Jitter .Rezension, Gernot Böhme: Atmosphäre

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»Freude an Glanz und Lebenssteigerung« Gernot Böhme: Amosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. .R eze nsion von Andreas R auth

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Magazin für Bildkultur


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Die neue Ästhetik ist zuallererst das, was ihr Name sagt, nämlich eine allgemeine Theorie der Wahrnehmung. Der Begriff der Wahrnehmung wird aus seiner Verengung auf Informationsverarbeitung, Datenbeschaffung oder Situationserkennung befreit. Zur Wahrnehmung gehört die affektive Betroffenheit durch das Wahrgenommene, gehört die Wirklichkeit der Bilder, gehört die Leiblichkeit. Wahrnehmen ist im Grunde die Weise, in der man leiblich bei etwas ist, bei jemandem ist oder in Umgebungen sich befindet. Der primäre Gegenstand der Wahrnehmung sind die Atmosphären.

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Freude an Glanz und Lebenssteigerung Gernot Böhme: ATMOSPHÄRE. ESSAYS ZUR NEUEN ÄSTHETIK

Endlich, darf man wohl sagen, ist dieTe x t : A nd r e a s R aut h

ses Buch wieder verfügbar – und er-

freulicherweise mit deutlich erweitertem Umfang. Wer in den letzten Jahren versucht hatte, die Ausgabe von 1995 antiquarisch oder auch nur leihweise in der Bibliothek zu bekommen, musste Geduld mitbringen. Stets vergriffen oder als Verlust registriert bei den Bibliotheken, im Antiquariat unauffindbar, führte Gernot Böhmes Beitrag zur ästhetischen Theorie, trotz seiner »erstaunlichen Diskurskarriere«, wie Zeit-Redakteur Thomas Assheuer attestiert, eine seltsame Phantomexistenz. Nun also ist der Text wieder erhältlich. Auf 300 Seiten erweitert, findet der Leser achtzehn »Essays zur neuen Ästhetik« aus den Jahren 1991 bis 2011. Dabei wird er, nach einer einleitenden Übersicht, durch vier Abschnitte geleitet, beginnend mit dem Kernbegriff Atmosphäre. Anwendungsbereiche und wichtige Bestandteile ihrer Produktion werden in Atmosphären herstellen aufgezeigt, gefolgt von einer ausführlichen Diskussion der äußeren Erscheinungsformen in Physiognomie. Im letzten Abschnitt, Ekstasen, wird schließlich die ontologische Basis der Dinge bestimmt und damit die Voraussetzung der neuen Ästhetik.

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ie Aufmachung, die Explikation, das Sich-Zeigen von Dingen wird immer bedeutungsvoller« (13), schreibt Gernot Böhme, »wir befinden uns in einem theatralischen Zeitalter, einem neuen Barock« (14). Ob Verkaufsraum, Sportereignis oder politische Wahlveranstaltung: überall wird durch ästhetische Inszenierung daraufhin gearbeitet, das Publikum in eine Stimmung zu versetzen, in der es sich solidarisch mit dem Dargebotenen erklärt und wahlweise Verkaufszahlen in die Höhe treibt, sich voller Nationalstolz in die Arme fällt oder parteipolitische Programme unterstützt. Und wo alles inszeniert wird, ist auch überall Theater. Der Schein dominiert das Reale. Eigentlich wäre die Ästhetik als »Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis«, wie sie von ihrem Begründer Alexander Gottlieb Baumgarten 1750definiert wurde, für die Untersuchung der Inszenierungskunst und Ästhetisierung der Lebenswelt zuständig. Schließlich sei, so Böhme, »jeder Raum, in dem man sich befindet, jede Blümchentapete, jede S-Bahn-Gestaltung, jede Atmosphäre in Verkaufsräumen etc. […] Ästhetik« (15). Doch anders als von Baumgarten vorgesehen, beschränkte sich die Ästhetik schnell darauf, eine Theorie des Kunstwerks und dessen Beurteilung, sein zu wollen. Und so verfehlt die ästhetische Theorie »von Kant bis Adorno« (7) den ganzen Bereich der Umweltgestaltung. Hier setzt Böhmes neue Ästhetik an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, »nach der ästhetischen Arbeit in ihrer ganzen Breite zu fragen« (15). Zentraler Erkenntnisgegenstand und Grundbegriff der neuen Ästhetik ist die Atmosphäre, deren Rolle für eine »allgemeine Theorie der Wahrnehmung« (48) in den Texten des ersten Teils untersucht wird. Der Begriff ist auch in der Alltagssprache geläufig. Üblicherweise wird damit die Stimmung einer Situation oder Umgebung bezeichnet.

