, home, religion und talk“ sind die Brandings, nach denen das Buch sich gliedert. Es entsteht ein wilder Mix aus Prosa, Poems, Zeichnungen und Fotos, zusammen gesammelt rund um den Globus. Eine CD mit Jpgs und zwei Songs begleitet die globale Tour de Force. Sechs Megacities in 21 Tagen, das war das Programm. „Es ging uns um Tradition, Reizüberflutung, Vernetzung, Mischung, Sampling, Geschwindigkeit und Schlafentzug“, erklärt André Rösler, der Initiator des Projektes. Zu dritt, ein Grafiker, ein Fotograf und ein Illustrator, bereisten sie 2005 die Welt. Dann kondensierten sie aus dem visuellen und emotionalen Overkill an High-Speed-Impressionen einen Bildband, der die Zeichensysteme einer aus den globalisierten Fugen geratenen Welt versammelt. „No Stop any time“ schreit ein kleiner, dreckiger Bastard in die Turbinenröhre eines Flugzeuges und huscht davon, schnell wie die Zeichen und Bilder des Buches. Die permanente Geschwindigkeit, die Zerteilung der eigenen Person im Fluss der strömenden, sich ballenden und dann wieder auflösenden Menschenmassen zieht sich durch das ganze Buch. Ebenso wichtiger Teil des Reisens ist allerdings der Stillstand. „Most of my treasured memories of travel are recollections of sitting“, stellt die Bildinschrift einer gelangweilten Menschenansammlung in einer Wartehalle ungefähr in der Mitte der Reise fest. Am Anfang des Kompendiums gibt Rüdiger John den Ton mit einem Essay über die Schwierigkeiten der Identi-
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tätsfindung im globalisierten Kapitalismus vor. „Der Prozess der Globalisierung beinhaltet nicht die Entwicklung von Sicherheit und persönlicher Freiheit … Aktionäre fühlen sich nicht wie Eigentümer mit Verpflichtungen, sondern wie Kapitalgeber in einem permanenten Transitstadium“, formuliert John. Wohl wahr, Kapitalinteressen kennen keine Grenzen, transnationale Produktionszyklen intendieren uniforme Gesellschaften aus gesichtslosen Konsumenten. Dennoch blicken uns aus dem Bastard individuelle Gesichter entgegen: die großen fragenden Augen einer jungen Frau, das von struwelligen Haaren eingerahmte Gesicht eines Mädchens im Ringelpullover. Was die Autoren hier zwischen den Buchdeckeln gebündelt haben, gab es schon einmal – als Film. „Koyannisqatis – Leben aus dem Gleichgewicht“ hieß das Projekt von Godfrey Reggio, das seinen Sog aus der Verbindung von Bild und Musik bezog. Philipp Glass‘ großartiger minimalistischer Sound untermalt schließlich das Bild einer brennend herab stürzenden Raumkapsel, in der die Hektik der Welt implodiert. Glass und Reggio schufen eine Symphonie der strömenden Menschenkaskaden, in dem der Einzelne zum ornamentalen Teil eines immer schneller fließenden Stroms wurde. Hier aber streckt uns der Bastard schon einmal frech die Zunge heraus, während die weiße Silhouette eines Gringos durch das Foto einer Spielplatzrutsche hoppelt. Und die Reise geht unermüdlich weiter. Der Gedanke des Reisens als Möglichkeit der Persönlichkeitsentwicklung durch die Erfahrung des Fremden begleitete Dürer auf seiner Italienreise und Bruce Chatwin durch „sein Patagonien“. Bei der Reise des globalisierten Bastard von heute verschwimmen die kulturellen Unterschiede im Glissando der Lichter, Gesichter und weltweit aufblinkenden Icons. Bastard – choose my identity Distribution: Actar D, office@actar-d.com Preis: ca. 37 EUR www.bastard-project.com
Kai Pfankuch‘s Malerbuch Paul Valéry: La soirée avec Monsieur Teste von Eva Linhart
Wenn die Lebenspraxis aus den Neigungen zur Mathematik und Kunst einen Entscheidungskampf zwischen Mathematik oder Kunst macht – was bei Kai Pfankuch geschah –, dann verwundert es kaum, dass irgendwann das Romanfragment des jungen Paul Valéry La soirée avec Monsieur Teste von 1895 zum Thema werden musste. Bei Pfankuch war es 2006 so weit. Als Form für seine Auseinandersetzung wählte er das Künstlerbuch. Es besteht aus Aquarellen und mit Feder von Hand beschriebenen Textseiten. Bereits beim Durchblättern deutet sich die Thematik des literarischen Stoffes, die Reflexion des Geistes als Methode der Selbsterkenntnis in Abwendung von der Außenwelt, an. Die Askese des Monsieur Teste, dem alter ego Valérys, gerät bei Pfankuch zu einem Kontrast zwischen Textgestaltung und Illustration. Der gleichmäßigen Reihung von Textfeldern in der mathematischen Form der Matrize steht der gestische Duktus farbintensiver Zeichnungen gegenüber. Diese Sphärendualität vermittelt sich als das Nebeneinander zweier Welten. Die Rationalität der Mathematik – objektiv, kalkulierbar und hermetisch –, trifft auf das Emotional-Sinnliche mit seiner Ausdrucksvielfalt. Zur Deckung kommen sie lediglich im Schmerz, der das Geistige mit dem Körperlichen zu vereinigen vermag („Es kommen Augenblicke, wo mein Körper sich erleuchtet“ oder „Geometrie meines Leidens“). Als Reflex der Erkenntnis manifestiert sich im Schmerz der Weg von innen nach außen durch die Materie hindurch. Das Spezifische des Textes, das auch darin besteht, dass Valéry die um sich selbst kreisende Selbstbetrachtung mit Vergleichen aus der Mathematik veranschaulicht, nimmt Pfankuch auf und transponiert sie zur Leseerfahrung. Durch die Form der Matrize als Textrahmen, in der die sprachlichen Zeichen wie mathema-
