6 minute read

In die Stille

Next Article
Gefühlsdiät

Gefühlsdiät

In die Stille

Der leise hohe Ton in meinem Ohr. Darunter das dumpfe Rauschen des Blutes, regelmäßiger Herzschlag. Wenn ich mich konzentrierte und für einen Moment die Augen schloss, war ich in der Lage, den Lärm um mich herum auszublenden. Das Hupen der Taxi- und Busfahrer, die Essgeräusche der Kunden am Fastfood-Imbiss, das Trommeln der Regentropfen auf Asphalt. Dann gab es nur noch den Rhythmus meines Körpers und die Stille in ihrer Samenhülle, gut verwahrt in der Hosentasche. Wenn ich mit der Fingerkuppe darüberstrich, konnte ich schon die Risse auf der Oberfläche spüren, die Wölbung, wo erste Triebe von innen gegen die Schale drückten.

Advertisement

Nur einen Augenblick später allerdings fing in der Nähe wieder ein Kind an zu schreien und das Klackern der roten Ampeln verwandelte sich in ein maschinengewehrähnliches Rattern. Meine Konzentration war auf und davon. Dabei hätte ich inzwischen wissen müssen, dass eine Metropole nicht der beste Ort war, um Geräusche ignorieren zu lernen.

Als ich mich schließlich dazu aufrafte, den Kopf zu heben und in den Regen zu blinzeln, war Matteo bereits auf halbem Weg über die Straße. Er trug wieder den schwarzen Filzmantel, dessen Fasern sich mittlerweile bestimmt mit Wasser vollgesogen hatten. Manchmal war ich mit Matteo in die Bibliotheken und Kunsthallen hier gegangen, hatte für ihn den Eintritt bezahlt und ihn durch die hohen Räume geführt. Langsam, stets in der Hofnung, er würde verstehen, was das Schweigen an diesen Orten so besonders machte.

Das Signalgeräusch verlangsamte sich, als die Ampel von Grün auf Rot sprang. Matteo hatte die nächste Insel erreicht, warf einen Blick über die Schulter und strich sich die nassen Strähnen aus der Stirn. Er hatte nicht auf mich hören wollen und schon beim Hinaustreten auf den Bahnsteig die Kapuze wieder abgenommen. Ich solle ihm nicht dauernd Vorschriften machen, hatte er mich getadelt. So gut würde ich ihn jetzt auch wieder nicht kennen. Und das stimmte natürlich, ich wusste fast nichts von ihm. Gerade einmal seine Hausnummer hatte ich mir gemerkt, 23, und die Briefmarken und Kastanien in den Manteltaschen, mit denen er mich einmal hatte bezahlen wollen, um mich dazu zu bringen, meine morgendlichen Spaziergänge in ein anderes Viertel zu verlegen.

Der Ring an seinem linken Daumen, das dämmerige Licht im Flur und der glasige Blick an manchen Tagen. An all das erinnerte ich mich und an das Moos, das über sein hölzernes Balkongeländer wuchs.

108 109

Die Autokolonnen schoben sich durch die Straßen, Abgasluft mischte sich mit Regen und den Schneeresten an den Bordsteinkanten. Der Motorenlärm übertönte den hohen Ton in meinen Ohren und die Musik von den Reklametafeln auf Wolkenkratzerfassaden. Ich sehnte mich nach zu Hause – oder wenigstens zurück in die Ausstellungsräume des Museums, das wir gerade besucht hatten. Nicht, dass ich mich sonderlich für die Inhalte interessiert hätte, doch die geräuscharme Atmosphäre war wohltuend gewesen im Vergleich zu meinem dünnwandigen Hotelzimmer. Auch wenn ich praktisch ununterbrochen damit beschäftigt gewesen war, den Horden an Besuchern aus dem Weg zu gehen, die sich, begleitet von der nervtötenden Stimme aus ihren Audioguides, an mir vorbeidrängelten. Matteo dagegen hatte sich rasch gelangweilt. Hin und wieder war er an irgendwelchen Tafeln oder Glaskästen stehen geblieben und hatte sie eingehend studiert, nur um dann einen Blick auf seine Armbanduhr zu werfen und nach mir Ausschau zu halten.

