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Platzsuche
Platzsuche
»Erstmal wachwerden«, sagt die wohnungslose Frau und reibt sich ihre Schläfen, ihre Augen, als Helge ihr das Kleingeld in die Hand drückt. Vom Küchenfenster aus hat er sie gesehen, wie sie schlafend auf der Straße lag, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie muss aufgestanden sein, während er die Münzen gesucht und seine abgewrackten Sneaker angezogen hat, überlegt Helge.
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Mit gerunzelter Stirn schaut sie zu ihm hinauf. »Ich bin froh, dass ich gestern Abend noch die Matratze hier gefunden hab.« Die Frau klopft auf den gerissenen Schaumstof ohne Bezug, auf dem sie sitzt. »Das ist bequemer, als auf ’ner Parkbank zu schlafen.« »Das glaub ich Ihnen«, sagt Helge und zieht seine Maske ab, eigentlich ist Corona. Aber Helge will sein Gesicht nicht verstecken, weil diese Frau sich auch nicht verstecken kann, weder vor dem Virus noch vor den Strapazen der Straße. »Darf ich mich neben Sie setzen?« »Klar doch, Jung’«, sagt die Frau und schmunzelt. Es raschelte in ihrer Jackentasche, als sie darin kramt und schließlich eine orangene Plastiktüte herausholt. In der Tüte befinden sich Zigarettenstummel. »Ganz ehrlich –« Mit schwarzstaubigen Fingern fummelt sie das Nikotinpulver aus den Stummeln. »Ich hab immer gesagt, bevor ich betteln gehe, sammele ich das Zeug von der Straße auf.« Aus derselben Tüte holt sie ein Zigarettenpapier hervor, leckt daran. »Betteln? Nicht mit Anni.« »Anni heißen Sie also?«
Sie muss mehrmals das Rädchen am Feuerzeug herunterklicken, bis eine Flamme entsteht. »Antonia eigentlich« – sie zieht an der Zigarette und bläst den Rauch aus – »aber den Namen mag ich nicht. Wurde immer gemobbt deswegen.«
Jetzt, wo er so nah an Anni dran sitzt, sieht Helge ihre graublauen Augen, angeschwollene Tränensäcke. Das Leben hat ihr wohl die Tränensäcke aus den Augenwinkeln geholt und nie wieder reingeräumt, denkt er. »Ich komm eigentlich aus Berlin. War nicht so schön da, bin deswegen mit 18 freiwillig auf die Straße.« Am Unterkiefer fehlen ihr Schneidezähne, ihre Lippen sind mit Blut verkrustet.
Anni erzählt weiter und macht keine Pausen dabei. Dass sie aus Berlin nach Köln getrampt ist und dabei Nonnen traf, die ihr nur verschimmeltes Brot zu essen gaben. Dass sie 43 Jahre alt ist und ihre Mutter sie als Jugendliche geschlagen hat. Dass ihr das Jugendamt nicht geholfen hat. »Ich wusste nicht mehr weiter, da hab ich aufgegeben.«
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Helge würde gern mehr tun als nur nicken. Ihr sagen, dass er sich in Teilen ihrer Erzählungen wiedererkennt: In der Einsamkeit, im Gefühl von Heimatlosigkeit. Dann blickt er zum Fenster der WG-Küche auf der anderen Straßenseite, denkt an sein beheiztes Zimmer und seine Zoom-Konferenzen und entscheidet sich dafür, zu schweigen. Helge hatte Glück – ihm hat das Jugendamt geholfen. »Anni«, unterbricht er sie stattdessen, »danke, dass du mir das alles erzählt hast. Aber ich muss so langsam mal los.«
Anni schnipst ihre Zigarette mit dem Mittelfinger weg, tritt den brennenden Tabak aus. »Kein Ding, mein Jung’«. Ihre schlafen Mundwinkel ziehen sich zu einem Grinsen hoch.
Helge steht auf. »Aber ich würd mich freuen, wenn wir uns wiedersehen.«
Anni nickt. »Jung, genieß die Zeit!«, ruft sie ihm nach.
Helge ist schon an der Bordsteinkante, dreht sich wieder um und ruft zurück: »Auf Wiedersehen!«
Wieder in der WG-Küche angekommen, steht Helge noch einige Minuten am Fenster, lässt seinen Kafee durch die Pad-Maschine laufen und beobachtet, wie Anni irgendwelche Sachen in einen zerfledderten Einkaufs-Trolley räumt. Auf der Hauptstraße ist morgendlicher Pendelbetrieb. Alle Menschen gehen ihren Weg, leben in ihrer eigenen Welt, so wie Anni.
Helge will Anni wirklich gern wiedersehen. Er hat Anni nichts über sich erzählt – aber er glaubt, sie hätte ihn verstanden. Er kennt das: Dass sich ein Zuhause nicht mehr nach Zuhause anfühlt. In der kleinen Mietwohnung, in der er aufgewachsen ist, gab es Überforderung und einen Kühlschrank, der vor Leere gähnte. Helge weiß noch genau, wie er sie nicht mehr ausgehalten hat: Die Nächte, in denen er Vater spielen musste. Für seine jüngeren Geschwister, aber noch mehr für den eigenen Vater, wenn ihn die Wahnvorstellungen wieder quälten und sein Heulen die dünnen Wände einzuschlagen schien. Ihm hätte das auch passieren können, das mit der Straße. Bis das Jugendamt kam, war er bereits einige Male weggelaufen, hatte wenige Klamotten in einen Turnbeutel gepackt und in U-Bahn-Stationen geschlafen, zwischen zerbrochen geglaubten Träumen und pöbelnden Passanten.
Helge weiß, dass er Anni nicht wiedersehen wird. Nicht morgen und nicht in einem Jahr. Eine Großstadt kann es sich leisten, Begegnungen nur einmal geschehen zu lassen. Helge wird weiterhin Pflanzen gießen, die er nicht mag, Instagram-Beiträge posten,
die nichts bewirken und täglich Kommilitonen auf Zoom-Kacheln sehen, die ihn nerven. Er fragt sich, ob er sich vielleicht zu stark mit Annis Geschichte identifiziert und ob er überhaupt ein Recht dazu hat.
Der Knopf an der Kafeemaschine blinkt rot; sein Kafee ist fertig. Helge nimmt seine Tasse, an deren Henkel ein Stückchen Porzellan abgeblättert ist, setzt sich auf einen schwarzen Küchenstuhl, klappt den Rechner auf und lässt das Surren der Festplatte seine Gedanken verdrängen.