tische behandelt sind, ist der Text in den einzelnen Feldern kontinuierlich und ohne Rücksicht auf Silbentrennung geschrieben. Dieser Linearität handelt zugleich die Permutation der Textblöcke entgegen. Zwar beginnt auf jeder Seite der Text im linken oberen Feld und endet in der untersten Reihe rechts, läuft jedoch entsprechend der jeweils anderen Anordnung der Blöcke stets nach unterschiedlichen Mustern. Im Gegensatz zu der konzeptionellen Gestaltung des Textes sprechen die Illustrationen eine andere Sprache. Ihre Motive orientieren sich am Erzählverlauf und reagieren auf die bilderreiche Sinnlichkeit des französischen Originals. Zugleich verarbeiten sie reale oder fiktive Figuren aus der Kulturgeschichte der Umbruchszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert, etwa
die Porträtfotografie von Marcel Proust oder René Magrittes Bourgeois mit der Melone. Ob nasskalte, von der nächtlichen Beleuchtung deformierte Trottoirs oder halbleere Interieurs, immer stoßen wir auf die Großstadt, an deren Orten sich der Protagonist quasi nur en passant aufhält. Dieser Eindruck des Rastlosen findet in der Darstellung einer Metrostation einen seiner Höhe-
punkte, dem Sinnbild für die Industrialisierung des urbanen Raums. So sehr auch diese Motive die französisch dominierte Kunsttopografie jener Zeitzone wiedergeben, so lässt uns das Wie der Zeichnungen an einen anderen Kulturkreis denken. Das Gestische an ihnen, wie auch die kontrastintensive Farbigkeit mit ihrem Hang zur rot-violetten Tonalität führt uns in die deutsche, am Gefühlsausdruck des Subjekts orientierte Tradition der Moderne, zur Kunst der Expressionisten. Damit verzichtet Pfankuch auf den typischen Kanon der Kunstgeschichte, der sonst für die Krise des schöpferischen Menschen als Folie fungiert: Einerseits das Temperament des Melancholikers, das wegen seines zwanghaften Ringens nach Erkenntnis zum Wahnsinn führen kann – so bei Dürers »Melancholia« - und andererseits die »Versuchung des hl. Antonius« als erfolgreicher Kampf gegen die Übermacht der Triebsphäre samt ihrer Phantasiegebilde, wie bei Ensor oder Beckmann. Stattdessen versetzten uns seine Aquarelle in das Zeitalter der beginnenden Moderne einschließlich ihrer Frage nach der Relevanz des schöpferischen Individuums angesichts der einsetzenden Massengesellschaft und ihrer Standardisierung. La soirée avec Monsieur Teste Hofheim am Taunus 2006 mit 14 Originalzeichnungen (chin. Reibetusche und Aquarell) von Kai Pfankuch (davon 5 doppelseitig); der französische Originaltext ist mit der Hand geschrieben und im Siebdruck reproduziert; Format 39 x 29 cm; 48 Seiten; 250 g/qm Velin BFK Rives-Bütten; handgeschöpftes Vorsatzpapier (Johannes Follmer, Homburg/Main); die Buchdecken sind mit einem Aquarell auf handgeschöpftem Fabriano-Bütten bezogen; Halbleder mit Rückenprägung; fester Schuber; Auflage 10 Exemplare; Euro 2100,00.
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das endziel aller bildnerischen tätigkeit ist der verkauf! Jim Heimann/Steve Heller: Shop America von Andreas Rauth
Ein Schaufenster, so hell und klar wie Glockenklang. Dabei elegant, stilvoll und modern – ja so soll es sein: Das Tor zum Himmel auf Erden. Den zu betreten ein jeder befugt ist, fromm oder nicht. Ohne anstrengende Prüfungen, Reinigung des Geistes, lauteren Lebenswandel. Der Initiationsritus des Wirtschaftswunders, Kraft dessen der Durchschnittsamerikaner die Stufe zum Markenkonsumenten erklimmen konnte, sollte sich ganz ohne Prüfung, fast unmerklich vollziehen. Freilich, es gehörte ein wenig Geld dazu, doch das konnte einem, zumal im Wirtschaftswunder, nahezu jeder geben – verglichen jedenfalls mit der Lizenz für das ewige Himmelreich, die nur einer vergeben kann.
Ein bis heute unerreichtes Einkaufserlebnis erwartete den Konsumenten im Amerika der Nachkriegszeit. Das Erbe des 1933 geschlossenen Bauhauses und seiner ganzheitlichen, alle Künste vereinenden und alle Ebenen des Lebens durchdringenden Gestaltungsphilosophie nahm in Form von aufwändig inszenierten Ladenfronten Gestalt an. Das Schöne ist das Gute, Edle, Wahre. Eine Boutique, ein Schuh- oder Möbelgeschäft, ein Restaurant, ein Kino, das man gerne betritt, weil man gar nicht merkt, dass man bereits eingetreten ist. Das man gerne betritt, weil man dort höhere Weihen emp-
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fängt, durch die Kraft des Schönen. Namhafte Designer und Architekten der Avantgarde ließen sich vor der Karren des Kapitals spannen, ihre gewagten Ideen dem Kaufreflex unterordnend. Kaufen war in einem explodierenden Markt nicht mehr eine Frage des Bedarfs, sondern der Bedürfnisse. Und die mussten erstmal geweckt werden. Jim Heimann präsentiert in diesem großformatigen Band 96 Style suggestions for a modern american storefront aus den Jahren 1938 – 1950. Die aufwändig illustrierten Entwürfe mit Erläuterungen und Detailzeichnungen werden zusätzlich ergänzt durch zeitgenössische Fotografien. Diese bleiben jedoch in vielen Fällen weit hinter der verführerischen Monumentalität der Illustrationen zurück. Denn was auf den Entwürfen isoliert und in geschmackvollen Farben stilsicher inszeniert wird, erweist sich in der Realität nicht selten als ein mickriger Laden umgeben von anderen mickrigen Läden an irgendeiner Strassenecke. Die Vision einer futu-
ristischen Aura, in der das Alltägliche als das Besondere erscheint, ergoss sich eben ohne Unterschied über Kaufhausketten, Cocktailbars und Blumenläden – und konnte auch schon mal unfreiwillig komisch wirken. Realisierbar wurde die neue Ladenarchitektur u. a. durch technische Innovationen in der Glasproduktion, die großflächige gebogene Fensterfronten ermöglichten. Eine Fensterfront, wie sie auch auf Edward Hoppers Gemälde »Nighthawks« zu sehen ist, das freilich weniger für den kollektiven Kaufrausch, als für die in dessen Gefolge zunehmende Vereinsamung und Entfremdung des modernen Menschen steht. Jim Heimann (Hrsg.): Shop America. Midcentury Storefront Design 1938-1950 Mit einem Essay von Steven Heller. Hardcover, 26.5 x 34 cm, 246 Seiten, (englisch, deutsch, französisch) EUR 39.99 TASCHEN Verlag, www.taschen.com
