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Du kannst Leere nicht mit Abspaltung begegnen

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Esra mag es nicht, wenn andere an ihrer Fassade kratzen. Daher bleibt sie immer in Bewegung: Streift zügig durch die nassen Rapshalme des Feldes, keucht, sucht nach einem Ziel. Ihre Beine, die schon viele Umwege in den Knochen haben, tragen sie durch die Nacht, die Socken vollgesogen mit kühlem Tau.

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Vor vier Tagen hat Esra sich selbst aus der Psychiatrie entlassen. Die Zeit dort war nur ein weiterer von vielen Versuchen, in dieser Welt klarzukommen. Da waren steril-weiße Wände, verbrauchte Gesichter, zu denen verbrauchte Köpfe gehörten und eine Therapie, in der jemand an ihrer Fassade kratzte. »Das ist nicht das, was ich brauche«, hat sie zum Pfleger gesagt und ihren Zimmerschlüssel plus Entlassungsbescheid auf den Holztresen gelegt. »Hier werde ich nur noch kränker, denke ich.«

Während Esra durch das raschelnde Rapsfeld stapft, ziehen Fledermäuse ihre Kreise. In der nächsten Großstadt werde ich mir ein Fledermaus-Tattoo stechen lassen, beschließt sie. Sie mag es, wie schnell und geschickt diese Wesen durch die Nacht fliegen und dabei ihre ganz eigene Schallsprache sprechen. Esra überlegt, was der Pfleger und andere wohl über sie erzählt haben, nachdem sie sich selbst entlassen hat. Wahrscheinlich, dass sie eine harte Schale hat. Sie hat das schon von vielen gehört. Doch sie stößt andere Menschen lediglich ab, bevor sie sie abstoßen können.

Als die Zimmerschlüssel auf dem Tresen des Büros klimperten, hörte der Pfleger auf, am Computer zu tippen. Nüchtern sah er zu Esra auf, stütze sein Kinn in seine gerötete Hand. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen hilft, wenn Sie sich beim Verrücktsein zusehen.« Er seufzte und fuhr seinen Bürostuhl zurück. Seine weiße Hose schlabberte an den Beinen, als er aufstand und zum Türschalter schlurfte. »Trotzdem – alles Gute.« Routiniert öfnete er für Esra die Türsperre. Sie lächelte ein leeres Lächeln, drehte sich um und fühlte sich gut, als sie die Tür aufdrückte und dem Pfleger winkte. Jeden Abend hatte sie ihn auf die Computertasten tippen und Menschen in Akten stecken gehört, Akten, die mit nichtssagenden Patientennummern beschriftet waren. Das ist jetzt für mich vorbei, wurde ihr klar, und sie begann, vom Klinikgelände zu rennen. Dabei fiel ihr auf, wie schwer ihr Rucksack war. Sie hätte etwas Kram in der Klinik lassen sollen. Mit ihrer Hand umklammerte Esra einen verfilzten Teddyanhänger und hielt sich an der Zuversicht fest, die er in ihr auslöste. Denn er stammte aus einer Zeit mit leichteren Rucksäcken.

Unter Esras Schuhsohlen klirren Scherben. Sie bleibt abrupt stehen, klopft den Scherbenstaub von den Sohlen und hält inne. Wie viele Kilometer bin ich wohl in den letzten vier Tagen gelaufen?, fragt sie sich. Sie seufzt, atmet tief in den Bauch und lässt das Früher auf ihre Kopfbühne treten. Wann haben die Tage angefangen, so schwer zu wiegen? Ihr ist klar, dass sie schon lange nicht mehr die Fäden in diesem Experiment zieht, dass sich »Leben« nennt. Wenn Esra ein Atom wäre, könnte sie von sich sagen: Es hat diesen einen Punkt in meiner Biografie gegeben, der einen Teil von mir abgespalten und die Hülle hinterlassen hat, als die ich mich fühle. Eine Hülle mit einer Leere an positiven Lebenselementen.

Konzentriert blickt sie in die Ferne. Im Hintergrund ihrer Gedanken brummen die Zikaden. Noch ein Stückchen weiter, und ich komme da an, wo der Raps in einen Grashang mündet. Umkurvt von einer Landstraße, auf der Autos selten fahren. Dorthin navigiert ihre Geburtsurkunde sie – in ihr Heimatdorf. Sie weiß nicht genau, was sie sucht, wahrscheinlich Halt und Struktur. Aber warum sollte ihr Heimatort ihr das geben können? Vater hat sich verändert, seitdem der Hof nicht mehr läuft. Esras Mundwinkel zucken. Den Wunden der eigenen Biografie so direkt ins Gesicht zu sehen, regt etwas in ihr. »Kennt ihr mich noch?«, ruft sie in Dorfrichtung und erwartet keine menschliche Antwort. Sie wartet auf den Gruß der Bäume, die Kyrill vor Jahren umgeweht hat. Ein leeres Lachen stößt aus Esras Brust, nimmt dem Schluchzen den Raum. Sie läuft los. Richtung Dorf, mit nassen Socken und einem verletzten Ich, Rapshalme rascheln und Zikaden brummen. Es ist Esras lichthungriger Charakter, dem die sporadisch am Straßenrand verteilten Laternen das Rampenlicht gewähren, einige atemlose Sekunden lang.

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