DEUTSCHE AUSGABE NOVEMBER 2022
DEMOKRATIEANSTALT AI
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SPURENSICHERUNG ZUKUNFT DER KRITIK
ANARCHIES JOURNAL DER KÜNSTE
S. 3 EDITORIAL Werner Heegewaldt S. 4 SPURENSICHERUNG SCHEMENHAFTE UMRISSE Anna Schultz S. 6 SPURENSICHERUNG. DIE GESCHICHTE(N) HINTER DEN WERKEN Werner Heegewaldt S. 10 DIE ZUKUNFT DER KRITIK CARTE BLANCHE Jochen Gerz S. 14 „WER KRITISIERT WEN VON WO AUS?“ Angela Lammert und Kolja Reichert im Gespräch S. 18 AI ANARCHIES KÜNSTLICHE INTELLIGENZ UND DER TRAUM VON UNANGEPASSTEN ALTERNATIVEN Clara Herrmann S. 23 STATEMENTS Maya Indira Ganesh, Nishant Shah, Jennifer Walshe, Siegfried Zielinski S. 26 „DER ÖFFENTLICHE RUNDFUNK IST EIN DEMOKRATIE-INSTRUMENT“ Kathrin Röggla im Gespräch mit Andres Veiel und Oliver Sturm S. 35 EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN WIE BEDROHT POLITISCHE RADIKALISIERUNG DIE KÜNSTLERISCHE FREIHEIT IN EUROPA? Aleš Šteger S. 38 GOVERN
S. 42 THE OTHER SIDE – NAN GOLDIN Anke
S. 46 ZEITENWENDE KONTRA KLIMAWENDE Helmut
YOURSELF ACCORDINGLY María José Crespo
Hervol
C. Schulitz S. 48 NEUES AUS DEM ARCHIV FUNDSTÜCK DIE AFFÄRE HEINRICH SCHULZ Anke Matelowski S. 50 „… MIR SELBST ZU BEGEGNEN.“ NATASCHA WODIN Sabine Wolf S. 53 HANS SCHAROUN ARCHITEKTUR AUF PAPIER Sibylle Hoiman S. 56 FREUNDESKREIS SEHEN UND VERSTEHEN LERNEN – DIE AKADEMIE DER KÜNSTE, EIN ORT FÜR KUNST, KULTUR UND NACHHALTIGKEIT! Uli Mayer-Johanssen
Krieg und Krisen prägen unsere Gegenwart und verursachen exis tenzielle Ängste. Das spiegeln in ganz unterschiedlicher Form auch die Beiträge in diesem Journal der Künste . Unser Mitglied Aleš Šteger fragt, wie sich der politische Kompass Europas ver ändert und welche grundlegenden Folgen politische Radikalisie rung für die künstlerische Freiheit hat. Seine Befürchtung, dass die Angst der Menschen vor Verlust ihres Wohlstands und ihrer Privilegien instrumentalisiert wird, um unsere Gesellschaft zu destabilisieren und die Idee eines gemeinsamen Europas zu schwächen, stimmt nachdenklich, gerade angesichts der russi sche Aggression gegen die Ukraine.
Leere Räume und Vitrinen, Abdrücke von abgehängten Gemälden auf der Wandbespannung und zurückgebliebene Labels. Die Fotos von Yurii Stefanyak aus dem Khanenko-Museum in Kyiv zeigen die akute Bedrohung von Kunst- und Kulturgütern in der Ukraine und wirken verstörend. Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs musste das Museum seinen gesamten Kunstbesitz erneut auslagern, um ihn vor der Vernichtung zu bewahren. Mit dem russischen Angriffskrieg hat die Aufgabe des Kulturgutschutzes eine erschreckend aktuelle Bedeutung erhal ten. Eine Bedrohung, die bis nach Westeuropa ausstrahlt und Sammlungsverantwortliche Krisenpläne entwickeln lässt.
Der Verlust an Kulturgütern ist auch ein Thema der Ausstel lung „Spurensicherung. Die Geschichte(n) hinter den Werken“, die am 28. Oktober am Pariser Platz eröffnet wurde. Im Mittel punkt stehen die Sammlungen der Akademie der Künste. Drei sehr unterschiedliche Bereiche werden untersucht: Es geht um die Identifizierung von NS-Raubkunst in eigenen Beständen, um die Suche nach den im Zweiten Weltkrieg verlorenen Werken und schließlich um die Bemühungen von DDR-Behörden, in den Besitz verwertbarer und identitätsstiftender Kunstgüter zu gelangen. Ausgangspunkt sind überraschende Forschungsergebnisse über die Herkunft von Bildern, Büchern, Objekten und Dokumenten. Sie zeigen, dass Provenienzforschung mehr bedeutet als die Klä rung von Eigentumsverhältnissen und eine neue und andere Sicht auf altbekannte Werke ermöglicht. Eine besondere Herausforde rung besteht darin, die verschütteten und auch verdrängten Geschichten über die Herkunft von Kunstwerken und ihre Besit zer zu recherchieren und ins Bewusstsein zurückzuholen. Gerade weil die Objekte häufig große ideelle Bedeutung besitzen und ihr
Verlust mit Krieg und Repression verbunden war, ist eine Aufar beitung für alle Beteiligten so wichtig.
Die Krise der öffentlich-rechtlichen Medien hat durch die jüngs ten Vorwürfe von Vorteilsnahme und Vetternwirtschaft im rbb neuen Auftrieb bekommen. Die Forderung nach Abschaffung des Senders steht im Raum. In einem Interview von Kathrin Röggla mit dem Rundfunkratsmitglied Andres Veiel und dem Hörspiel autor Oliver Sturm werden die Hintergründe dieser strukturelle Krise des Rundfunks analysiert. Ob die Bedeutung der öffent lich-rechtlichen Medien als Demokratieinstrument erhalten wer den kann, hängt wesentlich davon ab, ob es gelingt, den Pro grammauftrag neu zu definieren.
Die tiefgreifenden Veränderungen in unseren Medien sind auch ein wichtiger Grund für die Krise der Kunstkritik. Es herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass die professionelle Kritik ihren Einfluss verloren und im Kunstbetrieb lobende Besprechungen überwiegen. Zugleich verschieben sich durch die sozialen Medien die Rollen zwischen professioneller Kritik und Publikum. Die im November in Berlin und Bonn stattfindende Tagung „Die Zukunft der Kritik“ bemüht sich um eine Neubestimmung dieses wichti gen Instruments. Angela Lammert und Kolja Reichert, die den Kongress initiiert und geplant haben, gehen im Gespräch der Frage nach, welche Formen Kritik unter den geänderten medi alen Bedingungen annehmen kann.
Die Biografie der Schriftstellerin Natascha Wodin (*1945) ist durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Sie wurde als Kind sowjetischer Zwangsarbeiter in Franken geboren, die Familie blieb aus Furcht vor stalinistischer Verfolgung nach Kriegsende in Deutschland und lebte Jahre in Notunterkünften und Lagern. Als Wodin zehn Jahre alt war, nahm sich ihre Mutter das Leben, vor der Gewalt des Vaters flüchtete sie später in die Obdachlo sigkeit. Diese traumatischen Erfahrungen verarbeitete sie in ihrer autofiktionalen Erzählung Sie kam aus Mariupol , die 2017 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Sabine Wolf stellt Natascha Wodins Archiv vor und zeigt auf, welche bestürzende Aktualität deren Recherche nach den Wirkmechanismen totali tärer Systeme hat.
Werner Heegewaldt
Direktor des Archivs der Akademie der Künste
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EDITORIAL
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SPURENSICHERUNG
YURII STEFANYAK , geboren 1990 in Dnipro, lebt als freischaffender Fotograf in Kyiv. In seiner Arbeit dokumentiert er das kulturelle und soziale Leben in seinem Land.
Das Bohdan and Varvara Khanenko National Museum of Arts in Kyiv beherbergt eine herausragende Sammlung europäischer, asiatischer und islamischer Kunst, die das Sammlerehepaar Bohdan und Varvara Khanenko in ihrer Stadtvilla zusammentrugen und der Stadt und ihren Bürger*innen testamentarisch vermachten. Mit Aus bruch des russischen Angriffskriegs wurden, wie zuletzt im Zweiten Weltkrieg, große Teile der Sammlung evaku iert. Im Rahmen der Ausstellung „Spurensicherung“ prä sentiert die Akademie der Künste 14 Fotografien von Yurii Stefanyak. Sie zeigen menschenleere Säle, auf denen sich schemenhaft die Umrisse der Gemälde auf den sei denen Tapeten abzeichnen, ausgeräumte Vitrinen und Sockel – den Körper eines ruhenden Museums, das bar seiner Schätze nur mehr als Hülle fungiert.
Die Räume sind der Öffentlichkeit weiterhin zugäng lich – so besteht das Museum als Treffpunkt, Ort des Austauschs, der Hoffnung und der Kontemplation fort. Obgleich viele Mitarbeiter*innen fliehen mussten und auch dieses ukrainische Museum große finanzielle Ein bußen verkraften muss, werden die Räume von zeitge nössischen Künstler*innen oder für Konzerte genutzt. Museen und Kulturstätten der Ukraine sind durch den Krieg akut bedroht, als identitätsstiftende Orte sind sie – trotz des vermeintlichen Schutzes durch die Haager Konvention – direkte Angriffsziele, wie sich am 10. Okto ber zeigte: Mehrere Raketen schlugen in unmittelbarer Nähe des Khanenko-Museums ein. Die Mitarbeiter*innen und Sammlungsbestände blieben unversehrt, aber das historische Gebäude wurde stark beschädigt. Angriffe von russischer Seite auf Kulturinstitutionen – am selben Tag wurden in Kyiv die Philharmonie, das nahegelegene Shevchenko-Museum und die Universität attackiert –vergegenwärtigen die reale Bedrohung für kulturelle Ein richtungen in der Ukraine. Zerstörung und Plünderung von Museen, Bibliotheken, Archiven und Kirchen durch russische Truppen sind alltäglich, zudem mangelt es an Ressourcen, aber auch an Materialien, die zur Siche rung, Evakuierung und fachgerechten Lagerung der Objekte benötigt werden.
Das Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine unterstützt Kul tureinrichtungen vor Ort direkt, unkompliziert und ziel gerichtet und ruft zu Spenden auf: Ukraine Hilfslieferungen für Rettung von Kunst- und Kul turgut (www.dug-ww.com/Kulturgutschutz_Ukraine)
Gespräch im Rahmenprogramm der Ausstellung „SPURENSICHERUNG. Die Geschichte(n) hinter den Werken“
Mittwoch, 16.11.2022, 19 Uhr Kulturgutverluste heute – Ein Blick in die Ukraine (dt/eng) Mit: Olena Balun (Netzwerk Kulturgutschutz Ukraine), Yuliya Vaganova (Khanenko-Museum, Kyiv), Olaf Hamann (Staatsbibliothek zu Berlin)
Moderation: Barbara Welzel (TU Dortmund)
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ANNA SCHULTZ ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Kunstsammlung der Akademie der Künste.
Anna Schultz
THE KHANENKO-MUSEUM IN KYIV
DIE
GESCHICHTE(N) HINTER DEN WERKEN
6 SPURENSICHERUNG.
EINE AUSSTELLUNG DES ARCHIVS DER AKADEMIE DER KÜNSTE
Werner Heegewaldt
„Entartete Kunst“: Max Kaus, Havelziehbrücke , 1931, Öl auf Leinwand
Die Frage, wem das koloniale Erbe in den europäischen Museen gehört, wird aktuell heftig debattiert. Dabei zeigt sich erneut, wie wichtig es für Kultureinrichtungen ist, die Herkunft ihres Sammlungsbesitzes zu klären und die Ergebnisse publik zu machen. Die westafrikanischen Benin-Bronzen oder das LufBoot aus der Südsee sind aussagekräftige Belege dafür, dass es um mehr als Rechts- und Eigentumsfragen geht. Es geht um die ideelle Bedeutung von Kunst und die Klärung und Anerken nung, im besten Falle auch um die Wiedergutmachung histori schen Unrechts. Kunstwerke und Kulturgüter sind identitätsstif tend, und ihr Besitz ist daher von großer emotionaler Bedeutung. Das gilt für die Kulturen, in denen sie entstanden sind, genauso wie für die Menschen, denen sie gehörten, oder für deren Nach kommen. Und natürlich auch für die Museen und Sammlungen, deren Aufgabe ihre Bewahrung und Vermittlung ist. Eine Her ausforderung der Provenienzforschung besteht darin, die ver schütteten und auch verdrängten Geschichten über die Herkunft von Kunstwerken und ihre Besitzer zu recherchieren und ins Bewusstsein zurückzuholen. Gerade weil der Verlust der Kunst werke häufig mit Krieg und Repression verbunden war, ist eine Klärung für die Beteiligten so wichtig. Das gilt sowohl für das koloniale Erbe wie für NS-Raubkunst oder Fälle von Kunstgut entzug in der DDR, auch wenn sich die Problemlagen stark unter scheiden. Erst die genaue Kenntnis des konkreten Falles ermög licht eine Beurteilung und eine Abwägung von juristischen, historischen und politischen Argumenten.
Seit der Washingtoner Erklärung von 1998 ist die Provenienz forschung zu einer zentralen Aufgabe für alle sammelnden Ein richtungen geworden. Die rechtlich unverbindliche und doch wirksame Vereinbarung sorgte für die Verpflichtung, in der NSZeit beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren und gerechte und faire Lösungen zwischen den ehemaligen Eigentümern und den heutigen Besitzern zu finden. Die Recherchen bedeuten zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Kultureinrichtung. Nicht nur das Selbstverständnis der Sammlungen wird hinterfragt, es muss überprüft werden, in welchem politischen Kontext Erwerbungsentscheidungen erfolg ten und ob sie heute noch Bestand haben.
Spektakuläre Berichte über NS-Raubkunst oder Kunstwerke aus kolonialem Kontext erregen zwar immer wieder große medi ale Öffentlichkeit und haben das Thema Provenienzforschung bekannter gemacht; die Vielschichtigkeit dieser Aufgabe und die damit verbundenen Fragen und Probleme sind aber meist nur Fachkreisen bewusst. Die Ausstellung „ Spurensicherung “ will einem breiten Publikum einen Zugang zu diesem Aufgabenbe reich vermitteln und aufzeigen, wie anspruchsvoll es ist, faire und nachvollziehbare Aussagen über Besitz und Zugehörigkeit zu treffen und juristisch-moralische Spielräume auszuloten. Nur so können unterschiedliche Bewertungen verstanden und eine gesellschaftliche Akzeptanz für Restitutionsentscheidungen erzielt werden. Ausgangspunkt sind neue Erkenntnisse über die Herkunft von Gemälden, Büchern, Archivalien und Objekten aus den Sammlungen der Akademie der Künste. Sie ermöglichen den
Besucherinnen und Besuchern eine andere Sicht auf altbekannte Werke und zeugen davon, dass Provenienzforschung über die Klä rung von Eigentumsfragen hinaus Erkenntnisgewinn verspricht. Drei sehr unterschiedliche Bereiche der Herkunft und Besitzgeschichte von Kunstwerken stehen im Mittelpunkt: Es geht um die Identifizie rung von NS-Raubkunst in den eigenen Beständen und um die Rolle der Akademie der Künste in der NS-Zeit, um die Suche nach den im Zweiten Weltkrieg verlorenen Sammlungen der Preußischen Aka demie der Künste und schließlich um die Auseinandersetzung mit den Bemühungen des DDR-Staatsapparates, in den Besitz verwert barer Kunstgüter zu gelangen. An aussagekräftigen Beispielen macht die Ausstellung die detektivischen Methoden deutlich, „sichert Spu ren“ und erzählt die „Geschichten hinter den Werken“. Häufig sind diese Geschichten Ergebnis einer mühevollen, aber spannenden Recherchearbeit, in der ganz unterschiedliche Spuren verfolgt und Puzzlesteine zu einer nicht immer lückenlosen Werkbiografie zusam mengesetzt werden. Zu den Objekten gehört ein wiederentdecktes Buch aus der verschollenen Bibliothek des Philosophen Walter Benjamin, die von der Gestapo beschlagnahmten Sammlungen des Kunstkritikers Alfred Kerr, ein Skizzenbuch aus dem Nach lass von Max Liebermann, verloren geglaubte Ölskizzen von Carl Blechen oder auch die private Gemäldesammlung des Malers und Akademie-Präsidenten Otto Nagel, die nach seinem Tode die Begehrlichkeit der DDR-Kulturpolitik erregte.