Doc Baumann: Photoshop Basiswissen. Masken & Kanäle, Malen & Zeichnen von Andreas Rauth
Photoshop-Bücher gibt es nicht gerade wenige. Für Einsteiger, Profis, Designer, Fotografen etc. Manche so dick, schwer und unhandlich, dass sie schon dadurch unbrauchbar sind, manche handlich im Format und so gut und übersichtlich gestaltet, dass man gerne damit arbeitet. Die beiden hier vorliegenden Bände stammen aus der Reihe Edition DOCMA Photoshop-Basiswissen von Deutschlands Photoshop-Guru Doc Baumann, erschienen bei Addison-Wesley. Anstatt, wie sonst üblich, in einem Rundumschlag, flankiert von zumeist grauenhaftem Bildmaterial (wieso geht das eigentlich nicht anders?), die gesamte Funktionsvielfalt abzudecken, hat man sich hier dazu entschieden, den einzelnen Anwendungsbereichen jeweils einen eigenen Band zu widmen. Auf 112 farbigen, übersichtlich gestalteten Seiten erhält der Leser „konzentriert, ausführlich und praxisnah“, wie es im Infotext heißt, das nötige Photoshop-Basiswissen. Das ist allerdings untertrieben. Zwar gehören die behandelten Werkzeuge und Funktionen wirklich zu denen, ohne die man gar nicht auskommt, die dargestellten Anwendungsmöglichkeiten gehen aber über ein Basiswissen weit hinaus. Manches davon ist wohl nicht ganz so praxisnah, wie der Werbetext behauptet, Doc Baumann weiß aber aus seiner langjährigen Erfahrung mit der digitalen Bildgestaltung, dass es, wenngleich manche Arbeitsweise nur ganz selten mal genutzt wird, gut ist sie zu kennen. Und so haben auch langjährige Profis etwas von den sehr gründlichen und anschaulich dargebotenen Erklärungen. Das verwendete Bildmaterial zählt in diesem Bereich zu dem besseren, man sollte trotzdem nicht zuviel erwarten. Der größte Nutzen solcher Bücher besteht aber ohnehin darin, Anregungen für die eigene
Arbeit zu geben. Schritt-für-SchrittAnleitungen sind wegen des aufgezeigten Arbeitsweges interessant, nicht um ein Bild zu wiederholen. So findet man im Band Malen & Zeichnen nicht nur eine überzeugende Darstellung für Holz- und Linolschnittästhetik, sondern auch eine interessante Anleitung für die „Impressionist“-Funktion des Musterstempels. Ob man damit unbedingt Fotovorlagen in Gemälde umzuwandeln versuchen sollte, mag jeder selbst entscheiden – es lassen sich damit auf jeden Fall hochinteressante Strukturen erzeugen. Und wer bislang zwischen den Pinseleinstellungen „Fluss“ und „Deckkraft“ keinen Unterschied ausmachen konnte, findet hier den entscheidenden Hinweis: mehrfaches Übermalen eines Pinselstrichs in einem Zug, bei „Deckkraft 100%“ und „Fluss 20%“, erzeugt einen langsam dunkler werdenden Farbauftrag, umgekehrte Werte nicht. Also gar nicht so unwesentlich. Daneben gibt es natürlich jede Menge Shortcuts, was besonders beim Thema Masken & Kanäle für eine schnellere und elegantere Arbeitsweise sorgt. Und noch etwas unterscheidet die Bücher von vielen anderen ähnlichen: es ist die persönliche Haltung des studierten Kunstwissenschaftlers Doc Baumann: Neben aller Faszination für die Technik, geht es ihm immer auch darum deren Einsatz aus dem Bild heraus zu erklären. Doc Baumann: Photoshop-Basiswissen. 112 Seiten, 20,6 x 14,8 x 1 cm, Addison-Wesley, München 2006. Jeder Band EUR 14,95. www.addison-wesley.de
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::::: FH Mainz: Bilderbuchillustration
Sofie Walross und das
Die Fachhochschule in Mainz genießt einen hervorragenden Ruf als Ausbildungsstätte für Illustration, der weit über Deutschland hinausreicht. Dabei hat sich in den letzten Jahren ein Schwerpunkt im Bereich Bilderbuchillustration herauskristallisiert. Interessierte Studierende finden hier Zugang zu Techniken und Verfahren der Illustration. Wir stellen Maximilian Walther mit seinem Projekt »Sofie und das Walross« nach einem Text von Christa Kempter vor. von Max Walter und Albrecht Rissler
Im Studiengang Gestaltung bietet die Fachhochschule Mainz unter Leitung von Professor Albrecht Rissler das Fach Illustration an. Die Studierenden lernen die illustrative Interpretation von Texten für Kinder und Erwachsene, sie üben Darstellungstechniken, lernen, wie man Formate spannungsvoll gestaltet oder Figuren entwickelt, aber auch wie man praxisnah und erfolgreich Kontakt zu künftigen Auftraggebern knüpfen kann. Studierende seiner Illustrationskurse gewannen bedeutende Preise und Auszeichnungen, darunter den 1. Preis sowie mehrfache Auszeichnungen und Anerkennungen der Stiftung Buchkunst, red dot, der Gestalterpreis der Büchergilde Gutenberg, den Publikumspreis Meefisch der Stadt Marktheidenfeld, Österreichischer Staatspreis für Illustration, um nur einige zu nennen. „So schön die Auszeichnungen sind, viel wichtiger ist mir die praxisnahe Zusammenarbeit mit den Verlagen“, erklärt Albrecht Rissler. „Sie ist für die Ausbildung von großer Bedeutung. Der frühe Kontakt der Studierenden mit den späteren Auftraggebern öffnet Türen und erleichtert nach Abschluss der Ausbildung den Übergang in die berufliche Praxis.“ Kennzeich-
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nend dafür sind die große Anzahl publizierter Diplomarbeiten und die Veröffentlichungen von Buchentwürfen aus vielen Semesterprojekten. Partner dieser Projekte sind Verlage wie Carlsen, Suhrkamp/Insel, Baumhaus, Büchergilde, Arena, Random House, Nord-Süd, MineEdition, Jungbrunnen, Peter Hammer usw., die die Zusammenarbeit mit den Studierenden der Hochschule in Mainz schätzen und suchen.