Ein Wagen bog vor der Ampelkreuzung in eine Seitenstraße ab, ein Loch tat sich auf im fließenden Verkehr, und ohne länger nach rechts oder links zu schauen, hastete ich über die Straße. Das Hupen der Fahrzeuge ließ mich straucheln, aber ehe ich wieder umkehren konnte, hatte ich die Verkehrsinsel erreicht, auf der Matteo wartete. »Da bist du ja«, begrüßte er mich, die Stimme zu tief, als dass ich mich je daran gewöhnen könnte – ganz egal, wie lang ich blieb. Und ich musste schützen, was mir noch an Lautlosigkeit geblieben war. Vermutlich war es also besser, früher abzureisen. Nur eine Nacht im Zug, zwischen schnarchenden, schmatzenden Lärmquellen, und dann wäre ich wieder zu Hause. Meine Fingerspitzen tasteten erneut nach dem Samenkorn, doch dieses Mal gelang es mir nicht, es zu fassen zu bekommen. Seit meiner Ankunft in der Stadt war ich regelmäßig durch die Parkanlagen und öfentlichen Gebäude geschlendert, hatte nach der Stille gesucht, die ich so sehr vermisste, und wurde immer wieder enttäuscht. Von der Künstlichkeit des Schweigens in den Galerien, Kathedralen und Weisheitstempeln. Dem Zwang und der Beharrlichkeit, mit der die Menschen die Worte herunterschluckten, die sonst aus ihnen herausgesprudelt wären wie aus zu lange geschüttelten Mineralwasserflaschen. »Hat dir die Ausstellung gefallen?« »Geht so … Ich weiß nicht, ob ich nächstes Mal wieder mitkomme.«

Nächstes Mal.

Ich wusste nicht, ob ich jetzt etwas hätte antworten müssen. Möglicherweise war Matteo einer dieser Menschen, die darauf warteten, dass ihnen jemand widersprach und sie zu etwas überredete. Aber in diesem Moment bekamen meine Finger wieder die Samenkapsel in meiner Tasche zu fassen. Dort, wo die Schale aufgeplatzt war, hatte die Stille erste Triebe ausgeschlagen. Endlich. Heute Abend würde ich gehen. Vielleicht hatte Matteo inzwischen ja auch gelernt, in die Pausen zu horchen. Vielleicht hatte er sich noch einen Rest bewahrt von seiner Faszination für all die Dinge, die ich ihm gezeigt hatte. All die Arten der Stille.

Vielleicht waren meine Bemühungen nicht umsonst gewesen.

Ich sah Matteo an. Haarsträhnen klebten ihm an der Stirn und er starrte hinüber auf die verspiegelte Fassade eines Bürokomplexes. Das Schweigen wand sich um meine Finger, rankte sich entlang meines Unterarmes empor, wuchs.

Wir blieben stumm, während die Ampel auf Grün sprang und wir gemeinsam das letzte Stück bis zu Matteos Viertel gingen. Der Regen war stärker geworden und ich spürte die Kälte mittlerweile bis auf die Knochen, aber gegen den Tinnitus kam nun keines der Großstadtgeräusche mehr an. Hofentlich würde es sich bessern, wenn ich erst einmal zu Hause war.

An der Ecke zu seiner Straße blieb Matteo unvermittelt stehen und lächelte mich etwas verkrampft an, wie in der Hofnung, ich würde das Signal verstehen, ihn von hier aus allein gehen zu lassen. Weiter hinten konnte ich die Hausnummer 23 erahnen.

Ich hatte ihm noch die kleine Kapelle zeigen wollen, die sich in dem Dorf eineinhalb Stunden von hier befand. Wir hätten den Bus nehmen und das letzte Stück zu Fuß zurücklegen können. Wir hätten uns in eine der Bankreihen gesetzt und unseren Blick über die Dachbalken und den Altar schweifen lassen. Irgendwann hätten wir gemerkt, wie die Stille um uns herum wuchs und ihre Blätter entfaltete, wie sie Knospen trieb, die anschwollen und aufplatzten, wie sie zuletzt ihre Blütenblätter aufächerte und es fast keinen Platz mehr gab, um sich zu bewegen.

Es wäre ein schöner Abschluss gewesen.

Matteo drehte sich um und ging ohne ein weiteres Wort langsam davon. Vom Saum seines Filzmantels tropfte der Regen und bei jedem Schritt spritze Wasser von den Spitzen seiner Turnschuhe.

111

Ich selbst blieb allein zurück. Stand unter dem grauen Himmel und folgte ihm mit den Blicken, bis er im Hausflur verschwand. Ich hatte alles versucht. Dann setzte ich mich wieder in Bewegung und schlug den Weg zum Bahnhof ein. Noch immer der leise hohe Ton in meinem Ohr, darunter das dumpfe Rauschen des Blutes, regelmäßiger Herzschlag. Aber jetzt war es leichter, die Geräusche um mich herum auszublenden, denn in meiner Tasche keimte die Stille, und sie war das Wertvollste, das mir geblieben war.

This article is from: