Journal der Künste 17 (DE)

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JOURNAL DER KÜNSTE 17 DIE BODENFRAGE ERICH WONDER UND HEINER MÜLLER SYRISCHE KASSETTEN SPRACHE UND WIDERSTAND DEUTSCHE AUSGABE JANUAR 2022


S. 3

S. 26  JUNGE AKADEMIE

S. 48  NEUES AUS DEM ARCHIV

KLEINSTADT

WRITTEN IN STONE + THE DISCREET CHARM OF NEOLIBERALISM

FUNDSTÜCK

Ute Mahler und Werner Mahler

Meena Kandasamy S. 5

EDITORIAL

ZEICHEN AN DER WAND – JOACHIM WALTHERS ZEITUNG FÜR DIE SCHÖNHAUSER ALLEE 71 Christoph Kapp

S. 28  CARTE BLANCHE

Kathrin Röggla

SASHA KURMAZ

S. 50

S. 6  DIE BODENFRAGE

S. 36

NACHHALTIGKEIT TROTZ KULTURIDEALE ODER DER ENTSCHEIDENDE KAMPF UM DAS EINFAMILIENHAUS

SEHNSUCHT WECKEN NACH EINEM ANDEREN ZUSTAND DER WELT – ERICH WONDER UND HEINER MÜLLER

„SCHREIBE MIR NUR IMMER VIEL“ DER BRIEFWECHSEL ZWISCHEN HANS UND LEA GRUNDIG

Stephan Suschke

S. 52

S. 39

EIN MENSCH – EIN EREIGNIS – EIN GLÜCK. ARCHIVERÖFFNUNG ROGER WILLEMSEN

Wilfried Wang

S. 18  JUNGE AKADEMIE

WIR MÜSSEN WEITERREDEN UND -SCHREIBEN, WEIL UNS KEIN ANDERES MITTEL ZUR VERFÜGUNG STEHT

HINTER DER MEMBRAN – DAS ELEKTROAKUSTISCHE STUDIO DER AKADEMIE DER KÜNSTE

NACHHALLENDE KÄMPFE – PAUL UND ESLANDA ROBESON IN OST-BERLIN Ein Gespräch zwischen Matana Roberts, Doreen Mende, Kira Thurman und George E. Lewis

Insa Wilke im Gespräch mit Gabriele Radecke

Malte Giesen

S. 54

S. 42

NACHHALTIGES BAUEN IN BERLIN – HUGO HÄRINGS ARCHITEKTURPLÄNE

Mohamed Mbougar Sarr im Gespräch mit Kathrin Röggla

S. 21

Kathleen Krenzlin

ARCHIVE DES EPHEMEREN

Sibylle Hoiman und Marieluise Nordahl

Mark Gergis im Gespräch mit Lina Brion S. 57  FREUNDESKREIS

DAS LEBEN EBEN…

HERMANN VON HELMHOLTZ UND DIE MUSIK – WIE GUT, DASS ER KLAVIER GESPIELT HAT

Cornelia Klauß über Tamara Trampe

Günther Wess und Eugen Müller

S. 46




EDITORIAL

Zusammenarbeit ist das, was in den Zeiten der vielen Krisen immer wichtiger wird und gerade in Quarantänesituationen als kostbares Gut hervortritt. In der Gesellschaft, in den Künsten, beide Felder durchkreuzend, transdisziplinär, unterschiedliche Orte und Instanzen verbindend. So sind es auch die Arbeitsbeziehungen, die uns in dieser Ausgabe des Journals der Künste besonders interessieren. Da ist der erstaunliche Arbeitsdialog zwischen „dem Sachsen Heiner Müller und dem Burgenländer Erich Wonder“, dem auch unsere große Ausstellung in der Akademie der Künste gewidmet ist, oder die Filmfamilie, die Tamara Trampe geschaffen hatte, mit Johann Feindt, Martin Steyer, Jule Cramer, Helmut Oehring und vielen anderen. Auch Roger Willemsen, dessen Archiv in einem Gespräch mit Insa Wilke vorgestellt wird, trug stets diesen Geist des Kollaborativen weiter, der ebenso eine Diskussion zum Archiv von Paul und Eslanda Robeson aus historischer, kompositioneller und kuratorisch-theoretischer Perspektive prägt. Wir erinnern aber nicht nur, sondern zeigen die Gegenwart der Zusammenarbeit. Ob es die „Agentur der Fotografen“ OSTKREUZ ist, mitgegründet von Ute Mahler und Werner Mahler, die dieser Ausgabe ihre Serie „Kleinstadt“ – Ergebnis einer gemeinsamen jahrelangen Fotorecherche – zur Verfügung gestellt haben, oder unser Studio für Elektroakustische Musik, unsere Wunderkammer, die der neue Leiter Malte Giesen als durchaus sozialen Ort einer Arbeitsakademie in Zeiten der Pandemie porträtiert, in dem analoge und digitale Techniken interferieren und sich die Frage nach der Zusammenarbeit mit KI stellen lässt. Auch die JUNGE AKADEMIE ist ein Ort der kollaborativen Verständigung. Mohamed Mbougar Sarr, unser Berlin-Stipendiat und frisch gekürter PrixGoncourt-Preisträger, hat sogar die Zusammenarbeit Wider­ ständiger zum zentralen Motiv seines Romans Terre ceinte (auf Englisch kürzlich unter dem Titel Brotherhood erschienen) gemacht und zeigt die aktive Präsenz der vielen Sprachen in der postkolonialen Poesie.

In den mehrschichtig politischen Gedichten von Meena Kandasamy wird tamilische Sangam-Lyrik überschrieben und die Vereinnahmung der Sprache durch den diskreten Charme des Neoliberalismus aus südindischer, gewerkschaftlicher Sicht sichtbar. Auch die Carte blanche unseres ukrainischen Stipendiaten der Bildenden Kunst Sasha Kurmaz, der die flüchtigen Körper provokativ ins öffentliche Bild zurückholt, zeigt uns, wie sehr die JUNGE AKADEMIE ein Gefäß globaler Kommunikation der Widerstandsformen sein kann. Wilfried Wang entwirft für Deutschland das gespenstische Bild von 16-millionenfach leerstehenden Einfamilienhäusern, die als Symbol der modernen Konsumgesellschaft in einer linearen Wirtschaft gelten können und in Zeiten von ökologischer Krise und Bodenknappheit mehr als dysfunktional wirken. Dieses architektonische Konzept muss doch so ziemlich überarbeitet werden, um unser Überleben im Anthropozän zu gewährleisten, statt nur den Bedarf einiger weniger zu sichern: Du musst dein Leben ändern. Die Geschichte des syrischen Kassettenarchivs von Mark Gergis berührt besonders. Was als beinahe zufällige Sammlung eines professionellen Musikbegeisterten auf der Suche nach den musikalischen Wurzeln der eigenen Familie begann, ist nun ein wichtiges Dokument einer großen lebendigen Musikkultur, die es an Ort und Stelle nicht mehr geben kann, ein Kassiber für zukünftige Praxen. Das Fundstück erinnert an Joachim Walthers Wandzeitungspraxis an der Schönhauser Allee, das Baukunstarchiv stellt die Restaurationsarbeit an Hugo Härings Architekturplänen vor, und die Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste ruft uns die musikalischen Studien von Hermann von Helmholtz in Erinnerung, die zeigen, wie unsere Wahrnehmung von unterschiedlichen neurologischen Prozessen erzeugt wird, die es zu verstehen gilt. Unter diesem Zeichen der Zusammenarbeit möge also das Jahr 2022 beginnen. Kathrin Röggla Vizepräsidentin der Akademie der Künste

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DIE BODENFRAGE Als Beitrag zur 20. Bundestagswahl lud die Sektion Baukunst der Akademie der Künste Politiker*innen zu zwei stadtentwicklungspolitischen Diskussionen im Online-Format ein. Am 19. August 2021 fand das erste Gespräch zum Thema „Boden, eine begrenzte Ressource“ statt.1 Zugeschaltet waren Bernhard Daldrup (SPD), Christian Kühn (Bündnis 90/Die Grünen), Caren Lay (Die Linke) und Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP). Von der CDU/CSU war niemand in der Lage teilzunehmen. Allen Beteiligten war bewusst, dass der aktuelle Flächenverbrauch in Deutschland von 56 Hektar pro Tag nicht von Dauer sein darf. Erstaunlicherweise konnte am Ende des Gesprächs ein parteiübergreifender Konsens darüber festgestellt werden, was erforderlich sei:

NACHHALTIGKEIT TROTZ KULTURIDEALE Wilfried Wang

die Gebietskörperschaften übergreifende, • Eine koordinierte und integrierte Regionalplanung zur effektiven Steuerung des Flächenverbrauchs Bildung von Zentren in suburbanen Gebieten • Die zur Verbesserung des öffentlichen Verkehrssystems Bebauung nur auf bereits versiegelten Flächen, • Eine alternativ der Einsatz von Bodenzertifikaten oder Tauschbörsen Entsiegelung von Innenstadtflächen (z. B. • Die durch Veränderung/Ersatz von Stellplätzen, neuen Grünanlagen) Verdichtung des Bestands, auch durch höhere • Die Bauten großmaßstäbliche Neuplanung von inner­ • Eine städtischen Brachen, ehemaligen Industrieflächen und Gleisanlagen Intensivierung des Öffentlichen Personen• Eine nahverkehrs Herstellung funktionaler und sozialer Mischung • Die in allen Siedlungsstrukturen

• Siedlungen der kurzen Wege

Rosa Plan vom Metropolraum Berlin-Brandenburg 2021 (rosa markiert Flächen mit Einfamilienhäusern)

Der in den Medien am Beispiel Hamburg diskutierte Einfamilienhausbau wurde aufgrund der Vorwahlkampfkontroversen nur kurz angesprochen. Diese Leerstelle schließt der folgende Beitrag.

1 Die Diskussion ist aufgezeichnet worden und kann hier abgerufen werden: https://www.adk.de/de programm/ ?we_objectID=62608. Das zweite Gespräch vom 30. August 2021 zum Thema „Die Metropole nachhaltig gestalten“ ist ebenfalls online: https://www.adk.de/ de/programm/?we_objectID= 62612

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ODER DER ENTSCHEIDENDE KAMPF UM DAS EINFAMILIENHAUS


Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr R. M. Rilke, „Herbsttag“, Paris 1902

VOM INDIVIDUELLEN TRAUM ZUM KOLLEKTIVEN TRAUMA Historisch tief verwurzelte und geografisch weit verbreitete Kultur­ ideale wie der Wunsch nach einem Eigenheim, oft gleichgesetzt mit freistehendem Einfamilienhaus, werden auch in einigen Jahrzehnten von großen Teilen der Weltbevölkerung verfolgt werden. In Deutschland träumen zwei Drittel der Bevölkerung vom Leben in einem Einfamilienhaus.1 Etwas mehr als ein Drittel wohnt derzeit so; es sind laut Statistik 28,67 Millionen Menschen (34,4 %).2 Wenn die Umfragen zutreffen, gibt es weitere 25 Millionen Deutsche, die so wohnen wollen. Von den insgesamt 19 Millionen Wohnbauten in Deutschland sind 16 Millionen Einfamilienhäuser (83 %),3 die im Schnitt mit 1,79 Personen knapp unter der Hälfte belegt sind (Zahlen von 2021; ausgehend von vier Personen pro Haushalt wäre rein rechnerisch Platz für weitere 32 Millionen Personen in den Bestandshäusern). Würde man allen, die den Wunsch nach einem eigenen Einfamilienhaus hegen, über den Bestand hinaus die Erlaubnis für einen Neubau beispielsweise mit einer Nutzfläche von 150 Quadratmetern für vier Personen auf einem Grundstück von 500 Quadratmetern zuzüglich Straßenland erteilen, dann wäre eine Fläche von etwa 3.750 Quadratkilometern notwendig. Bislang liegt der tägliche Flächenverbrauch (für Gewerbe, Siedlung, Verkehr etc.) bei 56 Hektar (204 km2 im Jahr),4 wovon laut Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit 52 Hektar pro Tag Siedlungs- und Verkehrsflächen zugeordnet sind (ca. 190 km2 im Jahr).5 Etwa ein Drittel dieser Fläche wurde 2020 mit dem Neubau von 107.747 Einund Doppelhäusern belegt, insgesamt etwa 64 Quadratkilometer. Entstünde also in den nächsten acht Jahren konstant die gleiche Zahl an Einfamilienhäusern wie in den letzten Jahren – um die 90.000 – dann würde eine Fläche entsprechend dem bebauten Teil Berlins verbraucht werden (489 km2) und dabei hätten erst 2,88 von den potenziellen 25 Millionen Menschen ihren Traum verwirklicht. Was ist gegen diesen Wunsch nach einem Einfamilienhaus einzuwenden?6 Der stete Flächenverbrauch? Die fortschreitende Zerstörung des Bodens (ob Acker, Wald oder Brache)? Die im Schnitt länger werdenden Pendlerstrecken (68,4 % der Erwerbstätigen in Deutschland pendeln mit ihrem eigenen Pkw zur Arbeit)?7 Der steigende Energiebedarf (Mobilität, Raumkomfort)? Ist das Leben in der Peripherie nicht eigentlich die idealtypische Antwort auf die COVID-Pandemie (betrachtet man die Karten mit den jeweiligen

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Fallzahlen, so waren es während der Pandemie allerdings in erster Linie die „ländlichen“ Regionen, die hohe Inzidenzen aufwiesen)? Überhaupt: Ist das Kulturideal des Lebens in einem Einfamilienhaus nicht zeitlos? Die eigentliche Herausforderung der Nachhaltigkeit an Gesellschaft und Politik liegt aber nicht nur darin, den ökologischen Fußabdruck der aktuellen Schadstoffemissionen zu verringern. Auch der kulturelle Fußabdruck,8 der durch die tiefe Verwurzelung und große Verbreitung eines kollektiven Wunsches Spuren in der Umwelt hinterlassen hat, muss zunächst erkannt und dann revidiert werden. Somit wird klar, wie viel kulturpolitische Aufklärungsarbeit in der Frage nach der Daseinsberechtigung der derzeitigen Nutzung des Einfamilienhauses noch vor uns liegt. Nur, wer soll diese Aufklärungsarbeit leisten? Die Hochschulen? Die Berufsstände? Die Politik? Der Aufschrei, der seit Januar 2021 nach Medienberichten über das Bauverbot von Einfamilienhäusern in Hamburg-Nord, verantwortet vom Grünen-Politiker Michael Werner-Boelz, durch die Bundesrepublik hallt, markiert den Beginn eines Kulturkampfes um das Einfamilienhaus. Dabei ist diese Diskussion nur stellvertretend für alle anderen unzulänglichen, nicht nachhaltigen Lebensformen, ob Urlaub in der Ferne, Fleischkonsum oder Frühverschleiß von Elektronikgeräten durch ständige Aktualisierung von Betriebssystemen. DAS IDEAL DER KOMFORTABLEN UNABHÄNGIGKEIT OHNE LÄSTIGE NACHBARN Wie man wohnt und wie man sich an Lebensformen gewöhnt, ist von angeeigneten Vorstellungen und Idealen geprägt. Beim Ein­ familienhaus versprechen sich deren Nutzer*innen Sicherheit, Freiheit und Unabhängigkeit, Naturnähe und Ruhe. Das eigene Ein­ familienhaus ist der Beweis des persönlichen, sozialen Erfolgs, man stellt sich mit dem Haus dar, man ist wer. Die Kinder sollen ungestört im eigenen Garten spielen können, gesund und lasterfrei aufwachsen. Die Erwachsenen wollen nach eigenem Gusto feiern und grillen können, ohne dass die Nachbarn sich beschweren. Selbst unter den jüngeren Menschen in Deutschland – bei der Generation Z (in der Interhyp-AG-Studie ist diese Altersgruppe auf die Gruppe von 18 bis 25 Jahren begrenzt worden) – wollen nur 18 Prozent in einer Großstadt leben.9

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Das freistehende Einfamilienhaus ist das ultimative Wunschobjekt Tempeln, gotischen Pavillons und chinesisch anmutenden Pagovieler Menschen, weil es mit dem Gefühl von Freiheit, Unabhän- den besetzten Landschaft, die der Kontemplation der Künste gigkeit und Selbstverwirklichung verbunden wird. So gesehen hat zugewandt waren. Palladio und die englischen Villen fanden ihre das menschliche Streben nach Selbstbestimmung über Jahrtau- Nachahmer in den europäischen Kolonien. Stilistisch abgewandelt, sende alle zivilisatorischen Phänomene hervorgebracht. Bauwerke aber siedlungstypologisch identisch, ersetzten die Landhäuser sind ein Teil dieses Strebens. Sie geben Menschen seit jeher den von Frank Lloyd Wright, Ludwig Mies van der Rohe und anderen notwendigen Schutz, um in klimatisch unwirtlichen Jahreszeiten für Millionen von Architekturstudierenden die klassizistischen Voroder Regionen der Welt leben zu können: mein Haus, meine eigene bilder. Blickt man heute in die Zeitschriftenregale der Bahnhofs­ Welt. So entstanden freistehende Einfamilienhäuser im kleinen wie kioske, so locken aberdutzende auf Hausbau fixierte, üppig bebilSiedlungen im großen Maßstab. Über die bauliche Hülle hinaus derte Monatshefte die potenziellen Auftraggeber*innen. Für alle verhelfen Heizungen oder Klimaanlagen Menschen in noch unwirt- ist etwas dabei: für die Sparsamen (Hausbau) wie für die nach licheren Regionen dazu, überhaupt ein Leben führen zu können. gesellschaftlicher Anerkennung Strebenden (Architectural Digest), Dieser Prozess der Autonomisierung sämtlicher Bereiche des für die ökologisch Interessierten (holz- & ökohäuser) oder die Masmenschlichen Lebens von allen natürlichen Bedingungen wurde sivhausbauenden (HAUSBAUHELDEN). besonders in extremen KlimaDas Einfamilienhaus samt zonen mit hohem materiellen Garage mit zwei Pkw ist das und energetischen Einsatz über Symbol der modernen Konsumeinen Zeitraum von Jahrtausengesellschaft. Wesen dieser den erreicht. Lebensform ist die lineare Ein Teil dieser differenzierWirtschaft: vom Abbau der ten Entwicklung wurde seit dem Ressource über Produktion, Ersten Weltkrieg – und besonBewerbung, Vertrieb, Kauf und ders intensiv seit dem Zweiten schließlich Entsorgung auf die Weltkrieg – auf der ganzen Müllhalde; aus dem einen Welt durch suburbane SiedBoden in den anderen. Die lungsstrukturen, den sogejetzige Nutzungsform des nannten Speckgürtel oder subEinfamilienhauses samt SUV urbanen Brei (englisch suburban (Sports Utility Vehicle) steht an sprawl), bewerkstelligt. Diese der Spitze des demonstrativen Siedlungsstruktur setzt sich Konsums der vermeintlichen neben den freistehenden Ein­ Freizeitklasse, des von Thorfamilienhäusern aus Bauten für stein Veblen scharf kritisierten räumlich getrennte Funktionen conspicuous consumption der wie Produktion, Versorgung, kapitalistisch-kolonialistischen Bildung und Freizeit sowie die Rosa Plan vom Metropolraum Köln-Bonn 2021 Ausbeutungsgesellschaft. Das zahlreichen infrastrukturellen Einfamilienhaus in der domiElemente wie öffentlicher Verkehr, Straßen und Medien (Energie, nanten Nutzungsform ist das schwarze Loch des westlich geprägSanitärbereich, Kommunikation etc.) zusammen. Also aus den ten Lebensideals. Es kann nie groß genug sein als musealisierte Elementen, die es auch in Städten gibt – dort in konzentrierter Zwischendeponie persönlicher Souvenirs, Sporttrophäen der längst Form –, die aber in Suburbia verstreut und mit Abstandsgrün durch- ausgezogenen Kinder, von Motten zerfressener Kleidungsstücke, zogen sind: den kaum noch erkennbaren Überresten des natur­ als Archiv nie genutzter Gartengeräte, ungenießbar gewordener mimetischen, sogenannten „Englischen Landschaftsgartens“. Nahrungsmittel, unabspielbarer Tonträger und ungelesener Bücher. Die kulturgeschichtliche Kanonisierung dieses Lebenstraums Für die längste Zeit seiner Existenz stehen die meisten Räume des erfolgte durch Literatur, Malerei und Architektur. So wurde bei- Einfamilienhauses leer. In Deutschland 16-millionenfach. spielsweise mit den Schriften von Alvise Cornaro, den Fresken von Die lineare Konsumkultur ist das Auslaufmodell der westliPaolo Veronese und den Villen von Andrea Palladio ein aus Grund- chen Zivilisation; sie steht vor dem Aus, und mit diesem Aus wird werten bildhafter Stilisierung und baulicher Repräsentation erwach- auch das Einfamilienhaus als reine, repräsentative Wohnimmobisenes und über Jahrhunderte gültiges Ideal der Villa in ländlicher lie zum soziokulturellen Dinosaurier. Vielen ist bewusst, dass ein Umgebung bestimmt.10 Waren Palladios Villen noch Zentren land- effektiver Klimaschutz Änderungen im Lebensstil jedes Einzelnen wirtschaftlicher Betriebe, so sahen sich die späteren englischen verlangt. Auch beim Thema Einfamilienhaus wird es sowohl zu Landsitze im palladianischen Stil weniger als Produktions­standorte Einschränkungen in der weiteren Errichtung dieses Typs als auch denn als Refugien in einer vollständig künstlichen, aber natürlich zu Änderungen in seiner zukünftigen Nutzung kommen. Die besteaussehenden abwechslungsreichen, mit kleinen klassizistischen henden Einfamilienhäuser müssen in Zukunft produktiver werden;

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sie könnten damit durchaus entscheidende Beiträge zur Energie- eine Gentrifizierung auszulösen.15 Machen wir uns aber nichts vor, gewinnung (Strom- und Heizenergie) und Nahrungsmittelproduk- weder das eine noch das andere wird stattfinden; es wird bei der tion (Obst und Gemüse) leisten. Mit der Errichtung von Solar- und Heterogenisierung der Innenstädte und der Homogenisierung der Photovoltaikanlagen auf den Dächern der bestehenden Wohn- und suburbanen Peripherie bleiben, denn es wird auch in Zukunft keiEinfamilienhäuser könnten die Strom- und Wärmebedarfe der nen funktionierenden Gemeinsinn in allen Bereichen des öffentliprivaten Haushalte in beträchtlichem Maße gedeckt werden. Dar- chen Lebens – von der Schule bis zum öffentlichen Raum – geben. über hinaus könnten die bestehenden 16 Millionen Einfamilien­ häuser in Deutschland so manchen der 25 Millionen Menschen, die MYTHEN: LÄNDLICHER RAUM UND EUROPÄISCHE STADT an Einfamilienhäusern interessiert sind, Wohnraum anbieten. Aber, täuschen wir uns nicht, ein zukünftiges Verbot des Ein- Über Jahrzehnte wurde die Siedlungsentwicklung von der Politik familienhausbaus würde eine Torschlusspanik auslösen, genauso und der Verwaltung auf entlarvende Weise entweder beschönigt wie in anderen Bereichen, von denen man vermuten darf, dass sie oder verharmlost. So gilt zwar offiziell seit 2007 in Deutschland irgendwann einmal verboten werden, beispielsweise der Kauf von die „Leipzig Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“,16 infolSUVs. Deren Anteil lag im Juni 2021 bei 23,8 Prozent aller Neu- gedessen einzelne sozial schwache Quartiere eine geringfügige zulassungen (2016: 12,7 ProVerbesserung erfahren haben 11 zent). Keine Spur von Rilkes (2020 wurde diese Charta noch Schwermut: Wer jetzt noch kein einmal erneuert),17 das übergeSUV hat, kann sich schnell noch ordnete Ziel der integrierten eines besorgen. Stadt- und Regionalplanung ist Beim Thema Einfamilienaber leider für keine deutsche haus sind die jeweiligen PositiStadt in Angriff genommen woronen – nicht nur in Deutschland den. Die „europäische“ Stadt – derzeit noch unüberbrückblieb Floskel, umgesetzt wurbar. Einerseits ist das Leben in den monofunktionale, rechteinem Einfamilienhaus der eckige Einschläferungskisten. Inbegriff des Individualismus, Der ländliche Raum wird des Eigensinns, andererseits in diesem Zug oft als Pendant tragen Eltern eine Verantworzur europäischen Stadt begriftung für die gesamte Familie. fen: Eigentlich umfasst er gering Wer kann es ihnen verdenken, besiedelte Flächen mit forstwenn sie nach besserer Gesundund landwirtschaftlicher Nutheit dank „Naturnähe“ und zung, aber im allgemeinen sicherer Distanz zu den soziaSprachgebrauch wird der len Missständen und städtiSpeckgürtel auch darunter subschen Lastern streben? Wel- Rosa Plan vom Metropolraum Hamburg 2021 sumiert. Dagegen die euro­ chen Eltern ist es schon egal, päische Stadt: sozial und funkwenn die eigenen Kinder mit einer Mehrheit von Schüler*innen mit tional durchmischt sowie dicht besiedelt, durch Blockrandbauten Migrationshintergrund erzogen werden? klar gefasste Straßenräume und Plätze. Was ist aber mit der SiedApropos Migrant*innen: Der Anteil der Menschen in Deutsch- lungsstruktur zwischen ländlichem Raum und „europäischer Stadt“? land mit Migrationshintergrund liegt bei 26,7 Prozent,12 2018 lag Suburbane Siedlungsstrukturen zeichnen sich durch überwiegende er in den deutschen Innenstädten bei 59,5 Prozent, in den „länd- Wohnnutzung in freistehenden Doppel- oder Reiheneinfamilienlichen“ Regionen bei 12,7 Prozent.13 Der Prozess der Suburbani- häusern aus. sierung hat über die letzten Jahrzehnte zu dieser differenzierten Betrachtet man die zeitgenössischen Lebensstile, reicht es Entwicklung geführt. Seit den 1950er Jahren wird der kollektive nicht aus, nur diese drei Siedlungsstrukturen zu analysieren, es Umzug insbesondere in den USA als white flight bezeichnet. Die müssen auch jene übergeordnet zusammenhängenden Räume Forderung, dass Migrant*innen sich doch bitte stärker in der Mehr- betrachtet werden, in denen ein Großteil der Menschen in Deutschheitsgesellschaft integrieren mögen (in den Innenstädten ist diese land lebt, also die Metropolregionen: zum Beispiel Berlin-BrandenForderung schon erfüllt, denn dort sind die Migrant*innen oft in burg, Hamburg, Köln-Bonn, Rhein-Main und München. Diese Regider Mehrheit) eröffnet zwei Optionen: die erste, nach der Menschen onen sind Wirtschaftsmagneten, deren Anziehungskraft auf mehr mit Migrationshintergrund ebenfalls so lange in die Vororte umsie- Menschen wirkt, als in den Wohnunterkünften innerhalb der Stadtdeln, bis der Anteil auf 26,7 Prozent angewachsen ist,14 und die grenze der Metropole Platz finden. Sie wohnen oft im suburbanen zweite, dass die Menschen ohne Migrationshintergrund wieder in Brei, pendeln zur Arbeit in die Stadt. Anhand des Pendlerverhaldie Innenstädte zurückkehren, natürlich idealerweise ohne dabei tens sowie durch die öffentlichen, regionalen Verkehrsverbünde

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lassen sich die Ausmaße der Metropolregionen erkennen und Studie des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung kartieren.18 Die Städte schauen als stolz-introvertierte Gebiets- wohnen 84 Prozent der Bevölkerung in Deutschland außerhalb von körperschaften tatenlos zu, wie das Umland zersiedelt wird. Das Innenstadtkernen.21 Dieser Anteil bildet also eher die Siedlungsist alles nicht neu, auch nicht das dominante Siedlungsmuster, das wirklichkeit ab als alle Vorstellungen vom verdichteten, urbanen durch diesen mobilen Lebensstil erzeugt wird. Umso notwendiger Leben im Sinne der klassischen „europäischen“ Stadt. ist es, dieses Siedlungsmuster endlich bewusst wahrzunehmen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Suburbanisierung des Denn die europäische Stadt ist nur noch ein minimales Fragment ländlichen Raums durch zukünftige Regierungen in Deutschland in der Siedlungseinheit Metropolregion. Diese besteht größten- gebremst wird. Das „Integrierte Umweltprogramm 2030“ des teils aus suburbanen Randentwicklungen um ältere Stadt- und Bundesumweltministeriums von 2016 sah zwar für 2030 einen Dorfkerne. täglichen Flächenverbrauch von 20 Hektar vor, dieser wird aber Generell liegt der Anteil der „europäischen“ Stadt im Bezug aufgrund des unausgesprochenen, gesamtpolitisch und -wirtzur Gesamtfläche der jeweiligen Metropolregion in den deutschen schaftlich gewollten Multiplikator-Effekts der EinfamilienhausBeispielen bei etwa einem Prozent: Der verdichtete Teil Berlins produktion nicht zu erreichen sein. Ein hohes Interesse an der (274 km2) nimmt in der Metropolregion Berlin-Brandenburg Weiterführung der Suburbanisierung haben neben der CDU/CSU, (30.546 km2) 0,89 Prozent ein. deren Mitglieder in den „länd­ In der Metropolregion München lichen“ Räumen oftmals die liegt der Flächenanteil der verentscheidenden Bauämter bedichteten Münchner Innenstadt kleiden, vor allem die Finanz-, bei 0,44 Prozent der GesamtAuto-, Bau- und Konsumgüterfläche der Region (113 von industrien. 25.548 km2). In den Metropolregionen um Hamburg, FrankNOTWENDIGE furt am Main und Köln liegen KONSEQUENZEN die Innenstadtflächenanteile bei 0,32 Prozent, 0,42 Prozent, Das meiste, was hier ausgeführt respektive 1,28 Prozent. Die wurde, ist seit Jahrzehnten restlichen 99 Prozent werden bekannt. Diverse Bundesre­ durch Mobilitätsnetzwerke, gierungen und ihre nachge­ Logistik- und Einkaufszentren, ordneten Bundesämter haben den zu Schlafstätten transforweitgreifende Konsequenzen mierten Dörfern und Kleinstädgefordert, unlängst das Umweltten, dem suburbanen Brei und bundesamt,22 aber leider haben den agro-pharmazeutischen selbst die Grünen die Forderung Nahrungsmittelindustrieflänach der Abschaffung der chen, vormals Landwirtschaft, Rosa Plan vom Metropolraum München 2021 Pendlerpauschale abgelehnt. gefüllt. 19 Die „europäische Ein Klimaschutz à la carte Stadt“ ist heute ein Kleinod, das dem rasant wachsenden Online- ist sinnlos, alles hängt mit allem zusammen. Neue Technologien Handel und dem daraus folgenden Sterben des Einzelhandels werden nur einen Bruchteil der notwendigen Emissionen einspaoder dem Home-Office-Modus auch nach der Pandemie nichts ren. Wie angedeutet können die bestehenden Einfamilienhäuser Effektives wird entgegenstellen können; das zunehmend an einen großen Beitrag zum Klimaschutz und zur sozialen BefrieBedeutung für die Einheimischen verliert und durch overtourism dung leisten. Aber welche Weichen müssten gestellt werden, damit zur Eigenkarikatur verkommt. in der Bundesrepublik ab 2030 tatsächlich nur noch 20 Hektar pro Tag an Fläche verbraucht werden? Welche rechtlichen Instrumente DIE SUBURBANE WIRKLICHKEIT müssten durch den Bund geschaffen werden, um diese Begrenzung in allen Bundesländern, in allen Bezirksregierungen, in allen Der Grad der Suburbanisierung lässt sich anhand des Verhältnis- Städten, Kreisen und Dörfern festzulegen? Anteilsmäßig für ses der Zahl der Innenstadtbewohner*innen zur Gesamtbevöl­ Bayern würde das beispielweise einen täglichen Flächenverbrauch kerung des Metropolenraums ablesen: In Berlin-Brandenburg leben von 3,9 Hektar bedeuten (39.000 m2). Da stockt nicht nur allen derzeit 35,78 Prozent in der verdichteten Berliner Innenstadt; in bayerischen Politiker*innen das Bier im Hals. Der Kampf um das Hamburg sind es mit 34,94 Prozent annähernd so viel. Dagegen Prinzip der Subsidiarität ist damit vorprogrammiert: Torschluss­ wohnen in der Kölner Innenstadt nur 19,16 Prozent der regionalen panik in den Baubürgermeisterämtern. Bevölkerung; in Frankfurt am Main wohnen lediglich 6,68 Prozent Zukünftige Regional- und Stadtgestaltung sollte sich aber 20 der Gesamtbevölkerung des Rhein-Main Gebiets. Laut einer nicht in der Festlegung von Obergrenzen erschöpfen, sondern sich

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langfristig mit der konkreten und integrierten klimafreundlichen Gestaltung (nicht abstrakten Diagrammen) der Metropolen und ländlichen Räume befassen.23 Das Ziel des Pariser Klimaschutzabkommens von einem maximalen durchschnittlichen Temperaturanstieg von 1,5° Celsius hat die Weltgemeinschaft bereits jetzt verfehlt. Nun geht es darum, ob es der Welt egal ist, wenn der Anstieg 2,7° Celsius oder mehr bis zum Ende des Jahrhunderts erreicht. Das Prinzip der Aufklärung hat versagt. Das Projekt der Moderne hat sich selbst ad absurdum geführt. Dem Westen fehlt jegliche moralische Autorität. Aber ironischerweise könnte das Einfamilienhaus als Symbol des Eigen-

1 Vgl. Julia Meyer, Redaktion Interhyp, „Wohntraumstudie 2021“, München, https://www.presseportal.de/ pm/12620/4951167#gallery-2, zuletzt am 10.11.2021. 2 Statista, „Bevölkerung in Deutschland nach Wohnsituation von 2017 bis 2021“, https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/171237/umfrage/wohnsituationder-bevoelkerung/, zuletzt am 10.11.2021. 3 Statista, „Statistiken zum Thema Wohnen“, https:// de.statista.com/themen/51/wohnen/#dossierKeyfigures. 4 Antwort der Bundesregierung, 19. Legislaturperiode, auf eine Kleine Anfrage der Grünen, Dez. 2020, Bundestagsquelle nicht mehr vorhanden, siehe Johanna Michel, „Flächenverbrauch müsste fast um die Hälfte reduziert werden“, agrarheute 9.2.2021 (https://www.agrarheute. com/politik/flaechenverbrauch-muesste-fast-umhaelfte-reduziert-578080). 5 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU), „Flächenverbrauch – Worum geht es?“, https://www.bmu.de/themen/nachhaltigkeitdigitalisierung/nachhaltigkeit/strategie-und-umsetzung/ flaechenverbrauch-worum-geht-es, zuletzt am 10.11.2021, fortan BMU 2021. 6 BMU 2021: „Folgen des Flächenverbrauchs: Flächen­ verbrauch vernichtet vielfach wertvolle (Acker-) Böden. Ländliche Gebiete werden zersiedelt. Unzerschnittene Landschaftsräume, wichtig für unsere Tier- und Pflanzenwelt, gehen verloren. Oftmals gedankenlos werden künftige Entwicklungschancen oder Entwicklungsnotwendigkeiten preisgegeben, für die diese Flächen benötigt werden. Man denke hier nur an Maßnahmen, die zur Anpassung an den Klimawandel erforderlich sein könnten wie zum Beispiel Hochwasserschutz. Weiteres Problem: Mit zunehmender Zersiedelung sinkt die Auslastung von Infrastrukturen. Diese Konsequenzen verstärken sich noch, wenn die Bevölkerung durch den demographischen Wandel schrumpft. Zersiedelung ist somit auch aus ökonomischer und sozialer Sicht höchst fragwürdig: Sinkt die Siedlungsdichte, steigt der Aufwand pro Einwohner zum Erhalt der technischen Infrastruktur wie Versorgungsleitungen, Kanalisation, Verkehrswege und so weiter. Je geringer die Nutzerdichte, desto weniger rentabel sind auch öffentliche Verkehrsmittel. Die Folge: Das Angebot schrumpft. Damit steigt die Abhängigkeit vom motorisierten Individualverkehr, was dann wieder den Ruf nach noch mehr (Entlastungs-/Umgehungs-) Straßen – und damit Flächenverbrauch – nach sich zieht und vieles mehr. Ähnliche Folgen treffen auch soziale Infrastruk­ turen wie Kindergärten, Schulen und Krankenhäuser. Nicht vergessen werden dürfen allgemeine Umwelt­ belastungen wie Lärm, Luftverschmutzung, Verlust der biologischen Vielfalt und so weiter. Sie steigen, wenn Siedlungsflächen und Verkehrsflächen zunehmen.“

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sinns, als technisch ausgerüstete, selbstversorgende Arche des Bürgertums sogar eine Renaissance erfahren. Und so werden manche denken, dass wir ja noch viel Zeit haben. Sollen erst einmal die Chinesen, die Nordamerikaner, die Russen, die Inder ihren CO2-Ausstoß senken, danach könne man in Deutschland vielleicht über die eigenen Einsparmaßnahmen auch im Flächenverbrauch nachdenken. Die Menschen in Deutschland haben sich ihren Spaß hart erarbeitet. Egal ob der Klimawandel unumkehrbar wird, auf ein paar Eigenheime an den Siedlungsrändern, ein paar SUVs, ein paar Kilometer Autobahn mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an. Das fällt ja auch nicht auf.

… denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.

7 Statistisches Bundesamt (Destatis), „Erwerbstätigkeit – Berufspendler“, https://www.destatis.de/DE/Themen/ Arbeit/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetigkeit/Tabellen/ pendler1.html, zuletzt am 10.11.2021. 8 Vgl. Wilfried Wang, „Sustainability is a Cultural Problem“, Harvard Design Magazine 18 (2003), S. 1–3. 9 Rheingold Umfrage der Interhyp AG, „Interhyp-Wohntraumstudie 2021: Eigenes Zuhause wird in unsicheren Zeiten noch wichtiger / Wunsch nach Eigentum steigt erneut“, 24.6.2021, https://www.interhyp.de/ueberinterhyp/presse/interhyp-wohntraumstudie2021-wunsch-nach-eigentum-steigt-erneut.html. 10 Vgl. Reinhard Bentmann und Michael Müller, Die Villa als Herrschaftsarchitektur: Versuch einer kunst- und sozialgeschichtlichen Analyse, Frankfurt am Main 1970. 11 Statista, „SUV-Anteil steigt 2021 wieder“, https:// de.statista.com/infografik/19572/anzahl-der-neuzu lassungen-von-suv-in-deutschland/, zuletzt am 10.11.2021. 12 Statista, „Bevölkerung – Migration und Integration“, https://www.destatis.de/DE/Themen/GesellschaftUmwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/_inhalt. html, zuletzt am 10.11.2021. 13 Bundeszentrale für politische Bildung, „Bevölkerung mit Migrationshintergrund, 1.11.2021, https://www.bpb. de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situationin-deutschland/61646/migrationshintergrund-i 14 Dazu müsste auch die Kreditvergabe „migrationshintergrundblind“ werden, vgl. von Haack, Mohajeri, GroßeHeitmeyer, „Diskriminierung von Migranten beim Wohneigentumserwerb“, Migazin, zuletzt aktualisiert 20.5.2020, https://www.migazin.de/2012/11/15/ diskriminierung-von-migranten-beim-wohneigentums erwerb/ 15 Vgl. ebd. 16 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, „LEIPZIG CHARTA zur nachhaltigen europäischen Stadt“, https://www.bmu.de/fileadmin/ Daten_BMU/Download_PDF/Nationale_Stadtentwick lung/leipzig_charta_de_bf.pdf, zuletzt am 25.5.2007. 17 Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, „Die Neue Leipzig-Charta“, 3.12.2020, https://www.bmi. bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlich ungen/2020/eu-rp/gemeinsame-erklaerungen/neueleipzig-charta-2020.html;jsessionid=37CF5C6AEB594 E8CD6C645B4D161B5E7.1_cid295 18 Siehe z. B. die umfangreichen Arbeiten des Lehrstuhls Prof. Alain Thierstein, TU München, zur Metropolregion München, „WAM – Wohnen, Arbeiten, Mobilität“, https://www.ar.tum.de/fileadmin/w00bfl/re/Aktuelles/ WAM_Schlusspraesentation_deutsch.pdf, zuletzt am 10.11.2021.

R. M. Rilke, „Archaïscher Torso Apollos“, Paris 1908

19 Vgl. Hoidn Wang Partner, Kartierung suburbaner Siedlungsbereiche: Berlin-Brandenburg, Hamburg, Köln, Rhein-Main, München, 2020. Diese Analyse definiert suburbane Siedlungsstrukturen einzig durch Einfamilienhaustypen: freistehend, im Doppel, Reihen- und Hof­ häuser. Mehrgeschosswohnbauten gehören in dieser Analyse nicht dazu. Vgl. auch Wilfried Wang, „Die suburbane Wirklichkeit“, Marlowes, 24.11.2020, https://www. marlowes.de/die-suburbane-wirklichkeit/ 20 Für die Berechnung dieser Anteile werden die jeweiligen Stadtbezirke mit Blockrandbebauung herangezogen. 21 Vgl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, „Wandel demografischer Strukturen in deutschen Großstädten“, BBSR-Analysen KOMPAKT 04/2016 (https:// www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/ analysen-kompakt/2016/ak-04-2016-dl.pdf?__blob= publicationFile&v=2). 22 Vgl. Umweltbundesamt, „Klimaschutz im Verkehr“, 4.11.2021, https://www.umweltbundesamt.de/themen/ verkehr-laerm/klimaschutz-im-verkehr#undefined 23 Zur Regional- und Metropolengestaltung BerlinBrandenburgs hat das Büro Hoidn Wang Partner im Rahmen des AIV Ideenwettbewerbs von 2020 einen Beitrag geleistet, siehe 21BB Model Region Berlin Brandenburg, Zürich 2020 (http://www.hoidnwang.de/ 04projekte_87_de.html).

WILFRIED WANG  ist mit Barbara Hoidn Mitbegründer von Hoidn Wang Partner, Berlin. Geboren in Hamburg, hat er Architektur in London studiert. Neben Lehrauf­t rägen, die er an der Polytechnic of North London, Bartlett School, der GSD Harvard University, der ETH Zürich, der UT Austin, der ETSAUN Pamplona/Madrid ausgeübt hat, ist er als Herausgeber und Autor von Publikationen zur Architektur und Kurator von Architekturausstellungen tätig. Wilfried Wang ist Mitglied der Kungliga Konst­ akademien Stockholm, des Comité International des Critiques d‘Architecture, der Akademie der Künste, Berlin, Dr. h.c. der Kungliga Tekniska Högskolan Stockholm und Ehrenmitglied des Ordem dos Arquitectos, Portugal.

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KLEINSTADT Eine Serie von Ute Mahler und Werner Mahler

UTE MAHLER, geboren 1949 in Berka (Thüringen), und WERNER MAHLER, geboren 1950 in Boßdorf

Ute Mahler und Werner Mahler sind drei Jahre lang in deutsche Kleinstädte gereist. Sie zeigen eine Generation, die sich fragt: Gehen oder bleiben? „Wir wollten Städte besuchen, die in keinem Reiseführer stehen und die zu weit von der Autobahn entfernt sind, als dass Menschen sie auf der Durchreise durchqueren würden. Wir nennen sie übersehene oder vergessene Städte. In diesen Kleinstädten stehen viele Läden in der Ortsmitte leer, dort müssen Schulen schließen, weil es nicht mehr so viele Kinder gibt, dort fährt immer seltener der Bus […] Wir haben uns gefragt: Wie leben die Menschen in den kleinen Städten? Was ist da für eine Stimmung? Wie sieht es dort aus?“

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(Sachsen-Anhalt), die zur DDR-Zeit zu den stilprägenden Fotografen des Ostens zählten, realisieren als herausragende Vertreter ihres Faches ihre humanistische Sicht auf die Welt in intensiven Projekten. Nach der Wende haben sie die Fotografenagentur OSTKREUZ und die Ostkreuzschule für Fotografie in Berlin mitbegründet. Neben der Lehre widmen sie sich seit 2010 gemeinsam freien Projekten. 2019 wurden sie für ihr fotografisches Schaffen von der Deutschen Fotografischen Akademie mit der David-Octavius-Hill-Medaille ausgezeichnet. Kleinstadt ist ihr viertes gemeinsames Langzeitprojekt, die gleichnamige Publikation erschien 2018 bei Hartmann Books.

Zeit-Magazin, 23. Oktober 2018

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WIR MÜSSEN WEITERREDEN UND -SCHREIBEN,

WEIL UNS KEIN ANDERES MITTEL ZUR VERFÜGUNG STEHT

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Der Schriftsteller Mohamed Mbougar Sarr, Literatur-Stipendiat der JUNGEN AKADEMIE und Gewinner des Prix Goncourt 2021, im Gespräch mit Kathrin Röggla

KATHRIN RÖGGLA   Mohamed, Sie leben in Beauvais, haben in Paris studiert, aber Ihr Leben begann im Senegal, wo Ihre Familie lebt. Ich weiß, dass Sie auf Französisch schreiben. Haben Sie es schon mal mit einer anderen Sprache versucht oder würden Sie das gerne tun? MOHAMED MBOUGAR SARR   Ich habe damit experimentiert, auf Serer zu schreiben, meiner Muttersprache, und auch auf Wolof, der meistgesprochenen Sprache im Senegal, aber es fällt mir schwer, denn im Senegal lernt man weder auf Serer noch auf Wolof zu schreiben. In der Schule ist Französisch Unterrichtssprache, deshalb schreibe ich auf Französisch. Alles, was den Kopf betrifft, die Aktivität des Gehirns, den Intellekt, kommt auf Französisch zu mir. Aber tiefer in mir liegen Wolof und vor allem Serer verborgen. Ich habe es probiert. Im Moment bin ich noch nicht soweit, aber eines Tages werde ich es tun, weil es für mich persönlich, politisch und symbolisch wichtig ist. KR   Würden Sie sagen, dass Literatur auch Übersetzungsarbeit ist? MMS  Schreiben ist immer auch eine Art von Übersetzung, oder zumindest gibt es immer einen Weg, das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Sprachen zu finden, die ich sprechen muss … Wie Édouard Glissant sagte: „Ich habe immer in Gegenwart aller Sprachen geschrieben, auch wenn ich auf Französisch schrieb.“ Gleichzeitig schrieb ich also auch auf Serer, auf Pulaar und so weiter. Alle Sprachen sind vorhanden. Jeder Autor, jede Autorin hat eine eigene Sprache, und diese Sprache geht weit über den technischen Aspekt hinaus – ob Französisch, Englisch oder Deutsch –, es ist die persönliche Sprache jedes Individuums. KR  Was bedeutet es, als Autor mit senegalesischen Wurzeln in Paris zu leben? Es gibt ja diesen Begriff der „Weltliteratur“. Hier in Deutschland wird er aber eher als marginalisierend empfunden. MMS  Es gibt marginalisierende Situationen, das ist klar, ein Erbe der Kolonialisierung, denn in der französischen Literatur gelte ich nicht immer als französischer Schriftsteller. Ich mag es nicht, wenn von „Weltliteratur“ gesprochen wird. Auch wenn es nicht so deutlich gesagt wird, habe ich doch das Gefühl, es ist ein Weg zu sagen: Ich bin das Zentrum, und dort ist die Peripherie – Satelliten, die mich umkreisen –, und das ist dann Weltliteratur. In Frankreich werde ich als afrikanischer, senegalesischer Schriftsteller angesehen. Ich schreibe zwar auf Französisch, gelte also als frankofoner Autor, aber dieses Französisch gehört nicht zu Frankreich, es kommt aus einer alten Kolonie, aus Senegal, Kongo, Haiti … Das ist eine sehr zwiespältige Situation. KR  Sie haben kürzlich einen neuen Roman veröffentlicht … MMS  Ich befinde mich gerade auf einer sehr umfangreichen Lesereise, denn mein Roman steht auf der Shortlist vieler wichtiger Literaturpreise: Prix Goncourt1, Académie française und so weiter. Ich hatte zahlreiche

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Meetings mit jungen Studierenden in Bibliotheken und Buchhandlungen. KR  Wie lautet der Titel Ihres neuen Romans? MMS  La plus secrèt mémoire des hommes – der Titel stammt von Roberto Bolaños Die Wilden Detektive, er ist ein Autor, den ich wirklich bewundere. Alle Fragen, die wir gerade diskutiert haben, sind Teil seines Buches: Was bedeutet es, ein afrikanischer Schriftsteller in der französischen Literaturszene zu sein? In dem Roman ist auch ein doppelter Boden für französische Journalisten oder für den literarischen Bereich eingezogen, denn das Buch zeigt ihnen ihr Abbild im Spiegel der Kolonialisierung. KR  Ihr berühmtester Roman Terre Ceinte [Umschlungene Erde] aus dem Jahr 2015 – der erst in diesem Jahr auf Englisch unter dem Titel Brotherhood erschien und noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt – erzählt uns eine Geschichte der Rebellion gegen ein islamis­ tisches Terrorregime in einer fiktiven Stadt namens Kaleb. Ich vermute, dass mehrere Wege zu diesem Roman führten? MMS  Der Gedanke, das Buch zu schreiben, kam mir erstmals 2012, weil in diesem Jahr große Teile Malis den Angriffen islamistischer Milizen ausgesetzt waren. Es machte mich sehr traurig. Ich liebe Mali wirklich, weil die malische Kultur wunderschön und sehr alt ist – sie ist voller Poesie und von großer Bedeutung für den afrikanischen Kontinent und seine Geschichte. Zu sehen, wie diese Kultur buchstäblich zertrümmert wurde, schockierte mich zutiefst, und ich beschloss, einen Roman zu schreiben, um zu zeigen, was in einer von Terrorismus beherrschten Stadt passieren kann. Es war wirklich sehr simpel, die Hauptidee dieses Romans zu finden. Ich wollte einfach darstellen, was in einer ganz gewöhnlichen Stadt passieren kann. KR  In Ihrem Roman revoltieren nicht nur die Milizen gegen die Armee, sondern vor allem die einfachen Bürger … MMS  Es ist wichtig zu zeigen, dass normale Bürger Widerstand leisten können, da sie in einer solchen Situation an vorderster Front stehen. Widerstand ist eine schöne Vorstellung, aber eben auch eine enorme Herausforderung. Es war mir wichtig zu beschreiben, wie normale Menschen in alltäglichen Situationen Widerstand leisten, aber auch feige sein können. Ich wollte zeigen, wie sie sich wehren, denn jeder Bürger und jede Bürgerin, jeder Mensch hat seine persönlichen Gründe, etwas zu tun oder nicht zu tun. Nicht alle wehren sich, weil es riskant ist. Mich interessierte die Vielfalt möglicher Reaktionen bei gewöhnlichen Menschen. KR  Sie haben auch die Frage nach dem kritischen Moment aufgeworfen: Wann beginnen die Menschen mit ihrem Widerstand? Am Anfang Ihres Romans steht die öffentliche Hinrichtung eines jungen Paares, und niemand tut etwas dagegen. Aber als eines Tages die Frau von Ndey Joor Camara, einer der Hauptfiguren, öffentlich geschlagen wird, reagieren sie.

MMS  Gewalt hat etwas Faszinierendes. Wenn man fasziniert ist, gibt es zwei Möglichkeiten zu reagieren: Man kann schweigen, eingeschüchtert sein und nichts tun, aber manchmal trifft einen die Gewalt so sehr, dass man etwas tun muss. Besonders wenn diese Gewalt einen Akt der Barbarei, des Tötens impliziert, zieht sie Reaktionen der Menschlichkeit von tragischer Dimension nach sich. All dies habe ich im Roman versucht zu vergleichen. KR  Hatten Sie ein Vorbild für diese Art von Widerstand? MMS  Ich habe viele Romane wie Albert Camus’ La Peste oder Joseph Kessels L’Armée des ombres über den französischen Widerstand während der deutschen Besatzung gelesen. Auch ein Roman wie Jeder stirbt für sich allein von Hans Fallada hat etwas mit dieser Vorstellung einer Stadt zu tun, in der verschiedene Charaktere auf dieselbe Situation unterschiedlich reagieren. KR  Der Literatur kommt in diesem Kampf eine ganz eigene Rolle zu. Als in Ihrem Buch die berühmte Bibliothek von Bantika niedergebrannt wird, reagiert die internationale Gemeinschaft. Sie haben aber auch Heinrich Heine zitiert: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ MMS  Es ist eine ambivalente Situation. Manchmal lieben wir Bücher mehr als Menschen. Da alle Dimensionen unserer Menschlichkeit über Symbole transportiert werden, verwundert es kaum, dass wir stark getroffen sind, wenn eines dieser Symbole vernichtet wird, weil wir spüren, dass etwas in uns selbst, dem Kern unserer Menschlichkeit, ebenso ausgelöscht wird. Ich begann mit dem Schreiben, als ich die Zerstörung der Bibliothek von Timbuktu, des Friedhofs, der Heiligen von Timbuktu sah … aber ich versuche mir in Erinnerung zu rufen, dass es neben diesen Symbolen reale Menschen waren, Männer, Frauen, Kinder, die gestorben sind. In einer perfekten Welt sollte uns das Schicksal der Menschen mehr bewegen als das der Symbole, aber das ist eine sehr vielschichtige Gemengelage.

In einer perfekten Welt sollte uns das Schicksal der Menschen mehr bewegen als das der Symbole.

KR  Die Symbole sind wichtig, aber es gibt auch diese Vergeblichkeit von Sprache, die bei Ihren Charakteren eine Rolle spielt. MMS  Schriftsteller wissen, dass Sprache ein sehr mächtiges Werkzeug ist, vielleicht die einzige Waffe, die ihnen bleibt, aber andererseits erkennen sie rasch, dass Sprache nicht zum wahren Kern der Dinge vordringt. Wir versuchen, etwas Tieferes zu berühren – die Wahrheit –, versuchen, mit der Sprache etwas Essenzielles zu ergründen. Angesichts der Gewalt gibt es verschiedene Dinge, die man tun kann: Man kann Missstände anprangern, beschreiben und kritisieren. Andererseits muss man konstatieren: Das sind alles nur Worte. Was können sie denn bewirken? Und doch müssen wir weiterreden und -schreiben, weil uns kein anderes Mittel zur Verfügung steht – wir sind mächtig, aber auch mittellos.

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KR  Die Frage der Sprache hängt auch mit dem von Ihnen angesprochenen Gerechtigkeitsbegriff zusammen. Da ist dieser islamistische Führer, der sich in seiner ganzen Zwiespältigkeit zeigt. Er mag es, wenn die Menschen um ihr Leben flehen, und er mag es, sie sterben zu sehen, er spielt gerne Gott – gleichzeitig verspürt er den Drang, das Gesetz Gottes zu verbreiten. Er argumentiert und arbeitet dabei auch mit Worten: Geben Sie ihm deshalb im Roman so viel Raum? MMS  Sprache und Gerechtigkeit sind miteinander verwoben. Beide suchen nach einer Art Wahrheit. Wenn Gerechtigkeit geübt wird, geht es darum, eine Art Wahrheit zu entdecken, zu offenbaren oder zu finden. Beides ist in der Figur des Abdel Karim in gewisser Weise vereint. Es mag sehr verlockend sein, ihn auf eine Art Monster zu reduzieren, eine Inkarnation des Bösen. Aber ich fand es interessanter, seinen Blickwinkel einzunehmen. Ihn in seiner Komplexität als Mensch zu beschreiben. Er führt Menschen an, die sich sehr von ihm unterscheiden, aber er glaubt fest an das, was er tut. Er muss seine eigenen Männer bestrafen, weil er der Meinung ist, dass sie ohne Gerechtigkeitssinn handeln.

Meine Hauptidee dreht sich um den Begriff der Prophezeiung als poetische Sprache in Literatur und Musik. KR  Warum, denken Sie, folgen die Menschen aus Kaleb der Bruderschaft? MMS  Sie sind ängstlich und auch wandlungsfähig. Das Böse kann sie dazu bringen, sich zu ändern. Haben sie etwas, für das sie sterben würden? Haben sie etwas zu verlieren? Folgen sie der Bruderschaft aus Überzeugung oder aus Angst? Manchmal ist es eine Grauzone zwischen diesen Optionen. KR  Wurde Ihr Roman im Senegal, in Mali diskutiert? MMS  Ja, im Senegal, in Mali, in Burkina Faso, in Niger, in vielen Ländern, in denen islamistischer Terrorismus präsent ist. Ich glaube, das liegt daran, dass die Menschen in dem Roman ihre eigenen Fragen wiederfanden. Ich war natürlich sehr glücklich und im positiven Sinne überrascht. Ein Dramatiker aus Burkina Faso hat meinen Roman kürzlich für ein Theaterstück adaptiert, das bei den Menschen dort sehr gut aufgenommen wurde. Er erzählte mir, dass die Leute zur Vorstellung kamen, das Stück sahen und riefen: „Das ist es, was wir erleben. Wir sehen hier ein Stück von uns selbst.“ KR  Sie zitieren Victor Hugo, Apollinaire, Heinrich Heine … aber keine afrikanischen Autoren … MMS  Ich habe das nach der Veröffentlichung des Buches sehr bereut. Es gibt viele afrikanische Autoren, die ebenfalls über eine solche Situation geschrieben haben, die ich hätte erwähnen können: den algerischen Autor Yasmina Khadra, den großen ghanaischen Schriftsteller Ayi Kwei Armah … KR  Sie haben vier Romane geschrieben, aber während Ihres Stipendiums an der Akademie der Künste sich auch der Lautpoesie gewidmet – performen Sie auch?

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MMS  Ich bin kein Performer im engeren Sinne, aber ein Freund von mir, der chilenische Komponist Francisco Alvarado, und ich diskutieren oft über das Verhältnis von Literatur und Musik. Wir sehen in beidem eine besondere künstlerische und poetische Sprache. Wir haben uns entschieden, zusammen etwas zu meinem fünften Roman zu entwickeln: Meine Hauptidee dreht sich um den Begriff der Prophezeiung als poetische Sprache in Literatur und Musik. KR  Prophezeiung im religiösen oder im streng poetischen Sinne? MMS  Im Sinne einer sehr persönlichen Darstellung, denn mein nächster Roman könnte eine Arbeit rund um die Figur meines Großvaters werden. Mein Großvater galt in seiner Heimat als eine Art Prophet. Er sagte Dinge voraus, die viele Jahre später tatsächlich passieren sollten. Jedes Mal, wenn ich nach Senegal zurückkehrte, sagten Tanten und Onkel und andere Familienmitglieder und Leute aus meinem Dorf zu mir: „Du solltest über deinen Großvater schreiben.“ Also beschloss ich, mich dem Thema zuzuwenden. Mein Großvater prophezeite, dass einer seiner Enkel Schriftsteller werden würde … KR  Hier schließt sich also der Kreis? MMS  Vielleicht bin ich aus dieser Prophezeiung entstanden. Ich bin gespannt darauf, wie ich auf literarischpoetische Weise mit dieser Idee der Prophezeiung umgehen kann. KR  Haben Sie Ihren Großvater kennengelernt? MMS  Nein, er starb einige Jahre vor meiner Geburt. Es gibt viele Legenden, Mythen, Geschichten, die mir die Leute über ihn erzählen, die niemand überprüfen kann, aber sie beschreiben einen außergewöhnlichen Mann, merkwürdig, fröhlich, aber auch unheimlich. Ich werde versuchen, ihn im Buch zu beschreiben. Aber auch hier geht es darum, den Akt des Schreibens zu hinterfragen … eines der Themen ist das Gedächtnis, die Zeitachse. Literatur ist immer auch eine Art Architektur der Zeit. KR  Ihre Arbeit dreht sich oft um das Thema Gedächtnis … MMS  Schreiben ist immer ein Versuch, tief in unser Gedächtnis einzudringen, Struktur zu vermitteln oder im Gegenteil Zeit zu dekonstruieren. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir Menschen nicht an der Zukunft interessiert sind, sondern an der Vergangenheit. Wir bewegen uns unserer Zukunft entgegen, wir machen Fortschritte … aber was uns am meisten beschäftigt, ist nicht das Kommende, sondern das Geschehene. In diesem Sinne ist Literatur eine Untersuchung von Zeit. KR  Für das Projekt Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives an der Akademie haben Sie an der Diskussion „Rewriting Memories“ teilgenommen. Da sprachen Sie von einem Sprachspiel namens ñaangooj … MMS  Schon immer ließ sich durch dieses Spiel die Genealogie der Vorfahren erlernen. Den kleinen Kindern wird so ihre Familiengeschichte und ihre Beziehung zu dieser Familie vermittelt. Und es dient auch der Aktivierung ihres Verstandes. Als Kind spielte ich dieses Spiel mit meiner Mutter, meiner Großmutter und meinen vielen Tanten. Es wird benutzt, um Kindern beizubringen, sehr einfache Geschichten und Fabeln zu erzählen und mit der Sprache zu spielen. KR  Ist das eine weibliche Tradition? MMS  Meistens ist es eine Tradition, die von Frauen weitergegeben wird. Tatsächlich komme ich aus einer Kultur, in der Geschichte, Erinnerung von Frauen erzählt wird. Vielleicht ist es nicht die Prophezeiung meines

Großvaters, sondern es sind die Fabeln, die Erzählungen von Frauen, die mich gelehrt haben, Geschichten zu erzählen. KR  Welche Erwartungen haben Sie an Literatur? MMS  Meine Erwartungen an Literatur sind sehr hoch, aber auch sehr bescheiden. Von der Literatur erwarte ich alles: Die Wahrheit und die Offenbarung, ich erwarte auch, etwas Tiefes und Geheimnisvolles über unser menschliches Dasein zu erfahren. Aber gleichzeitig weiß ich, dass es ein Spiel ist, es ist nicht ernst. Ich darf von Literatur nicht zu viel erwarten, denn wenn man das tut, erfährt man nicht viel … Ich befinde mich irgendwo in der Mitte: zwischen sehr hohen Erwartungen und überhaupt keinen Erwartungen. Und das könnte eine Definition von Literatur sein. 1 Den Preis erhielt er wenige Tage nach diesem Gespräch. Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer

MOHAMED MBOUGAR SARR, geboren im Senegal, besuchte dort das Collège und Lycée an einem Militärinstitut, in Paris studierte er Literatur und Philosophie. In seinen auf Französisch veröffentlichten Romanen hinterfragt er die komplexen Schichten der Realität an verschiedenen Orten: Terrorismus in Westafrika, Gastfreundschaft – oder auch nicht – gegenüber Immigranten in Sizilien, Homosexualität im Senegal. Derzeit gilt seine Aufmerksamkeit der Literatur selbst: ihrer Macht, ihren Möglichkeiten, ihrem Versagen, ihren Geheimnissen. Bei der Eröffnung der Werkpräsentation der JUNGEN AKADEMIE am 12. März 2022 wird er eine Poetry-Sound-Performance präsentieren. KATHRIN RÖGGLA, Schriftstellerin, ist Vizepräsidentin der Akademie der Künste.


NACHHALLENDE KÄMPFE

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Paul Robeson singt auf dem Pressefest des Neuen Deutschland, 19.6.1960.

PAUL UND ESLANDA ROBESON IN OST-BERLIN JOURNAL DER KÜNSTE 17

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1965 gründete die Akademie der Künste in Ost-Berlin ein Archiv zu Ehren eines ihrer korrespondierenden Mitglieder, des weltberühmten afroamerikanischen Sängers, Schauspielers, Autors und Juristen Paul Robeson (1898–1965). Das Archiv enthält auch einen Teilnachlass seiner Frau, der Anthropologin, Autorin und Managerin Eslanda „Essie“ Cardozo Goode Robeson (1895–1965), die 1946 mit African Journey das erste von einer Schwarzen Frau veröffentlichte Buch über den afrikanischen Kontinent schrieb. Das PaulRobeson-Archiv könnte deshalb zutreffender Paul-und-EslandaRobeson-Archiv heißen. Seine Entstehung lässt sich auf eine sehr spezielle historische Konstellation zurückführen. Wegen seiner „unamerikanischen“1 politischen Ansichten durfte Paul Robeson zwischen 1950 und 1958 weder in den USA auftreten noch das Land verlassen. In Manchester setzte sich das „Let Paul Robeson Sing Committee“ für Robesons Berufs- und Reisefreiheit ein; in einigen anderen Ländern folgten ähnliche Initiativen, so auch in der DDR. Obwohl die Robesons nach Aufhebung des Reiseverbots das Land nur wenige Male besuchten, erlangten sie dort einen hohen Bekanntheitsgrad. Als überzeugte Kommunist*innen und prominente Aktivist*innen in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung passten sie perfekt in das von der DDR behauptete Bild eines internationalistischen, antirassistischen Sozialismus. Auch als die Robesons ihre Pässe bereits zurückerhalten hatten, führte das Paul-Robeson-Komitee in der DDR seine Arbeit fort: Es pflegte Verbindungen zu Unterstützer*innen in aller Welt, förderte Paul Robesons Prominentenstatus, organisierte 1960 seinen ersten Besuch in Ost-Berlin und initiierte schließlich auch die Einrichtung des Paul-Robeson-Archivs.

Mit der Übernahme des Archivs als abgeschlossene Sammlung nach der Wiedervereinigung der Akademien Ost und West geriet das Material – ähnlich wie das Leben von Paul und Eslanda Robeson selbst – jahrelang in Vergessenheit. Dabei könnte sein Nachhall heute nicht lauter sein. Das Archiv und seine Geschichte zeigen nachdrücklich die historischen Verflechtungen zwischen der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und den post­ kolonialen Freiheitskämpfen, dem Internationalismus der sozialistischen Staaten und den machtpolitischen Interessen des Kalten Krieges. Gleichzeitig verdeutlicht gerade die derzeitige Wieder­ entdeckung der Robesons, wie unabgeschlossen sowohl ihr Kampf als auch unsere heutige Gedächtnisarbeit im Hinblick auf den Einsatz für Antirassismus und Geschlechtergerechtigkeit sind. Für die Gruppenausstellung Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives, die von Juni bis September 2021 in der Akademie der Künste zu sehen war, hat sich die Komponist*in und Künstler*in Matana Roberts mit dem Paul-Robeson-Archiv auseinandergesetzt und eine Soundinstallation über dessen Resonanz – so der Titel der Arbeit – entwickelt. Das hier abgedruckte Gespräch zwischen Matana Roberts, der Kuratorin und Theoretikerin Doreen Mende und der Historikerin Kira Thurman, moderiert von dem Komponisten und Musikprofessor George E. Lewis, ist ein Auszug aus einer Podiumsdiskussion, die im Juni 2021 in der Akademie der Künste stattfand.

LINA BRION ist Referentin des Programmbeauftragten der Akademie der Künste, NORA WEINELT ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft / Europäische Literaturen der Universität Augsburg.

Eslanda Robeson (Mitte) bei der Prozess­ eröffnung gegen Hans Globke vor dem 1. Strafsenat des Obersten Gerichts der DDR, 8.7.1963; neben ihr Greta Kuckhoff (rechts), kommunistische Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus, ab 1964 Vizepräsidentin des Friedens­ rates der DDR


Paul Robeson und Walter Ulbricht bei der Verleihung des Großen Sterns der Völkerfreundschaft, 5.10.1960

MATANA ROBERTS   Ich habe mich auf die Frage konzentriert, was es für Paul und Eslanda Robeson bedeutet haben muss, aus den USA zu kommen, aber in ihrem Land nicht als Bürger*innen akzeptiert zu werden. Es geht dabei viel um die Macht der Erinnerung und die Macht der Geschichte, die Paul und Eslanda Robeson sich zunutze machten, um an ihrer Orientierung auf die Zukunft und dem visionären Leben, das sie führten, festhalten zu können. Ich war immer wieder beeindruckt davon, dass sie sich jeden Tag aufs Neue aufrappeln konnten, obwohl sie pausenlos von ihrem eigenen Geburtsland zu Boden geschlagen und in gewisser Weise auch zu Propagandazwecken vorgeführt wurden. Es hat mich sehr inspiriert, wie sie sich in verschiedene Kulturen und Gemeinschaften einfügten, wie sie ihren Wirkungsbereich und ihr Verständnis davon erweiterten, was es bedeutet, Weltbürger*in zu sein – und das zu einer Zeit, in der Amerikaner*innen, geschweige denn Afroamerikaner*innen, wahrscheinlich kaum die Möglichkeit hatten, über solche Dinge nachzudenken. DOREEN MENDE   Ich bin zum ersten Mal durch Barbara Ransbys Biografie Eslanda2 auf Eslanda Robeson gestoßen. Im Paul-Robeson-Archiv der Akademie der Künste habe ich einige Kisten über sie gefunden und entschieden, mit Eslanda Robeson zu arbeiten – als eine Art transgenerationale Stimme und als Einstiegspunkt für eine Beschäftigung mit den Entwicklungslinien eines Schwarzen, oft intersektionalen Feminismus, eines Antikolonialismus, eines Internationalismus, der die Geografie des Ostens durchsetzt hat. Aber ich habe mich auch entschieden, mit Eslanda Robeson zu arbeiten, weil sie eine Gesprächspartnerin sein kann, um über eine Weltgestaltung nach dem Internationalismus nachzudenken. Eslanda Robeson war eine produktive Schriftstellerin, Rednerin und Reisende. Ihre Reportagen, zum Beispiel „140.000.000 Women Can’t Be Wrong“ von 1954, sind fantastisch. Meine Herangehensweise an das Archiv ist sehr stark davon geleitet, die Kämpfe zu würdigen, die sowohl Eslanda als auch Paul Robeson führen mussten – und die Widerstände endeten ja nicht mit ihrem Tod,

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sondern durchzogen auch den Archivierungsprozess. Wie können wir uns also mit einer archivalischen Substanz auseinandersetzen – oder vielleicht könnten wir von einer antifonischen Substanz sprechen, einer Substanz, die zurückspricht und nachhallt, die in der Gegenwart vibriert – und dabei die Gewalt der Auslöschung und die Gewalt der Exklusion in den 1970er und 1980er Jahren, aber insbesondere auch in den Jahren ab 1989 berücksichtigen, als sich die globale Weltordnung neu formierte? KIRA THURMAN   Als Historikerin und Musikwissenschaftlerin möchte ich über die Hintergründe von Paul und Eslanda Robesons Besuch in der DDR im Jahr 1960 sprechen. Damit will ich, ganz ähnlich vielleicht wie Matana und Doreen, zeigen, wie außergewöhnlich Paul und Eslanda Robeson waren – aber auch, dass sie als Teil eines größeren Kontexts von Afroamerikaner*innen zu sehen sind, die in den 1950er und 1960er Jahren nach Ostdeutschland kamen. Es handelte sich um eine Art wechselseitige, symbiotische Beziehung: Die DDR betrachtete Afroamerikaner*innen als politische Symbole und nutzte sie als Mittel zur eigenen Legitimierung, und das in vielerlei Hinsicht auch zu Recht. Die ostdeutsche Politik machte deutlich, dass sie sich mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung solidarisierte, anti­ koloniale und antikapitalistische Kämpfe verstand und unterstützte und Rassismus als Problem erkannte. Die DDR positionierte sich als Staat und Ort, der afroamerikanische Aktivist*innen mit offenen Armen empfing. Angela Davis kam zu Besuch, Martin Luther King Jr. kam zu Besuch, Paul Robeson ebenfalls. Es gibt eine lange und faszinierende Geschichte afroamerikanischer Verflechtungen mit Ostdeutschland. Zum Beispiel verließen mitunter in der BRD stationierte afroamerikanische Soldaten das Militär, um in der DDR zu leben. Aber die Beziehung funktionierte auch umgekehrt; Reisen nach Ostdeutschland waren für Afroamerikaner*innen sehr nützlich. Sie konnten damit eine Form von internationalem Druck aufbauen, indem sie zuhause in den USA kommunizierten: „Schaut mal, wie viel Unterstützung wir von überall auf der Welt bekommen.“

Wenn ich an Paul Robesons Reise 1960 und die Verleihung der Deutschen Friedensmedaille an ihn denke, dann passt das sehr gut in dieses Modell und zu dieser vorgeformten Erwartung, und die Art und Weise, wie man ihn feierte, spiegelt das wider. Ich kann mich gar nicht kritisch genug darüber äußern, wie Paul Robeson in der DDR oft rezipiert wurde. Er passte so perfekt zu dem, was der ostdeutsche Staat und viele seiner Bürger*innen suchten: eine Art afroamerikanischen Helden. Gleichzeitig interessiert mich in meiner Forschung, dass es andere Afroamerikaner*innen gab, die nicht so gut in dieses Modell passten und deshalb auch nicht gleichermaßen gut behandelt wurden. Die Initiative, Paul und Eslanda Robeson in die DDR zu bringen, war ein eindrücklicher Moment internationaler Solidarität, nachdem Paul Robeson endlich seinen Pass zurückbekommen hatte. Aber trotzdem blicke ich skeptisch darauf, wie die Menschen (amerikanisches) Schwarzsein verstanden.

Paul Robeson und Aubrey Pankey, US-Amerikanischer Bariton und Liedersänger, der 1956 in die DDR emigriert war, 5.10.1960

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Paul Robeson und Helene Weigel, 5.10.1960

Paul Robeson passte perfekt zu dem, was der ostdeutsche Staat und viele seiner Bürger*innen suchten: eine Art afroamerikanischen Helden. Kira Thurman GEORGE E. LEWIS   Ich denke momentan am meisten über Shana L. Redmonds kürzlich erschienenes Buch Every­ thing Man: The Form and Function of Paul Robeson und ihre exzellente hermeneutische Betrachtung von Paul Robeson nach. Der Titel des Buches ist an ein Zitat von Eslanda Robeson angelehnt. Sie schreibt: „Everything, everybody, asked him to be everywhere“3 – alle verlangten ständig von ihm, überall zu sein. Es ist schon lustig, ich bin ein afroamerikanischer Akademiker an einer prestigeträchtigen Institution, und das ist wirklich immer noch so. Die wenigen Schwarzen Akademiker*innen werden

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dauernd dazu aufgefordert, in Diversitätsausschüssen zu sitzen, um die fehlende Diversität an diesen Institutionen zu kaschieren. Ein wiederkehrendes Thema in Redmonds Buch ist jedenfalls die herausragende Rolle der Stimme bei der Produktion von sozialem Status und kulturellen Bildern. Klang wird zu einem wesentlichen Schauplatz, an dem Kämpfe um die Repräsentation als Ressource ausgetragen werden. Ihr Kapitel über Vibration verbindet den sensorischen Aspekt des individuellen Zuhörens mit Robeson und stellt daran anschließend dar, wie seine Stimme das Publikum dazu bringen konnte, sich als politische und soziale Akteur*innen neu zu formieren. Und mir scheint, sowohl Matana Roberts als auch Kira Thurman gehen in ihren Arbeiten auf die Konsequenzen ein, die sich daraus ergeben. Aber nun würde ich mich gerne Doreen zuwenden. Ich habe über Ihr wichtiges Konzept des Archiv-Metabolismus recherchiert, mit dem Sie das Archiv als ein transformatives System begreifen, das initiieren kann, was es noch nicht gibt. Damit betrachten Sie das Archiv gleichzeitig auch als performativ. Sie schreiben: „Was aber, wenn das Archiv dissonant in verschiedenen Stimmen flüstert, wenn es innerhalb transgenerationaler Zeiten und Missverständnisse operiert und damit die Mechanismen linearer Narrative aushebelt?“4 Ich glaube, dass es hier hilfreich sein könnte, über das Verhältnis von Archiv und Performanz zu sprechen. Ich musste an das 2003 erschienene Buch The Archive and the Repertoire5 der Performancetheoretikerin Diana Taylor denken, eine weitreichende und bewusst politisch eingefärbte Analyse, in der sie die Vorstellung eines in sich unveränderlichen, stabilen und unvermittelten Archivs zu Recht als Fiktion entlarvt. Im Anschluss an Taylor bedeutet ArchivMetabolismus für mich die tatsächliche Inszenierung eines Repertoires durch das Archiv. Wir haben es also mit einem vermeintlich körperlosen Gedächtnis zu tun, das trotzdem Gesten, Mündlichkeit, Tanz und Bewegung produziert. Und im Fall von Paul Robeson: Stimme. Wie klingt das für Sie? DM Danke, das ist wirklich eine tolle Beobachtung. Und eine, die außerordentlich wichtig geworden ist, insbesondere bei der Arbeit an einer archivalischen Substanz, die von politischen Geografien antiimperialistischer Politik, von Solidaritäten, politischen Freundschaften, von Formen des Internationalismus ausgeht, die infrastrukturell und institutionell nach 1989 und 1990 so gut wie verschwunden sind. Oder besser gesagt: Sie wurden gewaltsam ausgelöscht oder unterdrückt. Der Archiv-Metabolismus ist ein Versuch, diese historischen Momente als transhistorische, transgenerationale Momente zu betrachten und dabei die extreme Spannung zwischen diesen makropolitischen Infrastrukturen der staatssozialistischen Systeme zu berücksichtigen. Dabei haben wir es aber nicht nur mit der Makrostruktur eines sozialistischen Gebildes zu tun, die sich im globalen Kalten Krieg verorten lässt, sondern auch mit mikrosozialen Potenzialen, die sich in Form von Praktiken des Undokumentierten äußern – Dinge, die nur geflüstert werden, die unbemerkt durchrutschen. In einem Interview mit Radio Ost-Berlin von 1963 nennt der Interviewer Eslanda immer wieder Esmalda und spricht verstörenderweise auch das N-Wort aus, bis Eslanda sehr laut sagt: „Ich heiße ES-LAN-DA.“ Es geht um solche Momente, die einer klassischen historischen Betrachtungsweise entgehen würden, aber aus einer kuratorisch-politischen Perspektive für eine zeitgenössische Annäherung an das Archiv wichtig sind. Und

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Ich denke dabei an James A. Sneads bekannten Essay „On Repetition in Black Culture“.7 Er betrachtet den Einsatz von Wiederholung als etwas, das einer selbstbegrenzten kulturellen Einheit dabei hilft, ein Gefühl des eigenen Fortdauerns aufrechtzuerhalten. Spiegelt sich in der Rezeption von Paul Robeson in der DDR also nicht nur eine deutsche Auffassung von „Rasse“ und afroamerikanischer Identität, sondern auch die Auffassung der Deutschen von ihrer eigenen Identität? KT   Ich glaube, zumindest in Bezug auf die DDR lautet die Antwort ja. Einer der Gründe, warum Paul Robeson so verehrt wurde, ist meiner Meinung nach, dass er zugleich so angenehm undeutsch war, dass man ihn also feiern konnte, ohne sich dabei notwendigerweise mit dem eigenen antiSchwarzen Rassismus auseinandersetzen zu müssen. Und das ist vielleicht auch der Aspekt, der bislang unterbelichtet blieb und den ich mit meinem Buch beizusteuern versuche. Es nimmt die Frage ernst, wie dieser deutsche anti-Schwarze Rassismus aussieht und wie man ihn zu der sehr langen Geschichte von afroamerikanischen

Eslanda Robeson spricht auf der Massenkundgebung anlässlich des Internationalen Gedenktages für die Opfer des Faschistischen Terrors, 13.9.1959.

Ich habe Geschichte immer als eine Art Bewältigung einer Unmenge von Schichten und Filtern empfunden, mit denen ich als Schwarzer Körper in der Welt zurechtkommen muss.  Matana Roberts ich glaube, diese Perspektive ist notwendig, besonders wenn es um solche Narrative und archivalische Substanzen geht, die von Unabhängigkeit, Befreiung oder einem Schwarzen Internationalismus erzählen. Wir können diese Ideen nicht einfach in die Gegenwart kopieren, sie müssen aufgearbeitet werden. Und genau das versucht dieses Konzept zu leisten. Ich möchte es gerne als Methode zur Dekolonisierung des Sozialismus und zur Dekolonisierung des Internationalismus verstanden wissen, der nicht immer nur antiimperialistisch und antifaschistisch war. GEL   Kira Thurman, Sie haben gerade ein fantastisches Buch veröffentlicht, Singing like Germans: Black Musicians in the Land of Bach, Beethoven, and Brahms. Sie berichten darin von den mehr als ein Jahrhundert zurückreichenden Erfahrungen afrodiasporischer Bach-Interpret*innen in Deutschland und situieren die dortigen Kämpfe und Triumphe afroamerikanischer Liedersänger*innen. In Ihrem Essay über Paul Robesons Auftritte in der DDR 1960 schrieben Sie: „Robesons Tournee ermöglichte es den Menschen in Ostdeutschland, ihre eigenen Vorstellungen über Schwarze und über musikalische Ästhetik zu bestätigen oder zu korrigieren. Sie verfestigten dadurch aber auch ihre eigenen Auffassungen von ‚Rasse‘ und afroamerikanischer Identität und feierten ihn dafür, dass er eine bestimmte Art Schwarzer Authentizität vorstellte, die sie bewunderten.“6 Das hat mich daran erinnert, dass Archive, und dieses vielleicht ganz besonders, oft mit einer Art von Angst einhergehen.

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Eslanda Robeson erhält die Deutsche Friedensmedaille, 8.7.1963

Musiker*innen, die nach Deutschland und Österreich kamen, in Bezug setzen kann. Wie können wir ernsthafter und kritischer über Schwarze deutsche Ausdrucks­ formen und über Schwarzen deutschen Aktivismus nachdenken? Tatsächlich habe ich mich gefragt, ob das Paul-Robeson-Archiv vielleicht das einzige „offizielle“ Archiv in Deutschland ist, das einer Schwarzen Person gewidmet ist – einem Afroamerikaner, keinem Schwarzen Deutschen. Ich erwähne das auch, weil es in Berlin einen Schwarzen Bildungsverein namens Each One Teach One (EOTO) gibt, ein behelfsmäßiges Archiv, das in den letzten zehn bis zwanzig Jahren entstanden ist. Und es gibt einige Bestände über May Ayim an der Freien Universität, die aber bisher nicht wirklich aufgearbeitet worden sind. Ich halte es für wichtig, über Dekolonisierungsbestrebungen nachzudenken, und im Zuge dessen lohnt es sich auch zu fragen, wessen Stimmen wir in den Archiven eigentlich hören und wessen nicht. GEL   Das lässt mich an die inoffiziellen Archive denken, die auf diese Weise Druck auf die Mainstream-Regime


ausüben, zum Beispiel das SAVVY Contemporary hier in Berlin, das zu Anton Wilhelm Amo arbeitet, einem Schwarzen deutschen Philosophen aus dem 18. Jahrhundert. Was mir in Ihrem Beitrag aufgefallen ist, und das führt mich wieder zurück zur Wiederholung, sind die permanenten Bemühungen, die Geschichte der Robesons als ein epistemologisches Anderes einzusetzen. Sie zitieren diese ganze Rezeption in der Presse: Er war ein Schwarzer Riese, ein Schwarzer Prophet, ein Schwarzer Jesus, ein Schwarzer Franziskus, ihr Schwarzer Bruder und so weiter. Und hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass er Schwarz war …? War diese Dynamik auf die DDR und deren Interpretation des Sozialismus beschränkt oder lassen sich auch heute noch ähnliche Resonanzen finden? KT   Es gibt ähnliche Resonanzen. Eine der Methoden, mit denen Gesellschaften versuchen, Schwarze Menschen einzuschränken, betrifft die Rezeption von Musik und die Erwartungen, mit denen wir Schwarze Körper belegen – akustische und visuelle Erwartungen an Schwarze, wie sie auszusehen oder zu klingen haben, die irgendwie zu den Vorstellungen der Menschen passen und sie bestätigen sollen. So viele Debatten über Paul Robesons Stimme sind schlichtweg Teil einer hartnäckigen Stereotypisierung von Schwarzen Stimmen als dunkel oder rauchig. Das fällt mir in Bezug auf Schwarze Musiker*innen generell auf; du kannst eine Sopranstimme haben und es wird trotzdem noch jemanden geben, der sagt: Oh, wie dunkel, wie rauchig. GEL   Matana, Sie haben in Ihrem Essay über Resonanz geschrieben: „[E]s gab in meinem eigenen Leben immer wieder Zeiten, in denen ich auf die Geschichte blickte, um mit meinen Erfahrungen fertig zu werden, einfach nur ein Schwarzer Körper in einer riesigen Welt zu sein.“8 Für mich verweist das auf eine Art von Empathie, die Ihre Beschäftigung mit dem Robeson-Archiv bestimmt hat. Später schreiben Sie: „Der Begriff Resonanz kann definiert werden als ‚die Eigenschaft eines Tons, satt und voll zu sein und nachzuklingen‘; in Bezug auf ein Bild weckt das Wort Vorstellungen von Klarheit, vom Sich-Verlassen auf die eigenen damit assoziierten Erinnerungen und Erfahrungen.“ Für mich ist Empathie ebenfalls eine Form der Resonanz. Sie haben eine Arbeit im Dialog mit dem Paul-Robeson-Archiv entwickelt. Worum geht es dabei? MR   Ich habe Geschichte immer als eine Art Bewältigung einer Unmenge von Schichten und Filtern empfunden, mit denen ich als Schwarzer Körper in der Welt zurechtkommen muss, als Schwarze kunstschaffende Person, deren Arbeit ständig durch einen weißen Blick gefiltert werden muss, um Unterstützung oder kritische Anerkennung zu erlangen. Es kommt nur selten vor, dass ich mich – abgesehen von meinem eigenen – zuerst mit einem Schwarzen Blick befassen kann. Bei der Sichtung des Archivs habe ich viel darüber nachgedacht, dass das Leben Schwarzer Künstler*innen über Generationen hinweg im Wesentlichen ein Thema mit Variationen war. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in der Lage gewesen wäre, das zu verkraften, was Paul und Eslanda Robeson durchgemacht haben. Aber weil systematischer Rassismus in seiner Heimtücke noch immer tief in den meisten Institutionen verwurzelt ist, erkenne ich in ihrer Arbeit eine Mahnung, den Kampf weiterzukämpfen. Und das Archiv hat mich enorm dazu inspiriert, ein Schwarzer Körper in der Welt zu bleiben, ein*e Schwarze*r Künstler*in in der Welt zu bleiben, mich weiterhin durchzubeißen und meinen Kopf so hoch zu tragen, wie ich kann, um die Welt zu erschaffen, die ich gerne sehen möchte.

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1 1956 musste Paul Robeson vor dem House Committee on Un-American Activities aussagen. 2 Vgl. Barbara Ransby, Eslanda: The Large and Unconven­ tional Life of Eslanda Robeson, New Haven 2014. 3 Vgl. Shana L. Redmond, Everything Man: The Form and Function of Paul Robeson, Durham 2020, S. 14. 4 Doreen Mende, „The Undutiful Daughter’s Concept of Archival Metabolism“, e-flux 93 (September 2018), https://www.e-flux.com/journal/93/215339/theundutiful-daughter-s-concept-of-archival-metabolism/, zuletzt am 4. November 2021. 5 Vgl. Diana Taylor, The Archive and the Repertoire: Per­ forming Cultural Memory in the America, Durham 2003. 6 Kira Thurman, „Ol’ Man River in the Promised Land: Paul Robeson in East Germany“, in: Lina Brion, Werner Heegewaldt, Anneka Metzger, Johannes Odenthal (Hg.), Arbeit am Gedächtnis – Transforming Archives, Ausst.Kat., Berlin 2021 (fortan Brion 2021), S. 90–92, hier S. 90. 7 James A. Snead, „On Repetition in Black Culture“, Black American Literature Forum 15/4 (1981), S. 146–54. 8 Matana Roberts, „Resonanz“, in: Brion 2021, vgl. Anm. 6, S. 32–33.

MATANA ROBERTS ist Komponist*in, Bandleader*in, Saxophonist*in, Klangexperimentator*in und MixedMedia-Künstler*in. Bekannt für das vielgepriesene Coin Coin-Projekt, das den mystischen Wurzeln der intuitiven, spirituellen Ausdruckstraditionen der amerikanischen Künste nachgeht, hat Roberts sich intensiv mit narrativen, historischen, sozialen und politischen Ausdrucksformen innerhalb der improvisierten Musik auseinandergesetzt. 2019 war Roberts Stipendiat*in des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. KIRA THURMAN, Historikerin und Musikwissenschaft­ lerin, ist Assistant Professor of Germanic Languages and Literatures and History an der University of Michigan mit Schwerpunkt auf dem Zusammenhang von Musik, deutscher Nationalidentität und der historischen und gegenwärtigen Beziehung Zentraleuropas zur Schwarzen Diaspora. Mit Kolleg*innen in den USA und

Dieser Auszug wurde bearbeitet und übersetzt von Nora Weinelt. Die Videoaufzeichnung des gesamten Gesprächs findet sich auf www.adk.de.

Europa und unterstützt vom deutschen Historischen Institut in Washington, D.C. betreibt sie die Website blackcentraleurope.com.

DOREEN MENDE, Kuratorin, Theoretikerin, und

GEORGE E. LEWIS ist Edwin H. Case Professor für

Pädagogin, ist seit 2021 Leiterin der Abteilung Forschung

Amerikanische Musik an der Columbia University in New

an den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD).

York City. Er ist Fellow der American Academy of Arts

Seit 2015 ist sie Professorin für Kuratorik / Politik und

and Sciences und Corresponding Fellow in der British

Leiterin des „Critical Curatorial Cybernetic Research

Academy, Mitglied der Association for the Advancement

Practice“ Master- und PhD-Forums an der Abteilung für

of Creative Musicians und seit November 2021 Mitglied

Bildende Kunst der HEAD Genève. Mende leitet außer-

der Akademie der Künste in der Sektion Musik. Er gilt als

dem das Forschungsprojekt „Decolonizing Socialism.

Pionier der interaktiven Computermusik und Schöpfer

Entangled Internationalism“ (2019–2024) und ist

von Programmen, die mit menschlichen Musiker*innen

Gründungsmitglied des Harun Farocki Instituts in Berlin.

improvisieren.

Paul Robeson vor der Humboldt-Universität zu Berlin nach der Auszeichnung mit dem Großen Stern der Völkerfreundschaft durch die DDR-Regierung, der Deutschen Friedensmedaille des Friedensrates der DDR und der Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität, 5.10.1960

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Zwei Gedichte von Meena Kandasamy In dem Gedicht „Written in Stone“ greife ich auf die Tradition der klassischen tamilischen Sangam-Lyrik zurück, in der Liebespoesie von zitierter Rede umrahmt wird. Verschiedene Standpunkte stehen nebeneinander, um eine intime Welt von „Er sagte“, „Sie sagte“, „Was seine Freundin zu ihr sagte“ und so weiter zu schaffen. Die Sangam-Lyrik ist über zweitausend Jahre alt, also entschied ich mich, ihre Strukturen in meinem Gedicht nachzuahmen, um zu zeigen, dass die Liebe schon immer ein streitsüchtiges Dasein führte und dass jegliche Liebe in dieses Kontinuum hineingeboren wird. Die Sangam-Lyrik ist außerdem reich an Natur- und Landschaftsbeschreibungen. Hier blickt eine Frau auf ihre Beziehung zu ihrem Geliebten zurück, erinnert sich an all die Metaphern, die sich auf den Begriff „Stein“ beziehen – eine Materie, die urzeitlich und ausdauernd zugleich ist. Es ist ein sehr persönliches Gedicht. Auch wenn die Außenwelt immer stärker von Religion und Kasten beeinflusst wird, auch wenn Männer und Frauen getötet werden (Ehrenmorde), weil sie es wagen, entgegen der Vorschriften zu lieben, versucht dieses Gedicht, ein winziges Universum kostbarer Intimität zu bewahren. Das Gedicht „The Discreet Charm of Neoliberalism“ widmet sich der unmöglichen Aufgabe, die Sprache der totalen Vereinnahmung durch den Neoliberalismus zu entziehen. Die zitierten Beispiele stammen aus meinen Gesprächen mit der Dalit-Anführerin einer mächtigen Gewerkschaft in Tamil Nadu, die sich über die sinistren Verbindungen zwischen Kapitalist*innen und dem NGOSektor beklagte – darüber, wie der NGO-Sektor instrumentalisiert wurde, um die vom Kapitalismus angerichteten Verwüstungen in ein positives Licht zu rücken. Feminismus und Frauenermächtigung sind Begriffe, die sich der Neoliberalismus leicht unter den Nagel reißen kann. Demokratie, Wandel, Menschen, Macht – jedes Wort mit radikaler Konnotation eignet er sich in kürzester Zeit an. Wo sollen wir in diesem Milieu noch nach einer Sprache suchen, die nicht der ausbeuterischen herrschenden Klasse dient? Kann die Wahrheit nur in der Sprache zwischen Liebenden existieren? Wie kann ein Gedicht – ein Raum, in den die Wahrheit eingeschmuggelt wird – die Heuchelei des neoliberalen Angriffs auf die Sprache aufheben und gleichzeitig das Vertrauen in Worte erneuern? Das war der Anlass, der mich dazu brachte, dieses Gedicht zu schreiben, das offensichtlich ebenfalls autobiografisch eingefärbt ist. Das Warten auf den Liebenden ist symbolisch, es bedeutet, dass immer noch Hoffnung auf Liebe und Wahrheit bleibt, auch wenn wir in einem katastrophalen Wirtschaftssystem leben. Meena Kandasamy

Am Eröffnungsabend der Werkpräsentationen der JUNGEN AKADEMIE am 3. März 2022 wird Meena Kandasamy ihre politische Lyrik präsentieren.

WRITTEN IN STONE WHAT SHE OFTEN SAID TO HER LOVER

How are you so stone-hearted? Why this stony-silence? WHAT HER MOTHER SAID TO HER

What did he say? Did he even react? Did he commit, did he evade as always? Was he quiet as the sunken stone sitting at the bottom of a well? WHAT HER FATHER SAID TO HER

I love you, my difficult daughter. I love that you love each other. Hear me out for I’m an old man: What will this world say? Will you be able to face all their stone-throwing? WHAT SHE ALSO SAID TO HER LOVER MANY, MANY YEARS LATER

Those who reject you today Will tomorrow worship you in stone There will be your statue in every village Everyone will name their sons after you. WHAT HE SAID ONCE UPON A TIME BEFORE THEIR STORY EVEN STARTED

From the hardest sun-facing rock, where there is not a drop of water there sprouts one lonely seed, sends forth its tiniest leaves, takes root. It is in the nature of stone to stay firm, to put stiff resistance, but faced with so much tenderness, such faith, it gives way. This is the nature of love. This is love.

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DER DISKRETE CHARME DES NEOLIBERALISMUS

THE DISCREET CHARM OF NEOLIBERALISM In a world that really has been turned on its head, truth is a moment of falsehood. Guy Debord

We call ourselves poets, believe our words are weapons against oppressors, walk around with bravado for being such truth-smugglers. Neoliberalism is not a word that belongs in any poem, I reason while I paint my toenails red, wear kohl and wait for my lover who kisses me, always, on the eyelids first.

IN STEIN GEMEISSELT WAS SIE OFT ZU IHREM LIEBHABER SAGTE Warum hast du ein Herz aus Stein? Warum dieses steinerne Schweigen? WAS IHRE MUTTER ZU IHR SAGTE Was hat er gesagt? Hat er überhaupt reagiert? Hat er sich festgelegt, ist er wie immer ausgewichen? War er still wie der gesunkene Stein unten am Grund eines Brunnens? WAS IHR VATER ZU IHR SAGTE Ich hab dich lieb, meine schwierige Tochter. Es ist so schön, dass ihr einander liebt – Hör mir zu, denn ich bin ein alter Mann: Was wird diese Welt sagen? Wirst du es aushalten können, wenn sie den ersten Stein werfen? WAS SIE IHREM LIEBHABER AUCH NOCH SAGTE VIELE, VIELE JAHRE SPÄTER Die dich heute ablehnen Werden dich morgen in Stein gemeißelt verehren In jedem Dorf wird dein Denkmal stehen Alle werden ihre Söhne nach dir benennen. WAS ER SAGTE VOR LANGER ZEIT NOCH VOR BEGINN IHRER GESCHICHTE Aus dem härtesten Fels in der Sonne, wo es keinen Tropfen Wasser gibt, sprießt ein einsamer Keim, rankt seine winzigen Blätter, schlägt Wurzeln. Es liegt in der Natur des Steins, hart zu bleiben, starre Gegenwehr zu leisten, doch konfrontiert mit so viel Zartheit, solchem Glauben, gibt er nach.

Love births a million poems. In the restlessness of mine, my lover sneaks through, a repeat offender, arriving first in my poems, then in my arms saying, ennadi chellam?

„In der wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen.“ — Guy Debord Wir nennen uns Poeten, halten unsere Worte für Waffen gegen Unterdrücker, stolzieren prahlerisch herum, weil wir so gute Wahrheitsschmuggler sind. Neoliberalismus ist kein Wort für ein Gedicht, sage ich mir vernünftig, male meine Fußnägel rot an, trage Kajal und warte auf meinen Geliebten, der mich küsst, immer zuerst auf die Augenlider. Liebe gebiert tausend Gedichte. Durch die Rastlosigkeit der meinen schleicht mein Geliebter, ein Wiederholungstäter, kommt erst in meinen Gedichten an, dann in meinen Armen, sagt: Ennadi chellam? Neoliberalismus hat den Dreh raus, sage ich. Strömen Arbeiterinnen in die Sweatshops: die Arbeitsbedingungen haben sich verbessert, und gehen sie dann in Scharen: die Gemeinschaft ist sensibilisiert. Wie spinnt man Geschichten über Spindoktoren? – diese Frage möchte ich stellen, doch ich tue es nicht. Er küsst mich, als wären alle Worte ausradiert – macht Liebe und ich gebäre eine Sprache neu, die immer schon da war. Tage später machen wir weiter, wo wir aufgehört haben – er sagt, sie haben die Sprache verdorben, ein faulender Leichnam, und ich zucke zusammen über die scharfen Kanten seiner Worte. Neoliberalismus findet Platz in einem Gedicht. Aus dem Englischen von Karen Gerwig

Neoliberalism knows how to spin, I say: When workers flock to sweatshops: the working conditions have improved and, when workers leave in droves: the community has been sensitized. How to spin about a spin master? — a question I want to ask, but do not. He kisses me as though all words have been obliterated — makes love, making me birth afresh a language always, already there. Days later, we take up where we left off — he says, they have reduced language to a rotting corpse, and I wince at the serrated edges of his words. Neoliberalism finds room in a poem.

MEENA KANDASAMY, geboren in Chennai, ist Dichterin und Autorin. Sie veröffentlichte zwei Gedichtbände, Touch (2006) und Ms Militancy (2010); ihr von der Kritik gefeierter Debütroman The Gypsy Goddess (2014) erzählt die Geschichte des Massakers von Kilvenmani im Jahr 1968. Ihr zweiter Roman When I Hit You: Or, The Portrait of the Writer As A Young Wife (2017, dt. Fassung Schläge. Ein Porträt der Autorin als junge Ehefrau, 2020), ein autobiografisches Werk, wurde 2018 für den britischen Women’s Prize for Fiction nominiert. Ihr jüngster Roman Exquisite Cadavers (2019) ist eine experimentelle Fiktion, die das Geschichtenerzählen untersucht. Sie lebt in London und Tamil Nadu. 2020 erhielt sie das

Das ist die Natur der Liebe.

Berlin-Stipendium der JUNGEN AKADEMIE der

Das ist Liebe.

Akademie der Künste.

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CARTE BLANCHE

SASHA KURMAZ

SASHA KURMAZ, geboren 1986 in Kiew, studierte an

Zumeist spielt er in seinen Werken mit der Entmachtung

der Fakultät für Gestaltung der Nationalen Akademie für

von Machtstrukturen, erforscht die sich verändernde

Kultur- und Kunstmanagement in Kiew. Mit den Mitteln von

Beziehung zwischen Mensch und moderner Welt und

Fotografie, Video und öffentlicher Intervention spürt er

untersucht das Spannungsfeld zwischen Bürger und Staat.

in seiner künstlerischen Arbeit gesellschaftlichen Zusammen-

2020 war er Stipendiat der JUNGEN AKADEMIE im

hängen nach, die poetische wie politische Themen berühren.

Bereich Bildende Kunst.




JOURNAL DER KÜNSTE 17






NEUES AUS DEM ARCHIV

SEHNSUCHT WECKEN NACH EINEM ANDEREN ZUSTAND DER WELT

DAS KONGENIALE ZUSAMMENSPIEL VON ERICH WONDER UND HEINER MÜLLER Stephan Suschke

Der Auftrag, Regie: Heiner Müller, Schauspiel Bochum, 1982

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Mitte der 1970er Jahre trafen Heiner Müller und Erich Wonder zum ersten Mal am Schauspiel Frankfurt aufeinander. Schnell entstand eine außergewöhnliche Arbeitsfreundschaft, die bis zu Heiner Müllers Tod anhalten sollte. Frankfurt am Main, wo Wonder von 1972 bis 1978 am Schauspielhaus als Bühnenbildner engagiert war, spielte für ihn eine prägende Rolle: „Frankfurt war das Entscheidende für mich. Wir zogen herum damals, lebten im Bahnhofsviertel und fuhren an den Stadtrand. Das war schon ein Erlebnis, diese Ästhetik in das Theater reinzuholen. Das hatte mit Licht zu tun, was damals nicht üblich war, die Ästhetik, das ganze Geschehen von draußen hereinzuholen.“1 Das alles geschah vor dem Hintergrund von Demonstrationen und brutalen Straßenkämpfen, die politische und ästhetische Gewissheiten obsolet machten. Auch die Theatermacher stellten sich der Realität, in dem sie nach draußen gingen und wie Wonder

die Realität in die riesigen Kästen der kommunalen Bühnen holten. Einen wesentlichen ästhetischen Einfluss hatte dabei das amerikanische Kino der ausgehenden 1960er, beginnenden 1970er Jahre. Kubrick und Scorsese entdeckten das künstliche Licht der Städte: „Buntes, aggressives, flackerndes Neonlicht, nächtliche Imbissbuden, flimmernde Spielhöllen, nackte Glühbirnen an dünnen Leitungen – all das gehörte zu den Eindrücken, die einen optisch, räumlich und körperlich überraschten.“2 Wonder nahm diese Eindrücke auf und erweiterte durch den Einsatz von speziellen Schein­ werfern das visuelle Instrumentarium des Theaters. In dieser Zeit begannen auch wegweisende Arbeitsbeziehungen mit Luc Bondy und Jürgen Flimm. Mit diesen beiden sowie Regisseuren wie Hans Neuenfels, Ruth Berghaus und Peter Mussbach eroberte er in den kommenden Jahren die Theater- und Opernbühnen Europas.


1968 wurde am Münchner Residenztheater mit PHILOKTET zum ersten Mal ein Stück Heiner Müllers erfolgreich in Westdeutschland aufgeführt. Anfang der 1970er Jahre setzten Ruth Berghaus am Berliner Ensemble und Benno Besson an der Volksbühne den mehrfach von der DDRKulturbürokratie verbotenen Heiner Müller mit mehreren Inszenierungen durch. Schnell wurde der Dramatiker in beiden Teilen Deutschlands der wichtigste und umstrittenste Gegenwartsautor. Als Wonder und Müller 1977 aufeinandertrafen, war es die einzigartige Begegnung von Ausnahmekünstlern, die im Normalfall durch den Eisernen Vorhang getrennt gewesen wären: Ein hochbegabter Burgenländer Mitte dreißig traf auf den fast fünfzigjährigen Sachsen Heiner Müller; schnell entwickelten sie gemeinsame Projekte. Das erste kam im März 1979 am Düsseldorfer Schauspielhaus zustande: ROSEBUD, eine Performance mit dem Schauspieler Fritz Schediwy in Räumen Wonders, eine Collage nach Träumen Wonders mit literarischen Versatzstücken Müllers, u. a. einem Ausschnitt aus DIE HAMLETMASCHINE. Die erste gemeinsame Theaterarbeit kam 1982 am Schauspielhaus Bochum zustande: DER AUFTRAG, ein Stück über Revolution, Verrat und Tod: „Es war die erste Überlegung von Erich Wonder, dem Bühnenbildner in Bochum, daß man den Zuschauern klarmachen muß, daß sie Voyeure sind. Voyeure können nie alles sehen, was sie sehen wollen. So haben wir einen Raum entworfen, der das Publikum immer wieder ausschließt aus dem Geschehen.“3 Da Erich Wonder „Freie Arbeiten“ brauchte, um den auf Hochtouren laufenden Theaterbetrieb „künstlerisch zu überleben“, arbeitete er abseits der Theater immer wieder im öffentlichen Raum, so auch 1987 bei der documenta – eine Performance, für die Heiner Müller einen Text schrieb, den Heiner Goebbels vertonte: MAeLSTROMSÜDPOL. An die differente Landschaft angepasst, kam diese Arbeit auch auf dem Landwehrkanal in Berlin und in den VOEST-Werken Linz zur Aufführung. 1986 wurde Heiner Müller eine Inszenierung am Deutschen Theater Berlin angeboten. Zur Überraschung des Intendanten Dieter Mann schlug er DER LOHNDRÜCKER vor, ein „Produktionsstück“ aus der Frühzeit der DDR, das mit den aktuellen Problemen kaum etwas zu tun zu haben schien. Von Anfang an wollte Müller Erich Wonder für diese Inszenierung gewinnen, der weder die DDR noch einen Betrieb der DDR gesehen hatte. 1988 feierte die Inszenierung am Deutschen Theater Berlin Premiere. Wonder entwarf eine fremde Welt zwischen archaischer Szenerie und technisierter Zukunft. Dabei spielte der Ofen, der im Bühnenbild zum Feuerofen werden sollte, eine besondere Rolle. Bei Wonder war er die Mischung aus einem Panzerturm und einem Bunker, die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Müller assoziierte dazu: „Ofen = Auschwitz = Tschernobyl“. Müller nahm in der aufscheinenden Agonie des Staates DDR eine Bestandsaufnahme vor. Aus einem Stück, das dem Aufbau der Staates Impulse verleihen wollte, wurde, so Müller über seine eigene Inszenierung, „die Diagnose einer Geburtskrankheit, die sich ausgewachsen hatte zu einer unheilbaren Krankheit dieser Struktur, dieser Gesellschaft“. Die Vorbereitungen für die zweite gemeinsame Inszenierung am Deutschen Theater – HAMLET/MASCHINE – begannen im Februar 1989. Die desolaten wirtschaft­ lichen und politischen Verhältnisse in der DDR, die

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Skizzen von Erich Wonder zu Das Auge des Taifuns, Wien 1992

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Während Müller inhaltlich und technisch seit den 1960er Jahren in seinen Theatertexten nach Strukturen suchte, welche die sich immer komplexer gestaltende Realität widerspiegeln, holte Wonder auf der bildnerischen Ebene diese Realität ins Theater. Dabei ging es weder Müller noch Wonder um einen Abbildrealismus, sondern immer um artifizielle Übersetzung. Es ging darum, in ihren gemeinsamen Theaterabenden eine andere Welt zu erzeugen, die Lust macht, die vorhandene infrage zu stellen. 1 Erich Wonder. Bühnenbilder / Stage Design, hrsg. von Koschka Hetzer-Molden, Ostfildern-Ruit 2000, S. 57. 2 Erich Wonder, Raum-Szenen / Szenen-Raum, hrsg. von Elisabeth Schweeger, Stuttgart 1986, S. 18. 3 „Was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt.“ Ein Gespräch mit Urs Jenny und Hellmuth Karasek über VERKOMMENES UFER, den Voyeurismus und die Aufführungspraxis in beiden deutschen Staaten (1983), in: Heiner Müller, Werke 10: Gespräche 1. 1965–1987, Frankfurt am Main 2008, S. 266–279, hier S. 274. 4 Heiner Müller, in: Stephan Suschke, Müller macht Theater. Zehn Inszenierungen und ein Epilog, Berlin 2003, S. 141. 5 Erich Wonder, Raum-Szenen / Szenen-Raum, S. 17.

STEPHAN SUSCHKE war von 1987 bis 1995 enger Mitarbeiter von Heiner Müller bei dessen Inszenierungen am Deutschen Theater Berlin und am Berliner Ensemble. 1996 wurde er stellvertretender Intendant am Berliner Ensemble, von 1997 bis 1999 dessen Künstlerischer Leiter. Ab 1999 arbeitete er als freier Regisseur. Seit der Saison 2016/2017 ist er Schauspieldirektor am Landestheater Linz.

Heiner Müller, Der Lohndrücker, Berlin, Deutsches Theater, 1988; oben: Regieteam mit technischen Mitarbeitenden, in der Mitte Heiner Müller und Erich Wonder; unten: Probe, Bühnenaufbau, in der Mitte Erich Wonder. Fotos von Sibylle Bergemann

Ausreisewelle und der Fall der Mauer waren die Folie für die Probenarbeiten. Als nach fast sieben Monaten die Premiere am 24. März 1990 stattfand, war das Ende der DDR durch die ersten freien Wahlen eine Woche zuvor besiegelt worden. So wurde die achtstündige Inszenierung zum Requiem für einen verschwindenden Staat. Müller beschrieb das Bühnenbild in einem ersten Gespräch etwas flapsig mit „vom Eiswürfel zum Brühwürfel“. Wonder übersetzte das Stück in einen Raum der Klimaverschiebung. Müller: „Das nächste Jahrhundert wird sicher ein Jahr­ hundert von Klimakatastrophen sein […]. Es fängt im Eis an und endet in der Wüste.“4 Am 16. Mai 1992 fand auf dem Burgring in Wien eine weitere Intervention/Performance statt, die Wonder als „Bewegung einer barocken Bühnenmaschinerie“ bezeichnet hat: DAS AUGE DES TAIFUN. Müller machte Vorschläge mit Texten von Plinius dem Jüngeren und Adalbert Stifter, die Blixa Bargeld zu einer Collage für die Einstürzenden Neubauten verwob. Die letzte gemeinsame Arbeit führte sie nach Bayreuth. Müller stellte die romantisierte Liebesbeziehung zwischen

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TRISTAN UND ISOLDE infrage, ihn interessierte die Kälte der Liebe in einer kriegerischen Männerwelt, die zur Vereinzelung führt, was in der Inszenierung in weiträumigen Arrangements in den kühlen, monochromen Räumen Wonders zum Tragen kam. Die Premiere 1993 bei den Bayreuther Festspielen spaltete das skandalsüchtige Publikum, die Aufführung wurde bejubelt und ausgebuht, bevor sie in den darauffolgenden Jahren mit Ovationen bedacht, zur Legende wurde. Das Geheimnis ihrer Zusammenarbeit bestand in der Autonomie: Müller hatte in Erich Wonder einen Bühnenbildner gefunden, in dessen Räume seine Texte „aus­ ruhen“ konnten, Wonder in Müller einen Regisseur, der seinen Räumen die ihnen eigenen Bewegungen zugestand, sie zum Anlass spielerischen Denkens nahm, statt sie funktionell zu beschneiden. Heiner Müller kam Wonders Selbstverständnis entgegen: „Ich möchte mich in die Räume hineinzoomen. Ich will die Großaufnahme auf der Bühne. Deswegen sehe ich mich als Kameramann, der Räume baut, das Gegenteil von einem Architekten, der statische Bauten entwirft.“5

ERICH WONDER – T/RAUMBILDER FÜR HEINER MÜLLER 16.1.–13.3.2022, Akademie der Künste, Pariser Platz Die Ausstellung macht die gemeinsamen Arbeitsprozesse von Heiner Müller und Erich Wonder sichtbar: Sie präsentiert größtenteils zum ersten Mal Gemälde und großformatige Aquarelle von Erich Wonder, Texte von Heiner Müller, Fotografien von Sibylle Bergemann, Kostüme von Yohjj Yamamoto sowie Film-Ausschnitte aus den über dreißig Jahre zurückliegenden legendären Inszenierungen DER LOHNDRÜCKER und HAMLET/MASCHINE. Die Akademie der Künste übernimmt das künstlerische Archiv Erich Wonders: wie die Ausstellung – eine Erinnerung für die Zukunft.


HINTER DER MEMBRAN DAS ELEKTROAKUSTISCHE STUDIO

DER AKADEMIE DER KÜNSTE Malte Giesen

Der AMS3-Synthesizer, eine Spezialanfertigung für die Akademie der Künste

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Den erheblichen Beschränkungen der letzten anderthalb Jahre, denen viele Kunstschaffende in ihrer Praxis ausgesetzt waren, hat die künstlerische Arbeit im Studio für Elektroakustische Musik erfolgreich trotzen können. Das oft einsame Experimentieren und Basteln im Studio war ja nach wie vor möglich, vielleicht hatte das zeitweise Anhalten des sonst so geschäftigen Kulturbetriebs im Hinblick auf die künstlerische Produktion nicht nur negative Seiten: Entkoppelt vom bisherigen Festival- und Veranstaltungsreigen waren viele Künstler*innen zunächst auf ihre ureigenen Interessen und Fragestellungen zurückgeworfen, ganz abseits von Aufträgen, Veranstalterwünschen und Anschlussfähigkeit an zeitgeistige Themen. In gewisser Hinsicht stellte das Studio auch einen Schutzraum dar, einen (schon rein akustisch) abgeschotteten, nicht alltäglichen Raum für die Erforschung klanglicher Phänomene, fernab des viralen Dauerkatastrophenzustands. Jetzt, da wir zunehmend in ein pandemisch besseres Fahrwasser kommen, gilt es, diese Zäsur entsprechend zu nutzen, zu reflektieren, neue Erkenntnisse zu bewerten und das Vorhergegangene in neuem Licht zu betrachten. In zahlreichen Gesprächen mit Künstler*innen kristallisierte sich die Erkenntnis heraus, dass die gesellschaftliche Extremsituation auch die Perspektive auf das eigene Schaffen erheblich verändert hat. Ein nahtloses Anknüpfen an Themen und Entwicklungen aus dem Jahr 2019 ist jedenfalls nicht möglich. Zu den Besonderheiten des E-Studios der Akademie der Künste gehört, dass es nicht wie viele andere Studios an eine Bildungsinstitution angebunden ist – es ist ein Ort rein künstlerischer Produktion, eine öffentliche Einrichtung, die ihre Ressourcen und Infrastruktur gemäß der Definition der Akademie als Künstler*innensozietät zuvörderst den eigenen Mitgliedern, aber auch der Allgemeinheit für künstlerische Belange zur Verfügung stellt. Durch die Anbindung an die verschiedenen Sektionen der Akademie steht das Studio grundsätzlich allen Disziplinen offen und fördert ganz bewusst den Austausch und Kooperationen zwischen den Künsten. In diesem Jahr haben beispielsweise Arnold Dreyblatt, Carola Bauckholt, Ulrike Draesner und Peter Ablinger als Mitglieder der Akademie aus verschiedenen Sektionen das Studio für Projekte genutzt, auch die hier in neuester Zeit entstandenen Radio-Choreography der Choreografin und Tänzerin Netta Weiser, die ChorAufnahmen für das Musiktheaterwerk Chthuluzän von Therese Schmidt und Wolfgang Heiniger sowie eine Hörspielproduktion von Annedore Bauer zeugen von der spartenübergreifenden Enabler-Funktion des Studios.

So selten hat man die Möglichkeit, in einem Tonstudio tatsächlich zu experimentieren. Das von mir gewohnte Wirtschaftsmodell lässt keine Experimente zu – man bucht das Studio und muss seine Zeit effizient nutzen, um das Budget nicht drastisch zu überschreiten. Der Zugriff auf das bemerkenswerte Equipment der Akademie der Künste, die exquisiten

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Panoramablick aufs Elektroakustische Studio

Mikrofone, die dezidiert positionierten Lautsprecher und das fachkundige Personal, ist für mich in meiner Praxis eine völlig außergewöhnliche Erfahrung. Den Raum, die Zeit und die Unterstützung zu haben, um zu experimentieren und die Freiheit zu spüren, im Studio zu spielen, hat neue Wege aufgezeigt, denen ich jetzt in meiner Arbeit nachgehen kann.  Jessie Marino, Komponistin

In den letzten Jahrzehnten wurde immer wieder die Legitimation der traditionsreichen Studios infrage gestellt und deren Obsoleszenz konstatiert – das Schicksal des berühmten Elektronischen Studios in Köln ist hierfür vermutlich exemplarisch: Nach jahrzehntelanger Lagerung des Studioequipments in Kellerräumen des WDR und deren Wartung durch den in diesem Jahr verstorbenen Volker Müller gibt es bis heute keine Lösung für den Verbleib und die Erhaltung dieses historisch herausragenden Studios. Dennoch hat sich an der Notwendigkeit solcher Institutionen nichts geändert. Laptops und Software vereinen heute zwar kostengünstig eine ganze Lastwagenladung von Hardwareequipment im damaligen Wert einer Doppelhaushälfte in sich, aber die zentralen Elemente eines Studios – Lautsprecher und Mikrofone – sind in professioneller Qualität nach wie vor High-EndProdukte, die oft heute noch in Handarbeit und ohne Outsourcing in Niedriglohnländer hergestellt werden. Sie sind die einzigen Geräte, die tatsächlich mit für uns wahrnehmbarem akustischem Schall arbeiten: das Mikrofon gewissermaßen als Portal in die elektrische und schließ-

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lich digitale Sphäre, der Lautsprecher als einziger Gegenstand im Studio, der Klang erzeugt. Die spezielle akustische Umgebung – gedämmte Wände, entkoppelter Boden, akustisch dichte Türen – ist ebenso ein erheblicher Kostenfaktor. Umso wichtiger sind Institutionen wie das Studio für Elektroakustische Musik, das trotz seiner strukturellen Nähe zum ZKM in Karlsruhe und dem Experimentalstudio in Freiburg als Bundeseinrichtung einzigartig ist, die diese Ressourcen und Infrastruktur der Allgemeinheit zugänglich und nutzbar macht. Damit das Studio diese Aufgabe auch weiterhin erfüllen kann, muss der Blick neben der „Aufhebung“ der Tradition (im Hegel’schen Sinn) nach vorne gerichtet sein, müssen die aktuellen gesellschaftlichen und technologisch-ästhetischen Entwicklungen unmittelbarer Teil der Studioarbeit sein. Digitales und Analoges: Der Begriff der Digitalisierung wird wie kaum ein anderer in Politik und Wirtschaft diskutiert und ist ein regelrechtes „Buzzword“ – als geistfähige Menschen und soziale Wesen müssen wir nach knapp zwei Jahren Distanz und dem Leben in 2D eigentlich „Analogisierung“ betreiben. Physischer Kontakt, Präsenz im Raum, Kommunikation, die über pixelige Gesichter und abgehackte Stimmen in digitalen Kacheln hinausgeht, werden in ihrer Einzig- und Eigenartigkeit erst jetzt bewusst. Das gilt ebenso für die zukünftigen Themen der Elektroakustischen Musik und die Aufgaben des Studios: Jenseits von herkömmlicher Stereofonie ermöglichen wir mehrkanalige Setups von Raumklang, von Klang nicht als Projektion in einem Raum, sondern als akustisches Ereignis in einem realen akustischen Raum – und erkunden die mögliche Übersetzung dieser Erfahrung in die digitale Sphäre mithilfe von 360-Grad-Mikrofonen, binauralen Aufnahmesetups1 sowie historischen Artefakten wie dem als „Nullstrahler“ bezeichneten Kugellaut-

sprecher von Hermann Scherchen und deren Anbindung an die bisher auf das Visuelle fokussierte VR-Technologie. Auch in der Consumer-Sphäre besteht der Wunsch nach Erweiterung der klassischen Stereofonie in Richtung eines dreidimensionalen Klangs, der allgemein mit dem Begriff „immersive audio“ bezeichnet wird. Die Emergenz aus der Verbindung zwischen dem Analogen und dem Digitalen, dem Haptischen und dem Abstrakten, bei der das Digitale eben nicht der Ersatz für das Analoge, sondern Ergänzung und Spannungsfeld zugleich ist, ist ein zentrales Anliegen.

Ein Studio ist ja immer auch ein sozialer Raum, was uns immer viel wichtiger ist als der Maschinenpark: die Atmosphäre, die Freundlichkeit und Offenheit der Menschen.  Wolfgang Heiniger, Komponist

Als noch relativ junge Disziplin befindet sich die Elektro­ akustische Musik vielleicht in einer guten Ausgangslage für die sich ankündigenden gesellschaftlichen Diskurse. Die Entwicklung dieser Kunst erfolgte in einer bereits teilweise globalisierten Welt – das erste Tonbandstück (oder besser: Tondrahtstück) wurde vom ägyptischen Komponisten Halim El-Dabh kreiert. In Russland entwickelte Leo Theremin das gleichnamige Instrument, das berührungslos gespielt werden konnte und elektro­ akustisch Klänge erzeugte. Der US-Amerikaner Reed Ghazala gilt seit den 1960er Jahren als Vater des Circuit-Bending, und in Japan entwickelte sich in den 1980er Jahren mit dem „Japanoise“ eine eigenständige


Variante der in den 1950er Jahren in Frankreich entstandenen musique concrète Pierre Schaeffers. Institutionalisiert und im Bildungssystem verankert wurde die Elektroakustische Musik hauptsächlich in der westlichen Sphäre, hier zeigen sich im Hinblick auf die Diversität der Künstler*innen immer noch Unwuchten: Sie sind zum allergrößten Teil männlich, wohl hauptsächlich, da die Technologielastigkeit und das Klischee als „Männer-Bastelei“ der künstlerischen Praxis noch immer anhaftet. Der kürzlich erschienene Film Sisters with Transistors zeigt jedoch eindrucksvoll die Arbeit der Pionierinnen der Elektroakustischen Musik. Im Studio der Akademie der Künste versuchen wir diesem Ungleichgewicht bewusst entgegenzuwirken: In den letzten drei Jahren waren von den insgesamt 33 im Studio arbeitenden Künstler*innen 45 Prozent weiblich, 21 Prozent hatten einen nicht-weißen Hintergrund – darüber hinaus scheint die Bildungshürde zum Einstieg in die Elektroakustische Musik nicht so hoch zu sein wie in der klassisch-bürgerlichen Musikszene: Nicht wenige der Künstler*innen sind Autodidakt*innen, was Technologie und künstlerische Ausbildung angeht. Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Zukunft ist das Thema Machine Learning und KI. Auch im Bereich der Künste und speziell der Elektroakustischen Musik sind Machine-Learning-Technologien wie Klangsynthese und Bearbeitung, die aus Voice-Cloning und Deep-FakeSoftware entstanden sind, sowie samplebasierte rückgekoppelte neuronale Netzwerke und Stilkopie-Generatoren erst am Anfang ihrer Entwicklung. In der künstlerischen Arbeit wird, im Gegensatz zur kommerziellen „Kulturindustrie“, der Mensch durch diese Technologien nicht ersetzt werden, sondern sie werden immer Werkzeug und Spielpartner, Diskursfeld und ästhetischkonzeptioneller Impuls sein.

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Während der Residency entwickelte ich mein Projekt Radio-Choreography, das Aufnahmesessions mit einer Tänzerin, Sängerin und Pianistin in unkonventionellen Settings sowie Sounddesign-Arbeiten beinhaltete. Die Arbeit als Choreografin in einem Studio für Elektroakustische Musik ist eine ungewöhnliche Situation, und die erfolgreiche Umsetzung meiner Vision war in vielerlei Hinsicht vom Dialog mit dem Studioteam und dem Toningenieur abhängig. Dank des Engagements, der Expertise und der Experimentierfreude des Teams sowie der Räumlichkeiten und Ausstattung des Studios ist es uns gelungen, meine künstlerische Vision bestmöglich umzusetzen.

ist es noch. Die Elektroakustischen Utopien der 1950er und 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts, die die menschlich-physiologischen Beschränkungen des klassischen Instrumentariums zu überwinden glaubten, sind zwar heute überwiegend dystopischen Zukunftsprognosen und Visionen gewichen – jedoch scheint derzeit eine Art Aufbruchsstimmung greifbar. Die existenzielle Erfahrung, was in Ausnahmesituationen – politisch, gesellschaftlich, technologisch – alles möglich sein kann, wird sich in jeder Hinsicht auf die zukünftige künstlerische Arbeit und das Studio auswirken. Für die Zukunft wird das offene, aufmerksame und genaue (Hin- und Zu-) Hören in alle Richtungen wichtiger denn je. 1 Aufnahmen mit einem Kunstkopf, der das akustische Reflexionsverhalten und die Laufzeitunterschiede zwischen den Ohren nachbildet.

MALTE GIESEN, Komponist und Interpret neuer Musik, ist seit Juni 2021 Leiter des Studios für Elektroakustische Musik der Akademie der Künste.

Netta Weiser, Tänzerin/Choreografin

In unserem Alltag ist der Lautsprecher allgegenwärtig und als Medium damit eigentlich unsichtbar (und unhörbar) geworden. Der Klang aus Lautsprechern, Kopfhörern etc. ist eine virtuelle akustische Realität, bei der die physische Realität des Lautsprechers verschwinden soll. Die Medialität des Lautsprechers, seine Eigenqualitäten offenzulegen, gewissermaßen hinter die Membran zu sehen und zu hören, das Bewusstsein für unsere akustische Realität zu schärfen und zu sensibilisieren, war stets Anspruch der Elektroakustischen Musik und

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ARCHIVE DES EPHEMEREN

Die Kompaktkassette war für einige Jahrzehnte weltweit das nahezu wichtigste Medium zur Verbreitung von Musik. Ab Ende der 1970er Jahre konnte Musik dadurch schnell und günstig produziert werden; sie wurde tragbar und überall verfügbar. Mark Gergis bekam mit, wie stark die Kassettenkultur auch Städte wie Damaskus und Aleppo unüberhörbar prägte. Zwischen 1997 und 2010 unternahm der Musiker, Produzent und Musik­ archivar von den USA aus mehrere Reisen nach Syrien, um über die vielfältigen Musikszenen und Klangwelten der Region zu recherchieren und die Menschen hinter der Musik kennenzulernen. Jedes Mal kehrte er mit so vielen Kassetten zurück, wie er in seinem Gepäck unterbringen konnte – bis 2011 der bis heute andauernde Bürgerkrieg in Syrien ausbrach, der weite Teile des Landes zerstört und Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat. Die über 400 Kassetten in Gergis’ Sammlung wurden plötzlich zu Dokumenten einer vergangenen Ära, ein kulturelles Erbe, das es nicht nur zu schützen, sondern vor allem auch weiterzugeben galt. Die breite Sammlung bildet heute den Ausgangspunkt für die Initiative „Syrian Cassette Archives“, die der mittlerweile in London lebende Gergis mit einem Team aus Musikforscher*innen und in Kooperation mit syrischen Communitys in Deutschland, Großbritannien, dem Libanon, Jordanien, Schweden und Syrien selbst ins Leben gerufen hat. Das Projekt digitalisiert und archiviert die Tonbänder, führt Interviews mit beteiligten Akteur*innen aus der Zeit und macht die Musik und Gespräche zugänglich für die Öffentlichkeit. Im Oktober 2021 feierte das Projekt mit Livemusik, Diskussionen und einer Kassettenausstellung seinen Auftakt in der Akademie der Künste. Zum Jahreswechsel ging die interaktive Datenbank syriancassettearchives.org online.

Kassettenkiosk neben der Nationalen Telefongesellschaft, Damaskus, 1997

MARK GERGIS ÜBER DAS PROJEKT „SYRIAN CASSETTE ARCHIVES“ IM GESPRÄCH MIT LINA BRION

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LINA BRION   Weshalb bist du nach Syrien gegangen, um dort Musik zu sammeln? MARK GERGIS   In den 1990ern fing ich wieder an, die Musik zu hören, mit der ich aufgewachsen war. Eine Seite meiner Familie, die aus dem Irak stammt, ist chaldäischassyrisch, das war ein indigenes Volk aus dem Gebiet, das heute den Irak, Syrien, die Türkei und einen Teil des Irans umfasst, das alte Mesopotamien. Ich begann, diese Musik eingehender zu studieren und völlig in sie einzutauchen. Jahrelang sammelte ich Kassetten und Platten aus den Diaspora-Shops in Städten wie Detroit, wo sich viele Araber*innen und Iraker*innen niedergelassen hatten. Aber die Auswahl dort war sehr begrenzt, sie berührte nur die Oberfläche. Es war bezeichnend, wie wenig in den USA erhältlich war. Vor allem nach dem Ersten Golfkrieg war die Dämonisierung des Nahen Ostens deutlich spürbar. Und seine Unsichtbarkeit. Ich wollte in den Irak reisen, aber als Halb-Amerikaner war es zu der Zeit kompliziert, das Land zu betreten. Außerdem hatten viele Menschen den Irak aufgrund von Krieg und Sanktionen längst verlassen, einige lebten im Exil

in Syrien, darunter auch viele Musiker*innen. Also peilte ich Syrien an. LB  Wie verlief deine Recherche? MG  Damals hätte ich von dieser bequemen LehnstuhlForschung, die wir heute betreiben, nur träumen können. Ich habe mich also blindlings hineingestürzt. Ich hatte keine Kontakte in Syrien, ich wollte es einfach selbst herausfinden. Überall gab es eine schwindelerregende Menge an Musikkassetten. Das war damals das primäre Medium für Musik. Im gesamten Zentrum von Damaskus gab es mobile Kassettenkiosks auf Karren. Jeder Betreiber ließ sein jeweiliges Lieblings-Tape der Woche auf voller Lautstärke plärren, teils direkt nebeneinander. Es war unglaublich, ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte. Wenn ich reise, nehme ich immer ein Radio mit. Ich saß also in meinem Hotelzimmer und nahm Musik, die ich mochte, aus dem Radio auf, brachte diese Kassetten zu den Verkaufsständen und fragte: „Was ist das für ein Stil? Kann ich mehr davon hören?“ Und man gab mir Vorschläge, riet mir von manchen Käufen ab, riet mir zu anderen. Und manchmal war dann jemand anderes im


Laden, der Musik kaufte und mir auch von seinen Lieblingsbands erzählen wollte. LB  Viele hatten also Lust, dir ihre Lieblingsmusik zu zeigen und auch darüber mit dir zu sprechen. MG  Absolut. Es kam vor, dass ich sechs Stunden mit jemandem in einem Café redete, nachdem ich ihn in einem Laden getroffen hatte, oder mit ihm nach Hause ging, seine Familie kennenlernte und ein bisschen Musik hörte. Wenn sie anfangs feststellten, dass ich gar nicht flüssig Arabisch spreche, haben sie mich oft gefragt: „Wie kommt es, dass du diese Musik magst?“ Und dann nahmen sie mich unter ihre Fittiche. Das war eine Art learn-as-yougo-Ansatz, bei dem ich unterwegs immer mehr Wissen ansammelte, während ich völlig in die Musik abtauchte. Ich hatte nicht vor, ein Archiv zu erstellen, ich war einfach neugierig. Die ursprüngliche Sammlung des Projekts spiegelt diese Zeit der persönlichen Recherche und Entdeckungslust wider. Und auch die Verbindungen, die ich über die Zeit zu lokalen Musikläden, Produzent*innen und Musiker*innen in Syrien aufbaute. LB  Welche Musik hast du gesammelt? MG  Die Sammlung ist recht breit. Als Außenstehender war ich mir der Stigmata nicht bewusst, die bestimmte regionale Musikstile hatten. Meine Auswahl war gewissermaßen einzigartig in ihrer Naivität, ich wollte so viele Stile hören wie möglich. Zwar sind meine Tendenzen zu irakischer und assyrischer Musik deutlich, aber es gibt Bänder mit syrisch-arabischer, kurdischer und armenischer Musik, Aufnahmen von Live-Konzerten, Studioalben von Solo-Künstler*innen und Gruppen, klassische, religiöse, patriotische Kassetten, Kindermusik usw. Mit der Zeit stellten sich meine Ohren allerdings auf Dabke und Shaabi ein: die meist sehr tanzbare, regionale FolkMusik, die auf Hochzeiten und Feiern gespielt wird. In den 1980ern und 90ern kamen elektronische Synthesizer auf. Shaabi-Musiker*innen integrierten diese neuen Sounds und schufen hybride Formen folkloristischer Stile. Ich erfuhr dann schnell, dass diese Musik nicht immer den besten Ruf in den akademischen und urbanen Kreisen in Damaskus hatte. LB  Was vermutlich eine klassengeprägte Abgrenzung war? MG  Am Ende sind das auch klassistische Stigmata, ja. Aber wenn ich mich in die Leute hineinversetze, habe ich durchaus Verständnis für sie. Man muss sich vorstellen: Damaskus war eine der ersten kosmopolitischen Städte. Aber als ich dort ankam, war der Tourismus stark zurückgegangen, Syrien galt als „Schurkenstaat“ und wurde im Westen überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Es gab brillante Köpfe, die bereit waren für die Bühnen der Welt, aber keine Chance hatten. Zugleich kamen Computer auf, die Welt vernetzte sich, aber sie fühlten sich immer isolierter. In der großen Stadt Damaskus hielt man also die Dorfmusik für etwas peinlich. Man wollte nicht, dass ein Außenstehender das hörte, was sie als niedrigere Form von Musik betrachteten. Die haben sich auch gewundert, wie ich behaupten konnte, den Shaabi-Sound und die Klassiker zu mögen. LB  Was hast du ihnen entgegnet? MG  Dass ich einfach neugierig bin … Mein Ziel war eine umfassende musikalische Landkarte. Ich wollte hören, wie das Land klingt. Es war so eindrucksvoll, wie divers Syrien war. Ich wollte alles von der abgelegensten Beduinenmusik aus dem Süden bis zu den bekannten Größen wie Farid al-Atrash, Fairuz usw. hören. Meine Funktion als Außenstehender war aber auch ein Attribut. Sehr viel

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von dieser Musik, insbesondere die Shaabi-Kassetten, ist so kurzlebig. Diese Musik existierte nur auf Kassetten, das war ihr einziges Medium. Sie war nie wichtig genug, um digitalisiert und auf CD veröffentlicht zu werden. Also finden heute auch viele Syrer*innen, die meine Sammlung sehen, dass es vielleicht ganz gut ist, dass jemand da war und ausgerechnet diese Kassetten auswählte. LB  Interessanterweise hat die Kassette einerseits einen Sinn dafür eingeführt, dass alles jederzeit überall aufgezeichnet werden kann. Jede Party, jede Zusammenkunft. Auch du hattest immer deinen Kassettenrekorder dabei. Andererseits hatte diese Aufzeichnungskultur nicht das Ziel, etwas aufzubewahren oder zu sichern, sondern die Musik zu teilen und für eine bestimmte Zeit zirkulieren zu lassen. Würdest du sagen, diese Art der Kassettenkultur ist spezifisch für die Region? MG  Syrien war bestimmt keine Ausnahme in Bezug auf die Demokratisierung von Musik, die Kassetten mit einem Schlag in Gang setzten. Aber es gab Musikstile und Musiker*innen in Syrien, die nie zuvor aufgenommen worden waren. Manche waren vielleicht regionale Stars, die auf Hochzeiten sangen, und alle in der Stadt kannten sie. Wenn sie gut waren, hatten sie einen Ruf im nächsten Ort. Aber jenseits davon waren sie unbekannt. Kassetten verschafften ihnen eine Plattform, da sie billig zu reproduzieren und zu vertreiben waren. Wie in jedem Land gab es eine große Arbeiter*innenbevöl­ kerung aus den Dörfern in den Städten. Die Produktionsfirmen fanden hier einen Markt, um die regionale Musik zu verkaufen. Sie hatten Talentscouts an verschiedenen Orten, die ihnen die Namen und Aufnahmen brachten. Leute im Norden konnten hören, was Leute im Süden mochten. Wer zum Arbeiten nach Damaskus ging, konnte die Lieblingssänger*innen aus der Heimat hören, an einer Bushaltestelle oder in einem Kiosk. Die Kassette wurde dabei zu einer Art Visitenkarte: Wenn ein Sänger oder eine Sängerin auf einer Hochzeit spielte, machte der Gastgeber eine Aufnahme und gab diese zum Zwischenhändler, der Kopien anfertigte. Dieser Sänger hatte dann vielleicht zehn bis dreißig Kassetten im Jahr in den Kiosken, seine Telefonnummer auf dem Cover. Das waren die besonders schnell vergänglichen Kassetten: Sie verschwanden in der Regel nach einem Jahr wieder. Du willst im Jahr 1999 kein Tape von 1997 in deinem Regal stehen haben. Das war eine hohe Rotation. Aleppo war eine Brutstätte für diese Produktionsfirmen und Shops. Ich weiß nicht mal, wie viele das waren. Manche kamen und gingen, manche blieben für Jahrzehnte. LB  Diese Läden existieren heute vermutlich nicht mehr? MG  In den Städten, die nicht ganz so kriegszerstört sind, gibt es noch ein paar. Es gibt auch immer noch Leute, die Kassetten kaufen – hauptsächlich für die Autos, die noch Kassettendecks haben, und weil CDs auf den holprigen Straßen springen. Aber als die Krise 2011 begann und die Menschen aus Syrien flüchteten, verschwanden auch die langjährigen Musikfirmen und -shops über Nacht. Manche sind heute nicht mal mehr zurückzuverfolgen, wir haben nach vielen gesucht, aber niemand weiß, wo dieser oder jener Typ ist. 2013 lebten meine Frau und ich in Vietnam. Aus dieser Entfernung musste ich mitansehen, wie Syrien buchstäblich zerfiel. 2010 hatte ich, offensichtlich, nicht gewusst, dass dies mein letzter Besuch sein würde. Es war herzzerreißend. Ich hörte von meinen Freund*innen und Kontakten, die zu Flüchtlingen wurden und versuchten, nach Europa und anderswohin zu kommen. Manche erlebten immenses Leid oder


fanden gar den Tod, und es ging immer so weiter. Und dann kam der IS. Die Zerstörung wurde noch unvorstellbar schlimmer. Ich dachte an meine Kassetten in Kalifornien. Über die Jahre hatte ich mich bei ihnen für Veröffentlichungen bedient, wie für die Audiodokumentation I Remember Syria in 2003. Aber jetzt begriff ich, dass hier eine ganz andere Dringlichkeit herrschte. Nicht, dass Musik oder Musiksammlungen besonders wichtig sind in so einem Moment. Es braucht das Privileg des Friedens, um Kunst und Musik zu schaffen. Aber das war alles, was ich hatte: Meine Erinnerungen an Syrien, meine Liebe für Syrien und diese Kassetten. Und ich dachte daran, wie Kriege Demografien verändern und dadurch Musik in dieser oder jener Region nie mehr so klingt wie vorher. Assyrer*innen beispielsweise: Viele wurden getötet. Tausende sind emigriert. Werden sie je nach Syrien oder in den Irak zurückkehren? Warum sollten sie, was wartet dort auf sie? Das beeinflusst die musikalische Landschaft eines Landes enorm. Eine kulturelle Amnesie kann die Folge sein. Das ist in Kambodscha und Vietnam passiert, in Afghanistan und Somalia – in jedem Land, das diese Art von kriegerischen Auseinandersetzungen und Verlust erlebt. Ich sah also eine Dringlichkeit darin, die Tonbänder zu dokumentieren und verfügbar zu machen. In dem Moment wurde die Idee für das Projekt geboren. LB  Und wer flüchten musste, hat vermutlich nur in sehr seltenen Fällen Musik mitgebracht. Das Archivprojekt ermöglicht also auch den Menschen in der Diaspora, ihre Musik wieder zu hören. Insbesondere, da viel davon eben ausschließlich auf Kassette existierte. MG  Ja, unbeabsichtigt wurden diese ephemeren Kassetten die wertvollsten in der Sammlung. Wir konnten das nicht wissen, aber heute haben sie einen tragischen

Mehrwert. Ich meine, es gibt YouTube, das unversehens zur Lagerstätte für kulturelles Erbe geworden ist. Ich recherchiere sehr viel Musik, nicht nur aus der syrischen und irakischen, sondern auch südostasiatischen Diaspora, und offenbar haben viele Leute – besonders während des Lockdowns – damit begonnen, ihre alten Audiound Videosammlungen zu digitalisieren. Diese Leute haben keine Förderung, sie brennen für die Musik und wollen sie mit anderen teilen. Wir müssen die Schönheit darin begreifen. Egal, wonach du suchst: Wenn du auf irgendetwas Spezielles stehst, und es ist medial fest­ gehalten, dann findest du wahrscheinlich etwas davon auf YouTube – manchmal eine fast beschämende Menge, es ist überwältigend. Aber YouTube kann das jederzeit ändern und jeden dieser Kanäle stilllegen. Wir haben keinen Freundschafts-Vertrag geschlossen, YouTube hat nicht gesagt: „Wir fördern euer kulturelles Erbe.“ Jemand mag unglaublich viel Arbeit investiert haben, um das alles online zu stellen, und kann alles über Nacht verlieren, sobald irgendwer irgendwo Anspruch darauf erhebt. Was du auf YouTube lädst, ist also im Grunde stets gefährdet. Daher finde ich es wichtig, andere Verbreitungsformen zu unterstützen. Es ist wichtig, dass unabhängige Archive und Sammlungen auf eigenen Beinen stehen können und wir ihren Wert begreifen. Und ich hoffe, dass noch tausende weitere kommen. LB  „Syrian Cassette Archives“ ist nicht nur ein Musikarchiv, sondern auch ein Archiv der Geschichten und Begegnungen. Auch über die letzten Jahre ging es dir in deiner Recherche nicht nur darum, Musik zu sammeln, sondern auch, dich mit Menschen zu unterhalten. MG  Die Website ist nicht einfach eine digitale Abladestation für Musik. Jede Kassette erzählt eine Geschichte.

Kriege verändern Demografien, Musik in dieser oder jener Region klingt nie mehr so wie vorher. Wir fügen hinzu, soviel wir können, mit der Hilfe unseres groß2rtigen Te2ms 2us Mit2rbeiter*innen und Beitr2genden, d2s sind junge Forschende wie 2uch Leute, die Teil der K2ssetten-Är2 in Syrien w2ren. M2nche dieser großen Musiker*innen, Produzent*innen, S0nger*innen und Musikf2ns 2usfindig zu m2chen, ist wirklich ein Geschenk. Wir reden mit ihnen über ihre Geschichte, d2rüber, wo sie heute sind und w2s sie heute über die Musik denken. Denn, seien wir ehrlich, sie sind nicht nur vom Krieg betroffen, sondern 2uch d2von, d2ss Musik heute g2nz 2nders konsumiert und wertgesch0tzt wird. Wir h2ben eine l2ngfristige Vision für dieses Projekt und erweitern die S2mmlung best0ndig. Ein digit2les Projekt zu sein, hilft. Wir br2uchen keine physischen T2pes horten, d2s ist nebens0chlich gegenüber den Geschichten, die wir um sie herum erz0hlen können, und der Zus2mmen2rbeit mit Leuten inner- und 2ußerh2lb Syriens. Dieses Projekt wird verschiedene Bedeutungen für verschiedene Menschen h2ben. M2nche werden 2us Nost2lgie kommen, 2ndere 2us Forschungszwecken. Aber hoffentlich k2nn es 2ls eine Art Vehikel dienen bei dem Versuch, diejenigen, die hinter den K2ssetten stehen, mit denjenigen zus2mmenzubringen, die vor ihnen stehen und zuhören. Aus dem Englischen von Lin2 Brion

MARK GERGIS ist ein in London lebender Musikproduzent, Musiker sowie Audio- und Video2rchiv2r, bek2nnt u. 2. für seine Musikveröffentlichungen 2uf dem Pl2ttenl2bel Sublime Frequencies. Seit den frühen 1777ern widmet er seine Recherchen und Produktionen region2ler Folk-Pop-Musik 2us dem N2hen Osten und Südost2sien sowie Musik der 2si2tischen Di2spor2 in den USA von Mitte bis Ende des 17. J2hrhunderts. 1773 br2chte Gergis den syrischen S0nger Om2r Souleym2n d2s erste M2l 2uf Bühnen im Westen, er h2t 2uch eng mit dem türkischen Musiker Erkin Kor2y ge2rbeitet. 17a5 gründete er die Initi2tive „Syri2n C2ssette Archives“. „Syri2n C2ssette Archives“ ist ein Projekt von M2rk Gergis in Zus2mmen2rbeit mit Heike Albrecht und Y2men Mekd2d, gefördert durch den H2uptst2dtkulturfonds Berlin, den Ar2b Fund for Arts 2nd Culture – AFAC und die Gw0rtler Stiftung. LINA BRION ist Referentin des Progr2mmbe2uftr2gten Kassettenkiosk in Damaskus, 2006

der Ak2demie der Künste.

Wenn ein Sänger oder eine Sängerin auf einer Hochzeit spielte, machte der Gastgeber eine Aufnahme und gab diese zum Zwischenhändler, der Kopien anfertigte.

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DAS LEBEN EBEN …

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TAMARA TRAMPE war Dokumentarfilm-Regisseurin. Sie begann erst eigene Filme zu realisieren, als ihre Arbeit als Dramaturgin beim DEFA-Spielfilm-Studio nach 20 Jahren 1990 abrupt endete. Studiert hatte sie Germanistik an der Universität Rostock, zwei Jahre lang arbeitete sie als Kulturredakteurin bei der Wochen­ zeitschrift Forum. Jahrgang 1942, sind ihre Arbeiten durch zwei Motive geprägt: Kindheit und Krieg. In ihren essayistischen Auf­ fächerungen hat Trampe zu einem eigenen Stil gefunden, der eng an die Kollaboration mit dem Kameramann und Co-Regisseur Johann Feindt geknüpft ist. Ihre Filme erhielten zahlreiche Auszeichnungen und liefen auf Festivals wie der Berlinale und Cinéma du Réel in Paris. Seit 2016 war sie Mitglied der Sektion Film- und Medienkunst. Im November 2021 ist sie verstorben.


EINE LAUDATIO FÜR TAMARA TRAMPE VON CORNELIA KLAUSS

Eine Laudatio, nicht so einfach. Es ist zu vieles, was mir vor Augen steht, was gesagt werden müsste, aber Worte vielleicht nur unzulänglich beschreiben, auch weil sich die Begegnungen mit dir für mich immer mit Bildern aus deinen Filmen überlagern. Nun also ein Ehrenpreis. Damit hast du vielleicht nicht gerechnet. Verdient hast du ihn allemal. Du hast dein ganzes Leben dem Film gewidmet. Wenn man bei dir am Küchentisch sitzt, geht es bei Tee aus blau-weiß gemusterten Tassen mit Goldrand und einer Zigarette immer gleich um alles: Du erzählst, was dir bei einem Projekt, das du gerade betreust (und du betreust immer mehrere gleichzeitig) unrichtig, unehrlich oder inkonsequent vorkommt. Dann beharrst du so lange auf deinen Vorschlägen, bis deine Schützlinge, oft junge Leute, die mit ihren halbfertigen Filmen zu dir gekommen sind, doch deinem Ratschlag folgen, sich noch einmal an den „Schneidetisch“ zu setzen, und du dann triumphierend und stolz ein paar Wochen später verkünden kannst, dass der Film zu einem Festival eingeladen wurde. So hast du an unzähligen Arbeiten als Dramaturgin im Hintergrund mitgewirkt, eine Rolle, die oft unterschätzt wird – aber was wären diese Filme ohne dich? Wer mit einem Anliegen zu dir kommt, muss schon wissen, dass

Filmstill aus Weiße Raben

du nicht gerade zimperlich bist mit Kritik – aber genau deshalb kommen sie, um nicht geschont zu werden. Schon im DEFA-Spielfilmstudio hast du im Zeitraum 1973–1990 nicht nur Filme betreut, sondern mit durchgeboxt. Stellvertretend seien Alle meine Mädchen von Iris Gusner, Bürgschaft für ein Jahr von Herrmann Zschoche und Junge Leute in der Stadt von Karl-Heinz Lotz genannt, Filme, die ich mir damals in Ostberlin freiwillig im Kino ansah, obwohl sie von der DEFA waren. Was ich auch sehr an dir schätze: Du machst kein großes Gewese. Wenn ich dich anrufe, dann ertönt auf meine Frage, wie es dir geht, deine Stimme ganz aus der Tiefe heraus: „Normal.“ Dabei ist vieles alles andere als normal in deinem Leben verlaufen. Im Winter auf einem Feld 1942 nahe der Kriegsfront geboren, eine Zeitlang geborgen bei der warmherzigen Großmutter auf dem Dorf, dann als Kind nach Deutschland gekommen, ohne die Sprache zu beherrschen, studierst du – ausgerechnet oder gerade deswegen – Germanistik. Über einen Zufall kommst du ans Spielfilmstudio, Regie wird dir nur einmal gewährt, bei dem dokumentarischen Kurzfilm Ich war einmal ein Kind, eine bestürzende Erfahrung auch mit der Zensur. Du lernst den Westberliner Regisseur und Kameramann Johann Feindt kennen, mit dem du eine Beziehung über die Mauer hinweg lebst, eine schwierigere Situation für die Liebe kann es kaum geben. Aber was für ein Glücksfall, ihr seid eine Arbeits-, Denk- und Lebensgemeinschaft, wie man sie selten erlebt. 1990, nachdem die DEFA abgewickelt wurde, entscheidest du dich, die Filme selbst in die Hand zu nehmen. Du

bist 48, als dein Debütfilm entsteht. Die Filmfamilie wächst an, u. a. mit dem geschätzten Cutter Stephan Krumbiegel, dem Mischtonmeister Martin Steyer, dem Komponisten Helmut Oehring und der Tonfrau Jule Cramer. Es entsteht ein Schutzraum, den du brauchst, um dich selbst in den Filmen auch immer wieder preiszugeben. Zusammen entstehen – neben vielen anderen Arbeiten – vier Filme, Der schwarze Kasten, Weiße Raben – Alptraum Tschetschenien, Wiegenlieder und Meine Mutter, ein Krieg und ich. Jeder dieser Filme ist wie ein dickes Buch. Man kann sie immer wieder neu lesen und erstaunt feststellen, wie gültig sie noch sind. Mehr noch, sie sollten an den Filmschulen zur Pflichtlektüre werden, kann man doch lernen, wie aus einem Stoff eine Erzählung wird, wie sich Schicksale darin langsam aufblättern, wie das Gegenteil von Journalismus aussieht. Wir sprechen von Kinodokumentarfilmen und eben keinen Dokumentationen oder Reportagen. Auf diese Unterscheidung kommt es dir immer sehr an. Warum lassen mich die Filme nicht los? Es ist das zutiefst Innere der Menschen, das du birgst, und in jedem der Protagonisten scheint dein eigenes Erleben durch. Da ist z. B. Jochen Girke, der Stasi-Oberleutnant, der operative Psychologie lehrte, den du zu entziffern sucht. Dabei wusstest du aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie perfide die Methoden der Stasi waren, wie sie zu erpressen verstand. In Russland suchst du junge Rekruten auf, die mit 18, 19 in den Krieg nach Tschetschenien eingezogen wurden. In Home-Videos sehen wir Jugendliche, deren Leben auch einen ganz anderen Verlauf hätte nehmen können, wenn der Krieg sie nicht so verroht und verstümmelt hätte. In Meine Mutter, ein Krieg und ich findest Du noch die letzten Veteraninnen, die im Zweiten Weltkrieg an der Front gekämpft haben. Die meisten von ihnen wurden von der Geschichte vergessen. Was macht der Krieg mit Menschen, welche „Wandersplitter“ hinterlässt er zeitlebens in ihnen? Unvergessen für mich: der Blick auf Fotografien, die in deinen/euren Filmen immer wieder eine Rolle spielen. Wen sehen wir, aber mehr noch – wer fehlt? Oder: Helmut Oehring, Sohn taubstummer Eltern, der Komponist wird – erst aus Protest, dann, um ihnen etwas zu schenken. Oder: das Mädchen, das die Regentropfen auf der Hand zählt. Oder: der Gang des jungen Mannes, der im Tschetschenien-Krieg einen Arm und ein Bein verloren hat, den Krankenhausflur entlang. Sein Vater hat begonnen, ein Haus für ihn zu bauen. Das Leben wird weitergehen. So ließen sich noch sehr viele Szenen, Begegnungen und Momente aufzählen, die einzigartig, bewegend, erschütternd, zum Verzweifeln traurig oder urkomisch und erhellend sind, Leben eben. Und nie ohne Hoffnung. Die bleibt. Ich beglückwünsche dich zu dem Preis – und finde, dass mit dieser Auszeichnung eine sehr kluge und fällige Entscheidung getroffen wurde. Die Laudatio wurde aus Anlass der Verleihung des Ehrenpreises des Verbandes der deutschen Filmkritik an Tamara Trampe am 19.9.2021 in der Akademie der Künste gehalten. CORNELIA KLAUSS ist Sekretär der Film-und Medienkunst, Kuratorin und Mit-Herausgeberin der 2019 erschienenen Publikation Sie – Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme.

Filmstill aus Meine Mutter, ein Krieg und ich

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NEUES AUS DEM ARCHIV

FUNDSTÜCK ZEICHEN AN DER WAND JOACHIM WALTHERS ZEITUNG FÜR DIE SCHÖNHAUSER ALLEE 71

Geplant hatte er eine Reise. Von Anfang Juli bis Ende September 1970 wollte Joachim Walther mit einem Frachtschiff der Deutschen Seereederei das Mittelmeer befahren. Die Häfen von Algier, Tripolis und Alexandria sollten angelaufen werden. Aber eine Genehmigung wurde ihm verweigert. Statt aus dem Süden berichtete er deswegen aus seinem und für sein Wohnumfeld. Mittel der Wahl war eine Wandzeitung in seinem Haus in der Schönhauser Allee 71. Von Juli bis August hängte er dort wöchentlich wechselnde Botschaften aus: Witze, Sentenzen, Montagen, Rezepte, gelahrte Zitate, Aphorismen, fingierte Agenturmeldungen – „BERLIN. (Ackerpress). neues von milli: neulich sagte milli (54) einer hausbewohnerin des vorderhauses ackerstraße 5 auf den kopf zu: du alte sau!“ –, Fotos, Gedichte, Zeichnungen, Leserbriefe, das jeweils aktuelle Theater- und Kinoprogramm. Der Auslandskorrespondent Walther informierte nicht über Afrika, vielmehr über die vertraute Fremde der Oderberger, der Schwedter und der Ackerstraße in Berlin, Hauptstadt der DDR. Seine Wandzeitung war Fortsetzung der journalistischen und literarischen Form der Vermischten Nachrichten und zugleich Persiflage und subversive Antwort auf die genormten, von einem Zuständigen bestückten Wandzeitungen, die in jedem Betrieb und manchem Mietshaus hingen. Die sorgfältig datierten Materialien für diese Hauszeitung finden sich in Joachim Walthers Nachlass, der sich seit 2021 im Literaturarchiv der Akademie der Künste befindet. Und mit ihnen die Zeugnisse eines Schriftstellers, der nach der Wiedervereinigung auch Literaturhistoriker wurde. 1943 in Chemnitz geboren, war er von 1968 bis 1983 Lektor im Buchverlag Der Morgen. 1970 erschien sein erster Roman Sechs Tage Sylvester. Als Redakteur der Zeitschrift Temperamente wurde ihm zusammen mit der gesamten Redaktion 1978 gekündigt. Nach der Wende wurde Walther stellvertretender Vorsitzender des Schriftstellerverbandes und publizierte das enzyklopädische Standardwerk Sicherungsbereich Literatur über Schriftsteller*innen und die Stasi, die ihn seit 1969 beobachtet und „operativ bearbeitet“ hatte. 2001 gründete

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er mit Ines Geipel das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ und gab zusammen mit ihr die Reihe „Die verschwiegene Bibliothek“ heraus, in der aus politischen Gründen nicht publizierte Texte erstmals zugänglich gemacht wurden. Seine Wandzeitung dagegen war öffentlich. Urlaub machte er dann auch, im Oktober, statt am Mittelmeer an der Ostsee, auf Hiddensee. Darüber schrieb er seinen ersten Artikel für die Weltbühne: „Journal einer Nachsaison“. Hier taucht ein Satz auf, den die Bewohner*innen seines Hauses wiedererkennen konnten, weil sie ihn so ähnlich schon an der Wand gelesen hatten: „Hunde dürfen bellen. Sie bellen ihr Nachtpensum tags rückwärts.“ In einer literarischen Reportage über die Schönhauser Allee, die im Mai 1971 erschien, kommt der Satz erneut vor. Ebenso zwei andere Sätze aus seinem Aphorismenschatz: „Berlin ist ein sprachlicher Schmelztiegel, gegenwärtig werden Thüringer und Sachsen eingeschmolzen.“ Und: „Den Bäumen auf Straßen und öffentlichen Plätzen Berlins ist es strengstens untersagt, bei Altersschwäche umzufallen.“ Damit ist die Reise der Zitate aber noch nicht beendet. Die Reportage und damit auch die Sentenzen werden von Walther in seinen 1972 erschienen zweiten Roman Zwischen zwei Nächten integriert. Auf dem Weg von der Wandzeitung über die Zeitschrift ins Buch wechseln die Sätze nicht nur ihre literarische Funktion. Auf der Reise der Selbstzitate geht auch etwas verloren. Die anarchische Freiheit einer unreglementierten Öffentlichkeit – und sei sie noch so klein, wie die der Schönhauser Allee 71 – wird durch Eingriffe von Redakteur*innen und das obligatorische „Druckgenehmigungsverfahren“ gedämpft und beschnitten. So zeigt die Wandzeitung ex negativo Walthers Lebensthema: die Verhinderung von Literatur durch die Staatsmacht. CHRISTOPH KAPP ist Mitarbeiter des Literaturarchivs der Akademie der Künste.


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NEUES AUS DEM ARCHIV

„SCHREIBE MIR NUR IMMER VIEL“ DER BRIEFWECHSEL ZWISCHEN HANS UND LEA GRUNDIG EIN WERKSTATTBERICHT

Kathleen Krenzlin

Lea Langer und Hans Grundig auf einem Gauklerfest der Kunstakademie Dresden [1925/1926] Auszug aus einem Brief von Lea Langer (o. O.) an Hans Grundig (Dresden) [29./30. Juni 1926]

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HANS GRUNDIG (1901–1958) hatte an der Kunstakademie in Dresden studiert. Hier lernte er 1925 die jüdische Kaufmannstochter LEA LANGER (1906–1977) kennen, sie heirateten, gegen den Widerstand ihrer Familie, 1928. Vermutlich 1926 wurden beide Mitglieder der KPD, 1930 gehörten sie zu den Mitbegründern der Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (ASSO) in Dresden. Nach mehrfachen Verhaftungen gelang Lea Grundig im Januar 1940 die Ausreise nach Palästina, Hans Grundig wurde im März 1940 in das KZ Sachsenhausen eingeliefert. Nach dem Ende des II. Weltkriegs wurde Hans Grundig im Frühjahr 1946 Rektor der widereröffneten Dresdner Kunstakademie. Lea Grundig kehrte Anfang 1949 nach Dresden zurück, wo sie eine Professur an der Kunstakademie übernahm. 1964 wurde sie Vorsitzende des Verbandes Bildender Künstler der DDR, 1967 Mitglied des ZK der SED.


Das Grundig-Archiv der Akademie der Künste beherbergt unter anderem die etwa 700 Briefe umfassende private Korrespondenz des Dresdner Künstlerpaars Hans und Lea Grundig, die sich über etwas mehr als drei Jahrzehnte von 1926 bis 1958 erstreckt. Etwa 100 dieser Briefe sind 1966 in dem Band Hans Grundig. Künstlerbriefe aus den Jahren 1926–19571 erschienen, der unter der Ägide Lea Grundigs (1906– 1977) entstand. Mitarbeiter waren die Kunsthistoriker Bernhard Wächter, der das Vorwort schrieb, und Diether Schmidt, der eine erste Sichtung und Zusammenstellung der Briefe übernommen hatte. Der Band musste ohne editorische Erläuterungen und inhaltliche Kommentare auskommen und die Glättung sprachlicher und orthografischer Eigenheiten Hans Grundigs (1901–1958) sowie die Tilgung einer Reihe damals als heikel oder überflüssig geltender Äußerungen, sowohl im privaten als auch im politischen Bereich, hinnehmen. Dennoch gibt er – bei näherer Betrachtung – die Geradlinigkeit der im Ton von Heiligenlegenden vorgetragenen Autobiografien, die Hans Grundig 1957 und Lea Grundig 1958 vorgelegt hatten,2 auf und bezieht eine Reihe von Briefen ein, die differenziertere Gedanken und Überlegungen öffentlich machen.3 Zu Recht würdigte Bernhard Wächter in seiner damaligen Einführung: „Allein als Liebesbriefe sind diese Schriften kostbar und schön. Doch ihre letzte Faszination beruht auf dem weiteren Blickfeld, das sie eröffnen, auf der Totalität des Lebensberichtes.“ Bis heute sind es vor allem diese drei publizierten Egodokumente, die viel befragte und viel zitierte Quellen sind, wenn es um künstlerische und politische Ereignisse in Dresden, Fragen der Auswanderung, des Exils, des jüdischen Lebens in Deutschland und Details im Leben von Hans und Lea Grundig geht. Versuche, die unveröffentlichten Briefe aus dem Konvolut der privaten Korrespondenz in relevantem Umfang in die Forschung einzubringen, sind daran gescheitert, dass sich durch die Eigenart des Materials weder offene Fragen beantworten noch wirklich neue Einsichten gewinnen ließen. Wie bei einem Rohdiamanten war ohne Bearbeitung der Briefe nicht zu klären, ob sie es vermögen, über das bisher Bekannte hinauszuweisen. Bei dieser Situation wäre es vermutlich geblieben, wenn nicht Klaus Leutner durch die Recherchen zu seinem Buch Das KZ-Außenlager in Berlin-Lichterfelde, in dem Hans Grundig als Gefangener des Konzentrationslagers Sachsenhausen für Berliner SS-Dienststellen Frondienste leisten musste, die Briefe neu in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt hätte. Als Verehrer der Kunst Hans Grundigs und mit dem Ziel, zu einer neuen Biografie beizutragen, hat er sich der immensen Arbeit unterzogen und Abschriften der Briefe erstellt. Auch wenn sie die editorische Arbeit nicht erspart haben, war zum ersten Mal eine Einschätzung der Korrespondenz und die Beschäftigung mit der Frage möglich, ob sich der Schliff des Diamanten lohnen kann. Nach Systematisierungs- und Vergleichsarbeiten, die 2018 und 2019 durchgeführt wurden, stand fest, dass es sich um einen bemerkenswerten Bestand an Primärquellen zur deutschen Kulturgeschichte handelt, dessen Auswertung einen außerordentlichen Beitrag zur zeitgeschichtlichen Umgebung des Briefwechsels leisten und die Grundlage für die weitere Beschäftigung mit Leben und Werk von Hans und Lea Grundig bilden würde. So stellte sich beispielsweise heraus, dass die zu einem

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beträchtlichen Teil undatierten beziehungsweise durch Verschreibungen falsch datierten Briefe, die Lea Grundig zumeist in Alben gebunden hatte, keine Chronologie bilden. Es zeigte sich auch, dass schon in der Zeit des Kennenlernens um 1925/1926 die Realität der Briefe der Erzählung in den Autobiografien widerspricht. Der in der Überschrift angekündigte Werkstattbericht, der pandemiebedingt im Vorfeld des ersten, ursprünglich für 2020 geplanten Bandes der Briefedition erscheint und sich inhaltlich auf ihn bezieht,4 soll in einzelnen Aufsätzen eine exemplarische Auswahl der Themen, Fragen und Ergebnisse aus der Forschung zu den Briefen und Möglichkeiten der Kontextualisierung der Korrespondenz auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiedenen Methoden vorstellen. Neben einer Einführung der Herausgeberin erläutert ein gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin und Mitarbeiterin der Briefedition Anne Flierl verfasster Editionsbericht beispielhaft Probleme und Fragestellungen, die sich aus der Bearbeitung der Briefe ergeben. Beate Schreiber, Mitbegründerin des Historischen Forschungsinstituts Facts&Files, präsentiert erstmals eine quellenbasierte Herkunftsgeschichte der Familie Lea Grundigs, die im 19. Jahrhundert aus Galizien eingewandert ist, und schafft damit die Möglichkeit, künftig auf belastbares Material im Zusammenhang biografischer Feststellungen zurückzugreifen. Zu den wichtigen Erkenntnissen der Forschungsarbeit der vergangenen Jahre gehört es, dass die junge Lea Langer die bisher einzige Stimme ist, die live aus dem Therapeutikum der Frieda Fromm-Reichmann in Heidelberg berichtet. Rainer Funk, Psychoanalytiker, Nachlass- und Rechteverwalter von Erich Fromm, würdigt u. a. die Bedeutung der Heidelberg-Briefe für die Fromm-Forschung. Hans Grundig und Lea Langer nahmen an den politischen und kulturellen Ereignissen ihrer Zeit regen Anteil. Der Filmwissenschaftler Claus Löser wirft einen Blick auf die in den Briefen besprochenen Filme, die vom frühen sowjetischen Revolutionsfilm bis hin zu eher durchschnittlicher Unterhaltungsware reichen, ordnet sie kulturhistorisch ein und beschreibt die soziale Bedeutung des Kinos für die betreffenden Zeiträume und Schauplätze. Eine der wichtigsten Fragen ist jene, wie es zur Politisierung von Hans und Lea Grundig im kommunistischen Milieu Dresdens gekommen ist. Marcel Bois, zu dessen Arbeitsschwerpunkten die historische Kommunismusforschung gehört, versucht u. a., den Aktivitäten der bislang wenig beachteten Kommunistischen Studentenfraktion an der Dresdener Kunstakademie nachzugehen. Und nicht zuletzt soll es um den Fund eines Fotos der Herausgeberin in Dresden gehen, das vermutlich 1925 von Bruno Wiehr aufgenommen wurde. Hilja Hoevenberg, die als Sachverständige für Bildidentifikation tätig ist und sich auch auf systematische, formbasierte Vergleiche für die Kunstwissenschaft spezialisiert und entsprechende Strategien entwickelt hat, stellt ihr morphologisches Gutachten zur Identifizierung der Protagonisten vor. „schreibe mir nur immer viel“5 stammt aus einem der frühesten erhaltenen Briefe und bildet den Auftakt einer Beziehung, der aufgrund dramatischer Lebensumstände oftmals über lange Zeiträume hinweg als einzige Möglichkeit des Austauschs und der gegenseitigen Vergewisserung das Schreiben blieb. Von Anbeginn spielte neben den alltäglichen Dingen die Verständigung über künstlerische und politische Fragestellungen eine herausragende Rolle.

Hans Grundig, Mädchen auf der Bank, 1930, Linolschnitt

1 Hans Grundig, Künstlerbriefe aus den Jahren 1926 bis 1957, mit einem Vorwort herausgegeben von Bernhard Wächter, Rudolstadt 1966. Nicht alle Briefe in diesem Band wurden von Hans an Lea Grundig geschrieben. Der Band enthält darüber hinaus Postkarten Hans Grundigs aus dem KZ Sachsenhausen an seine Mutter und Briefe an Dritte. Nicht zuletzt stellt er einige Briefe von Lea Grundig an Hans aus dem Dresdner Polizeigefängnis vor. 2 Hans Grundig, Zwischen Karneval und Aschermittwoch, Berlin 1957; Lea Grundig, Gesichte und Geschichte, Berlin 1958. 3 Lea Grundig war seit 1964 Präsidentin des Verbandes Bildender Künstler der DDR und damit in einer heraus­ gehobenen Position, 1967 wurde sie Mitglied des ZK der SED. Gerade am Anfang ihrer (kultur)politischen Karriere hatte sie Gestaltungsspielraum und Einfluss. 4 Band 1 umfasst die Jahre 1926–1932. Im Jahr 2020 wurde das Projekt der dreibändigen, kritisch kommentierten Briefedition mit einer Anschubfinanzierung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert, um die Fertigstellung des ersten Bandes zu ermöglichen. Wie zahlreiche geisteswissenschaftliche Projekte der Jahre 2020/2021, die auf Archive und Bibliotheken angewiesen sind, konnte die Arbeit pandemiebedingt nicht beendet werden. 5 Lea Langer (o. O.) an Hans Grundig (Dresden); AdK, Grundig-Archiv 852, S. 179. Der Brief ist undatiert und ohne Ortsangabe im Briefkopf. Zweifelsfrei wurde er aus Wien geschrieben. Hier hielt Lea Langer sich im Sommer 1926 auf. Aus dem Gesamtkontext kann der Brief auf den 29./30. Juni 1926 datiert werden. KATHLEEN KRENZLIN war bis 1993 Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Akademie der Künste und kuratierte hier u. a. die erste Retrospektive zu dem Dresdner Maler Wilhelm Lachnit (1989). Seit 2018 ist sie mit der kritisch kommentierten Edition der privaten Korrespondenz von Hans und Lea Grundig in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste, Berlin, befasst. „schreibe mir nur immer viel“ – Der Briefwechsel zwischen Hans und Lea Grundig. Ein Werkstattbericht. Herausgegeben von Kathleen Krenzlin im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Akademie der Künste, Berlin, mit Beiträgen von Marcel Bois, Anne Flierl, Rainer Funk, Hilja Hoevenberg, Kathleen Krenzlin, Claus Löser, Beate Schreiber

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NEUES AUS DEM ARCHIV

EIN MENSCH EIN EREIGNIS EIN GLÜCK

Insa Wilke gehörte zu den engsten Vertrauten Roger Willemsens, eines der bekanntesten und vielseitigsten Intellektuellen der Gegenwart. Nach seinem Tod übernahm die Literaturkritikerin und Moderatorin seine Nachfolge in der Programmleitung des Mannheimer Literaturfestes Lesen.Hören und wurde Mitglied des Kuratoriums der Roger Willemsen Stiftung. Bis heute kümmert sie sich um Willemsens umfangreichen und vielfältigen Nachlass, den sie 2019 der Akademie der Künste übergeben hat.

INSA WILKE IM GESPRÄCH MIT GABRIELE RADECKE

Roger Willemsen, Anfang 1980er Jahre

ARCHIVERÖFFNUNG ROGER WILLEMSEN 52

GABRIELE RADECKE   Frau Wilke, Sie engagieren sich mit viel Verve für Willemsens Erbe: durch Veranstaltungen, durch Interviews und durch Publikationen. Ihr letztes, kurz vor seinem Tod geführtes Gespräch mit ihm haben Sie in dem Buch Der leidenschaftliche Zeitgenosse veröffentlicht, und im vergangenen Jahr haben Sie u. a. die beiden Bände Unterwegs – Vom Reisen und Willemsens Jahreszeiten herausgegeben. Wann und wie haben Sie Roger Willemsen kennengelernt? INSA WILKE   Als ich 2004 Volontärin im Literarischen Zentrum in Göttingen war. Roger Willemsen sollte damals einen Abend über Geschwindigkeit bei uns veranstalten, ich sollte einführen. Mir war Roger Willemsen damals kein Begriff, ich arbeitete mich also ein. Als ich ein Interview von ihm las, in dem er über „Glück“ sprach, kam es mir vor – das werden viele seiner Leser*innen kennen –, als formuliere da jemand das, was ich im Innersten auch gedacht habe, aber nie in Worte fassen konnte. Jedenfalls wollte ich diesem Mann auf Augenhöhe, also kritisch begegnen. Roger hat mir hinterher erzählt, dass er sich hinter der Bühne sehr amüsiert hat über meine Worte. So sei er noch nie begrüßt worden. Und das hat uns verbunden. Er hatte ja eine große Begabung zu Freundschaft, unabhängig von Alter, Herkunft und so weiter. GR  Was fasziniert Sie am meisten am Menschen Roger Willemsen? IW  Seine Empathie, seine Aufmerksamkeit. Seine Lebenslust. Als Veranstalterin, die ich auch bin, kann ich sagen: Ich habe nie wieder jemanden getroffen, der oder die wie er Humor, Verständnis für andere Menschen und analytische und rhetorische Begabung verbunden hat. Ich muss aber sagen, Faszination ist das falsche Wort. Ich hab das alles sehr an ihm geliebt. GR  Sie haben mit Roger Willemsen viele Jahre zusammengearbeitet. Was haben Sie von ihm für Ihre eigene Arbeit gelernt? IW  Immer daran zu denken, dass man zu Anderen spricht. Das gilt für die Bühne wie fürs Schreiben. Ich habe irgendwann mal wegwerfend gesagt: Ist doch nicht so wichtig. Da wurde er ganz zornig und sagte: Es ist niemals egal. Er hatte einen hohen Anspruch an sich und ein enormes Ethos dem Publikum gegenüber. Er wusste, dass ihm die Leute Lebenszeit schenken, wenn sie zu einem seiner Abende kommen. Also war er ihnen auch verpflichtet. Er war allergisch gegen die Verachtung des Publikums. Auch daraus hat sich seine Medienkritik gespeist, die ja heute


Roger Willemsen in Afghanistan, Kabul, 2015

immer noch gültig ist. Und er war jemand, der etwas von Unterhaltung verstand! Wer den Satz sagt: „Wir müssen die Leute abholen“ – dem oder der kann man ein Buch von Roger in die Hand drücken und sagen: Damit hat er Tausende erreicht. Weil er sie ernst genommen hat. GR  Roger Willemsen war vor allem Schriftsteller. Sie haben einmal in der Süddeutschen Zeitung formuliert, dass er „ein tiefes Glück des Schreibens“ empfand. Es gab Zeiten, in denen er sein Haus kaum verließ. Dann widmete er sich seinem umfangreichen literarischen und publizistischen Werk. Verraten Sie uns etwas über seine Arbeitsweise? IW  Am Ende einer Bühnentour war er sehr erschöpft und froh, für sich sein zu können. Dann schrieb er. Über Wochen. Er war eigentlich, jetzt wundern sich einige, ein stiller Mensch. Im Inneren still. Am Ende dieser Einsiedler-Phasen freute er sich dann aber wieder darauf, unter die Leute zu kommen. Es gab beides, dieses Stille und das Gesellige. Zu seiner Arbeitsweise: Er hat immer geschrieben. Morgens um fünf Uhr saß er schon am Schreibtisch. Unterwegs hat er in seine kleinen Notizbücher gekritzelt. Ein einziges Mal hat er eines verloren, ausgerechnet in Bangkok, mit seinen Reisenotizen. Er war entsetzt darüber und am Ende dann aber schon wieder interessiert, wie sich das auf seine Arbeit an Bangkok Noir auswirken würde. Er war so neugierig auf alles in der Welt. Er hatte kein Handy, man erreichte ihn über E-Mails oder seine Assistentin Julia Wittgens. Er war konzentriert und hielt nichts von Zerstreuung. Auf der Bühne wirkte es ja oft so, als würde er seine Vorträge und Erzählungen mal eben so aus dem Ärmel schütteln. Aber er war immer akribisch vorbereitet. Auch das hing mit seinem Respekt vor dem Publikum zusammen. Er hat recherchiert, sortiert, formuliert. Und dann kam natürlich diese außerordentliche rhetorische Begabung hinzu, seine Konzentrationsfähigkeit, sein Gedächtnis. GR  Roger Willemsens Nachlass besteht aus 108 Archivkästen, 151 Aktenordnern und 2.250 audiovisuellen Materialien. Er spiegelt den außergewöhnlichen Facettenreichtum seines künstlerisch-kreativen Schaffens und enthält Werk-, Rede- und Rundfunkmanuskripte, Recherchematerial, Transkripte von Interviews und Moderationsvorbereitungen sowie Radiobeiträge und Fernsehsendungen. Hinzu kommen Tage- und Notiz­ bücher, Taschenkalender, biografische Dokumente, Fotos und seine Korrespondenz. Sie verwalten diesen

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Spritzdekor aus der Sammlung von Roger Willemsen

umfangreichen Nachlass und haben ihn uns im Literaturarchiv der Akademie der Künste zur Sicherung und detaillierten Erschließung anvertraut. Was hat Sie dazu bewogen, sich für unser Haus zu entscheiden? IW  Ich habe selbst für meine Doktorarbeit in Ihrem Haus mit dem Nachlass von Thomas Brasch gearbeitet. Darum weiß ich, wie groß das Verantwortungsgefühl aller Mitarbeitenden den Personen gegenüber ist, deren Voroder Nachlässe ihnen anvertraut werden. Es gibt auch ein ungewöhnliches Verständnis für künstlerisch arbeitende Menschen, verbunden mit Diskretion, enormen Kenntnissen und: Herzenswärme. Ich hatte das Gefühl, Sie alle werden Roger behüten und mich zugleich dabei unterstützen, sein Werk lebendig zu halten. GR  Gibt es ein Lieblingsstück aus Willemsens Besitz? IW  Er hat Teedosen, Teller, Becher, Schalen aus den 1930er Jahren gesammelt. Spritzdekor. Ich habe mich über seine Sammelleidenschaft immer lustig gemacht. Diese Dinge haben für mich aber damals schon seine Lebensfreude, seine ganze Persönlichkeit, seine Freude am Schönen und Guten gespiegelt. Und das tun sie jetzt erst recht. GR  Der Nachlass enthält auch viele Dokumente, die Einblicke in Willemsens soziales Engagement in Afghanistan geben. Ein Foto zeigt ihn zum Beispiel mit seinem Notizbuch in der Hand, umringt von seinen Gesprächspartnern, zu denen auch Kinder gehörten. 2006 wurde Roger Willemsen Schirmherr des Afghanischen Frauenvereins und hat sich wie kein anderer dafür eingesetzt. Wie war es dazu gekommen? IW  Er erzählt in einem seiner Texte von der Rückkehr eines älteren Freundes seiner Schwester aus Afghanistan. Das hatte eine frühe Verbindung gestiftet. Aber eigentlich war es wieder eine Freundschaft, die mit Nadia Nashir, der Vorsitzenden des Afghanischen Frauenvereins, die er als Studentin der Filmwissenschaften in München kennengelernt hat und mit der ihn eine lebenslange, innige Freundschaft verbunden hat. Und dann waren es die Menschen in Afghanistan, die ihn so beeindruckt haben. GR  Was wünschen Sie sich für die Rezeption und Pflege von Willemsens Werk? Gibt es schon Ideen für weitere Projekte? IW  Ich möchte, dass Jüngere ihn entdecken. Das tun sie auch schon. Ich weiß, dass einige, die ihn gar nicht mehr selbst kennengelernt haben, an Texten und Filmen über

Roger arbeiten oder sich von ihm inspirieren lassen zum eigenen Schreiben. Ich wünsche mir, dass seine Bücher weiter gelesen werden und dass viele ihn über seine Texte neu entdecken. Ich möchte gemeinsam mit Markus Peichl seine 0137-Sendungen öffentlich machen. Und dann werden wir schauen, was jetzt mit Ihrer Hilfe und durch Maren Horns Arbeit, die den Nachlass von Roger für das Archiv erschlossen hat, an Projekten möglich werden wird. GR  Vielen Dank für das Gespräch! INSA WILKE zählt zu den einflussreichsten und beliebtesten deutschen Literaturkritiker*innen. Seit 2006 konzipiert und moderiert sie Kulturveranstal­ tungen. Sie gehört zum Team des Literaturmagazins Gutenbergs Welt (WDR3) sowie des lesenswert quartetts (SWR Fernsehen) und ist Jury-Vorsitzende des Ingeborg-Bachmann-Preises sowie des Preises der Leipziger Buchmesse. Literaturkritiken schreibt sie u. a. für die Süddeutsche Zeitung. 2009 wurde sie über Thomas Brasch promoviert und 2014 mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. GABRIELE RADECKE ist Literatur- und Editionswissenschaftlerin und leitet das Literaturarchiv der Akademie der Künste.

Das Roger-Willemsen-Archiv wurde am 18. November 2021 mit der Veranstaltung „Ein Mensch – Ein Ereignis – Ein Glück“ eröffnet. Im Mittelpunkt stand ein Gespräch, das Insa Wilke mit Roger Willemsens Weggefährt*innen und Freund*innen führte: mit dem Schauspieler Matthias Brandt, dem Lektor Jürgen Hosemann, der Vorsitzenden des Afghanischen Frauenvereins Nadia Nashir sowie der Vorständin der Roger Willemsen Stiftung Julia Wittgens. In einer Vitrinenausstellung wurden erstmals Objekte aus seinem Nachlass präsentiert. Die S. Fischer Stiftung unterstützt die Erschließung des Roger-Willemsen-Nachlasses; die Ergebnisse werden sukzessive in der Archivdatenbank zugänglich gemacht.

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NEUES AUS DEM ARCHIV 54

Hugo Häring, Berlin, Friedrichstraße, Ideenwettbewerb Hochhaus Bahnhof Friedrichstraße, 1922


Hugo Häring, Städtebauliche Studie, Isometrie, 1922

NACHHALTIGES BAUEN IN BERLIN HUGO HÄRINGS ARCHITEKTURPLÄNE

RESTAURIERUNG, DIGITALISIERUNG UND ONLINESTELLUNG VON 1.700 PROJEKT­ BEZOGENEN PLÄNEN UND ZEICHNUNGEN Sibylle Hoiman und Marieluise Nordahl

Architektur entsteht auf Papier – genauer: auf durchscheinendem, kopierbarem Papier, das es dem Entwerfenden ermöglicht, das Projekt während des Prozesses anzupassen, zu überarbeiten und zu vervielfältigen – dem Transparentpapier. Als wichtigster Träger der Architekturpläne des 20. Jahrhunderts findet es sich auch bei rund 80 Prozent der insgesamt 1.700 projektbezogenen Lichtpausen sowie Bleistift- und Tuschezeichnungen, die sich im Nachlass von Hugo Häring (1882–1958), einem der bedeutendsten Architekten des Neuen Bauens, im Baukunstarchiv der Akademie erhalten haben und die nun restauriert, digitalisiert und online zugänglich gemacht wurden. Die im Herstellungsprozess stark gewalzten, kurzen Papierfasern erlauben dem einfallenden Licht, sie zu durchdringen, und erzeugen damit die dem Transparentpapier typische Durchsichtigkeit und wichtigste Eigenschaft als Kopiervorlage. Charakteristisch für die Papierstruktur ist eine starke Reaktivität auf Feuchtigkeit und Wasser, was leicht zu Verwellungen und Falten führt. Da die kurzen Papierfasern meist unflexibel sind, neigen

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Knicke und Falten zum Brechen, mit der Folge von Rissen und Fehlstellen. Die Beurteilung des Erhaltungszustands der HäringPläne in Vorbereitung auf den Scanvorgang bildete die Grundlage der Projektplanung. Ermittelt wurde die Anzahl von nicht umfänglich lesbaren und/oder gefährdeten Objekten mit Bedarf einer Sicherung zum Schutz während des Digitalisierungsprozesses, für den Transport und schließlich für die Lagerung. Es zeigte sich ein Restaurierungsbedarf an 800 Plänen, von denen 200 aus alten Passepartouts und Montierungen gelöst wurden und 600 einer konservatorischen Sicherung durch Schließen von Fehlstellen und Rissen oder einer Glättung bedurften. In der Praxis bedeutete dies, über fünf Monate mehr als einen halben Kilometer Riss mit einem 4 Millimeter breiten, hauchdünnen Japanpapier zu schließen! Zur Vermeidung von Verwerfungen wurde dieses von der Rückseite feuchtigkeitsfrei mit einem thermoaktivierbaren Klebstoff aufgebügelt (RK 2 / Anton Glaser, 11 g/m² beschichtet mit Lascaux HV 498®). Fehlstellen wurden gesichert und teilweise mit farbig angepasstem Papier ergänzt. Verwelltes Planmaterial wurde in feuchter Atmosphäre konditioniert und anschließend, zwischen Löschkarton leicht beschwert, geglättet. Stabile, eigens in der Akademie angefertigte Klappmappen schützen den Bestand beim Handling, beim Transport und bei der Lagerung im Depot. Die vorhandenen Datensätze wurden einer kritischen Revision unterzogen und ergänzt. Sie bildeten die Grundlage für ausführliche Objektlisten mit allen relevanten Daten zu jedem einzelnen Blatt und für die Übergabeprotokolle sowie die Erstellung der für den Export

relevanten Metadaten – nun konnte die Digitalisierung beginnen. Das Architekturmuseum der Technischen Universität Berlin, das über einen geeigneten Großscanner verfügt, übernahm diesen Part. Am Ende des hier skizzierten Prozesses, der in enger Zusammenarbeit von Baukunstarchiv und Bestandser­ haltung über einen Zeitraum von einem Jahr verlief, stehen nun die Onlinestellung und Langzeitarchivierung. Rund 1.700 projektbezogene Pläne von annähernd 200 Einzelprojekten in unterschiedlicher Überlieferungsdichte aus der Hand von Hugo Häring sind in Kürze online über das digitale Schaufenster der Akademie abrufbar (digital.adk. de). Dieses Portal bietet einen niedrigschwelligen Zugang zu den digitalen Beständen und will die herausragenden Sammlungen des Archivs sichtbarer machen. Bisher lagen von dem bereits erschlossenen und verzeichneten Bestand, der über die Archivdatenbank öffentlich zugänglich ist, nur vereinzelte Digitalisate dieses für die Architekturhistoriografie und für die heutige architektonische Praxis gleichermaßen relevanten Bildmaterials vor. Diese Lücke konnte mit dem Projekt geschlossen werden. Der vollständige Nachlass (ca. 2.000 Pläne, 10,5 Meter Schriftgut und Fotografien, sechs Modelle und fünf Meter Nachlassbibliothek) von Hugo Häring, der 1955 zum Mitglied der Akademie der Künste, Berlin (West), Sektion Baukunst berufen worden war, wurde nach seinem Tod 1958 in mehreren Zugängen bis 2011 der Akademie der Künste in Westberlin übergeben. Er gehört zum Kernbestand des Baukunstarchivs und bildet zusammen mit den Nachlässen von Hans Scharoun, den Brüdern Luckhardt (mit Alfons Anker), Max und Bruno Taut zugleich

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Restaurator*innen und Sammlungsbetreuer*innen prüfen den Erhaltungszustand, ergänzen Verzeichnungslücken und demontieren Pläne aus alten Passepartouts im Depot Baukunst am Pariser Platz 4

Risse auf Transparentpapier werden geschlossen

die weltweit umfassendste und herausragendste Sammlung aus der Zeit des Expressionismus. Mit seiner Architekturvorstellung ging Hugo Häring jedoch weit über diese visionären und utopischen Entwürfe hinaus. Dem Architekten war es vor allem um den Menschen und seine unmittelbaren Bedürfnisse sowie um das harmonische Verhältnis von Menschen und Natur, die er sich zum Vorbild nahm, zu tun. Diese Haltung schlug sich unter anderem in den von ihm selbst gewählten und konsequent verwendeten Begriffen des „organhaften“ Bauens oder auch des „Organwerks“ für Gebrauchs­ gegenstände nieder. Diese Begrifflichkeiten alleine auf die organische Formensprache, die in vielen seiner Bauten und Entwürfe tatsächlich anzutreffen ist, anzuwenden, würde allerdings zu kurz greifen. Denn wichtiger als der Baukörper oder die Fassade war Häring der den spezifischen Erfordernissen der jeweiligen Bauaufgabe angepasste Grundriss, das heißt der Raum: Er baute von innen nach außen. Zahlreiche Varianten von Klein- und Kleinstwohnungen sowie weitere Studien, beispielsweise zu Siedlerhäusern, lassen auf eine intensive Auseinandersetzung mit den wesentlichen Fragen nach dem Existenzminimum, nach der Vereinfachung von Arbeits- und Lebensvorgängen und nach der Gestaltung von flexiblen Raumstrukturen, nicht zuletzt im Sinne einer Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung, schließen. Es sind Themen, die bis heute nicht an Aktualität verloren haben, die – mehr noch – geradezu die Kernpunkte der heutigen Debatten vorwegnehmen. Dazu zählt auch, dass Häring jede Festlegung der architektonischen Form ablehnte, die Ortsspezifik hervorhob und die Wahl des natürlichen Materials daran knüpfte – um nur einige weitere Aspekte zu nennen, die von der ungebrochenen Relevanz seines Schaffens bis heute zeugen. Mit dem Ansatz der „organhaften“ Architektur hatte Häring jedoch nach 1933 geringe Aussichten auf die Verwirklichung seiner Entwürfe. Er wandte sich daher verstärkt der Theorie zu und verfasste zahlreiche programmatische Texte. Hugo Häring zählt ohne Zweifel zu den bedeutendsten Denkern seiner Zeit. Die Pläne und Zeichnungen aus seinen produktiven Schaffensjahren (1906 bis 1956) umfassen sein gesamtes architektonisches Werk (Städtebau, Bauten, Interieurs und Möbel) und stellen insofern nicht nur einen großen Wert für die Architekturgeschichte der Moderne dar: Sie sind eine schier unerschöpfliche Quelle für Lösungsansätze zu Problemen und nach wie vor drängenden Fragen. Auch deshalb ist es wichtig und sinnvoll, das überlieferte Planmaterial in Gänze der Wissenschaft und Forschung, der Architektenschaft, aber auch anderen interessierten Nutzer*innen digital zur Verfügung zur stellen, um von dort aus weiter zu forschen, zu denken und zu entwerfen. Das Projekt wurde gefördert durch die Senatsverwaltung für Kultur und Europa des Landes Berlin, Förderprogramm zur Digitalisierung von Objekten des kulturellen Erbes Berlin 2021, Forschungs- und Kompetenzzentrum Digitalisierung. SIBYLLE HOIMAN ist Leiterin des Baukunstarchivs der Akademie der Künste. MARIELUISE NORDAHL ist Teamleiterin der Bestands­

Eingefärbte Transparentpapiere für die Schließung von Rissen

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erhaltung/Restaurierung der Akademie der Künste.


FREUNDESKREIS HERMANN VON HELMHOLTZ UND DIE MUSIK WIE GUT, DASS ER KLAVIER GESPIELT HAT Günther Wess und Eugen Müller

Bild oben: Für seine Komposition Monophonie hat der Musiker, Klangkünstler und DJ Phillip Sollmann Musik für ausgewählte Instrumente von Harry Partch, Klangskulpturen von Harry Bertoia und die Doppelsirene von Hermann von Helmholtz geschrieben und 2017 uraufgeführt. Für diesen Anlass hat die Fotografin Annette Kelm Helmholtz’ Doppelsirene, die sich heute im Medizinhistorischen Museum der Charité in Berlin befindet, fotografisch inszeniert. Annette Kelm, Helmholtz Sirene, 2017, Archival Pigment Print, 99,8 × 75 cm

JOURNAL DER KÜNSTE 17

Am 31. August 2021 jährte sich der Geburtstag des Wissenschaftlers und Naturphilosophen Hermann von Helmholtz zum 200. Mal. Sein Name ist sicher vielen vertraut, weil eine der großen deutschen wissenschaftlichen Gesellschaften – die Helmholtz-Gemeinschaft – nach ihm benannt ist. Aber was hat dies mit der Akademie der Künste zu tun oder gar mit heutigen, aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen und Diskussionen? Helmholtz wurde geboren, als Goethe und Beethoven noch lebten, und starb 1894, vor Anbruch der künstlerischen Moderne. Was hat er uns heute noch zu sagen? Seine Lebensleistung wird meist aus dem Blickwinkel der Physik gesehen, und es werden seine vielfältigen physikalischen Arbeiten, seine Verdienste zur Entwicklung der Universitäten und die Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt gewürdigt. Er galt zu Lebzeiten als „Reichskanzler der Physik“ mit einem gewissen Kultstatus in Berlin. Seine Beiträge zur Musik werden dagegen kaum gewürdigt. Dabei sind sie bis zum heutigen Tag unübertroffen, haben nichts von ihrer Faszination eingebüßt

und sind weiterhin richtungsweisend für alle, die mit Musik zu tun haben: Musiker, Komponisten, Dirigenten, Klangarchitekten, Akustiker, Toningenieure, Instrumentenbauer und selbstverständlich auch die Zuhörenden. Im Jahre 1863 legte er ein umfangreiches Werk zur Musik vor: Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik. Es basierte auf seinen Forschungsarbeiten zur Physik der Töne und Klänge auf der einen und zu der Physiologie des Ohres sowie den Hör- und Empfindungsvorgängen auf der anderen Seite. Dreh- und Angelpunkt sind dabei die Grund- und Obertöne sowie deren Wechselwirkungen, die zu den von uns wahrgenommenen Klängen führen. Abhandlungen zur Entwicklung der Musik, philosophische und psychologische Aspekte sowie Fragen der Ästhetik schließen sich an. Die Inhalte wurden von ihm in den folgenden Auflagen immer wieder durch neueste Forschungsergebnisse aus der Physik und der Physiologie ergänzt. Das Werk ist so angelegt, dass die beschriebenen Phänomene und praktischen Beispiele im Kern auch von Laien verstanden werden können.

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Perspektivische Ansicht einer Doppelsirene, die Hermann von Helmholtz zur Demonstration der „Interferenz des Schalls“ hat anfertigen lassen

Mit seiner Lehre von den Tonempfindungen hatte Helmholtz als erster ein Gesamtkonzept musikalischer Phänomene vorgelegt. Sie verbreitete sich rasch in Musiker- und Gelehrtenkreisen, auch international. So war sein Rat bei Instrumentenbauern gefragt, weil er viele Instrumente hinsichtlich ihres Klangspektrums analysierte. Sein Lieblingsinstrument war das Klavier, es heißt, er habe mindestens eine Stunde am Tag geübt, an freien Tagen auch mehr. Er gab wesentliche Impulse zur Entwicklung des Steinway-Flügels. Auch die Orgel und die Physik der Orgelpfeifen hat er mit großem Interesse untersucht. Den berühmtesten Orgelbauer der damaligen Zeit, Aristide Cavaillé-Coll, besuchte er in Paris und lobte dessen Instrumente. Ohne diese Instrumente, die heute noch gespielt werden, wie zum Beispiel die Orgel der Kirche Saint-Sulpice in Paris, wäre die Entwicklung der französischen romantischen Orgelmusik nicht denkbar. Besonders aufgeschlossen war er gegenüber der Musik nicht-europäischer Kulturen, wie zum Beispiel der asiatischen, deren Tonleitern und Klänge er untersuchte, und die in seinem Werk breiten Raum einnimmt. Viele moderne Komponisten nutzten und nutzen bis heute die Erkenntnisse von Helmholtz: Charles Ives, Edgard Varèse, John Cage, Karlheinz Stockhausen oder die Vertreter der Spektralmusik, um nur einige zu nennen, wurden durch seine Schriften beeinflusst. Gerade die Haltung von Helmholtz, dass es in der Musik keine Verbote geben dürfe, begeisterte den lange unterschätzten amerikanischen Avantgardisten Charles Ives. Er war einer der Begründer der amerikanischen Moderne. In einer Vielzahl von theoretischen Schriften zur Musik bezieht er sich öfter auf Helmholtz und lobt die klare Haltung, die Helmholtz im Unterschied zu vielen traditionellen deutschen Tonsetzern zu Verboten in der Musik einnimmt. Im Sinne Helmholtz’ fordert Ives „… dass das Ohr lernen muss zu hören“. Ohne die systematischen Studien von Helmholtz zu den Obertonspektren und Klängen wäre schließlich auch die Entwicklung von elektronischen Instrumenten nur schwer vorstellbar. Viele moderne Komponisten nutzen

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Doppelscheibige modulierbare 12-Ton-Lochsirene mit verschiebbarem Resonanzkörper, über Max/MSP steuerbar, Umsetzung, Planung und Entwicklung durch Atelier Blattmacher in Kooperation mit Phillip Sollmann

die Erkenntnisse von Helmholtz bei der Entwicklung innovativer Klangerzeugung. Denn so wie Helmholtz sind die meisten Komponisten und Klangkünstler ja auf der Suche nach spannenden neuen Klängen. An dieser Stelle sei nur kurz darauf hingewiesen, dass Helmholtz auch ein opulentes Werk zu den Sinneswahrnehmungen und zum Sehvorgang mit dem Titel „Handbuch der physiologischen Optik“ geschrieben hat, das den „Tonempfindungen“ in nichts nachsteht. Diese Forschungen zu den Sinneswahrnehmungen und den Vorgängen im Gehirn sind der Grund, weshalb Helmholtz von einigen Autoren auch als Mitbegründer der Neurowissenschaften gesehen wird. Der berühmte Neurobiologe Eric Kandel etwa hat die Arbeiten von Helmholtz herangezogen, um die Wahrnehmung von abstrakter Malerei zu erklären. Kandel machte die Beobachtung, dass expressionistische Bilder weitaus stärkere empathische Reaktionen auslösen als figurative Malerei. Selbst sehr abstrakte Bilder wie etwa von Rothko, Mondrian, Pollock oder de Kooning wirken intensiv auf den Betrachter, weil man Dinge zu erkennen glaubt, die man schon einmal gesehen, ja selbst erfahren hat und dadurch einordnen kann. Die visuellen Eindrücke werden im Gehirn zu ganz eigenen Bildern verschmolzen. Kandel schreibt, der Physiologe Helmholtz habe wahrscheinlich als Erster erkannt, dass das Gehirn Informationen aus den verschiedenen Sinnessystemen zusammensetzt und daraus unbewusst Rückschlüsse zieht: „We do not have direct access to the physical world. It may feel as we have direct access, but this is an illusion created by our brain.“ Helmholtz betrachtete Wahrnehmung als einen Prozess der unbewussten Rückschlüsse. Kognitionsforscher sowie Experten für künstliche Intelligenz prägten auf Basis dieser Überlegungen die Begriffe „prädiktive Codierung“ und „prädiktive Verarbeitung“. So reichen seine Erkenntnisse hinein in modernste Fragestellungen der Neurobiologie. Abgesehen von den anhaltenden wissenschaftlichen und fachspezifischen Wirkungen, die seine immensen Publikationen nach sich zogen, was sagt uns das Leben und Werk von Helmholtz heute in einem allgemeinen gesell-

schaftlichen Kontext? Selbstverständlich war er geprägt von den Idealen seiner Zeit, den Idealen der Klassik. Aber er zeigte sich gleichzeitig mutig, neugierig und offen für neue Entwicklungen, Regelverletzungen und Grenzüberschreitungen. Und er hatte immer Praktikabilität und Nutzen seiner Forschungen im Blick. Hermann von Helmholtz hatte als junger Wissenschaftler den Mut, komplexe Themen anzupacken, die mehrere Disziplinen überspannten. Er baute eine Brücke zwischen Wissenschaft und Kunst, die bis heute trägt. Er zeigte, wie sich naturwissenschaftliche Erkenntnis und künstlerisches Schaffen wechselseitig durchdringen, beides gehörte untrennbar zu seiner Arbeit, zu seinem Leben. Er erkannte, dass sich ästhetische Prinzipien mit der Zeit ändern. Und er hielt nicht viel davon, an Werten festzuhalten, nur weil sie tradiert waren. Im Sinne von Goethe war Helmholtz ein „Weltkind in der Mitten“. Vielleicht ist es das, was wir uns in der heutigen Welt der auseinandertreibenden gesellschaftlichen Funktionssysteme, Sub-/Kulturen und Wahrnehmungen mehr denn je zum Beispiel nehmen können.

GÜNTHER WESS ist Chemiker und Pharmazeut und leitete bis vor kurzem das Helmholtz Zentrum München für Gesundheit und Umwelt (HMGU). Der ausgebildete Kirchenmusiker hat die Schriften von Hermann von Helmholtz, insbesondere die zur Musik, eingehend studiert. Er ist Kuratoriumsvorsitzender, EUGEN MÜLLER ist Geschäftsführender Vorstand der Aventis Foundation, Frankfurt am Main. Die Aventis Foundation ist Mitglied der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.


BILDNACHWEISE

IMPRESSUM

S. 3–4, 12–17 Fotos Ute Mahler und Werner Mahler/OSTKREUZ | S. 6–10 © Hoidn Wang Partner 2021 | S. 18 Foto Alun Be | S. 21–25: Akademie der Künste, Berlin, Paul-Robeson-Archiv (AdK, PRA), teilweise zugleich Bundesarchiv, Berlin (BA) mit freundlicher Genehmigung; S. 21 ohne Angabe, AdK, PRA Nr. 590.03 © BA (Bild 18374126/21); S. 22 Brüggemann/Stöhr, AdK, PRA Nr. 613.01 © BA (Bild 183-B 0708/14); S. 23 oben Alfred Paszkowiak, AdK, PRA Nr. 513.15 © bpk-Bildagentur; Mitte Herbert Görzig, AdK, PRA Nr. 516.15; unten Krüger/Hochneder, AdK, PRA Nr. 513.16 © BA (Bild 18376837/3); S. 24 oben Zühlsdorf/Sturm, AdK, PRA Nr. 612.11 © BA (Bild 18367155/10); unten Krüger, AdK, PRA Nr. 613.02 © BA (Bild 183-B0708/17/1); S. 25 Gerhard Kiesling, AdK, PRA Nr. 515.08 © bpk-Bildagentur | S. 28–35 © Sasha Kurmaz | S. 36 Akademie der Künste, Berlin, Erich-Wonder-Archiv, Nr. 3/19 © Foto Erich Wonder S. 37 Akademie der Künste, Berlin, Erich-WonderArchiv, Nr. 19_4, Nr. 19_3, Nr. 19_2 © Erich Wonder; S. 38 Akademie der Künste, Berlin, Erich-Wonder-Archiv, Nr. 6_7, Nr. 6_1 © Estate Sibylle Bergemann | S. 39 Foto Malte Giesen; S. 40/41 © mutesouvenir | S. 42–45 © Mark Gergis | S. 46 © Zvetelina Belutova/Privatarchiv; S. 47 oben © Johann Feindt/zero one film; unten © Johann Feindt | S. 49 Akademie der Künste, Berlin, Joachim-Walther-Archiv, Nr. 580 © Erben Joachim Walther | S. 50 links Foto Bruno Wiehr, HfBK_DD, F 177; rechts Akademie der Künste, Berlin, Hans-und-Lea-Grundig-Archiv, Nr. 852, S. 179; S. 51 Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.  Grundig Hans 225 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 | S. 52 Foto: unbekannt; S. 53 Foto links Nadia Nashir; Foto rechts Insa Wilke | S. 54 Akademie der Künste, Berlin, Hugo-Häring-Archiv, Nr. 1198_14_12 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; S. 55 Akademie der Künste, Berlin, Hugo-HäringArchiv, Nr. 1199_11_2 © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; S. 56 oben und unten Fotos Marieluise Nordahl; Mitte Foto Juliane Kreißl | S. 57 Courtesy the artist und KÖNIG Galerie Berlin / London/ Seoul / Wien © Annette Kelm; S. 58 links Fig. 56, in: H. v. Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik, Braunschweig 1870; rechts © Phillip Sollmann, Sirene, Installationsdetail, Oststation, Wien 2015

Journal der Künste, Heft 17, deutsche Ausgabe Berlin, Januar 2022 Auflage: 3.000

Wir danken allen Inhaberinnen und Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Ver­ öffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten. Die im Journal vertretenen Auffassungen geben die Meinung der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Akademie der Künste.

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