Die praxisnahe Zusammenarbeit mit den Verlagen ist wichtiger Bestandteil der Ausbildung. Max Walther kam durch eine Reihe von Zufällen zur Illustration. Er hat wie die meisten in seiner Kindheit viel gezeichnet, mit Vorliebe Comics, die er in Kleinstauflagen kopiert und sorgfältig mit Tesafilm verklebt für 20 Pfennige an Familienmitglieder verkaufte. Nach dem Fachabitur und einer Lehre zum Offsetdrucker folgte eine kurze Zeit der Berufstätigkeit, in der vor allem klar wurde, „dass ich unbedingt einen Beruf ausüben wollte, der mehr meinen Neigungen entsprach.“ Er hängte den Job an den Nagel, fabri-
zierte eine Bewerbungsmappe und bewarb sich für den Studiengang Design an der Fachhochschule in Mainz, weil es dort – entgegen der üblichen Praxis – halbjährliche statt jährliche Aufnahmeverfahren gibt. Dass es dort einen Studienschwerpunkt Illustration im Fachbereich Design gibt, wußte er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Er wurde aufgenommen und begann sein Studium im Sommersemester 2004. Nach einer Orientierungsphase durch die unterschiedlichen Designrichtungen wandte er sich ab dem Ende des 4. Semesters mit einem Illustrationsprojekt zu »Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde« von Robert Louis Stevenson seinem zukünftigen Fachbgebiet zu. Seither besucht er die Vorlesungen von Professor Rissler, der ihn auch auf den Gedanken brachte, sich näher mit dem Thema Bilderbuch zu befassen. Rissler lieferte den notwendigen Überblick, stellte herausragende Illustratoren und ihre Bilderbücher vor, sprach über die »Häschenschule« von Fritz Koch-Gotha, über die wunderbaren Bücher von Wolf Erlbruch und die erfrischende Illustrationen von Komako Sakai. Maximilian beschloß, obwohl sein Interesse bis dahin der eher wenig kindgerechten Gothic Novel galt, allen voran Edgar Allen Poe, dessen Erzählung »Die schwarze Katze« er schon illustriert hatte, ebenfalls ein Bilderbuch zu gestalten. Professor Rissler vermittelte den Kontakt zur Autorin Christa Kempter, die mehrfach in seinen Vorlesungen über ihre Arbeit als Autorin berichte-
te. Kempter stellte ihm die Geschichte »Sofie und das Walross« zur Verfügung. „Ich habe mir ein kleines Mädchen an einem langweiligen Regentag vorgestellt“, beschreibt die Autorin den Anfang der Geschichte. Das Mädchen sitzt in seinem Kinderzimmer und weiß nicht recht, was es anfangen soll. Als sein Blick auf das Plüsch-Walross und einen grünen Schlabberpulli fällt, beginnt die Reise ins Land der Fantasie. „Spannend fand ich den Kontrast von kleinem, zarten Mädchen zu großem, schwabbeligen Walross und wie sich daraus entwickelt, dass dieses kleine, zarte Mädchen ihr etwas unbeholfenes Walross sicher durch alle Hindernisse geleitet, wie sie mit einem ganzen Saal voll aufgeregter Tiere zurechtkommt und sozusagen alles im Griff hat.“
sich nur durch ein intensives Naturstudium einstellen.“ (Abb.2, S.75 links) Danach folgte eine Inspirationsphase mit Sichtung von Animationsfilmen und Bilderbüchern zu ähnlichen Themen. „Ich wollte sehen, wie andere Zeichner und Illustratoren Tiere darstellen. Auch diese Inspiration half mir, den Schritt von den ersten Skizzen, meinen Tierstudien im Zoo bis zu den endgültigen Illustrationen zu bewältigen und dann meinen eigenen Weg zu gehen.“
Ein gutes Gefühl für Proportionen und typische Haltungen kann man nur durch ein intensives Naturstudium erlangen.
Recherche Character Design In dem Text kommt eine Vielzahl unterschiedlicher Tierarten vor, deren Physiognomie und Charakter im Zoo am lebenden Modell studiert werden mußte. „Diese zeichnerische Recherche ist mir ausgesprochen wichtig“, erklärt Walther seine Arbeitsmethode, „da ich nur so Form und Bewegung erfassen kann. Auf der Basis dieser Seherfahrungen ist es mir möglich, einen zu der Geschichte passenden Charakter in einem mir gemäßen Stil zu entwickeln. Fotos alleine sind als Informationsquelle nicht ausreichend, da sie nur eine Momentaufnahme zeigen können. Ein gutes Gefühl für Proportionen und typische Haltungen kann
Die Entwicklung der Figuren, das Character Design, ist die zentrale Aufgabe eines solchen Projekts. Die Hauptdarsteller, die in unterschiedlichen Situationen agieren, sind komplexe Figuren, deren Aussehen, sollen sie glaubwürdig und schlüssig erscheinen, sorgfältig geplant werden muss: Sofie ist ein kleines, etwas pummeliges Mädchen mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Sofie weiß wo’s langgeht, sie hat das Sagen. Das Walross hingegen ist schüchtern, gutgläubig und oft melancholisch gestimmt. (Abb.03, S.75 mitte) Die Nebendarsteller sind in der
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Abbildungen: S.74, 01: Illustrationsstil (Test). S.75, 02-04: Naturstudie, Character design (Entwurfsphase). S. 76, 05: Seitenlayout.
Regel eher eindimensional, dadurch ist man bei der Gestaltung einerseits stärker festgelegt – so erzwingt eine lustige Figur z. B. bestimmte Farben – , erlaubt andererseits aber auch größere Freiheitsgrade, da das charakteristische Merkmal deutlicher, ja sogar übertrieben dargestellt werden kann. „Krokodil, Kaninchen, Erdferkel, Kamel, Flusspferddamen, Schildkröten, Ameisenbär und Känguruh habe ich dagegen nicht komplett durchkonzipiert und geplant, um später noch spontan und intuitiv die Gestaltung dieser Figuren ändern zu können.“ (Abb.04, S.75 rechts) Storyboard Das Buch ist die Bühne, auf der die Charaktere die Geschichte erzählen. Eine erfolgreiche Erzählung hängt also maßgeblich von der Seitengestaltung ab. In der gut ausgestatteten Bilderbuchsammlung der Fachhochschule studierte Max Walther mögliche Formate und Gestaltungsprinzipien. Er entschied sich schließlich für eine großflächige Panoramaillustration, kombiniert mit einer kleinformatigen, freigestellten Illustration (Abb. 05, S.76). Großformatige Figuren, allseits angeschnitten, schufen interessante
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Figur-Grund-Relationen. So entstand ein abwechslungsreiches und dynamisches Illustrationskonzept über alle Doppelseiten hinweg.
Kinder mögen es gar nicht, wenn ihre Art zu zeichnen nachgeäfft wird. Der Stil Die Tests in verschiedenen Stilformen und Techniken erfolgten anhand exemplarischer Textpassagen. „Das war eine sehr wichtige Phase, denn nur so konnte ich eine mir gemäße Illustrationsform finden, die gleichzeitig zur Geschichte passt.“ Der Austausch mit Prof. Rissler und den anderen Studierenden gab wichtige Entscheidungshilfen in dieser letzten Arbeitsphase vor dem Ausarbeiten des Buches. „Menschen, die zwar viel über das Projekt wissen, aber nicht direkt daran beteiligt sind, finden aus ihrer Distanz oft sehr überraschende und nicht selten bessere Lösungen.“ Schließlich blieben zwei gleichermaßen attraktive Stile übrig (Abb.01, S.74), sodass für die endgültige Entscheidung wohl noch weitere Tests nötig sind.