Dass Provenienzgeschichte einen anderen Zugang zum Ver ständnis von Kunst eröffnen kann, zeigt beispielhaft die Urania Die monumentale Skulptur aus dem 18. Jahrhundert begrüßt die
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Die Kunstsammlung von Otto Nagel: Oskar Fischer, Porträt von Otto Nagel , um 1921, Öl auf Pappe
Gäste der Ausstellung. Als Sinnbild für die wechselreiche Geschichte der Künstlergemeinschaft und deren kriegszerstör ten oder verschollenen Kunstbesitz kehrt sie zu diesem Anlass erstmals in die Akademie zurück. Ursprünglich schmückte sie als Teil eines komplexen Skulpturenprogrammes das alte Aka demiegebäude Unter den Linden. Heute steht sie, mit Wunden übersät, die Granatsplitter und Vandalismus verursacht haben, im Heinrich-von-Kleist-Park in Schöneberg. Ihre Herkunft und ursprüngliche Aufgabe bleiben den Besuchern allerdings ver borgen.
„ENTARTETE KUNST“
„In der Grenzburg … 1 Kaus (für mich)“, notierte der Künstler und Pädagoge Friedrich Schult am 28. Mai 1945 lapidar in sein Tage buch. Mit „Kaus“ war das 1931 entstandene Gemälde Havelzieh brücke von Max Kaus gemeint. Im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ war es 1938 aus der Münchner Pinakothek entfernt und von den NS-Behörden dem Kunsthändler Bernhard A. Böhmer zur „Verwertung“ übergeben worden. Böhmer zählte zu den füh renden Kunsthändlern im Dritten Reich und war an zahlreichen Verkäufen von jüdischem Kunstbesitz beteiligt. Er behielt das Gemälde jedoch zurück und verwahrte es mit vielen anderen Wer ken „entarteter Kunst“ in der Grenzburg, seinem Depot in Güstrow. Nach Böhmers Freitod am 3. Mai 1945 wurde es dort von Schult
vor dem Zugriff der Roten Armee bewahrt und „sichergestellt“. Beide wohnten in Güstrow und kannten sich durch die Verwal tung des Nachlasses des Bildhauers Ernst Barlach. Über Schults Witwe gelangte das Bild 1981 schließlich in die Akademie der Künste. Die Münchner Sammlung wusste lange Zeit nichts über den heutigen Aufbewahrungsort. Im 1990 erschienenen Werk verzeichnis ist es noch als verschollen angegeben. Dieser Fall zeigt zum einen, wie verschlungen und undurchsichtig die Besitz wechsel häufig waren. Und zum anderen, wie unterschiedlich eine juristische und moralische Beurteilung ausfallen kann. Das Gemälde wurde auf staatlichen Druck aus dem Museum entfernt und zum Verkauf freigegeben. Eine Rückgabe liegt daher nahe. Die juristische Beurteilung erzielt ein anderes Ergebnis. Ein unverändert gültiges Gesetz von 1938 legitimierte rückwirkend die entschädigungslose Einziehung von „entarteter Kunst“ und verhinderte, dass Museen nach Kriegsende konfiszierte Werke zurückfordern konnten.
VERLOREN, VERSCHOLLEN, ZURÜCKGEKEHRT
Carl Blechens Mühlental bei Amalfi galt lange Zeit als Kriegs verlust. 2019 konnte die Ölskizze von der Akademie aus Privat besitz zurückerworben werden. Sie ist erstmals wieder in der Ausstellung zu sehen. Das 1945 aus einem Verlagerungsort ent wendete Bild lenkt den Blick auf die Kriegsverluste der Kunst sammlung, die ein weiteres wichtiges Thema der Provenienzfor schung sind. Die Preußische Akademie verfügte bis 1945 über eine herausragende Sammlung bildender Kunst. Zum Kunstbe sitz gehörten Zeichnungen und altmeisterliche Grafik von Albrecht Dürer, Rembrandt van Rijn und Wenzel Hollar oder auch ganze Werknachlässe, wie die des Bildhauers Johann Gottfried Schadow, des Kupferstechers Daniel Chodowiecki oder des Land schaftsmalers Carl Blechen. Zum Schutz vor Bombenangriffen wurde der überwiegende Teil des Kunstbesitzes im Zweiten Welt krieg an sichere Orte verbracht. Dazu gehörten der Flakbunker am Zoo und die Neue Münze in Berlin, ein stillgelegtes Kalisalz bergwerk in der Rhön und verschiedene Schlösser in Schlesien. Durch Kriegseinwirkung, Plünderung und die Beschlagnahmung durch die Trophäenbrigaden der Roten Armee gelten mehr als drei Viertel der Sammlung heute als vernichtet oder zumindest verschollen. Die genaue Zahl der verlorenen Werke ist unbe kannt, da die Inventare und Zettelkataloge ebenfalls ausgela gert wurden und genaue Angaben für die Druckgrafik gänzlich fehlen. Dass sich zumindest Teile erhalten haben, zeigen Ange bote aus Privathand und dem Auktionshandel oder Hinweise auf Bestände in polnischen Museen und in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion. Den Verbleib dieser Kunstwerke zu ermitteln, ist eine zentrale Aufgabe der Provenienzforschung. Schon Informationen darüber, welche Werke sich wo erhalten haben, sind ein wichtiger Wissensgewinn für die kunsthistori sche Forschung. Ein Beispiel ist der Nachlass des Malers und Akademiedirektors Eduard Daege. Durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Khanenko-Museum in Kyiv konnte dort
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Provenienz nicht erkennbar: Urania , Skulptur aus dem 18. Jahrhundert, Sandstein.
ein Konvolut seiner ausgelagerten Zeichnungen entdeckt wer den. Gemeinsam mit den ukrainischen Kolleginnen plant die Aka demie ein Digitalisierungs- und Forschungsprojekt, um die auf drei Sammlungen verstreuten Werke virtuell zusammenzufüh ren. Durch den Krieg in der Ukraine und die dadurch notwendig gewordene Evakuierung der Sammlung muss das Projekt jedoch derzeit ruhen.
KUNSTBESITZ IM FADENKREUZ DER DDR-KULTURPOLITIK
Die Bemühungen des DDR-Staatsapparates, privaten Kunstbe sitz zu erlangen und für eigene Zwecke zu nutzen, gerät zuneh mend in den Fokus der Provenienzforschung. Ein Beispiel dafür ist der künstlerische Nachlass von Otto Nagel. Der Maler und Präsident der Akademie der Künste (Ost) verfügte über eine umfangreiche Kunstsammlung, in der neben eigenen Werken auch solche befreundeter Künstlerinnen und Künstler wie Hans Baluschek, Käthe Kollwitz oder Heinrich Zille enthalten waren. Nagel geriet zwar als Kulturfunktionär durch seine Haltung in der Formalismusdebatte oder zum „Bitterfelder Weg“ in die Kritik, sein realistisches und sozialkritisches Werk zählte jedoch unan gefochten zum Kulturerbe der DDR. Auf Initiative der Witwe Walli Nagel wurde nach seinem Tode 1973 in Ost-Berlin das OttoNagel-Haus eröffnet, das bis Mitte der 1990er-Jahre sein künst lerisches Schaffen ausstellte. Bereits der Rückzug der Kunst wissenschaftlerin und Nagel-Tochter Sibylle und ihres Ehemannes Götz Schallenberg aus der Leitung des Museums 1978 ließ erkennen, dass es Unstimmigkeiten zwischen der Fami lie und den Kulturbehörden der DDR gab. Kern des Konfliktes war die Verfügung über die private Kunstsammlung, die die
Begehrlichkeit des Staates weckte. Nach dem Tod der Witwe schwand der politische Einfluss der Familie, und die Erben sahen sich mit einer horrenden Steuerforderung konfrontiert. Um der Zahlung von Erbschafts- und Vermögensteuer in Höhe von 2,5 Mio. Mark der DDR zu entgehen, war die Erbin Sibylle Schallen berg-Nagel gezwungen, der angebotenen Schenkung des Kunst besitzes an die Akademie der Künste der DDR zuzustimmen. Über 300 Bilder und Zeichnungen gingen an die Kunstsammlung über. Im Gegenzug erhielt die Erbin das elterliche Haus und aus gewählte Werke. Zwar ist der Fall juristisch geklärt, die Anträge auf Rückübertragung wurden nach 1990 in zwei Instanzen abschlägig beschieden. Das Vorgehen der DDR-Behörden wirft jedoch viele Fragen auf.
Die Ausstellung veranschaulicht die Bandbreite der For schungen zur Provenienzgeschichte und zeigt, wie vielschichtig die Problemlagen und Bewertungen sind. Für die sammelnden Einrichtungen bedeutet diese „Spurensicherung“ eine Selbst verpflichtung und ein Arbeiten gegen das Vergessen. Mit jeder erzählten Herkunftsgeschichte bleibt die Erinnerung an Men schen erhalten, die ein Kunstwerk schufen, es besaßen oder gezwungen wurden, es abzugeben.
„ SPU RENSICHERUNG
Die Geschichte(n) hinter den Werken“ Aus stellung an der Akademie der Künste, Pariser Platz, 29.10.2022 – 22.1.2023
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WERNER HEEGEWALDT ist Direktor des Archivs der Akademie der Künste.
Reste einer Bibliothek. Von der Staatsbibliothek zu Berlin an die Erben restituierte Bände aus dem Besitz des Kunstkritikers Alfred Kerr
Rückseite von Carl Blechen, Mühlental bei Amalfi , 1829, Öl auf Papier auf Karton, mit zahlreichen Provenienzvermer ken. Der Rückerwerb wurde gefördert von der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung.
KRITIK IST IM KONTEXT VON KUNST EINE MANIFESTATION, DIE NICHT NUR DIE KUNST, DIE SICH IHR STELLT, ALS KUNST BEFRAGT, SONDERN AUCH DIE EXISTENZ VON KUNST ALS WELT.
MUSS KUNST KUNST SEIN?
SIE FRAGT:
KRITIK IST EINE MANIFESTATION
KUNST, DIE SICH DER EXISTENZ EBENSO WIE DER NICHTEXISTENZ VON KUNST VERDANKT.
VON
MAN KANN HEUTE SAGEN: DIE ABSICHT VON KRITIK IST DIE KUNST EBENSO WIE DAS, WAS VON DER WELT OHNE SIE ÜBRIG BLEIBT, VON DER EVIDENZ DER WELT OHNE, VOR ODER NACH DER KUNST.
DIE ZUKUNFT DER KRITIK
Jeder Mensch ist heute ein Kritiker. Aber wo ist die Kritik? Wir sind alle Expert*innen, die einander bewerten. Aber wo sind die Expert*innen fürs Ganze? Jedes Theater, jedes Museum, jedes wissenschaftliche In stitut soll seine Arbeit heute selbst erklären und bewerben – während unabhängige Vermittlung, Einordnung, Bewertung mit den allgemeinen Medien schwinden. Aber ohne Kritik keine Öffentlichkeit. Ohne Öffent lichkeit keine Künste. Ohne Künste keine Demokratie. Der internatio nal besetzte Kongress „Die Zukunft der Kritik“ ist aus einer Initiative der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste entstanden und findet in der Bundeskunsthalle in Bonn und der Akademie der Künste, Berlin, statt. Er soll als Auftakt für eine langfristige Neubestimmung der Rolle der Kritik und die Sicherung ihrer Infrastruktur dienen. Das Pro gramm, entstanden aus Gesprächen aller Sektionen der Akademie, star tet mit den Leitthemen „Kritik in der Hyperzirkulation“ und „Fall und Aufstieg der kritischen Öffentlichkeit“, gefolgt von „Wer kritisiert wen von wo aus?“ und „Wie hat sich die Rolle der Kritik verändert?“ Im Vor feld sprechen Angela Lammert, Leiterin interdisziplinärer Sonderpro jekte in der Akademie, und Kolja Reichert, Kurator für Diskurs an der Bundeskunsthalle, über die Lage der Kritik.
KOLJA REICHERT Wir arbeiten nun bald zwei Jahre an diesem Kongress. Fangen wir beim Titel an: Warum „Die Zukunft der Kri tik“ und nicht „Die Krise der Kritik?“
ANGELA LAMMERT Weil wir nicht nur ein weiteres Lamento über die Krise der Kritik anstimmen, sondern durch die Linse der Kritik die Transformation der Gesellschaft in den Blick nehmen wollen. Die Kritik der Kritik lässt sich nicht nur im Schwinden ästhetischer Argumente zugunsten identitätskritischer Narrative verfolgen. Sie zeigt sich auch in der Zersetzung des kulturellen Raumes durch ökonomische Verwertbarkeit und schnelle Konsumierbarkeit: Ange stammte Plätze für die Kritik brechen zunehmend weg – ob auf grund reduzierter Feuilletonseiten oder durch veränderte Pro grammgewichtungen im öffentlich-rechtlichen Bereich. Ein ambivalenter Prozess, weil auch die alten Autoritäten und Deu
tungshoheiten in Frage gestellt werden. Es fehlt an finanzieller Unterstützung für freie Kritik: kein Kritikerfonds, kaum Kritiker preise, keine Corona-Hilfen für Kritiker*innen oder Kritik. Ange sichts der Digitalisierung werden neue Schreibformen erprobt – ob in selbstorganisierten viralen Netzwerken oder durch die künstle rische Antizipation kollektiver Praktiken wie bei Memes. Wo aber bleiben das Expertenurteil und das Sprachspiel, wenn alle schrei ben? Zur Diskussion stellen wir auch, welchen Einfluss marktori entierte Modelle darauf haben, wie Kunst und Kultur vermittelt wer den. Wer kann an den medialen Plattformen teilnehmen, wer nicht und warum nicht? Wir hoffen, dass der Kongress ein Forum für die Begegnung der Künste und Generationen wird, um ausgehend von einer Diagnose der veränderten Rolle von Kritik nach Möglichkei ten für die Öffnung neuer Räume zu fragen.
14 „WER KRITISIERT
WEN VON WO AUS?“
KR Es gab in der Vorbereitung des Kongresses einen Moment, wo sich plötzlich die Flughöhe veränderte, als die Sektion Bildende Kunst die Sektionen Literatur, Darstellende Kunst, Film, Baukunst und Musik dazulud. Plötzlich sprach man nicht mehr über die Malaise der Kunstkritik oder der Literaturkritik oder der Musikkri tik, sondern man hatte plötzlich einen Gegenstand, der Kontur annahm: die Figur der Kritik selbst, unabhängig von ihren Gegen ständen. Und es wurde klar, dass wir uns hier in einem Krisenmo ment versammeln, in dem etwas verschwunden ist. Und dass es nicht darum gehen kann, den Geist zurück in die Flasche zu zwin gen, sondern dass sich unter dem Vorzeichen einer tiefgreifenden medialen Veränderung – zu vergleichen mit der Durch setzung der Tageszeitun gen oder des Rundfunks im 19. und 20. Jahrhundert –die ganze Gesellschaft anders organisiert. Neue Mediengebräuche kommen ins Spiel, Sprecherrollen wanken, andere treten auf die Bühne, ohne dass ein Orientierungsvermögen ausgebildet wäre, um sich auf diesem neuen Forum zurechtzufinden, bei dem es keine klare Trennung zwischen Bühne und Pub likum mehr gibt. Es ist, als hätten sich die Bühnen aufgefaltet zu einem mul tipolaren Universum, in dem verschiedene Intensitäten sich und einander positionieren und um kulturelle Deutungshoheit ringen. Institutionen sind darin nurmehr personas mit einem Profil und einem Instagram-Account. Aber die Leute draußen, die früher ihr Publikum waren oder es auf Abruf noch sind, haben auch einen Ins tagram-Account und eine Meinung. Und warum sollten sie das, was die Institutionen für wertvoll halten, auch für wertvoll halten? Manche errichten sogar ihre eigenen Institutionen, wie Caroline Busta und Lil Internet vom Podcast New Models, die zusammen mit Joshua Citarella, Mat Dryhurst und Holly Herndon die Medien plattform channel.xyz aufbauen, um sich von den Plattformkon zernen unabhängig zu machen.
AL Für mich ist die größte Veränderung der Rolle der Kritik in den letzten zehn Jahren das, was wir „die allgegenwärtige Logik der Verstärkung“ genannt haben: die Form der lobenden Besprechung – also keine Kritik im wörtlichen und fachlichen Sinne. Kritik kommt ja von „kritisieren“. Der heute geschmähte „Kritikerpapst“ ist hin gegen an die Vorstellung einer radikalen Subjektivität gebunden, die den Wert einer Kritik ausmacht. Sie hing Anfang des 20. Jahr hunderts auch damit zusammen, dass es eine Zeitung gab, für die dann eine Stimme stand.
KR So wie Eduard Beaucamp für die FAZ.
AL Mir fallen eher historische Beispiele ein: Karl Scheffler für Kunst und Künstler oder Paul Westheim für Das Kunstblatt oder Max Osborn für die Vossische Zeitung
KR Aber hat man die nicht immer noch? Hans-Joachim Müller für die Welt, Hanno Rauterberg für die Zeit …
AL Es mag Ausnahmen geben, die übrigens meistens Männer sind
KR Nicht nur – Swantje Karich für die Welt, Elke Buhr für Mono pol, Catrin Lorch für die Süddeutsche Zeitung
AL Meines Erachtens sind es dennoch weniger, weil die meisten für viele Zeitungen und Zeitschriften schreiben und sich ökono misch nur schwer über Wasser halten können. Und das meint auch die finanzi elle Unabhängigkeit dieser Schreibenden. Die digita len Veröffentlichungen in Blogs, Podcasts und Netz werken der freien Szene tun das Übrige.
KR Klar. Als Laszlo Glozer sich früh für Beuys einge setzt hat, war er Korres pondent in Freiburg für die FAZ, als Teil eines großen Korrespondenten-Netz werks aus festen Freien, die in ihrer Region alles im Blick hatten, was in der bil denden Kunst passierte. Ich wurde als Kunstredak teur der FAZ oder FAS immer wieder von Museen, die abseits der großen Städte lagen, gefragt: Wann kommen Sie mal zu uns? Man che haben sich auf das Ausbleiben kritischer Begleitung hin selbst organisiert, wie das Marta Herford, das früh eine starke SocialMedia-Abteilung aufgebaut hat, weil es verstanden hat, dass es beides gleichzeitig sein muss: das Museum und die Institution, die über das Museum berichtet.
AL Das hat dazu geführt, dass Institutionen angefangen haben –gerade auch in den großen Städten – selbst Journale herauszu geben und Kritiken bezahlt in Auftrag zu geben. Also eher eine Art der Kunstbesprechung in der Affirmation.
KR Ja, die Zahl der Stellen in der Kunstvermittlung steigt, die Stellen für unabhängige Vermittlung durch Medien sinken. Wissenschaftler*innen werden ja auch zunehmend gezwungen, ihre Arbeit selbst zu evaluieren und zu vermarkten. Und das hat, glaube ich, damit zu tun, dass die Überzeugungskraft von Marken, die sich selbst vermitteln, fast stärker geworden ist als die Marken der unabhängigen Vermittlung. Teil eines Clubs zu sein, eine feste Meinung zu haben und einen überlegenen Lebensstil, scheint heute attraktiver als an ergebnisoffenen öffentlichen Debatten teilzu nehmen. Was die Kritik beiträgt, scheint mir zunehmend schwieri ger zu vermitteln: Etwa dass sie es ist, die überhaupt erst gemein
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same Horizonte und common grounds entwirft, und damit auch die Sicherheit, die es erlaubt, dass man im Streit das Gemeinsame stärkt. Der Streit um den Wert einzelner Werke garantiert ja erst den langfristigen Wert von Werken überhaupt. Wer aber ordnet für die Öffentlichkeit die unzähligen Projekte ein und erklärt ihren Sinn? An die Kritik wird offenbar gar nicht mehr gedacht, selbst in der Kulturpolitik. Ihr Image ist offensichtlich negativ: Sie kommt immer zu spät, sie verlangt Zeit, die man nicht hat und hat meistens etwas auszusetzen. Im Zweifelsfall stört sie. Marken wie Hauser & Wirth dagegen haben dieselbe Expertise und bieten dazu noch positive Identifikationsangebote. Sie bilden eine komplette, sich selbst kom mentierende Welt, mit eigener Zeitschrift, eigenen Urlaubsdesti nationen auf Menorca oder im Engadin – und ihren eigenen Verlag haben sie auch. Dessen neuer Leiter Alex Scrimgeour wird beim Kongress sprechen. Er hat lange im Kunstmagazin Artforum als Redakteur die Kri tiken betreut, war später bei Spike , ebenfalls eine Kunst zeitschrift, dann eine Zeit lang frei, und leitet jetzt eben für Hauser & Wirth das Verlags programm. Ebenfalls teilneh men wird Holger Liebs, der Kunstredakteur der Süddeut schen Zeitung war, dann Chef redakteur von Monopol, dann Programmleiter bei Hatje Cantz, und jetzt Pressespre cher der Staatlichen Kunst sammlung in Dresden ist. Julia Voss hat sich gegen die Kunst redaktion der FAZ und für wis senschaftliche und kuratori sche Arbeit im Deutschen Historischen Museum ent schieden. So sind viele Zeugen im Kongress vertreten, die die aktuellen Entwicklungen am eigenen Leib erfahren haben.
AL Auch Du warst Kritiker und bist nun Kurator? Liegt das tatsäch lich an der Überzeugungskraft von Marken oder der Vermittlung durch Medien?
KR Ich war ja auch lange freier Kritiker, dann Redakteur für Spike Art Quarterly, dann der FAZ, später der FAS, und bin jetzt Kurator für Diskurs – eine Stellenbeschreibung, die es früher so auch nicht gab – in der Bundeskunsthalle Bonn. Ich hatte das Glück, in 15 Jahren Kritikertätigkeit sehr viel lernen und gestalten zu können, ohne Kompromisse machen zu müssen. Die Rolle der Kritik ist eigentlich die schönste: weil die Unabhängigkeit einen ständig offen dafür hält, neue Fragen und Maßstäbe zu entwickeln. Man stellt
die kritische Hinterfragung der eigenen Subjektivität zur Verfügung und pflegt dadurch den öffentlichen Diskurs. Nach jedem Seminar für Kunstkritik habe ich den Eindruck, die Hälfte der Teilnehmer*innen würde sich für die Kritik entscheiden, wenn es für sie noch eine ökonomische Chance gäbe. Dass es die nicht mehr gibt, ist furcht bar. Damit steht auch für Künstler*innen der Sinn der eigenen Arbeit auf dem Spiel, mithin die Konturen der Künste selbst. Je weniger Kunstbegriffe es gibt, desto mehr sind Werke und Institu tionen nur noch Angriffsflächen für populistische Machtkritik. Wenn die Sprache für die Werke verloren geht, dann werden nur noch ideologische Abstraktionen auf Werke und Personen gelegt. Und dann gibt es keine Kriterien mehr, auf die man sich einigen kann, keine gemeinsamen Ziele, für die es sich zu kämpfen lohnt, nur noch den Kampf aller gegen alle.
AL Wenn man auf den Wort stamm oder die Herkunft des Wortes „Kritik“ zurückkommt, hat das ja auch etwas mit Unter scheiden zu tun, was wiederum mit Vergleichen zu tun hat. Ver gleichen wäre die Grundlage, um zu beurteilen. Das hängt mit Kri terien, mit einem wie immer gear teten Bezugssystem zusammen, das sich nur aus den Werken und dem zu Kritisierenden entwickeln kann. Die Verschiebung des Ver hältnisses von ästhetischen und politisch-moralisierenden Argu menten scheint es zu erschwe ren, klare Haltungen von Kritik wahrzunehmen – unabhängig davon, ob sie in den digitalen, verschriftlichten oder öffentli chen Medien publiziert werden. Das zumindest vermittelt sich mir als jemandem, der nicht selbst als Kritikerin gearbeitet hat. Vielleicht hat es auch mit der Geschichtsvergessenheit und dem totalen Gegenwartsbezug von Kunst zu tun. Denn dieses dialogische Prinzip gab es ja schon in den Salongesprächen bei Diderot, die im Grunde auch pluralis tische Akzente setzten. Sie sind also kein wirklich neues Phäno men, wie es heute oft im Zusammenhang mit Memes oder ande ren Formen kollektiven Schreibens verhandelt wird.
KR Hier scheinen sich zwei Öffentlichkeitsmodelle gegenüberzu stehen, an denen sich eine Verschiebung zeigt: auf der einen Seite Öffentlichkeit, die verwaltet wird durch zentrale Institutionen wie Zeitungen, Rundfunk, Museen, Theaterhäuser, Opernhäuser, die die Diskurse über die Künste aufrechterhalten, sodass das, was man als Künstler*in oder Institution beiträgt, seinen Sinn gewinnt,
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indem es mit anderem in Zusammenhang gestellt wird. Das geht nur mit Kritik. Auf der anderen Seite hat man durch die sogenann ten sozialen Medien ein multipolares Universum, in dem jede*r gleichzeitig Kritiker*in, Werk und Künstler *in ist, sich positioniert und Wertsetzungen unternimmt.
AL Eine Zukunft der Kritik könnte sein, Brücken zwischen Gegen polen zu bauen: Ob es die Frage nach einem produktiven Verhält nis zwischen ästhetischen und identitätspolitischen Narrativen ist oder, wie es Nikita Dhawan versucht, zwischen westeuropäischer Aufklärung und postkolonialen Theorien.
KR Das ist natürlich die andere große Transformation, die im Gange ist. Zum einen schwindet dieses System, das Distanz garantiert und einen common ground, auf dessen Basis man sich gegensei tig kritisieren kann, und es entstehen zunehmend Welten, die mit sich selbst identisch sind und sich selbst kommentieren. Zum ande ren passiert das in einem radikal geöffneten Raum, in dem alle ein ander hören. Und wenn alle einander hören, kann man natürlich schwieriger Witze übereinander machen als früher. Denn die, über die Witze gemacht werden, werden sich zurückmelden. Die wer den sich beschweren oder ihre eigenen Witze machen. Und das ist eigentlich eine sehr schöne Situation. Oft wird darüber lamentiert, nach dem Motto: Man darf ja gar nichts mehr sagen, man darf ja gar nichts mehr machen usw. Ich glaube aber, wenn man den Raum als Ganzes sieht, ist die Ausgangslage nicht schlecht. Es ist menschheitsgeschichtlich etwas Neues, dass potenziell immer alle mithören. Dadurch gewinnen natürlich bestimmte Fragen an Viru lenz: Wer hatte bisher die Deutungshoheit? Wer konnte dieses Netz der Werte bestimmen? Und wer wurde a priori aus diesem Netz ausgeschlossen durch ökonomische oder kulturelle Ausschlüsse, durch rassistische Vorurteile, die sich ja oft verschränken? AL Ich hoffe, dass es uns gelingt, an einigen Beispielen zu zeigen, wo bestimmte Problematiken, auch wenn sie uns heute ganz anders erscheinen, bestimmten Diskussionen aus der Geschichte struk turell ähneln. Du hast das Aufkommen der Zeitungen beschrieben. Wir befinden uns durch die Digitalisierung in einer ähnlichen Situ ation. Geblieben ist, um einen Impuls des Kunsttheoretikers Robert Kudielka aufzugreifen, dass Kritik ja auch immer eine Sprachan strengung ist, selbst in Memes als witzigen Bild-Text-Kombinationen. Mir stellt sich die Frage, auf welche Weise sich heute Kri terien und Schreibweisen aus den Gegenständen entwickeln. Das bedeutet, den Diskurs nicht auf den Gegenstand zu applizieren, sondern von ihm auszugehen. Kritik ist von der partizipativen und performativen Situation aus zu schreiben, von der materialisierten künstlerischen Äußerung aus zu entwickeln. Es gilt, aus der Pers pektive eines durch den common ground bestimmten Bezugsfel des zu urteilen, zu kritisieren und zu schreiben. KR Und zu erlauben, auch von diesen Werken und ihrer Beschrei bung aus den Blick auf den common ground, oder den common ground selbst vielleicht auch um 0,3 Grad verschieben zu können. Diese Begegnung mit Werken, die du beschreibst, ist potenziell in der Lage, Zirkulation umzudenken und ideologische Abstraktionen zu bremsen oder Abstand zu ihnen zu bekommen und sie umzu denken. Das ist der Einsatz, um den die Künste ringen – die ver
bliebene Kritik und die Institutionen auch –, dass die Durchdrin gung gemeinsamen Materials durch einen einzelnen Menschen immer etwas verschieben kann. Das geht nur, wenn die Begegnung damit möglich ist. Und das wiederum geht nur, wenn die Begeg nung damit gesellschaftlichen Wert hat und dieser Wert verstan den wird. Dafür sorgt die Kritik. Sie schöpft aus den Werken gemein same Horizonte, vor die sie wiederum prüfend die Werke hält. Kritik schafft den common ground, der erlaubt, dass Kritik nicht agonistisch auf gegenseitige Vernichtung zählt, sondern auf gemeinsame Verbesserung.
AL Ich würde eher davon sprechen, dass die Kunst selbst auch Kri tik sein kann wie Kritik auch Kunst – denken wir nur an Baudelaire. Es gilt darüber hinaus in den Blick zu nehmen, dass es nicht nur um die Veränderung der Kritik in der Kunst geht, sondern auch um transversale Schnitte, wie sie Siegfried Zielinski einfordert: diago nal zum Wissen und den Ästhetiken. Die Kritik der Kritik ist ein Schlachtfeld. Wer kritisiert wen von wo aus? Wie ist dem Relevanz verlust von Kritik entgegenzutreten? Und wie sind neue Begriff lichkeiten und Praktiken von Kritik und Kunst zu fassen?
Mit seinen kritischen Memes auf dem Account @freeze_magazine unterhält der Künstler Cem A. die Kunstwelt. Er wird die Kommunikation des Kongresses mit einer Reihe eigens entwickelter Memes begleiten.
Das Programm ist unter Beteiligung des Kunstkriti kerverbandes AICA, des Graduiertenkollegs „Kultu ren der Kritik“ an der Leuphana Universität Lüne burg und des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt Universität Berlin entstanden. Der Kongress eröffnet am 18. und 19. November in Bonn und findet in Berlin vom 24. bis zum 26. November statt. Eine von Studierenden organisierte Ausstel lung befragt Kritiker-Nachlässe des Akademie archivs. Das Programm findet sich auf adk.de/kritik und bundeskunsthalle.de/kritik.
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AI ANARCHIES
Die ethischen Herausforderungen „intelligenter“ Maschinen wurden von Künstler*innen vorhergesagt und diskutiert, lange bevor Künstliche Intelligenz existierte. Inmitten des heutigen Technologiebooms sind Fragen um „gute“ oder „schlechte“ KI präsenter –aber auch komplexer – denn je. Die JUNGE AKADEMIE der Akademie der Künste un terstützt sechs Künstler*innen bei der Entwicklung neuer Arbeiten zum Thema „Künst liche Intelligenz (KI) und Ethik“ unter dem Titel AI Anarchies im Rahmen eines sechsmonatigen Residenzprogramms am ZK/U in Berlin. Doch was steht überhaupt auf dem Spiel? Clara Herrmann, Leiterin der JUNGEN AKADEMIE, umreißt KI-Sze narien und stellt künstlerische (Gegen-)Strategien vor.
KÜNSTLICHE INTELLIGENZ UND DER TRAUM VON UNANGEPASSTEN ALTERNATIVEN
Clara Herrmann
FONGWILKE, Memorial Matter Archival Footage, 2022
2020 entließ Google die Co-Leiterin der Abteilung für Ethik in der KI, Timnit Gebru, die sich mit den ethischen Problemen großer selbstlernender Sprachmodelle befasste. Das Unternehmen wollte Forschungsergeb nisse nicht veröffentlichen, die zeigen, wie solche Modelle unter anderem die Desinformation über Wah len ermöglichen oder wie sie sich aus den Daten, mit denen sie gespeist werden, rassistische und sexistische Redeweisen aneignen. Nicht erst mit diesem Fall wurde deutlich, dass die Bestrebungen der Industrie „ethische KI“ – vertrauenswürdig, unvoreingenommen oder ver antwortungsbewusst – zu entwickeln, sich in vagen, wenn nicht leeren Versprechen erschöpfen und vor allem die Rechte, die Sichtweisen und die Sichtbarkeit von Minderheiten weiterhin außen vor bleiben. 1
Die Gefahren der KI im Zusammenhang mit Diskrimi nierung, Missbrauch von Daten, Überwachung und Asymmetrien von Macht, Manipulation von öffentlicher Meinung, Klimagerechtigkeit und anderem mehr wer den in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Kunst und Kul tur breit diskutiert. Ein bekanntes Beispiel ist Gesichts erkennungssoftware: Die MIT-Wissenschaftlerin Joy Buolamwini deckte 2018 auf, dass Programme, die zur Identifikation von Personen, im Gesundheitswesen für die Diagnose oder im Marketing für die Analyse von Emo tionen eingesetzt werden, durch falsche Methoden ver zerrte beziehungsweise fehlerhafte Ergebnisse liefer ten: Ihr eigenes Gesicht als schwarze Frau wurde nicht erkannt. Die Entwickler*innen hatten den Algorithmen nicht beigebracht, eine größere Bandbreite an Hauttö nen und Gesichtsstrukturen zu erkennen. In Auftrag
gegeben von Google, Amazon oder Microsoft identifi zierten die Programme ohne Probleme weiße Männer –bei der Erkennung von schwarzen oder Frauengesich tern waren sie fehlerhaft. 2 Unvergessen ist auch der Vorfall, als Googles Bilderkennung im Jahr 2015 Men schen mit dunkler Hautfarbe als Gorillas einstufte. Die Ausweitung der Massenüberwachung, die Bewaffnung von KI oder die Diskriminierung auf dem Gebiet der Straf verfolgung, wo schwarze Menschen schneller als krimi nell eingestuft werden, fußen ebenfalls auf Gesichts erkennungstechnologie. 3 Nicht zuletzt zeigten die Hongkonger Studierendenproteste der letzten Jahre, wie der Staat Identifikationssoftware als Waffe einsetzt. 4
Auch in der Europäischen Union ist KI längst ange kommen: 2021 wurde der Einsatz von KI-gesteuerten Lügendetektoren und Interview-Bots an der Grenze von Griechenland zur Türkei als Teil eines großen Apparats neuer digitaler Barrieren bekannt, die die EU nutzt, um illegale Einwanderung zu verhindern. 5 Hier zeigt sich ein unkontrollierter „Techno-Solutionism“ – der Glaube an die Lösung von sozialen, ökonomischen und politischen Problemen durch Technologie, um im komplexen Feld der Migration moralische Bedenken zu umgehen. Dass KI-basierte Ansätze Migrant*innen kriminalisieren, ent menschlichen und mit ihnen experimentieren, wird schlicht ignoriert. 6
Man muss nicht erst über Kriege und Terrorbekämp fung mittels Drohnen sprechen, bei denen Menschen auf Basis von Metadaten getötet werden und algorith mische Kalkulation menschliche „Schwächen“ beseiti gen soll – Empathie hat hier keinen Raum mehr –, um
von „algorithmischer Gewalt“ zu sprechen. Diese Form der Gewalt verbindet, wie die Künstlerin Mimi Onuoha beschreibt, „alles, was wir (insbesondere in den letzten fünf bis zehn Jahren) erlebt haben, als die Verfügbar keit riesiger Datensätze, Fortschritte bei der Rechen leistung, Technologiesprünge in künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen und die anschließende Umset zung all dieser Dinge in einer hierarchischen, unglei chen Gesellschaft augenscheinlich wurden“. 7 Dazu gehört auch aggressives Empfehlungsmarketing, die KI-empfohlene Kreditwürdigkeit oder die Ablehnung von Jobsuchenden auf Basis von Systemen, die ihre Bewer bungen auf die richtigen Keywords prüfen.
KI kann wie jede Technologie missbraucht werden, zur Gewinnsteigerung, zur Cyberkriegsführung, zum Erhalt und Ausbau autokratischer Systeme. Wenn menschliche Fähigkeiten und Verantwortlichkeiten ersetzt, wenn die Selbstbestimmung eingeschränkt wird, steht die Würde des Individuums auf dem Spiel. Es geht um Fragen der Haftung, wenn ein selbstfahrendes Auto oder eine Maschine in einer Fabrik Schaden anrichtet; um Fragen der Transparenz, wie die Technologie wirk lich funktioniert, wessen Interessen dahinterstehen und ob sie überhaupt kontrollierbar ist; um Fragen der Sicherheit und Privatsphäre; und schließlich um die Frage der Mensch-Maschine-Interaktion über Senso ren und Schnittstellen. Mittlerweile gibt es in vielen Unternehmen ethische Prinzipien, Richtlinien und Selbstverpflichtungen. Profit-Orientierung und der bereits benannte Techno-Solutionism ebenso wie der Hype um KI treiben Big-Tech-Industrien und Startups
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FONGWILKE, Memorial Matter Archival Footage, 2022
Sahej
Rahal, Black Origin , 2022
jedoch weiter an. Eine Handvoll an Tech-Unternehmen setzen KI weltweit ein. So gut wie alles soll mit KI ver mehrt, verbessert, vorhergesagt, vermessen werden. Gleichzeitig wird die Diskussion um „ethische KI“ ver einnahmt und ausgehöhlt.
Das Bewusstsein für eine KI-Ethik wurde überhaupt erst durch Forscher*innen, die sich mit der Diskriminie rung marginalisierter Gruppen auseinandersetzen, brei ter etabliert. Seit einigen Jahren entwickeln auch Künstler*innen und Aktivist*innen Gegenoffensiven gegen solche Tendenzen, beispielsweise durch Muster in Kleidung, Make-up und Haaren, die die Algorithmen verwirren. In ihrer künstlerischen Forschung befassen sie sich mit den Strukturen und Auswirkungen der KI: Seit 2017 nutzt die deutsche Migrationsbehörde eine soge nannte Dialekterkennungssoftware, um die Herkunft von Asylbewerber*innen ohne Papiere zu eruieren. Der Wis senschaftler und Klangkünstler Pedro Oliveira (AI-Anar chies-Stipendiat) stellt die Frage, was auf dem Spiel steht, wenn Staaten mathematische Modelle des Zuhö rens nutzen, um die Bewegungsfreiheit von Migrant*innen und Asylbewerber*innen zu reglementieren.
Die der Technologie zugrundliegenden Visionen wer den von bestimmten Vorstellungen und Perspektiven einer sehr kleinen, vor allem weißen und männlichen, homogenen Gruppe geformt, die nur in wenigen Städ ten der Welt angesiedelt ist, wo sich das Kapital zent riert. Ihre Systeme werden angepriesen als vergleich bar mit der menschlichen Intelligenz oder ihr gar überlegen. Sie greifen auf eine Art und Weise in die Welt ein, die vornehmlich denjenigen Staaten, Institutionen und Unternehmen nutzen, für die sie gebaut sind. 8 Gleichzeitig schaden sie jenen am meisten, die sich am wenigsten schützen können, deren Stimmen, Geschich ten und Perspektiven in einer KI-Ethik kein oder zu wenig Gehör finden. In diesem Kontext hat die Künstlerin Sara Ciston (AI-Anarchies-Stipendiatin) ein intersektionales KI-Toolkit entwickelt, um mehr Inklusivität zu ermögli chen. Es greift auf Praktiken und Methoden marginali sierter Perspektiven wie black feminists , queer und disa bility theorists zurück, die die ethischen Probleme seit einiger Zeit benennen, um die Entwicklung und Nutzung von KI neu zu gestalten.
Wie Kate Crawford in Atlas of AI schreibt, ist eine der größten Mythen im Bereich der KI, dass Intelligenz etwas ist, das unabhängig von sozialen, kulturellen, histori schen oder politischen Kräften existiert, obwohl das Konzept einer überlegenen Intelligenz seit Jahrhunder ten ungeheuren Schaden anrichtet. 9 KI ist weder „künst lich“ noch „intelligent“, wie sie schreibt, sondern „ver körpert und materiell, hergestellt aus natürlichen Ressourcen, Brennstoffen, menschlicher Arbeit, Infra strukturen, Logistik, Geschichte(n) und Klassifizierun gen.“ 10 In diesem Sinne ist KI nicht als rein technische Domäne zu betrachten. Es gilt auch nicht, die eine Black Box zu öffnen. Vielmehr geht es um die Sichtbarma chung einer Vielzahl an verschachtelten Systemen kolo nialer Macht, mit denen KI verwoben ist. „Künstliche Intelligenz ist eine Idee, eine Infrastruktur, eine Indus trie, eine Form der Machtausübung, eine Art zu sehen; sie ist auch eine Manifestation von hochorganisiertem Kapital, unterstützt von riesigen Förder- und Logistik systemen, mit Versorgungsketten, die den gesamten Planeten umspannen.“ 11 Aus diesem Grund lassen sich auch keine einfachen Antworten auf die Frage der KIEthik finden.
Wie ethisch kann eine KI sein, die auf der radikalen Ausbeutung von natürlichen und menschlichen Res sourcen beruht? Kate Crawford beschreibt eindrücklich die „Landschaften der Kalkulation“, die der Ressour cenverbrauch digitaler Technologie zurücklässt, die Lithium, Öl und Wasser in größten Mengen benötigt und die Umwelt sowie verletzliche Gemeinschaften weltweit unwiderruflich schädigt. Diese komplexen Interdepen denzen des ökonomischen, kulturellen und politischen Netzwerks, in dem KI operiert, sind Ausgangspunkt der künstlerischen Arbeit von Aarti Sunder (AI Anarchies Stipendiatin). Sie untersucht die Infrastruktur von Unter seekabeln, die die Daten der Welt transportieren, sowie die Lebensformen, die sie umgeben, als historische Kanäle der Macht. Dabei adressiert sie Fragen der Res sourcenverteilung, prekäre Arbeitsformen und Ebenen der Unsichtbarkeit von KI.
Es bedarf einer anarchischen Kraft, um das Unbeha gen an der Diskussion über KI zu artikulieren, die zumeist von analytischer Philosophie und Universalismus geprägt ist und in einem direkt und indirekt von Unter nehmen okkupierten Raum stattfindet. Über welche oder wessen Ethik und Moral sprechen wir? Was können, sol len oder wollen Künstler*innen beitragen? Welche Werte bringen sie mit? Welche Sprachen und Ästhetiken blei ben noch? In solchen Diskussionen sollte es weniger um das stark durch Hollywood-Metaphern geprägte Ver hältnis von Mensch und KI gehen und auch nicht allein um die künstlerische Forschung an einer KI, die fair, moralisch und transparent ist. Entgegen eines rein lösungsorientierten Ansatzes müssen spekulative und/ oder technische künstlerische Praktiken sowie Inter ventionen im Fokus stehen, die den Umgang mit Macht und Ethik im Zusammenhang mit der Entstehung von KI artikulieren und befragen. Künstlerischer Widerstand erfordert subjektive und politische Aktionen sowie kre ative Handlungen. Welche wilden alternativen und anar chischen KIs können wir gemeinsam imaginieren?
1 Dyl an Baker und Alex Hanna, AI Ethics Are in Danger. Fun ding Independent Research Could Help, in: Stanford So cial Innovation Review , 7.6.2022, https://ssir.org/artic lesentryai_ethics_are_in_danger_funding_independent_ research_could_help# Mittlerweile hat Timnit Gebru ein neues Institut, das Distributed AI Research Institute (DAIR), gegründet. Alex Hanna, die zusammen mit Gebru Google verließ, arbeitet dort als Wissenschaftlerin. Hanna sprach am Eröffnungsabend der AI AnarchiesHerbstakademie mit Hito Steyerl, Künstlerin und Akade mie-Mitglied.
2 Vgl . Shalini Kantayya (Regie), Coded Bias , USA/UK/CN 2020, 85 Min.
3 Vgl . Julia Angwin, Jeff Larson, Surya Mattu and Lauren Kirchner, Machine Bias, in: ProPublica , 23.5.2016, ht tps://www.propublica.org/article/machine-bias-riskassessments-in-criminal-sentencing
4 In Hong Kong Protests, Faces Become Weapons, in: The New York Times , 26. Juli 2019, https://www.nytimes. com/2019/07/26/technology/hong-kong-protests-fa cial-recognition-surveillance.html
5 Ped ro Oliveira: „To Become Undone“, in: Ding Magazine (2022), https://dingdingding.org/issue-4/to-becomeundone/
6 Vgl . Ella Jakubowska, zitiert in: Derek Gatopoulos and Cos tas Kantouris, AI-powered lie detectors, interview bots: migrants to face digital fortress at Europe’s border, in: The Sydney Morning Herald , 1.6.2021, https://www.smh. com.au/world/europe/ai-powered-lie-detectors-inter view-bots-migrants-to-face-digital-fortress-at-eu rope-s-border-20210601-p57www.html
7 Mim i Onuoha, Notes on Algorithmic Violence, 2. August 2018, github.com: https://github.com/MimiOnuoha/OnAlgorithmic-Violence
8 Kat e Crawford, Atlas of AI , New Haven 2021, S. 211.
9 Ebd ., S. 5.
10 Ebd ., S. 8.
11 Ebd ., S. 18-19.
Das Programm AI Anarchies besteht aus einem Sti pendienprogramm für sechs Künstler*innen, einer transdisziplinären Herbstakademie sowie einer Ab schlussausstellung, die am 1. Juni 2023 eröffnen wird. Im Herbst/Winter 2021 beschäftigte sich ein interna tionaler künstlerisch-wissenschaftlicher Beirat mit den grundlegenden Fragen von Kunst, KI und Ethik. Ausgewählt wurden sechs Künstler*innen und Kollek tive von einer Fachjury, die sich mit KI im weitesten Sinne und in unterschiedlichster Form auseinander setzen: D’Andrade und Walla Capelobo, Sarah Ciston, Pedro Oliveira, Sara Culmann, SONDER (Peter Behr bohm und Anton Steenbock) und Aarti Sunder. Die Stipendiat*innen stellen ihre Arbeiten zusammen mit den Künstler*innen des Mensch Maschine Pro gramms der Jungen Akademie aus. Diese sind: Petja Ivanova, Sahej Rahal, Natasha Tontey and the artist duo FONGWILKE.
Für die Herbstakademie im Oktober dieses Jahres wurden die Autorin und Kuratorin Nora N. Khan sowie die Wissenschaftlerin Maya Indira Ganesh eingeladen, einen neuen Raum für die Diskussion um KI und Ethik zu formulieren und zu gestalten, der globale Commu nitys von Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Kulturproduzent*innen sowie Kulturhacker*innen, Technolog*innen und Aktivist*innen zusammen brachte. Im Mittelpunkt ihres Konzepts standen neue Formen des Miteinander-Denkens und die Erschlie ßung alternativer Wissensnetzwerke im Umgang mit KI und Ethik über Methoden des „unangepassten Lernens“ Weitere Informationen finden sich unter https://junge-akademie.adk.de/articles/die-ai-anar chies-herbstakademie/.
Das Programm wird von einem internationalen Beirat aus Wissenschaftler*innen und Künstler*innen be gl eitet, die auf den folgenden Seiten mit verschiedenen Statements Einblicke in die Diskussion geben.
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Aarti Sunder, Nodal Narratives of the Deep Sea , Work in Progress, 2022–2023
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Aarti Sunder, Nodal Narratives of the Deep Sea , Work in Progress, 2022–2023
Aarti Sunder, Nodal Narratives of the Deep Sea , Work in Progress, 2022–2023
Mit sieben Jahren bekam ich mein erstes Spielzeugkaleidoskop. Eine schwarze Röhre, an einem Ende konnte man durchschauen, am anderen bildeten sich durch Drehung der Röhre faszinierende geometrische Muster. Erzeugt wurden sie durch die Reflexion von Licht in farbigen Glasstücken, die von verwinkelt angeordneten Spiegeln umgeben waren. Immer wenn die Röhre gedreht wurde, um ein neues Muster entstehen zu lassen, klirrte das Glas, als könnte es jederzeit zerbrechen. Ich war bezaubert vom Geheimnis dieser Muster. Und anders als das All, das auch schön und beein druckend, aber fern war, war das hier etwas Geheimnisvolles und Schönes, das ich in meinen Händen hielt.
Vladan Joler und Matteo Pasquinelli betrachten KI als „noo scope“, ein Instrument, um Wissen zu generieren. Die Metapher des Kaleidoskops fängt m. E. sehr gut die Polyvalenz der KI ein. Sie ist gleichzeitig Medientechnologie, Dateninfrastruktur und soziotechnische Vorstellung: sichtbar und unsichtbar zugleich. Wie das Kaleidoskop befindet sich auch die KI „in unseren Händen“. In ihrer Anwendung erzeugt sie digitale Freuden, Künstler:innen und Kulturschaffende nutzen sie gerne. Industrielle KI andererseits ver sucht, bestimmte menschliche Fähigkeiten nachzubilden: Schach spielen, Musik zusammenstellen, ein Auto lenken. Die ethische Dimension, die sich hier beobachten lässt, geht in eine vollkom men falsche Richtung. Sie orientiert sich an einer sehr einseitigen Vorstellung von „Mensch“, die den Typus des nordischen Cis-Man nes ohne Behinderungen repliziert. Welche Menschen, welche Fähigkeiten wurden in diesem Prozess über Bord geworfen?
Schon immer hat das Internet komplizierte Fragen rund um unsere Körper, um Räume, die wir einnehmen, und um unsere Bezie hung zu Informationen aufgeworfen; mit KI verhält es sich nicht anders. Und hier stößt die Kaleidoskop-Metapher an ihre Grenzen. Die zeitgenössische industrielle KI ist noch immer eine unflexible Röhre, die Muster generiert. Vielleicht ist es die Kunst, die uns dabei unterstützt, mit den Komplikationen umzugehen, die KI evo ziert. Vielleicht stoßen wir aber auch auf neue Komplikationen. Ich betrachte sie als einen Raum, der die Möglichkeit bietet, neue Metaphern zu erzeugen, alternativen Wünschen Orientierung zu geben sowie die schönen Seiten und die Muster des menschlichen Lebens neu zu ordnen.
In meiner aktuellen Forschung fiel mir auf, in welchem Maße der zeitgenössische Diskurs über Kunst, KI und Ethik den Mythos der Universalität sprengt, der oft mit all diesen Themen in Verbindung gebracht wurde. Sei es die Idee einer ortsspezifischen und gemein schaftsbezogenen künstlerischen Praxis, seien es lokale und ein gängige „kleine KI“-Interventionen oder ethische Überlegungen, die sich basierend auf der Souveränität und Regulierung von Tech nologienutzung ändern: Wir scheinen einen Bereich zu betreten, in dem wir den Rahmen des Universellen verlassen, wenn wir uns mit jedem dieser Felder individuell befassen – und insbesondere mit ihren Schnittmengen.
Die Abkehr vom Universellen ist nicht neu. Jedoch wenden wir uns einem zur Disposition stehenden Bereich zu, über den äußerst zäh debattiert wird. Bilder und Vorstellungen von Technologien rund um digitale Praktiken, die als Waffen der Zerstörung dienen, neurotische Technologien, faschistische Netzwerke, Maschinen, die autonom entscheiden, und bösartige Algorithmen, die die menschliche Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit untergra ben – all das sind alles Beispiele, in denen die Suche nach einer gemeinsamen Basis im Vordergrund steht. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Verzicht auf das Universelle ohne ein darauffolgendes neues intersektionales Gemeingut schnell in einen post-faktischen moralischen Relativismus übergehen wird, der an Popularität gewinnt.
Vielleicht ist eine der größten Herausforderungen, auf die wir im Rahmen einer Abkehr vom Universellen stoßen, die der Vorstel lungskraft und Spekulation. Die Schnittmengen von Kunst, KI und Ethik sind so stark in der Tyrannei des Realismus verankert, dass der Raum für Fantasie, Fiktion und Vorausschau erodiert ist. Die Idee von Eindeutigkeit wird ausschließlich von empiristischen Inter ventionen definiert, die von genau den Technologien und Prozes sen einer ausbeuterischen Wertgenerierung geprägt sind, gegen die wir uns mit aller Kraft zur Wehr setzen. Der Mythos von Univer salität wurde auf Grundlage der Vernichtung der affektiven, der körperlichen und der imaginativen Ebene menschlichen Enga gements durchgesetzt; an die Stelle der Intensität trat der Maß stab. Wenn ich an die neuen Kalibrierungen von Kunst, KI und Ethik denke, setze ich meine Hoffnung in technische Kräfte, die Raum für Fiktionen und Möglichkeitshorizonte schaffen, die ein derartiges kreatives Tempo aufbauen, dass sie der Anziehungs kraft des Realismus entkommen und uns dazu motivieren, über eine Restrukturierung neuer Welten nachzudenken, anstatt nur die aktuellen Verstrickungen auszubügeln, die kontinuierlich in ihrem Streben nach universellem Erfolg lokal versagen.
INDIRA GANESH ist Co-Leiterin des Kurses „KI, Ethik und Gesellschaft“ am Leverhulme Centre for the Future of Intelligence, Cambridge.
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MAYA
HORIZONTE POLYVALENZ
NISHANT SHAH ist Director of Research & Outreach und Professor of Aesthetics and Culture of Technologies an der ArtEZ University of the Arts, Niederlande.
ARS MAGNA FESTSTELLUNGEN
IM MUSEUM NEUER TECHNOLOGIE
• Beobachtet wurde, dass der angesehene japanische Profes sor für Robotik, der per Video interviewt wurde, tatsächlich selbst wie ein Roboter aussah.
• Es musste an seinem Haar liegen.
• Das Haar sah aus wie teurer Samt. Das Haar sah aus, als sei es zunächst schwarz gewachsen und dann schwarz gefärbt wor den. Nur um sicherzugehen.
• Festgestellt wurde, dass der erste Roboter, der von dem ange sehenen Professor für Robotik erschaffen wurde, menschliche sekundäre Geschlechtsmerkmale aufwies, die mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden.
• Der Roboter wurde als „sie“ bezeichnet.
• Der Roboter trug eine Kombination aus Rock und ärmelloser Jacke, die an die Kleidung von Frauen in religiösen Kulten in Ame rika erinnerte.
• Einstimmig wurde beschlossen, den Roboter „Karen“ zu nennen.
• Ich weiß auch nicht. Sie SAH einfach aus wie eine Karen.
• Beobachtet wurde, dass Karens Funktion darauf beschränkt ist, dazusitzen, zu nicken und zustimmend zu murmeln, was auch immer ihr Gesprächspartner sagte. „Karen zu sein“ – so wurde fest gestellt – bedeutet, in alle Ewigkeit im schlimmsten Online-Date der Geschichte dieses Universums gefangen zu sein.
• Mehrere Experimente hatten gezeigt – so wurde berichtet –, dass Männer und Frauen typischerweise überschätzten, wie viel Frauen in Gesprächen reden. Wissenschaftler:innen haben her ausgefunden, dass in Gesprächen, in denen eine Frau genauso viel geredet hatte wie ein Mann, die Wahrnehmung überwog, die Frau hätte über 50 Prozent der Zeit geredet.
• Das Team stimmte zu, dass das verfiiiiiickt ist.
• Beobachtet wurde, dass Karens Stimme aus einem an der Wand montierten Lautsprecher kam und dass das a) desorientie rend, aber vor allem b) unfreiwillig komisch war.
• Das Team hielt inne, als sich eine Gruppe von Teenagern Karen näherte. Mehrere männliche Mitglieder des Facebook-Live-Teams filmten Karens Antworten, als sie sie fragten, „willst du es in den Aaaarsch“, und Karen aufforderten, „uns deine Robo-titten zu zeigen“.
• Festgestellt wurde, dass viele Leute Siri, Alexa und anderen virtuellen Assistent:innen sexuelle Sachen sagen. OFT. Über 300mal am Tag.
• Beobachtet wurde, dass auf der Welt in diesem Moment jemand zur Stimme von Siri, Google Now, Cortana o. Ä. masturbiert.
• Die Bevorzugung virtueller Assistent:innen mit weiblichen Stimmen wurde festgestellt. Ob das Gefühl aufkam, sie redeten zu viel, wurde nicht in die Untersuchung einbezogen.
In seinem kurzen Text „Der Golem von Prag und der Golem von Rehovot“ benutzt Gershom Scholem (1897–1982) eine Geschichte, um den aus seiner Sicht entscheidenden epistemi schen Punkt einer Intelligenz klarzumachen, die vom Däumling mit dem großen Gehirn erzeugt wird. „Der Mensch kann die Kräfte der Natur […] zusammenfassen und zu etwas kombinieren, was den Anschein von Menschlichem hat. Aber eines kann er diesem seinem Produkt nicht geben: Sprache, die für den biblischen Autor identisch mit Vernunft und Intuition ist.“ Und Scholem erzählt eine kleine Geschichte aus dem Talmud: „Raba schuf einen Menschen und schickte ihn zu Rabbi Sera. Der sprach zu ihm, aber er antwortete nicht. Daraufhin sagte der Rabbi: Du musst von meinen Kollegen von der Akademie gemacht worden sein; kehre zu deinem Staub zurück.“
Keine Verständigung zwischen konträren Weltanschauun gen ohne intensiven Dialog! Kein Dialog ohne gemeinsame Spra che! Diese Prinzipien gelten besonders, wenn es um Glaubens dispositive geht, die auf das Wort hören und auf Texten gründen – wie die großen monotheistischen Religionen der westlichen und nahöstlichen Welt. Der katalanische Philosoph und Theo loge Ramon Llull (1232–1315/16) hat das am Ende des europä ischen Mittelalters in radikaler Klarheit verstanden. In einer Zeit erbitterter Kämpfe in der Region zwischen dem Nahen Osten, Nordafrika und Europa entwarf er mit seiner Ars magna eine geni ale Methode, um zwischen den verschiedenen Religionen und Kulturen kommunizieren zu können. Nebenbei erfand er dafür kleine Sprachmaschinen aus Papier, die für die Verständigung benutzt werden konnten. Das waren Medien im ursprünglichen Sinn des Wortes. Man kann sie auch als archaische Denkma schinen oder Computer bezeichnen.
Die Geste, von der aktuelle technische Extelligenzen getra gen werden sollten, ist so klar, einfach und überzeugend, wie es die Ars magna vor mehr als 700 Jahren gewesen ist. Der u nbe dingte Dialog ist die einzig wirksame Alternative zu Zerstörung und Verfolgung. Poesie, Kunst und Wissenschaft sind hervorra gende Handlungsfelder, in denen diese Alternative praktiziert werden kann. Wir haben keinerlei Anlass, hinter Ideen des Mit telalters zurückzufallen.
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JENNIFER WALSHE , Komponistin und Musikerin, ist Mitglied der Sektion Musik der Akademie der Künste.
SIEGFRIED ZIELINSKI , Medientheoretiker, Kurator und Autor, ist seit 2000 Mitglied der Akademie der Künste.
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Natasha Tontey, Wa’anak Witu Watu / Beranak Dalam Batu , 2021
Natasha Tontey, Wa’anak Witu Watu / Beranak Dalam Batu , 2021
„DER ÖFFENTLICHE RUNDFUNK IST EIN
DEMOKRATIE-INSTRUMENT“
Alles spricht über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Auch wir. Während sich die medial heiß laufenden Debatten oftmals um die Leitungsfragen drehen, um Vorteils nahme, Vetternwirtschaft und Compliance-Verstöße, nicht selten mit dem Hinterge danken, den Rundfunk insgesamt abzuschaffen, wollen wir uns grundsätzlicher un terhalten, aus der Perspektive der Kunst, d. h. im Interesse einer demokratischen Gesellschaft. Mit den Mitgliedern der Akademie der Künste, Oliver Sturm und Andres Veiel, sprach die Vizepräsidentin der Akademie, Kathrin Röggla, Ende August über Di gitalisierung, veränderte Öffentlichkeit, algorithmenbasiertes Denken und die Frage, wer über den Rundfunk bestimmt. Also über Herausforderungen und Fallstricke der gegenwärtigen Situation des ÖRR. Beide haben langjährige Erfahrung mit dem Thema. Der Film- und Theaterregisseur und Autor Andres Veiel vertritt tatkräftig die Stimme der Akademie im Rundfunkrat und der Hörspielregisseur, Dramaturg und Autor Oliver Sturm engagiert sich vielfältig seit Jahren, auch als Mitglied der Hans-Flesch-Gesell schaft, für das Hörspiel.
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Kathrin Röggla im Gespräch mit Andres Veiel und Oliver Sturm
SWR Funkhaus Stuttgart, Architekt: Rolf Gutbrod
KATHRIN RÖGGLA Wir führen unser Gespräch in Zeiten einer immensen Krise. Der Wandel, der zu dieser aktuel len Situation geführt hat, ist allerdings schon seit Jah ren im Gang. Andres, du sitzt für die Akademie der Künste im Rundfunkrat – wie lässt sich die Situation des rbb der zeit beschreiben? Was geschieht da?
ANDRES VEIEL Es ist eine Krise auf mindestens vier Ebe nen. Auf der ersten Ebene das offensichtliche Versagen von Intendanz und dem unmittelbaren Kontrollorgan, dem Verwaltungsrat. Auslöser der Krise waren die Berichte über einen zu laxen Umgang von Interessenskollisionen bei der Vergabe von Berateraufträgen zwischen der ExIntendantin und dem Verwaltungsratsvorsitzenden. Ende Juni, eine Woche nach Veröffentlichung in einem Online dienst von Springer, tagte der Rundfunkrat. Ich wusste von den Vorwürfen nichts, im an die Mitglieder verschick ten Medienspiegel wurde der Bericht nicht zitiert, im Rundfunkrat wurde das Thema von der Vorsitzenden nicht auf die Tagesordnung gesetzt. Darin zeigte sich für mich die zweite Krise – die der Aufsichtsgremien. Warum haben wir so essenzielle Informationen nicht erhalten? Das betraf auch den Informationsfluss aus dem Verwaltungs rat. Der Rundfunkrat erhielt zwar regelmäßig einen Bericht des Verwaltungsratsvorsitzenden, der aber immer sehr kurz und allgemein gehalten war. Was hätten wir wissen können, wenn wir es hätten wissen wollen?
Nach außen ist der Eindruck entstanden, wir wären nicht mehr als ein Abnick-Verein. Und da war bis vor Kur zem leider auch etwas dran. In den Tagungsräumen war es manchmal warm und stickig, und viele waren offenbar froh, wenn es schnell vorbei war. Und die Vorsitzende
drängte darauf, dass wir als Mitglieder möglichst wenig intervenieren. Wenn ich Fragen stellte, bekam ich schon mal einen Seitenblick ab: Muss das jetzt sein? Das heißt, es gab auch eine gewisse schlafwandlerische Routine bei einigen Mitgliedern. Sie hatten den gut vorbereiteten Auf tritten der Intendanz nichts entgegenzusetzen. Es fehlte Expertise, vielleicht auch Mut, die vorgetragenen Hoch glanzprospekte zu hinterfragen. Ohne wirklich funktio nierende Kontrollgremien wurde die Krise damit sehr schnell zu einer des gesamten rbb.
KR Inwiefern?
AV Weil die Intendanz und die Geschäftsführung nicht kontrolliert wurden! Und der Protest der MitarbeiterIn nen, die Beschwerden – all das hat den Rundfunkrat nicht erreicht. Er konnte auf keinerlei Vertrauen bei den Beschäf tigten bauen. Deren Unmut verhallte im Nirgendwo.
Das änderte sich in den letzten Wochen schlagar tig, täglich wurden neue Vorwürfe gegen die Intendanz publik, die gar nicht so neu waren. Die Beschäftigten sta chen sie direkt zur Presse durch, am Rundfunkrat vorbei.
Die Vorwürfe offenbarten etwa den verschwenderischen Umgang mit Gebührengeldern beim Ausbau der Inten dantenetage – bei gleichzeitigen Kürzungen im Kultur bereich! Ich war wie viele andere im Rundfunkrat fas sungslos. Und stellte erste Fragen: Wurden diese Entscheidungen tatsächlich im Vier-Augen-Prinzip zwi schen dem Verwaltungsratsvorsitzenden und der Inten dantin ausgehandelt – ohne Beteiligung des übrigen Ver waltungsrats? Wer hat hier etwas verschwiegen, um zugleich etwas schon Bekanntes wortreich zuzugeben?
Damit zeigt sich eine grundlegende dritte Krise, die den
ganzen rbb erfasst hat, bis ins mittlere Management –eine Krise des Vertrauens zwischen fast der gesamten Belegschaft und einer fast 50-köpfigen Führungsriege. Verstärkt wurde diese Krise durch das Offenlegen eines Boni-Systems. Bekamen Führungskräfte Zulagen, wenn sie Budget-Kürzungen konsequent durchdrückten? All das muss nun aufgearbeitet werden.
Und last but not least, die vierte Krise: Die Vorwürfe bleiben ja nicht auf den rbb beschränkt, sondern betref fen längst die gesamte ARD. Auch wenn die anderen Anstalten kein Boni-System hatten, so müssen sich die Intendanten dennoch fragen lassen, warum sie doppelt so viel verdienen wie die Ministerpräsidenten der Länder. Diese Vorwürfe, so berechtigt sie sind, werden natürlich von Springer und anderen instrumentalisiert, um endlich einen missliebigen Konkurrenten kaputtzuschlagen. Es gibt Umfragen in BILD , in denen behauptet wird: „86 Pro zent der Befragten lehnen das Zwangsgebührensystem ab.“ Im Prinzip geht es darum, Stimmung zu machen, um ein weltweit einmaliges staatsfernes Rundfunksystem zu liquidieren. Klar sind da viele Strukturen verkrustet, müs sen Entscheidungsstrukturen und der Programmauftrag neu gedacht werden. Aber es ist wohlfeil, nun die Abschaffung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu fordern. Um diese Vorwürfe abzuwehren, müssen jetzt unter vollständiger Transparenz alle Vorwürfe aufgear beitet werden, um dann den öffentlich-rechtlichen Rund funk neu zu denken.
KR Was also tun?
AV Ich habe Psychologie studiert und da gibt es diesen Dreisatz: Diagnose – Indikation – Heilungsvorgang.
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MDR Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt, Magdeburg, Gerber Architekten
Schon die Diagnostik im Casus rbb ist mehr als her ausfordernd, weil wir im Rundfunkrat immer noch viele Vorwürfe nur aus der Presse erfahren. Die bisherige Geschäftsleitung gibt immer nur scheibchenweise etwas zu. Wir werden immer noch von den Enthüllun gen getrieben und arbeiten nun intensiv daran, als Kon trollgremium wieder eine proaktive Wirkmächtigkeit durchzusetzen, etwa indem wir eine – wenn auch umstrittene - Interimsintendanz etabliert haben. Das ist das Erste. Im Sinne der Indikation haben wir im Moment die Chance, den Staatsvertrag nachzubes sern, um ein ähnliches strukturelles Versagen der Lei tungsebene und der Kontrollgremien in Zukunft aus
zuschließen. Mit dem neuen Medienstaatsvertrag bekommt der Rundfunkrat echte Gestaltungsmacht: Wir können aktiv den Programmauftrag mitgestalten, das heißt, Entscheidungen zum und übers Programm mittragen und vorantreiben. Das ist eine reelle Chance, die richtigen Weichen in Richtung eines kulturellen Programmauftrags zu stellen und damit die Kultur aus ihrer marginalisierten Randposition ins Zentrum des Programms zurückzuholen. Das würde ich dem dritten Punkt zuschlagen – dem Heilungsprozess. Von daher werden die nächsten sechs bis zwölf Monate unglaub lich wichtig – vielleicht die entscheidendsten. Wenn wir es jetzt richtig machen, können wir sehr viel Gutes
bewirken. Krise und Kairos sind und bleiben siamesi sche Zwillinge.
KR Oliver, du hast als Mitglied, auch Mitgründer der HansFlesch-Gesellschaft, Künstlerischer Leiter von Festivals wie „Radio Zukunft“, aber auch als Hörspielmacher, in allen möglichen Funktionen, in Redaktionen, aber auch extern schon sehr, sehr lange intensiv die verschiedenen Ebenen des Rundfunks begleitet. Wir haben gerade gehört, diese Krise ist nicht nur personell zu verorten, sondern strukturell. Sie hat sich über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte entwickelt. Unter den Stichworten „Digital first“, „Reichweitenerweiterung“, aber auch „Sparzwang“, hat sich in den letzten zehn Jahren einiges zusammen gebraut. Ist jetzt der historische Moment, hier etwas zu ändern?
OLIVER STURM Ich stimme Andres zu, das ist der Kai ros – der Moment, der entscheidend ist. Da kulminiert eine Fehlentwicklung, die seit Langem auf dem Weg ist. Und wenn man das im Zusammenhang sehen möchte, dann steht der öffentlich-rechtliche Rundfunk als Organ einer liberalen bürgerlichen Öffentlichkeit in gewisser Weise zwischen Publikum und Staat. Das heißt, er ist ein Selbstverständigungsmedium einer solchen Gesellschaft. Und er ist ein Demokratie-Instrument. Gleichzeitig ist er aber auch eine Institution im Kontext der Medienindust rie geworden und in seiner Struktur in eine gesamtgesell schaftliche Entwicklung, eine Krise der Demokratie ein getreten, die für ihn immer schwerer zu händeln ist. Die Demokratie bei uns ist immer stärker ins Fahrwasser einer Ökonomisierung geraten. Colin Crouch spricht von einer Postdemokratie, in der Parteien wie Unternehmen agie ren und die Bürger wie Kunden behandeln; umgekehrt betrachten die Bürger „die da oben“ als Dienstleister. Seit Einführung des dualen Systems befindet sich der Rundfunk in direkter Konkurrenz zu den privaten Medien, die wiederum eine enge Allianz mit der Tonträger-Indus trie eingegangen sind. Aber der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat eben nie marktwirtschaftlich agiert, weil er beitragsfinanziert ist. Und das war auch seine Freiheit, seine innere Freiheit. Aber durch die Krise der Demokra tie wird er in seiner gegenwärtigen Gestalt von vielen Tei len der Gesellschaft nun als Statthalter der Macht emp funden. Was auf Demonstrationen teilweise zu hören ist, ist ein „Die da oben“-Denken gegen den öffentlich-recht lichen Rundfunk, den „Staatsfunk“, die „Lügenpresse“. Und in diesem Kontext – wir erleben ja zurzeit einen radi kalen gesellschaftlichen Umbruch – ist er immer stärker in Legitimationsprobleme geraten. Einerseits durch die Veränderung des Rundfunkbeitrags, andererseits durch die Repräsentanz bestimmter liberaler Meinungen und letztlich auch seine konkrete Macht. Nach innen aber hat sich der Rundfunk nicht entsprechend revolutionieren oder demokratisieren können, sodass er sich in seinen Strukturen eher verfestigt und mit einer paradoxen inne ren Feudalisierung reagiert hat. In den dreißig Jahren, die ich den Rundfunk erlebt habe, also seit Mitte der 1980erJahre, sind die innerbetrieblichen Hierarchien immer stei ler geworden. Zugespitzt könnte man sagen, der innere Apparat des Rundfunks ist ein quasi-feudaler Apparat innerhalb einer ihn umgebenden Demokratie geworden. Und deswegen kann man diese Hilflosigkeit, auf bestimmte Entwicklungen zu reagieren, zurzeit sehr gut beobach ten. Was das Internet ausmacht, die neue öffentliche Kommunikation über Twitter und Instagram usw., hat der Rundfunk nur zum Schein aufgegriffen. In Wahrheit ist er nach innen eben sehr hierarchisch verfasst. Das kann
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Haus des Rundfunks, Berlin-Charlottenburg, Architekt: Hans Poelzig
man am rbb deutlich feststellen. In dem Moment, in dem die Leitungsspitze erodiert, schlägt das durch bis in die untersten Abteilungen. Aus den Abteilungen des Sen ders höre ich, dass jetzt Debatten über alle möglichen Fehlentwicklungen stattfinden. Daran merkt man, wie sehr der Meinungsaustausch innerhalb des Rundfunks die ganzen Jahre unter Verschluss gehalten worden ist. Man kann jetzt wirklich sagen: Die Mäuse tanzen auf den Tischen. Es ist natürlich auch ein Zeichen der Schwäche, dass die Redakteure zuvor nicht in der Lage waren, sich zu äußern, sich gegen Fehlentwicklungen zu wehren, die sie selbst wahrnehmen und auch benennen. Klar, sie sind weisungsgebunden, aber das Ausmaß, in dem man sich weisungsgebunden fühlt, hängt auch mit dem Grad der Angst zusammen, die im Apparat herrscht. Die andere Entwicklung, von der der Rundfunk erfasst worden ist, ist das Konzept des Managements: dass man sich auf die neue digitale Online-Wirklichkeit entsprechend den Funk tionsweisen und Prinzipien der Medienindustrie einstel len müsste. Seit einigen Jahren wird der Rundfunk sehr stark von den Managern aus der privaten Medienwirt schaft beeinflusst, von Rundfunkberatungsfirmen, die das Distributionsmanagement, aber auch das Produktionsmanagement beherrschen. Ökonomisierung ist dabei der Leitgedanke, das heißt, sie denken in SinusgruppenAnalysen und Zielgruppen-Targeting. Heutzutage muss jede Hörspielabteilung bei jedem Produkt eine Zielgrup penbestimmung vornehmen, muss angeben: An welche Zielgruppe richtet sich das Hörspiel, was gerade ent steht? Das ist ein geradezu antikünstlerischer Gedanke. Die Klickzahlen-Analyse führt dazu, dass tendenziell pro duziert wird, was der Markt als Klickzahl zurückspiegelt – was letztendlich zu einer gesellschaftlichen Dissozia
tion führt: Wenn du immer nur Sinusgruppen zielgenau bedienst, geht der integrative Gedanke des Rundfunks verloren. Auch das Orientierungsgebende des Rundfunks geht damit verloren. Man merkt es an dem mangelnden Selbstbewusstsein der Leitungsebenen des Rundfunks, die nicht in der Lage sind, kulturelle Vorgaben zu machen.
Sie ziehen sich zurück auf das Medienmanagement und sagen: Was das Publikum an Klickzahl zurückspiegelt, ist das, was das Publikum will.
KR War das nicht Tom Buhrow, der gesagt hat: Jeder ist sein eigener Intendant?