Man spricht etwa von einer festlichen Atmosphäre, die einen Raum, in dem wir uns befinden oder in den wir eintreten, spürbar erfüllt. Atmosphären werden subjektiv wahrgenommen und erscheinen in der äußeren Welt nicht als Ding, es lässt sich schlecht mit dem Finger darauf zeigen. Dennoch sind sie keine Erfindung der Fantasie oder Projektion unserer eigenen Gestimmtheit auf die Umgebung. Vielmehr handelt es sich dabei um die »Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden« (23), wobei die in der Konjunktion ›und‹ ausgedrückte Bezogenheit die Atmosphäre markiert. Oder griffiger formuliert: »Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen« (34). Böhme führt den Begriff der Atmosphäre anhand von Naturerlebnissen ein und knüpft damit an die von ihm in den 1980er Jahren ausgearbeitete »ökologische Naturästhetik«1. Damals drang die Umweltproblematik erst so richtig ins öffentliche Bewusstsein: saurer Regen, vergiftete Flüsse und die Reaktorkatastrophen von Harrisburg 1979 und Tschernobyl 1986 bestimmten die Schlagzeilen. Wie üblich, wurden die Probleme von der technischen und administrativen Seite angegangen. Schadstoffbegrenzungen wurden eingeführt und umweltverträgliche Technologien entwickelt. Das Ereignis wurde in Zahlen eingewickelt, obwohl der eigentliche Handlungsdruck doch daraus entstand, dass der Mensch zunehmend unter den Folgen seiner blindwütigen Produktivität litt. Es ist daher angebracht, wie Gernot Böhme zeigt, die Umweltproblematik von der ästhetischen Seite anzugehen. »Denn für die Frage, wie wir in der Umwelt leben, ist letztlich entscheidend, wie wir uns befinden […], wie wir unsere Umwelt sinnlich erfahren. Von der Ökologie aus-

Was der naturwissenschaftlich-technischen Methode entgeht

1  Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989.

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Die Atmosphäre ist die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen.

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gehend stellt sich die Frage nach dem Sich-befinden in Umgebungen« (15). Dafür gibt es keine Zahlen. Nimmt man die sinnliche Erfahrung ernst, drängt sich die Einsicht auf, dass der naturwissenschaftlich-technischen Herangehensweise etwas Wesentliches entgeht. Das Goethe-Wort, wonach »es […] ein großer Unterschied [ist], von welcher Seite man sich einem Wissen, einer Wissenschaft nähert, durch welche Pforte man hereinkommt« (22), bringt den methodischen Ansatz auf den Punkt: Ändert man sein Erkenntnisinteresse zeigen sich die Dinge anders. Der von Böhme hochgeschätzte Dichter und Naturforscher Goethe gehört mit seiner Farbtheorie zu den wichtigsten Bezugspunkten nicht nur der neuen Ästhetik, sondern von Böhmes Denken überhaupt. Stimmungen, wie sie selbst noch in Großstädten der Sonnenaufgang über den noch ruhigen Straßen, ein Sommerabend im Straßencafé oder ein winterlich verschneiter Park bieten, sind maßgeblich von natürlichen Phänomenen geprägt. Auch die Atmosphäre im verspiegelten Inneren moderner Shopping Malls ist in ihrer künstlichen Pracht einem exotisch-paradiesischen Naturideal verpflichtet. Deutlich naturfern hingegen könnte man die strapaziöse Atmosphäre von Lagerräumen oder Maschinenhallen nennen, in denen Material, Form und Farbe einem unwirtlichen Rationalitätsgebot untergeordnet sind. Dies mag ein Hinweis darauf sein, dass Naturbezogenheit als Faktor bei der Umweltgestaltung unverzichtbar ist – vorausgesetzt natürlich, es ist einem nicht egal, wie man sich fühlt. Neben der diffusen Ausdehnung gehört zur Atmosphäre ein Zusammenspiel unterschiedlicher Elemente, welche unmittelbar und auf einmal wahrgenommen werden. Atmosphären haben »überhaupt nicht einzelsinnlichen Charakter« (96), sondern sind synästhetische Charaktere. Dies bedeutet umgekehrt auch, »dass dieselben Atmosphären von durchaus unterschiedlichen Elementen erzeugt werden können« (77). Wenn etwa die Farbe Gelb Behaglichkeit ausstrahlt, so lässt sich gleiches außerdem durch Holz, bestimmte Stoffe oder Klänge, ja sogar Worte erzeugen. Entscheidend für die Theorie der Atmosphären ist also, dass diese nicht nur erfahren, sondern auch hergestellt werden können. Als paradigmatische Atmosphärenarbeit gilt Böhme die Kunst des Bühnenbilds, auf die er in den Essays im Abschnitt Atmosphären herstellen immer wieder Bezug nimmt. Vom Bühnenbild führt sein Weg über die Architektur zum Licht als wichtiges Mittel der Inszenierung und »Modifikation des Raumes« (136). Hier nimmt er eine wichtige Unterscheidung von »Licht« und »Helle« vor. In der naturwis-

Atmosphären sind synästhetische Charaktere

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senschaftlichen Theorie wird Licht als Teil der elektromagnetischen Strahlung beschrieben, die von einer eindeutig bestimmbaren Lichtquelle ausgeht. Dieser dinghaften Vorstellung, die unseren Umgang mit Licht bestimmt, hält der Autor entgegen, dass »die Erfahrung des Lichts als solchen […] die Helligkeit« ist (135). Die Erfahrung von Helligkeit ist nicht gleichzusetzen mit dem Sehen einer Lichtquelle. Es »ist nicht ein Sehen von etwas, sondern quasi ein Sehen schlechthin« (147). Das Wahrnehmen der »Helle ist die Grunderfahrung des Sehens« (150), die an kein Objekt gebunden ist. Graduelle Abstufungen der Helle bestimmen Weisen der Raumwahrnehmung und unser »Gefühl, im Raum zu sein.« (152) Raum ist weniger eine Erfahrung der Anordnung der Dinge, sondern ihrer Sichtbarkeit unter dem Einfluss der Helle. Jeder Zeichner, der durch unterschiedlich dichte Schraffur räumliche Tiefe erzeugt, weiß das. Die Helle ist wesentlich mit dem als neutral wahrgenommenen Tageslicht verbunden und in der Form für die Inszenierungskunst nur bedingt brauchbar. Erst das farbige Licht entfaltet in vollem Umfang inszenatorische Qualität. Denn als Gestaltungsmittel im Bühnenbild, im Film, der Architektur und anderen Bereichen wird es nicht verwendet, um Dinge in Erscheinung treten zu lassen, sondern um sie auf eine bestimmte Art und Weise zu zeigen. »Licht ist […] geradezu ein Prototyp einer Erzeugenden von Atmosphären« (139). Der Rückgriff des Autors auf die Helle als Sehen an sich beinhaltet daher bereits eine Kritik an der mit manipulierender Absicht ausgeübten Beleuchtungkunst.

Lehre vom Eindruckspotential In den Texten des dritten Teils widmet sich der Philosoph einer ausführlichen Untersuchung der Physiognomik. So bezeichnet man die Kunst, Einsichten in Wesen und Charakter von Menschen aus der genauen Beobachtung ihrer äußeren Erscheinung, vornehmlich der Gesichtszüge zu gewinnen. Die Anfänge reichen zurück in die Antike und zum Fall des Philosophen Sokrates (469 – 399 v. Chr.), dessen lüstern-silenenhafte Physiognomie gerade nicht mit seinem Charakter übereinzustimmen schien und Zeitgenossen zu Spekulationen über das Verhältnis von innerem und äußerem Menschen provozierte. Im 18. Jahrhundert arbeitete der Schweizer Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741 – 1801) mit unbeirrbarer Hingabe an einer Theorie der Physiognomik, welche bereits zu seinen Lebzeiten von dem Physiker Georg Christoph Lichtenberg (1742 – 1799) heftig kritisiert wurde. Für den Aufklärer war die Vorstellung einer Abhängigkeit des inneren Menschen von seinen äußeren Zügen nicht akzeptabel und er ahnte wohl auch, wie leicht die Physiogno-