„Mir ist während der Arbeit an dem Buch bewusst geworden, wie verantwortungsvoll die Arbeit für Kinder ist“, erklärt Max Walther, und fügt hinzu: „Ein Blick in die Regale einer Buchhandlung oder in ein Kinderzimmer zeigt aber, wie lieblos und dilettantisch viele Bilderbücher produziert werden. Entweder wird in den Verlagen nicht genau hingesehen oder man weiß dort nicht, wie eine gelungene von einer schlechten Illustration zu unterscheiden ist. Dies alles wird mit dem Argument gerechtfertigt, dass Bilderbücher »kindgerecht« sein müssen. Vergessen wird dabei, dass Kinder es gar nicht mögen, wenn ihre Art zu zeichnen nachgeäfft wird. Kinder verdienen anspruchsvolle Bücher mit wahrhaftiger, nachvollziehbarer Darstellung ihrer realen wie der erträumten Welt. Das schließt einen kreativen Umgang mit der darzustellenden Wirklichkeit nicht aus. Die Illustrationen können sogar abstrakt sein, wenn der Betrachter trotzdem das Gefühl hat, es ist alles sehr gut beobachtet. Illustrationen für Kinder spannend, innovativ und so kreativ wie möglich zu gestalten betrachte ich als eine wunderbare Aufgabe.“
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::::: The German Film School: 3D Computeranimation
The sacred stone of horus Ein Ägyptologe betritt den Tempel des Horus, bereit den heiligen Schatz des Pharao zu heben. Er ahnt nicht, dass jedem Eindringling der sichere Tod droht. Ein ausgeklügeltes Fallensystem, kontrolliert von der Mumie des Pharaos, versperrt den Zugang zur Schatzkammer. Doch dem Wissenschaftler gelingt es durch konsequente Mißachtung, das gesamte Fallenaufgebot sicheren Fußes zu durchqueren und den Schatz des Pharaos zu entführen. Die Mumie sinnt auf Rache … von Brigitta Encke
»The Sacred Stone of Horus« ist ein Teamprojekt von 5 Studenten der German Film School, Deutschlands erster privater Filmhochschule für digitale Filmproduktion in Elstal bei Berlin. Innerhalb eines Semesters realisierten sie den 8 1/2 Minuten langen 3D-Animationsfilm über einen großartigen, wiewohl etwas schusseligen, Ägyptologen auf der Suche nach dem heiligen Stein des Horus. Die vielfältigen Aufgaben verteilten die Studenten nach Erfahrung, Fähigkeit und Neigung. In der zweieinhalb Monate dauernden Vorproduktionsphase (Pre-Production) entwickelten sie zunächst gemeinsam Story und Konzept. Danach wurde dreieinhalb Monate lang wurde modelliert, texturiert, animiert: Die komplette Umgebung, die Charaktere, Gegenstände und Ausstattung entstanden in Softimage XSI und Autodesk Maya und wurden in XSI animiert. Hans-Jürgen Sodeikat zeichnete das Storyboard und übernahm die Regie. Zusammen mit Sebastian Thinnes erstellte er auch die meisten Animationen, während Marc Egli für Character Modeling, Compositing und Visual FX verantwortlich war. Christian Hercher widmete sich vorwiegend dem
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Am Ende gelangt der Diamant wieder in den Besitz der Mumie. Mit dem Einsetzen des Steins in seinen Sockel in der innersten Kammer wird der Verfall des Tempels aufgehalten und die Halle erstrahlt wieder wie zuvor. Die Mumie kann ihren tausende Jahre währenden Schlaf fortsetzen.
Environment Modeling, Brigitta Encke entwarf und modellierte die Props (Requisiten, Anm. d. Red.), übernahm den meisten Teil der Recherche und alle administrativen Aufgaben des Projektes. Vorbereitung Die Vorlage zur Geschichte fand man im Mythos vom Fluch des Pharao, der 1923/24 durch den mysteriösen
Tod mehrerer bekannter Ägyptologen während der Arbeiten am Grab Tutanchamuns im Tal der Könige bei Luxor entstand. Als Inspiration dienten dem Team neben dem Horrorfilm-Klassiker »Die Mumie« von Karl Freund aus dem Jahr 1932 mit Boris Karloff in der Rolle der Mumie auch das 1999 unter der Regie von Stephen Sommers gedrehte Remake sowie dessen Fortsetzung »Die Mumie kehrt zurück« von 2001. „Wir haben sehr viel im Internet
Im Schein des einfallenden Lichtes erblickt der Forscher im Eingangsbereich des Tempels eine überwältigende Fülle hieroglyphischer Schriftzeichen.
recherchiert, aber auch in Büchern über Ägyptologie, um uns einen Eindruck von der altägyptischen Kultur, den Ritualen, dem Leben der Pharaonen und ihren Grabstätten zu machen“, erklärt Christian Hercher. Um Details möglichst glaubhaft gestalten zu können studierte man Art und Zweck von Grabbeigaben, beschäftigte sich mit der Technik des Einbalsamierens und besorgte Zeichnungen und Grundrisse von Pyramiden, Grabstätten und Fallen.
Set- und Characterdesign Um die monumentale Wirkung der Architektur zu verstärken, entschloß man sich für ein eher kantiges, weniger detailreiches Setdesign. Unter großem zeitlichem Aufwand wurde jeder Stein einzeln modelliert, wobei darauf Wert gelegt wurde, dass das Ergebnis weder zu realistisch wirkt, noch zu sehr an Computerspiele erinnert. Auch bei der Entwicklung der Charaktere ging es darum, ihnen einerseits
Eine lange steile Treppe führt ihn hinab in das Innere des Tempels. Am unteren Ende weitet sich der schmale Gang zu einer prächtigen Säulenhalle. In dieser Einstellung erzeugen die sich gegenseitig steigernden Komplementärfarben Blau/Orange-Gelb eine besonders lebhafte Gesamtwirkung.
ein an der Realität orientiertes Aussehen und ebensolche Eigenschaften zu geben, diese dann aber durch cartoonartige Übertreibung zu brechen. Hauptverantwortlich für das Characterdesign war Hans-Jürgen Sodeikat: „In Büchern der Ägyptologie findet man eigentlich alles, was man in so einem Fall braucht. Besonders interessant waren die sehr anschaulichen Beschreibungen und Darstellungen der Mumifizierung.“ Die Charaktereigenschaften des Protagonisten und Antagonisten sind an deren äußerem Erscheinungsbild gut ablesbar. „Um uns über die Charaktere im Klaren zu sein, haben wir einen Subtext geschrieben, der mehr Auskunft über ihre wahren Beweggründe und Verhaltensmuster gibt. Gute Tipps und Vorschläge bekamen wir auch von Harald Siepermann, unserem Dozenten für Characterdesign und Storytelling, der uns bei der Story- und Characterentwicklung tatkräftig zur Seite stand.“ So ist die Mumie, entsprechend ihres ausgetrockneten Zustands, dünn und klapprig, dabei von teilweise zerschlissenen Bandagen umwickelt, die vom Kopf nur die Augen freilassen, wodurch ihr Blick finster und unheimlich wirkt. Von ihrer einstigen Existenz haben sich Intelligenz und Machtwille erhalten. Der Forscher hingegen ist leicht gedrungen, rundlich und hat etwas zu kurze Arme und Beine. Bei der Bildrecherche stieß man immer wieder auf bestimmte Details, die für das Charakterdesign übernommen wurden. „Wir haben uns den typischen englischen Forscher als einen etwas behäbigen Mann vorgestellt, etwas gedrungener, mit Schnauzbart, und vor allem: mit Armbanduhr. Dazu die Kleidung, bestehend aus Safari-Hemd mit aufgekrämpelten Ärmeln, kurzen KhakiHosen, kräftigen Schnürstiefeln und Schutzhelm.“ Sein Charakter zeichnet sich durch einen besessenen Forscherdrang, gepaart mit Unschuld und Weltfremdheit, aus. In diesem Sinne ist ihm eine gewisse Blindheit zu eigen, die ihn zu einer Art Wiedergänger des alten Mr. Magoo von John Hubley macht.
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1.2 Produktions Pipeline
Farbe und Atmosphäre Im gleißend gelben Licht einer unerbittlichen Sonne liegt das Wüstental. In kräftiges Orange und Ocker taucht der strahlende »Stein des Horus« das Innere des antiken Tempels. Einem Kaminfeuer nicht unähnlich, spendet es dem untoten Herrscher bürgerliche Behaglichkeit. Seine bandagierte Wange sanft an den leuchtenden Kristall pressend – „die Bandagen sind alle einzeln mit Nurbs-Curves über dem Grundkörper modelliert, und ursprünglich war noch eine Simulation geplant, um deren Enden mehr in Bewegung zu versetzen… aber dafür fehlte dann die Zeit …“ erinnert sich Sebastian Thinnes. Seine bandagierte Wange sanft an den leuchtenden Kristall pressend, atmet er hingebungsvoll in den morschen Leib. Da betritt, ohne anzuklopfen, der mickrige Eroberer das Heiligtum. Krachend schließen sich hinter ihm die steinernen Tore, den Gewesenen in Alarmbereitschaft versetzend. Im hellen Schein der Fackel schreitet der nichtsahnende Held durch die blauen Säulenhallen voran, unbeirrt allen Fallen trotzend, deren uralte Mechanismen im entscheidenden Augenblick versagen. Im Allerheiligsten angekommen, voll kindlicher Freude den geschliffenen Hochkaräter sogleich aus der Verankerung hebend, ahnt er auch jetzt nicht das drohende Unheil. Bemerkt nicht, wie die Farbe schwindet, wie das warme Orange blaukalter Dunkelheit weicht, und im selben Moment Risse durch die antiken Mauern ziehen. Auch als er, an seinen Jeep zurückgekehrt, das vollständige Erlöschen des Steins bemerkt, nunmehr einen Kohleklumpen in den Händen haltend, geht ihm kein Licht auf. Es ist ohnehin zu spät: der sandige Boden verschluckt ihn, bis nur noch die den Stein haltende Hand wie die eines Ertrinkenden aus dem Boden ragt. Vom einzig rechtmäßigen Besitzer mit tiefem Seufzer der Erleichterung in den Sockel zurückgestellt, zieht der warme Schein wieder in die gute Stube. Doch kaum, dass der Seufzer aus dem alten Mull gewichen, schließt sich in der Ferne krachend das steinerne Tor …
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Die Grafik zeigt die wesentlichen Arbeitsphasen eines typischen 3D-Animations-Projektes. Diese wer2.in: Feinkonzept den aufgeteilt Development= Entwicklung der Idee (braun), Pre-Production= Entwurfsphase, Charaktere, Umgebung/ Architektur und Gegenstände werden entworfen (orange), Shot Production= die Produktion 2.1 besteht Exposé hauptsächlich aus Animation (türkis), Post-Production= Compositing, Sound, Effekte, evtl. Ausbesserungen (blau). Der brillante aber trottelige Ägyptologe ist dabei die Entdeckung seines Lebens zu machen. Er ahnt nicht, dass in den verlassenen Gängen der alten Grabanlage eine Mumie ihr Unwesen treibt und jeden verscheucht, der sich an den alten Schätzen Musik und Sounds einspielte. Anhand des Animatics (gevergreifen will. Doch auch die Mumie hat nicht damit gerechnet, dass der Forscher,Anm. wenn auch filmtes Storyboard d. Red.) passte unwissend, all ihre Fallen und Bemühungen ihn aufzuhalten, vereitelt und schließlich Musik Soundeffekte wurden er die Musik der Animation und dem denund vergessenen Schatz des Pharaos findet.
zum Schluß unterlegt. Für die dramatische, ganz an Hollywood-Großproduktionen orientierte Klanginszenierung konnte man den jungen amerikanischen Musiker Justin R. Durban gewinnen. Man schickte ihm Entwürfe, einzelne Stills und Moods (Stimmungsbilder), auf deren Grundlage er das musikalische Thema komponierte und anschließend auch
Timing an. Nach einer gesamten Produktionszeit von 6 Monaten konnte das Projekt erfolgreich abgeschlossen werden: Der Film belegte den 3. Platz 4 bei dem ITVA-Festival in Köln, lief auf mehreren Festivals und wird von SoftimageXSI bei Schulungen und Vorführungen eingesetzt.
Alle Versuche, den Eindringling am Fortkommen zu hindern, bleiben erfolglos. Statt dessen wird die Mumie selbst Opfer der komplizierten Fallentechnik.
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: INTERVIEW andreas hykade
die fortschreibung der gnadenkapelle Andreas Hykade ist einer der erfolgreichsten deutschen Animationsfilmer. Neben zahlreichen anderen Arbeiten drehte er Musikvideos für die Toten Hosen, zeichnete Werbeclips für die Deutsche Post und entwickelte mit dem Studio Film Bilder die Kinderserie TOM. Seit 2005 ist er Professor für Animationsfilm an der Kunsthochschule Kassel. Das Museum of Modern Art New York zeigt im Mai seine autobiografische Heimatfilme-Trilogie, für die er seit 1996 über 20 Preise gewann. Wir sprachen mit ihm über Rock‘n‘Roll, das Leben auf dem Land und was danach kommt.