OS Und Frau Schlesinger. Der Rundfunk soll natürlich von vielen gehört werden, das möchten wir auch, aber Marktkompatibilität darf nicht das einzige Kriterium sein. Das ist völlig gegenläufig gegen öffentlichen Rundfunk als Demokratie-Instrument. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist ein kostbares Gut, und wenn wir in unserem Gespräch aus gegebenem Anlass die Fehlentwicklungen in den Fokus nehmen, ist es wichtig zu betonen, welche Wertschätzung wir dieser Institution entgegenbringen. Allein schon die Archive, aber auch die vielfältigen For men, die der Rundfunk hervorgebracht hat, das ganze kulturelle Gedächtnis ist ein schützenswertes Gut, weltkulturerbe-reif. Leider ist es den Verantwortlichen immer weniger gelungen, dies den Beitragszahlern zu vermitteln.
AV Die Legitimationskrise, die du ansprichst, fing im Prin zip schon vor zwanzig, dreißig Jahren an und zeigt sich bis heute in einer tiefen Verunsicherung der Programm macherInnen. Schrittweise schmolz die Akzeptanz, viele jüngere ZuschauerInnen verabschiedeten sich in den 1990er-Jahren zu den Privaten, der öffentlich-rechtli che Rundfunk reagierte mit Anpassung und Boulevardi
sierung, verlor dabei aber weiter an Akzeptanz. Im Moment, glaube ich, liegt das Durchschnittsalter bei der gesamten ARD bei 59 Jahren. Vor wenigen Jahren waren wir noch bei 55. Das heißt, wenn es so weitergeht, sind wir in zehn Jahren beim Durchschnittsalter von 72. Und in zwanzig Jahren bei 85. Die Jüngeren haben sich kom plett vom linearen TV verabschiedet, sie sind allenfalls in der Mediathek oder auf Streaming-Plattformen von Netflix und Co. unterwegs. Mein Sohn würde niemals frei willig einen Film von mir auf öffentlich-rechtlichen Pro grammen angucken. In der Altersgruppe der 30- bis 50-jährigen hieß es vor zwanzig Jahren noch: Ich gucke nur noch arte und 3sat, wenn überhaupt, und wenn, dann nach 22 Uhr. Aber auch diese Gruppe hat sich inzwischen mehr oder weniger ganz verabschiedet. Das kann ich fest stellen, wenn Filme von mir im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt werden. Wo bekomme ich überhaupt eine Resonanz? Wer reagiert darauf? Das ist die Gene ration 60+.
KR Du hast als Filmemacher schon mehrere Wellen der Umstrukturierung erlebt, zuerst mehr im audiovisuellen Medium, im Fernsehen.
AV Alles was zählte, war die Einschaltquote. Im voraus eilenden Gehorsam wurde vieles, was anspruchsvoll war, in die Nacht verbannt, wo es sich dann „versendete“. Mein erster Film wurde Anfang der 1990er-Jahre im ZDF um 22.15 Uhr gezeigt, mein nächster Film um 23 Uhr, und dann habe ich die Datumsgrenze überschritten, 0.15 Uhr. Jetzt verspielt sich das mit den Mediatheken, die aber nicht besonders attraktiv sind. Kino-Spielfilme sind ganze sieben Tage, Dokumentarfilme vier Wochen in der Media thek des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, bei Netflix ein, zwei Jahre.
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Funkhaus Nalepastraße, Oberschöneweide, Berlin, Architekt: Franz Ehrlich
Das alles trägt zu dieser Legitimationskrise bei. Über all da, wo Unsicherheit herrscht, wird nicht wirklich kre ativ gedacht, das heißt auch mal ins Risiko gegangen. Stattdessen wird in den Redaktionen geschaut: Was ist anderswo erfolgreich? In der BBC oder bei Netflix? Dar auf wird dann reagiert, wird dieses Format genau stu diert, werden deutsche Produzenten angesprochen; das dauert sehr, sehr lange. Nach zwei, drei Jahren versucht man das neue Format zu implantieren. Zu diesem Zeit punkt ist die Entwicklung aber längst weitergegangen, und alle wundern sich, dass es nicht den gewünschten Erfolg hat. Auch weil die Budgets um ein Vielfaches klei ner sind als bei Netflix und Co. Viele Programmverant wortliche im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sind angst getrieben. Ich kenne sehr viele RedakteurInnen, die am Tag nach einer Sendung zur Schnecke gemacht werden: „Das viele Geld für diese Quote!“ Die vertikalen Macht strukturen zerstören oftmals jedwede Risikobereitschaft. Viele RedakteurInnen, die durchaus mit einem gewissen Rückgrat angetreten sind, erleben eine déformation pro fessionnelle . Wenn ich fünfmal in den Nacken geschla gen werde, gehe ich entweder, verlasse die Institution, oder ich versuche, mich mit den Vorgaben so weit zu iden tifizieren, dass ich sie ausführen kann. Es gibt aber immer wieder Ausnahmen, wirklich gute Leute, die sich diesen Anpassungsstrategien widersetzen. Die müssen wir unbedingt unterstützen. Sie sind die Hefe für einen Neubeginn.
OS Ein Kritiker hat mir mal gesagt, ARD – Doppelpunkt – Angst Regiert Dich.
KR Super.
OS Du sagst, die Redakteure resignieren irgendwann –nach meiner langjährigen Beobachtung des Apparats ist
es so: Da erlebt ein Redakteur oder eine Redakteurin die erste Programmreform, ein paar Jahre später die zweite Programmreform, wiederum ein paar Jahre später die dritte. Und erlebt bei all diesen Reformen, dass er über haupt nicht gefragt wird, wie diese Reform stattzufinden hat. Witzigerweise hat es bei der letzten Programmre form von rbbKultur, die einfach nur den Sinn hatte, eine Million Programmetat einzusparen, ein Jahr lang soge nannte Open-Space-Meetings gegeben. Es nennt sich Open Space, weil sich die Mitarbeiter einer Abteilung wöchentlich oder zweimal im Monat treffen, um bitte dar über nachzudenken, wie sie ihre eigene Abteilung refor mieren können, wo sie sparen, aber auch Verbesserun gen machen können. Sie haben sich also ein Jahr in diesen Open-Space-Meetings getroffen, um am Ende festzu stellen, dass die Schritte der Reform alle schon vorher feststanden.
KR Die Frage ist die Antwort.
OS Ja, was sie ausgekaspert haben, war nur Beschäfti gungstherapie beziehungsweise Scheindemokratie. Und gleichzeitig diese vielen Sitzungen. Ich habe das bei der Fusion von SWF Baden-Baden und SDR Stuttgart erlebt, die Sitzungen haben eine starke Disziplinierungsfunk tion. Sie wirken demokratisch, aber durch dieses viele Zusammensitzen disziplinierst du dich gegenseitig.
KR Das finde ich spannend.
AV Ja, und dazu kommt – Oliver, du hast das Stichwort „Ökonomisierung“ genannt –, dass Kienbaum, die Unter nehmensberatung, beim rbb Boni – die Geschäftsleitung nennt es „variable Gehaltsanteile“ – eingeführt hat. Und zwar eben nicht nur in der Geschäftsführung, sondern auch bei den Hauptabteilungsleitern. Das ist ein Punkt, der unbedingt transparent gemacht werden sollte. Nicht
nur, dass es das gibt, sondern vor allem: Mit welchen Vor gaben sollte und konnte das zusätzliche Gehalt erreicht werden?
KR Also, was muss erreicht werden?
AV Ja, die Zielvorgaben! Inwieweit ging es hier um Inhalte, inwieweit um Budgets? Und das verstärkt neben der gerade angesprochenen Legitimitätskrise auch eine Glaubwürdigkeitskrise. Wenn ein Abteilungsleiter einen Bonus von 20.000 Euro erhält, weil er Kürzungen im Bud get durchsetzte, kann ich verstehen, dass bei den Beschäftigten, zu deren Lasten das ging, Unzufrieden heit, Misstrauen und Wut entstehen. Aber die Kernfrage ist: Wie finden wir das heraus? In Ansätzen sehen wir es. Etwa wie der rbb von innen heraus versucht, den Unmut in eine Welle substanzieller Aufklärung zu übersetzen. Das hat mich sehr beeindruckt. Um so erschreckender, wie die Geschäftsleitung darauf reagierte. Sie schüch terte die Rechercheteams ein. Die KollegInnen aus dem Redaktionsausschuss sollten bei allen Recherchen erst die Presseabteilung um Erlaubnis fragen. Das zeigt, sofort setzt ein Rollback ein: Den neuen aufklärerischen Frei räumen stehen die alten Beharrungskräfte gegenüber, die nach außen behaupten, „wir wollen brutalstmöglich aufarbeiten“, aber wenn es passiert, mit der juristischen Keule drohen. Und damit im Kern den Status quo vertei digen. Umso wichtiger ist es, dass auch die Kontrollgre mien systematisch ihre eigene Rolle in diesem Schlamas sel offenlegen.
OS Diese hierarchische Personalstruktur mit den vielen Mitarbeitern kriegst du nicht per Klick umgeschaltet auf Basisdemokratie.
KR Im neuen Medienstaatsvertrag sollen die Aufsichts gremien gestärkt werden. Ist das ein Schritt?
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NDR Landesfunkhaus, Hannover, Architekten: Friedrich Wilhelm Kraemer, Gerd Lichtenhahn, Dieter Oesterlen
AV Absolut. Die Kultur soll an prominenter Stelle in den Auftrag aufgenommen werden: „Die öffentlich-rechtli chen Angebote haben der Kultur, Bildung, Information und Beratung zu dienen.“ Aus dieser Aufwertung kann zukünftig nicht nur die Budgetierung, sondern auch die Wertigkeit der Kultur in der Programmierung abgeleitet werden. Wird ein Beitrag in der Nische eines Kulturradios oder in einem Hauptprogramm mit zentraler Strahlkraft ausgestrahlt? Der Rundfunkrat könnte dann beispiels weise entscheiden, dass bestimmte Einsparungen in der Unterhaltung oder bei Sportberichterstattung oder wo auch immer erfolgen. Natürlich kann auch jemand, der für den Deutschen Sportbund in dem Gremium sitzt, sagen: Fußball ist auch Kultur. Das wird eine sehr span nende Diskussion, denn dann fängt das Hauen und Ste chen an. Darüber hinaus wird es auch um die Aufstellung der gesamten Sendefamilie gehen: Wird ein Programm abgeschaltet, um ein anderes zu stärken? Welches Pro gramm bleibt linear empfangbar? Welche Rolle werden die Mediatheken spielen?
KR Wenn ich konkret an den rbb-Rundfunkrat denke, erinnere ich mich, dass die Kunst nur eine Stimme hatte, also wir. Die dreißig andere Leute kamen von der Kirche, vom Sport, von irgendetwas – Menschen, die das im Ehrenamt machen, nebenbei. Werden sie das überhaupt umsetzen wollen?
AV Grundsätzlich ist der Kulturauftrag nun klar benannt. Wenn er nicht umgesetzt wird, könnte der Klageweg blei ben. Mit dieser Drohung würde ich an die Überzeugungs arbeit gehen. Ein Weiter-so als Abnickverein kann es nicht mehr geben. Mittelfristig muss natürlich an den Struktu ren des Rundfunkrats gearbeitet werden. Wie der Rat jetzt aufgestellt ist, wird er aufgrund seiner mangelnden Expertise seinem erweiterten Auftrag nur schwer gerecht werden. Das liegt nicht nur an dieser oder jener Person, sondern daran, dass die Mitgliedschaft ein Ehrenamt ist. Es gibt einige wenige, die ihr festes Gehalt beziehen, viele sind wie ich aber selbstständig. Damit sind dem Engage ment zeitliche Grenzen gesetzt. Von 400 Euro im Monat kann niemand existieren. Wir müssen deshalb jederzeit auf juristische, programmplanerische, haushalterische Beratung zurückgreifen können. Entsprechende Exper tInnen müssten bereitstehen, um beispielsweise einen Wirtschaftsplan transparent und nachvollziehbar zu erläutern. Jede Entscheidung setzt Wissen und Kenntnis voraus. Mit dieser flankierenden Unterstützung könnten wir dem „Gestaltungszuwachs“ gerecht werden.
OS Das würde eine Tiefenreform des Rundfunkrats bedeuten, denn Handlungs- und Konzeptionszentrum waren über Jahrzehnte die Intendanz und die Programm direktion, in Abstimmung mit der Verwaltung. Aber hier würde dem Rundfunkrat eine viel größere vordenkerische und konzeptionelle Kraft zuwachsen. Dafür braucht man auch eine gewisse Expertise und kulturelle Agenda, wie du sagst.
KR Vielleicht auch eine andere Besetzung? Ich fand es krass, dass nur die Akademie der Künste für die Künste da war.
OS Als wir vor knapp drei Jahren anlässlich der Pro grammreform von rbbKultur unsere Sorge um das Kul turverständnis formuliert haben, hat uns – zumindest meiner Erinnerung nach – ein Vertreter des Journalisten verbandes künstlerisches Elfenbeinturm-Denken vorge worfen. Das war schon sehr befremdlich.
AV Das wird sicher eine Herausforderung sein, weil die „Kulturfernen“ mit konservativen Kreisen eine Allianz bil
den könnten. Dabei geht es nicht nur gegen die Kultur, das Ziel ist fundamentalistischer: Zerschlagung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Bis in Kreise der CDU heißt es: Wir brauchen den gar nicht – und wenn über haupt, dann allenfalls ein Hauptprogramm, ARD und ZDF sollen zusammengelegt werden. Die Argumentationsline lautet: Da will sich eine kleine Elite ihr linkes Privileg auf „Erziehungs-Rundfunk“ bewahren, an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen draußen im Lande vorbei. Um dem etwas entgegenzusetzen, wäre ich dafür offen, dem Rundfunkrat einen Zuschauer- oder User-Beirat anzugliedern, an dem Hörer, User, ZuschauerInnen per Losverfahren teilnehmen. Man könnte 1.000 Menschen quer durch alle Schichten, Altersgruppen etc. anspre chen. Wo eine Bereitschaft erkennbar ist, könnte es eine kuratorische Einführung geben. Ähnlich wie es Macron beim Klimawandel erfolgreich umgesetzt hat, auch mit einer Zufallsauswahl. In Frankreich wurden 1.000 Men schen per Losverfahren angesprochen, letztendlich waren dann 200 dabei.
KR Das Modell des Schöffengerichts. AV Ja. Zweihundert, die bereit sind, sich dafür Zeit zu nehmen. Die werden entsprechend gebrieft, was Pro grammvielfalt, was ein kultureller Auftrag bedeutet. Im Anschluss sollten gerne sehr konkrete Vorschläge kom men, um die Akzeptanzkrise einzufangen. Ich glaube, die Krise der Demokratie ist ein Bumerang, der auf den öffent lich-rechtlichen Rundfunk zurückschlägt, wenn über 50 Prozent der Menschen sagen: Wir schalten den öffent lich-rechtlichen Rundfunk nicht mehr ein, deshalb wol len wir auch nicht bezahlen. Auf diese Leute müssen wir zugehen, auch wenn es unbequem ist. Wir müssen uns öffnen, Vorschläge und Kritik anhören und ernst nehmen. Wir sind als kreative KünstlerInnen Teil dieses öffentlichrechtlichen Systems, weil wir unsere Arbeiten fast alle in Zusammenarbeit mit dem öffentlich-rechtlichen Rund funk umsetzen konnten. Gerade deshalb müssen wir auf passen, uns nicht den Vorwurf einzuhandeln: Ihr wollt die Strukturen erhalten und euren Elfenbeinturm verteidi gen. Hier ist eine Vorab-Offensive wichtig, indem wir sagen: Natürlich öffnen wir uns. Wir können nicht von einer Krise der Demokratie reden, wenn wir nicht zugleich ein demokratisches Gremium anbieten, wo auch User, HörerInnen und ZuschauerInnen beteiligt sind.