mik dem Rassismus zuspielen könnte. Böhme zeigt indes, »daß eine Physiognomik denkbar ist, die ohne fragwürdige Hypothesen über das Innere eines Menschen auskommt« (192). Er will die Physiognomik »neuer Art« (206) als Lehre vom »Eindruckspotential« (194) nicht als Ausdruckserkenntnis verstanden wissen, wie er am Beispiel des Schauspielers zeigt, der durch äußere Merkmale einen Charakter darstellt, der mit seinem eigenen nichts gemeinsam hat. Die Eindrücke, die in der äußeren Erscheinung eines Menschen tatsächlich erfahren werden, lassen sich demnach als Atmosphären auffassen, sie sind bestimmte Weisen der Anwesenheit. »Physiognomisches Erkennen ist primär das Spüren einer Atmosphäre« (206), schreibt Böhme. So sind Physiognomien in der Lage Wirkung zu erzielen und auch Urteile zu provozieren, ohne dass dabei Rückschlüsse auf die Seele inbegriffen wären. Die physiognomisch gewonnen Daten müssen deswegen einer ständigen Korrektur unterzogen werden, um nicht dem Fehlurteil (nicht nur) Lavaters zu unterliegen. Gesichtszüge lassen keinen Rückschluss auf die Persönlichkeit zu, gleichwohl haben sie in der direkten Kommunikation ihre Bedeutung und eine Wirkung ist nicht abzustreiten. Sie ist jedoch nicht der Ausstrahlung einer an die Oberfläche drängenden Natur des Menschen zu verdanken, weshalb negative wie positive Urteile ins Leere laufen: von groben Gesichtszügen lässt sich nicht auf ein wollüstiges Wesen schließen, ebenso wenig sind besonders schöne Menschen von edlem Charakter. Auch sind sie auf Grund dessen keineswegs mit einer besonderen Verbindung zum Glück gesegnet, was ihnen »von ihren physiognomierenden Bewunderern« (197) immer wieder unterstellt wurde und wird. Mit Ludwig Klages bezeichnet er »die atmosphärische Wirklichkeit, die einer Physiognomie zukommt«, als »Wirklichkeit der Bilder« (200). Das lässt einen erweiterten Blick auf die Physiognomik »auch der Tiere, Pflanzen und überhaupt aller Naturwesen« zu, wie sie bereits in der »pseudo-aristotelische Schrift Physiognomica« (202) beschrieben wurde. Die »physiognomi-

sche Weltsicht« erkennt in allem »Züge, Charaktere, Gesichter«, durch die »etwas aus sich heraustritt und eine Atmosphäre verbreitet« (207). Dieses Aus-sich-Heraustreten der Dinge bildet unter der Bezeichnung Ekstasen eine tragende Säule der Böhmeschen Ästhetik. In den Essays des Abschnitts Ekstasen entfaltet sich die ganze Tiefe und weitreichende Konsequenz von Böhmes Theorie. Jetzt füllt sich die Rede von der gemeinsamen Wirklichkeit von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen mit einem greifbaren Sinn. Denn als Voraussetzung für das Erlebnis einer gemeinsamen Wirklichkeit von Subjekt und Objekt ist einerseits, im Sinne von Aisthesis, die Beziehung des Menschen zur Umwelt als »sinnlich-affektive Teilnahme an den Dingen« (48) zu verstehen. Auf der anderen Seite steht eine Auffassung von den Dingen als Ausstrahlende. Der Teilnahme steht ein sich Mitteilendes gegenüber, um das Ineinander von Subjekt und Objekt als wirkungsmächtige Realität anzuerkennen und darin nicht bloß metaphorische Bezugnahme oder anthropomorphe Phantasie zu sehen. In der abendländischen Tradition hat die Philosophie das Ding allerdings fast immer als abgegrenzte, geschlossene und für sich seiende Entität beschrieben. Gegen diese Ontologie der Dinge wendet sich der Autor mit Rückgriff auf den Görlitzer Philosophen und Mystiker der Spätrenaissance Jakob Böhme (1575 – 1624). Jener hatte das Musikinstrument als allgemeines Dingmodell gesetzt und damit das Angelegtsein des Dings »auf Offenbarung« (235) anschaulich gemacht. Dinge teilen sich durch Form, Farbe, Textur, Klang, Geruch, Geschmack der Welt mit und ihr Erscheinen ist auf Wahrgenommen-Werden hin ausgerichtet. Mit dem Dasein »als gestimmtes und leibliches Sich-befinden in einer Umgebung« (259) und den Dingen als Ausstrahlende ist zugleich eine fundamentale Kritik an der Sinnenfeindlichkeit der technischen Zivilisation formuliert.