JITTER: Was gab es heute zum Frühstück? ANDREAS HYKADE: Kaffee, dazu Knäckebrot mit Gelee. JITTER: Weshalb sucht Tom, der Held einer von dir entwickelten Animationsserie, nach einem Erdbeermarmeladebrot mit Honig? HYKADE: Das ist wirklich merkwürdig, nicht wahr? Der Tom lief ja bereits sechs Jahre lang ohne festen Wohnsitz durch Skizzenbücher, war mal Pfarrer, mal Totengräber, war im Krieg, im Gefängnis und hat Liebe gekauft. Dann traf er die Erdbeermaus. Zwischendurch war ich Vater geworden und stellte fest: Kinder wollen immer die doppelte Süße, sie kriegen nie genug davon. Also, für Kinder reicht Erdbeermarmelade einfach nicht aus, da muß noch zusätzlich Honig drauf. Dann entstand zunächst ein Comic, an Animation hatte ich gar nicht gedacht. Den fertigen Comic brachte ich im Frühjahr `99 ins Studio Film Bilder und zwei Wochen später führten wir mit dem SWR Gespräche über eine Animationsserie. Darin begibt sich Tom auf die Suche nach einem Erdbeermarmeladebrot mit Honig, der Erfüllung aller Sehnsüchte; und am Ende jeder
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Folge gibt es immer nur ein halbes Brot – das ihm aber schmeckt als wär‘s ein ganzes. Wenn die Realität nur halb so süß ist wie die Phantasie, dann kann ich zufrieden sein. J: »Der König ist tot« und »Ring of Fire« sind von den Säulenheiligen des Rock‘n‘Roll und Country inspiriert. Dieses Jahr jährt sich Elvis‘ Todestag zum 30. Mal. Wirst du da sentimental? H: Sentimental will ich nicht sagen. Musik hat mich immer inspiriert. Inspiration heißt eigentlich Diebstahl. Man muß sich halt entscheiden, welche Art von Dieb man ist. Ich stehle lieber von einem fremden Medium, als vom eigenen. Momentan denke ich über einen dritten Film mit »Bob the Mole« nach, der mit einer grauenerregenden Stimme zur Welt kommt (gemeint ist Bob Dylan, Anm. d. Red.). Songs und Animation haben viel gemeinsam. Beide leben vom Rhythmus und einer klaren Thematik. J: Was bedeutet Rock‘n‘Roll, wenn man in Altötting aufwächst? H: Das Bild, das du ständig vor Augen hast, kannst du nicht
ändern, die Musik dazu schon. Ich habe als Teenager immer »Musikbox« auf Ö3 gehört. »Waiting for My Man« und »Sweet Jane« von den Velvet Underground sind ganz frühe Begleiter. Die Musik war sehr wichtig, sie hat für mich den Ort verändert. Und wenn ich heute ein Projekt beginne, steht die Musik ganz am Anfang der Konzeption. Ich suche für jeden Film zuerst den richtigen Musiker. Auch Tom ist Rock‘n‘Roll. Alle Figuren haben einen Beat. Tom hat einen langsameren, die Erdbeermaus einen, der doppelt so schnell ist. J: Du erzählst gerne Geschichten mit einer einfachen Struktur in einem einfachen grafischen Stil. H: Die autobiografischen Filme sind nicht so reduziert, aber es stimmt: Ich habe in den letzten Jahren hauptsächlich einfache klare Geschichten erzählt. Man muß lernen, den Nagel in die Wand zu schlagen, ohne einen blutigen Daumen zu bekommen. Das war die Herausforderung, besonders bei der Tom Serie. Jetzt kann es aber wieder komplexer werden. J: Du hast für deine Filme zahlreiche Preise bekommen, allein »Ring of Fire« wurde dreizehn Mal ausgezeichnet. Warst du über einen Preis besonders glücklich? H: Glücklich ist sicher das falsche Wort, aber über den Förderpreis des Trickfilmfestival Stuttgart 1996 für »Wir lebten im Gras« war ich schon sehr froh. Durch diesen Preis bekam der Film viel Aufmerksamkeit und wurde sehr oft im Fernsehen und auf Festivals gezeigt. Mit der Förderung konnte ich dann »Ring of Fire« realisie-
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ren, was sonst sicher nicht so leicht möglich gewesen wäre. Für einen jungen Animator ist so ein Preis enorm wichtig. J: Lautet deine Empfehlung an junge Animatoren: „Versucht möglichst viele Preise zu gewinnen!“? H: Nein, auf gar keinen Fall! Da will ich nicht mißverstanden werden. Junge Animatoren sollen nicht auf Preise schielen, sondern versuchen, das Wort „ich“ oder „wir“ auf eine verblüffende Art umzusetzen. Zuerst ist der künstlerische wichtig, Man muss lernen, den Na- Weg wenn die Anergel in die Wand zu schlagen, kennung hinterohne einen blutigen Daumen her kommt, gut. Aber nicht umgezu bekommen. kehrt. Diese Ausz eic h nu ng s w ut behagt mir ohnehin nicht. Immer muß festgestellt werden, welcher der beste Film ist. Das gibt für mich keinen Sinn. Niemand fragt danach, ob »Blitzkrieg Bop« oder »Yesterday« der bessere Song ist? Mancher tut es vielleicht, aber es ist unsinnig. »Blitzkrieg Bop« ist »Blitzkrieg Bop« und »Yesterday« ist »Yesterday«. Jeder ist auf seine Weise einzigartig. Es geht darum, für eine Aussage die richtige Sprache zu finden. Es geht nicht um Zehntelmillimeter Vorsprung. Den Raum für das Künstlerische auszudehnen halte ich für sehr wichtig. Erst kommt die Kunst, dann der Markt. J: Du bist seit 2005 als Professor für Animationsfilm an der Kunsthochschule Kassel tätig. H: In der Lehre reflektiere ich die Arbeiten anderer, ich fasse dort nichts an. Meine Aufgabe sehe ich darin, den Takt vorzugeben und die Kommunikation über das jeweilige Projekt zu fördern. Wir haben in Kassel eine multikulturelle Klasse. Polen, Kameruner, Chinesen, Franzosen, Österreicher, Deutsche. Das ist eine große Bereicherung. Meine Idealvorstellung von Lehre ist in
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dem Buchtitel »Let‘s compare Mythologies« zusammengefasst. Das Buch ist nicht besonders gut, aber der Titel trifft ziemlich genau meine Idee von guter Lehre. Eine Kunstschule muß die die künstlerische Eigenverantwortung der Studenten fördern. Die Studenten entwickeln die Stoffe, je unterschiedlicher diese ausfallen, desto besser für den Einzelnen, aber auch für die Klasse und für‘s Publikum. Wir kriegen hier seit 80 Jahren immer wieder die selbe Sülze von Hollywood vorgekaut. So niedlich der kleine Nemo-Fisch auch sein mag, letztlich ist das nur der x-te Aufguß des Dschungelbuchs. Und der Mainstream verhält sich extrem aggressiv gegenüber alternativen Ideen. Das ist ja nicht nur im Film so. Wir erleben momentan einen neuen Konservativismus. Eine Kunstschule muß hier einen Gegenpol schaffen. J: Animation ist ein mühsames Medium und deine Filme sind häufig traditionell gezeichnet. Wo setzt du den Computer ein? H: Die Produktionszeit eines Films läßt sich bei mir ungefähr so aufteilen: die ersten 30% sind reine Hirntätigkeit, dann folgen 30% Handarbeit, Bleistiftskizzen usw. und die letzten 40% benötigt man für das Design der jeweiligen Filmwelt. Die Technik der Umsetzung spielt eine untergeordnete Rolle. »Ring of Fire« ist traditionell gezeichnet, Tom entstand von Anfang an am Rechner. Gerade arbeite ich mit Ged Haney und Thomas MeyerHermann von Studio Film Bilder an einem Trailer für eine 3D-Animationsserie für Teenager. Darin geht es um »Bunjie – the Biggest Rockband in the World«, deren Mitglieder allerdings noch zur Schule gehen. J: Du bist sowohl mit künstlerischen als auch mit kommerziellen Filmen erfolgreich. Welcher besondere Herausforderung liegt in der Auftragsarbeit? H: Bei den Auftragsarbeiten kommt es immer darauf an, wieviel Spielraum du hast. Wenn ein Kunde anruft und sagt: „Wir brauchen da so jemand …“ dann soll er
Abbildungen: S. 82 v. o. n. u: »Ring of Fire« 1997. Teil zwei der Heimatfilme-Trilogie. S. 83 v. l. n. r.: »Zehn kleine Jägermeister« 1996. Musikvideo für die Toten Hosen. »Tom« 2002 – 2006. Kinderserie für den SWR. Diese Seite v. o. n. u: »The Runt« 2006. Teil drei der Heimatfilme-Trilogie.