Die Dinge sind »auf Offenbarung« angelegt

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Kritik war schon immer eine Aufgabe der Ästhetik.

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Kitsch wurde insbesondere überall dort gesehen, wo ästhetische Produkte Gebrauchswert hatten und aufs Gemüt wirkten. Kitsch war das Schlafzimmerbild wie die Ferienpostkarte, aber nicht nur, sondern der Sonnenuntergang selbst, dem man wehmütig nachhing.

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Daneben enthält die neue Ästhetik weitere kritische Ansätze. »Kritik war schon immer eine Aufgabe der Ästhetik« (39), schreibt Böhme und verweist darauf, dass das bloße Wissen etwa um die ästhetische Inszenierung von Politik bereits als Kritik zu werten sei, die es dem Beherrschten ermöglicht, »sich gegenüber der Macht zu behaupten« (43). Die Wahrnehmung einer Atmosphäre von Macht und Überlegenheit enthält schon die Einsicht in dessen zweckmäßige Inszenierung und wird daher nicht als Ausdruck von Welt hingenommen. Mehr noch sieht er in der Ästhetik der Atmosphäre ein zeitgemäßes Mittel zur »Kritik der ästhetischen Ökonomie«. Weil sie die »ästhetische Dimension« (42) des Daseins überhaupt erst ernst nimmt – mit allem, was bislang als Kitsch und Kunstgewerbe herabgewürdigt wurde. Als ästhetische Ökonomie bezeichnet er das Stadium westlicher Industrienationen, in denen die Inszenierung der Waren einen »großen Teil der gesamtgesellschaftlichen Arbeit ausmacht«. Im Ergebnis ist die Zunahme von Waren zu registrieren, bei denen der szenische oder »Scheinwert« (46) dominiert. Da dieser zur Steigerung des Lebensgefühls beiträgt, welches ein legitimes Bedürfnis ist, wäre dies als solches nicht zu kritisieren. Im Hinblick jedoch auf die Tatsache, dass in vielen Teilen der Welt die »elementaren Bedürfnisse des Lebens und Überlebens […] nicht befriedigt werden können« […], offenbart sich der Kapitalismus westlicher Industrienationen als Verschwendungsökonomie«, was durchaus zu kritisieren sei. Für diese Kritik benötigt man aber keine ästhetische Theorie. Bedeutsamer ist vielmehr, »weil sie im Ästhetischen selbst bleibt, die Kritik an der Vereinnahmung, der Manipulation und der Suggestion, die durch die Produktion von Atmosphären denen angetan wird, die ihnen ausgesetzt sind« (47). Gegenüber der Penetranz atmosphärischer Inszenierungen, die »ihrer Natur nach … ergreifend« (47) sind, gilt es eine dis-

Kritik an Vereinnahmung und Manipulation

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tanzierte Haltung zu bewahren. Böhme betont, dass es ihm um ein Kritik geht, die »fern von allem bildungsbürgerlichen Dünkel … die Freude an Glanz und Lebenssteigerung nicht verdirbt, aber gleichwohl die Freiheit gegenüber der Macht der Atmosphären wahrt« (47). Hier ist es vor allem der Aspekt von Glanz und Lebenssteigerung, worin Böhmes Urteil über Atmosphären von der traditionellen Ästhetik abweicht. Ausdrücklich auf die Erzeugung von Stimmungen angelegte Dinge gelten dort als Kitsch und damit als unecht und wertlos, wenn nicht gar als »das Böse im Wertsystem der Kunst«, wie der Schriftsteller Hermann Broch einst raunte. Ihre Klebrigkeit lässt das Subjekt in einen unfreien Zustand wonniger Hinnahme und Passivität (Ludwig Giesz) herabsinken. Regression statt Steigerung. Affektiv-leibliche Teilnahme ist ein Sakrileg wider Kants Diktum vom interesselosen Wohlgefallen, in dem einzig sich die Freiheit des Subjekts ausdrückt.