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bitteschön auch zu irgendjemand gehen. Ich möchte jedenfalls für meine ganz eigene Qualität gebucht werden. Und dann kommt es immer auch auf den Geist des Auftraggebers an, ob da ein sinnstiftender Kontext besteht. Momentan arbeite ich an Illustrationen für eine Ausstellung zum Thema Nachhaltigkeit im Wiener Kindermuseum »Zoom«. J: Lassen dir Kunden die Freiheit für sichtbar baumelnde Genitalien? H: Moment, so einfach geht das nicht. Das ist ein Problem zwischen persönlicher und allgemeiner Symbolik. Wenn man Nacktheit zeigt, meint jeder gleich, da geht‘s wohl um‘s Rammeln. Aber so ist das nicht gemeint, es geht nicht um Triebhaftigkeit. Nacktheit steht hier für Verletzlichkeit.
»Blitzkrieg Bop« ist »Blitzkrieg Bop« und »Yesterday« ist »Yesterday«.
J: Welche Rolle spielt Humor in deinen Arbeiten? H: Humor braucht exaktes Timing, das macht es so schwierig. Wenn eine Pointe zum falschen Zeitpunkt kommt, mißlingt der Gag. Bei einem tragischen Moment ist es nicht so wichtig, ob er eine oder zwei oder zehn Sekunden dauert, einen Gag hat man versaut, wenn man nur einen Frame zu spät ist. Es ist viel schwieriger, eine gute Komödie zu erzählen, als eine Tragödie. Aber Humor ist erlernbar. Der Deutsche an sich ist auf der ganzen Welt für seine Humorlosigkeit bekannt. Das heißt aber nicht, dass sich das nicht ändern ließe. In dem Punkt hat mich die Londoner Animationsszene sehr bereichert. Ich versuche immer zwei Muskeln zu aktivieren, den tragischen und den komödiantischen. Tom war sehr wichtig für die Entwicklung des Humors. Humor braucht Intuition, er hat eine typische Struktur und fordert exaktes Timing. J: Von Altötting, bist du über Stuttgart nach London gezogen – und wieder zurück. Sind Orte von besonderer Bedeutung für deine Arbeit? H: Ich habe fast ausschließlich auf dem Land gelebt – Stuttgart ist ja auch sehr ländlich. Ich mache Country-Filme. Von Stadt habe ich keine Ahnung. Prinzipiell sehe ich keinen Unterschied zwischen London und Berlin. Ich sehe auch keinen Unterschied zwischen Devon und Altötting. Aber ich sehe einen Unterschied zwischen Stadt und Land. Allmählich beginne ich mich für Städte zu interessieren, breche sozusagen gerade in die Stadt auf. Im Mai werden meine autobiografischen Filme, »Wir lebten im Gras«, »Ring of Fire«, »The Runt« im Museum of Modern Art in New York gezeigt. Eine gute Gelegenheit für neue Stadterfahrungen. J: Wie kam es zu der Einladung nach New York? H: Eines Tages erhielt ich eine e-mail von dort. Man wolle ein Programm von ca. 40 min zeigen, war darin zu lesen, und eine anschließende Diskussion mit dem Publikum sei geplant.
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J: »The Runt«, der in diesem Jahr auch auf dem Stuttgarter Trickfilmfestival im Wettbewerb läuft, ist der letzte Film in der Reihe. Es geht um einen kleinen Jungen, … H: … der ein Karnickel bekommt. Allerdings nur unter der Bedingung, dass er sich selbst darum kümmert und es im folgenden Jahr eigenhändig schlachtet. Mit diesem Film kommt die autobiografische Reihe zum Abschluß. Ein wichtiger Moment für mich. J: Was war die Motivation für diese Reihe? H: In Altötting gibt es eine Gnadenkapelle. Dort sind hunderte von Votiv-Tafeln an den Außenwänden angebracht, auf denen es immer um die leidende Kreatur und ihren Gott geht. Das ist auch das künstlerische Konzept der drei Filme. Es ist die Fortschreibung der Gnadenkapelle mit anderen Mitteln. Die Reihe war wichtig, um mich von den vergifteten Elementen meiner erzkonservativen Heimat zu trennen. J: Der Film ist, anders als beispielsweise »Ring of Fire«, sehr ruhig. H: Ich habe versucht, die Spannung in die Stände zu legen. Wenn der Onkel das erste Mal in den Keller geht, passiert 20 Sekunden lang nichts. Bob Dylan hat mal gesagt: „Ich geb‘ immer ein bißchen weniger als nötig.“ Ambitionen können eine Arbeit richtig kaputt machen. Die Fragen stellte Andreas Rauth
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Text und Zeichnung: David von Bassewitz
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Es geht um das Bild und die Geschichten und die Geschichte des Bildes. Um den Kontext seiner Entstehung, Rezeption und Wirkung. Um sein kommunikatives Potential, um Bildkultur.
Schwerpunkt Zeichnung : Interview . Nora Krug . Andreas hykade :: Reviere / starjump . Silke Schmidt . Patrick Hartl . Natalie Huth . Centerblock . Katharina Gschwendtner . Frank maier . YVONNE WINKLER . DANIEL SCHÜSSLER . Olivier Kugler . LARS HENKEL ::: Bild und Geschichte / dessins automatique . Geschichte des Bleistifts . visuelle erkenntnis: das Bild in den geheimwissenschaften :::: Ausstellungen / LowBrow Art ::::: Buchrezensionen / POE . BASTARD . SHOP AMERICA . vitamin z ::::::: hochschulen
ISSN 1864-0702
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