Ästhetisches Leben und ästhetische Ökonomie Gernot Böhme gelingt die Darstellung seiner neuen Ästhetik in einer leicht zugänglichen Sprache, was ausdrücklich hervorzuheben ist. Aus dem Grund lässt sich Atmosphäre auch dem vermutlich weitaus größten Teil der »ästhetischen Arbeiter« empfehlen, der noch wenig oder gar keine Berührung mit Theorie hatte. Nehmen wir beispielsweise den Bereich der Illustration, weil er zu den Schwerpunktthemen dieses Magazins gehört. Fast alles, was dort produziert wird, schlägt nach den Kategorien der klassischen Ästhetik dem Kitsch oder dem Wertlosen zu. Völlig untertheoretisiert, zwischen Kunst und Design hin- und hergestoßen, mangelt es ihr an einem soliden Selbstbewusstsein. Mit den Instrumenten der neuen Ästhetik, vorneweg Physiognomie und Atmosphäre, wäre eine Orientierungshilfe für das gesamte heterogene Feld der Illustration gegeben. Vor allem für die im Dienst der Wareninszenierung ste



hende Werbeillustration, die Verpackungsgestaltung, das Plakatdesign und natürlich die Modeillustration (interessanterweise behandelt keiner der Essays das Thema Mode), aber auch und gerade für die Kinderbuchillustration. Gleichzeitig bietet die neue Ästhetik das notwendige Potential für eine kritische Auseinandersetzung mit der Bildpraxis, die so dringend benötigt wird. Und das kann nur die Theorie leisten. Denn im beruflichen Alltag wird der Großteil der ästhetischen Arbeit – trotz Finanz- und Umweltkrise – immer noch vor dem Hintergrund einer stillschweigend vorausgesetzten Akzeptanz der normativen Werte einer rationalistisch-kapitalistischen Ideologie geleistet. Diese verlangt, um das Begehren anzustacheln, eine bestimmte Atmosphäre, welche sich, wie Gernot Böhme in der Analyse der Materialästhetik feststellt, zusammensetzt aus »Glanz, Gediegenheit, Reichtum, Natur« (52). Eigentlich müsste man die Reihe noch um Freiheit ergänzen. Die Penetrierung dieser Werte ist nun eng verknüpft mit einer reduktionistischen Auffassung von Wahrnehmung als »Informationsverarbeitung, Datenbeschaffung oder Situationserkennung« (48). Ästhetisches Leben in seiner vollwertigen Bedeutung und ästhetische Ökonomie sind, so scheint es, letztlich unvereinbar. Es mag bildungsbürgerlicher Dégout sein, die Erzeugnisse der Kulturindustrie abzuwerten. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass dort eben das, was Böhme fordert, zumeist nicht zu seinem Recht kommt. Keineswegs wird das Potential der Wahrnehmung ausgeschöpft, der Mensch in seiner leiblichen Anwesenheit ernst genommen. Vielmehr werden ständig dieselben affirmativen Muster mit dem Endziel der Profitmaximierung in narkotisierender Weise wiederholt. Auch darin gründet die Ablehnung. Dass von nicht wenigen Designern die Auftragsarbeit daher als schaler Kompromiss empfunden wird, ist kein Geheimnis. Will man, wie Böhme, die Wahrnehmung aus diesem verengten Schema befreien, bedeutet das auch eine neue Art des Wirtschaftens, es bedeutet eine neue Gesellschaft.

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GERNOT BÖHME ATMOSPHÄRE. ESSAYS ZUR NEUEN ÄSTHETIK SUHRKAMP VERLAG 2013 300 SEITEN PREIS: 18,00 € Hinweis: Die hier verwendeten Bilder dienen lediglich zur Veranschaulichung des Themas, sie sind nicht Bestandteil des Buches!

Bildnachweis: S. 2-3 Edward Hopper (1882 – 1967), New York, New Haven and Hartford, 1831. S. 6 Jan Gossaert (1478 – 1532), Portrait eines Kaufmanns, ca. 1530. S. 9 Gustave Caillebotte (1848 – 1894), Die Yerres im Regen, 1875. S. 10 Vilhelm Hammershøi (1864-1916), Innenansicht eines Hofes, Strandgade 30, 1899. S. 12 – 13 William Holman Hunt (1827 – 1910), Unsere englische Küste, 1852. S. 15 Claude Monet (1840–1926), Kathedrale Rouen, Fassade, 1892-1894. S. 17 Felix Valloton (1865 – 1925) Interieur mit Frau in Rot, von hinten gesehen, 1903.



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