OS Da stimme ich voll zu. Ich glaube, das, was Andres mit dem Vorschlag eines Zuhörer- oder Zuschauer-Bei rats formuliert, ist ein Weg, der sich auf sämtliche Pro gramminstanzen des Rundfunks ausdehnen sollte. Als der Rundfunk noch funktionierte, in den 1970er- und 1980er-Jahren, waren die Hierarchien weniger steil. Eine Abteilung, beispielsweise Hörspiel oder Feature, bekam einen Jahresetat und war, wenn es nicht inhaltlich um etwas Dramatisch-Heikles ging, mehr oder weniger auto nom; man hat sich auf ihre Expertise und ihre Fachkraft verlassen. Durch das föderale Konzept und eine weit höhere Personaldichte war eine ungleich größere Dyna mik an Themen gegeben, an Randständigem und weni ger Randständigem; es herrschte eine unglaubliche Diversität an Richtungen, Meinungen usw. Dieser Spiel raum wurde unheimlich eingeengt. Heute muss jedes Pro jekt von der Programmdirektion und der Marketing-Abtei lung abgesegnet werden: Klickzahlen-Management eben. Die Autonomie einer Abteilung war eine große Kraft, weil da teilweise kauzige oder widerständige Leute etwas Inte ressantes durchgezogen haben. Wenn es punktuell eine Einseitigkeit gab, ist das durch eine andere Anstalt rela
tiviert worden, die wieder andere Sachen gemacht hat. Durch das System der Übernahmen und Wiederholungen entstand eine ziemlich interessante bunte Mischung. Diese Diversität hat unglaublich gelitten. Um die Verbin dung zum Publikum wiederherzustellen, muss man ver suchen, die Schwarmintelligenz der Hörerschaft oder Zuschauerschaft zu mobilisieren. Das ist die heutige Art der Kommunikation. Das geht allerdings nur mit einer starken Leitung, die weiß, was sie will, und das umset zen kann. Bestimmte Formate funktionieren ja, zum Bei spiel das Jugendformat FUNK. Diese Podcasts werden gehört.
KR Diese Feststellung habe ich auch bei jüngeren Leu ten gemacht. Und es ist ein Irrtum zu sagen, Radio funk tioniert jetzt nur noch online und nur noch als ContentRaum. Man möchte aktuell informiert sein, die Zeitlichkeit des Mediums spielt eine große Rolle. Die Gefahr liegt in einer Spaltung zwischen einer Tagesbegleitung einer seits, Kunst und Kultur andererseits, die nur in der Con tent-Box losgelöst vom Alltag stattfindet. Im Theater ist das genau andersherum, da bist du immer im Fluss.
OS Wenn wir Berlin als Beispiel nehmen, den rbb, so herrscht dort seit ein paar Jahren seitens der Programm leitung das Motto, dass im Kulturbereich nur noch Ber lin-Brandenburg-Themen vorkommen dürfen. Es wird auch nichts mehr von anderen Sendern übernommen, man kapselt sich in seiner brandenburgischen Berlinig keit ein. Andersherum wird ein Schuh draus: Es sollte nicht darum gehen, die Themen auf Berlin-Brandenburg zu begrenzen, sondern darum, die berlin-brandenburgi schen Menschen und Institutionen stärker in die Gestal tung des Rundfunks einzubeziehen. Wir sitzen in Berlin, dem Kulturzentrum Deutschlands, die Stadt ist voll mit Künstlerinnen und Künstlern aller Couleur in unglaubli cher Fülle, mit Institutionen aller Couleur, die mit Kunst und Kultur im weitesten Sinne zu tun haben – Haus der Kulturen der Welt, Radialsystem, Sophiensäle, die The ater. Das sind kulturelle Kräfte, die man theoretisch für den Rundfunk aktivieren könnte, nicht nur als abgebil dete Kultur, sondern auch als Inspirationsgeber und als Input. Würde man sich weniger abkapseln und einen flüs sigeren Dialog mit den Institutionen und Kulturschaffen den der Stadt und des Landes Brandenburg pflegen, dann könnte man diesen Rundfunk mit einer unglaublichen Dynamik aufladen.
AV Es geht ja nicht nur um Berichterstattung über diese und jene Premiere, Buchveröffentlichung oder Konzert auftritt, im Sinne von „Service“. Es gilt, tiefer, kontrover ser hinzuschauen, sich zu reiben an all dem, was hier tag täglich passiert, und das Ganze in eine eigene Form und Sprache zu übersetzen. Damit sind wir bei einer künst lerischen Gestaltung von Kultur im eigentlichen Sinne. KR Also Kunst als …
AV … Streitraum, auch formal. Wir müssen mehr riskie ren. Was jetzt gerade auf rbbKultur passiert, ist alarmie rend. Beim Kulturradio ist – ich habe mir die Hörerzah len angeschaut – innerhalb des letzten Jahres die Anzahl der Menschen, die das Kulturradio in der Hauptstadt ein schalten, um 50 Prozent eingebrochen ist. F-ü-n-f -z-i-g Prozent.
OS Trotz beziehungsweise wegen der Programmreform. AV Das ist ein Desaster. Es wird in Teilen aufgefangen, weil es in der Fläche, also in Brandenburg, jetzt besser funktioniert. Damit offenbart sich ein Kernproblem die ser Zweiländeranstalt. In Prenzlau interessiert sich nie mand für das Debakel der Volksbühne. Umso wichtiger
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ist es, übergeordnete Streiträume aufzumachen. Aber in jedem Fall könnte man, wenn man schon regional denkt, etwas daraus was machen.
OS Genau.
AV Gutes Kulturradio machen heißt: Kontextualisierung, das bedeutet, Gedanken über diese oder jene Premiere aufzugreifen und in einer gerne auch einstündigen Gesprächssendung zu vertiefen oder weiterzudenken. Oder daraus eine Programm-Verkettung zu gestalten, einen Aufhänger zu nehmen und zu sagen: Wir setzen dieses Thema, dazu passt diese Inszenierung, dieses und jenes Panel, und online bieten wir das und das.
KR Dafür brauchst du aber das Gespräch, das intern statt finden muss.
AV Genau. Das erlebe ich selbst, weil ich alle 14 Tage auf rbbKultur die Kolumne „Frage des Tages“ mache. Es ist ein festes Format, dreieinhalb Minuten, da kann ich The men pointiert zuspitzen. Das hat alles seine Berechti gung, als Wachmacher um 8:08 Uhr. Schön wäre es, die tieferen Zusammenhänge herausarbeiten zu können – in ganz unterschiedlichen Formaten. Der rbb hat ja diesen Slogan „Bloß nicht langweilen“ – Länge ist aber nicht gleich Langeweile. Vertiefung ohne die Meinungshyste rie der Talkshows – darum geht es. Dieses Suchen nach Positionen ist etwas, was für mich immer zum Spannends ten zählt, das Ringen um eine Wahrheit, um die Essenz der Argumente. Das hat immer etwas Prozesshaftes. Ich weiß noch nicht, wohin es läuft. Diese offenen Räume bedeuten natürlich immer, ins Risiko zu gehen, weil es eben nicht nur um einen Schlagabtausch geht: Der brüllt lauter als der andere und unterbricht schneller als der andere. Sondern um ein Nachspüren: Welche Bedürf nisse liegen hinter einer Meinung, einem Argument? Dass es nicht nur um Meinungsschlachten geht, sondern die Bedürfnisse, die unter der Meinung liegen: Warum, mit welcher Lebenserfahrung komme ich zu dieser Schluss folgerung? Aber das bedeutet, das jeweilige Argument zu hinterfragen, in seiner Gewordenheit sichtbar zu machen, und das braucht Zeit.
OS Der Rundfunk vollzieht gerade das genaue Gegenteil in seiner Gesamtentwicklung. Er begreift sich als reine Content-Maschine: Herstellung von einzelnen Inhalten, die kontextlos ins Netz geworfen werden. Da gibt es Auf findbarkeitsabteilungen, die beschäftigen sich mit Erre gung von Aufmerksamkeit im Netz. Aber die Beiträge als solche, die sind wie entfremdete Einzelinseln von Inhal ten, die in einen Ozean von Internet gegossen werden. All das, was Kommunikation und gesellschaftliche Rei bung ausmacht, geht damit verloren.
KR Das ist genau der Punkt, an dem ich mit der Digitali sierung ansetzen wollte: Was ist öffentlicher Raum im Digitalen? Was kann öffentlicher Rundfunk dort leisten im Sinne einer Kontextualisierung?
OS Meiner Meinung nach darf das Live-Format nicht ver loren gehen. Der Rundfunk hat immer schon eine zent rale Funktion: Er leistet Gesellschaft. Für jemanden, der zu Hause ist, leistet dieses Gerät, ob es ein Notebook ein altes Radio ist, Gesellschaft. Und es ist eine Art gesell schaftliche Kommunikation. Diese Form der Kommuni kation muss erhalten bleiben. Das ist die zentrale Auf gabe des Rundfunks.
AV Und das ist ja das, was am meisten fehlt, nämlich diese Art von Zusammenhängen herzustellen. Das setzt das Wissen und die Erkenntnis voraus, dass es nicht nur der Meinungsraum oder Streitraum allein ist, sondern ein Raum, wo ich das Gehörte oder Gesehene mit meinen
eigenen Erfahrungen verknüpfen kann: Aha, in dem Zusammenhang, aus dieser Perspektive habe ich es noch nicht gesehen. Es geht darum, eine immer größere Kom plexität sichtbar zu machen. Strafverschärfend kommt hinzu, dass wir in einer Zeit leben, die unter einem enor men Handlungsdruck steht.
KR Es herrscht gleichzeitig ein Komplexitäts- und Handlungsdruck.
AV Ja, beides. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist so wesentlich, weil er versuchen muss, diese Problematik aufzufangen, dass wir zum einen angesichts einer sich dramatisch verschärfenden Klimakatastrophe in einer Druckkammer leben und uns nicht mehr viel Zeit bleibt. Zum anderen müssen wir den Klimawandel als soziale Frage begreifen, in Deutschland, aber auch weltweit. Es geht dabei vor allem um Verteilungsgerechtigkeit: Wer zahlt für den dringend nötigen Klimaschutz wie viel? Warum passiert politisch so wenig, obwohl wir wissen schaftlich genau über die Dramatik der Herausforderun gen Bescheid wissen? In einer solchen Situation kann und muss ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk auch par teilich sein. Ausgewogenheit kann nicht bedeuten, Kli mawandelleugner aus der AfD zu Wort kommen zu las sen. Von den Aufgeregtheiten der Tagesschlagzeilen muss immer wieder weg zu den Wurzeln gedacht werden. Das ist übrigens auch mein Unbehagen an der gegenwär tigen rbb-Debatte, wenn auf Frau Schlesinger gezeigt wird: Die hat versagt oder meinetwegen auch jener hing mit drin, an den oder die wurden Boni gezahlt. Vertrau ter X wurde mit 700.000 Euro kaltgestellt, Ruhegehalt. Ich verstehe, dass das wichtig ist, aber letztendlich, bei den eigentlichen Fragen, die dahinterstehen … KR … den strukturellen Fragen.
AV Dahin müssen wir vordringen! Das große Problem ist, wenn diese Aufgeregtheiten in einem medialen Durch lauferhitzer kurzzeitig hochgekocht werden – nach dem Motto „viel Dampf um wenig“, sind wir nur mit dem Abar beiten dieser Vorwürfe beschäftigt. Ein Punkt erledigt, schon wird die nächste Sau durchs Dorf getrieben. Wo es eigentlich ans Eingemachte gehen muss, an die Struk turen, wird das öffentlich kaum noch wahrgenommen, weil es keine Schlagzeilen produziert.
OS Du sprichst etwas an, was ich für ziemlich wichtig halte: den unglaublichen Handlungsdruck, unter dem die Gesellschaft steht. Wir haben es im Kontext, in dem der Rundfunk agiert, mit einem marktkapitalistischen Sys tem zu tun, bis in jede filigrane Faser der Gesellschaft hinein. Ein System, das auf Ressourcenausbeutung, Opti mierung und Effizienzsteigerung gepolt ist. Das merken wir an den Naturressourcen, wir merken es aber auch an unseren inneren Ressourcen, zum Beispiel wie jeder sich taktet. Was die Medienindustrie macht, ist letztendlich eine Art Industrialisierung des Bewusstseins. Das heißt, da findet im negativen Sinne eine Bewusstseinsausbeu tung, aber auch im positiven Sinne eine Bewusstseins steigerung statt. Dieses von Erschöpfung bedrohte Sys tem ist der Kontext, in dem Rundfunk stattfindet und sich als Teil der Medienindustrie einem Zustand der Erschöp fung nähert. Die große Kunst liegt darin, sich hier gegen steuernd zu behaupten. Es ist zu wünschen, dass die jetzt stattfindenden Gespräche in den Abteilungen des rbb, die von den Mitarbeitern als sehr produktiv wahrgenom men werden, weitergehen und nicht mit der Wahl eines neuen Intendanten wieder zum Erliegen kommen.
AV Die eigentliche Notwendigkeit ist, einen Raum zu ermöglichen, in dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk
Ambivalenzen und Ambiguitäten schützt. Das medial erzeugte Erregungspotenzial steigert sich in gegensei tiger Konkurrenz um die Währung „Aufmerksamkeit“. Je erregter, desto mehr Quote und Klicks. Ich werde auch nur in eine Talkshow eingeladen, wenn ich eine Extrem position vertrete.
KR Aber nicht zu extrem.
AV Wenn ich sage, ich ringe selbst noch mit mir, ich bin in einem Klärungsprozess, werde ich sehr schnell wieder ausgeladen. Das ist nicht einschätzbar oder uninteres sant. Der Raum eines geschützten Suchprozesses, wo eben nicht grelle, schon abrufbare, zugespitzte Meinun gen proklamiert werden, existiert kaum noch. Wenn ich weiß, aus welchem Erfahrungsraum ein Gegenargument erwachsen ist, finde ich es extrem interessant, dass jemand mir widerspricht. Aus dem Kontext biografischer Erfahrungen begreife ich vielleicht, wie jemand zu seiner Haltung kommt. Dann wird nicht nur auf der Oberfläche der Phänomene argumentiert, sondern auf der tieferen Ebene der Sehnsüchte, der Bedürfnisse, der Ängste. Wir haben anfangs über die Angstgetriebenheit des Senders gesprochen, die die der gesamten Gesellschaft spiegelt. Wenn es gelingt, eine Kultur der Angst in eine Kultur des Nachdenkens, des Zuhörens zu überführen, in der Ambi valenzen und Ambiguitäten einen Raum haben, und dafür die entsprechenden Formate zu finden, holen wir sehr viele Menschen zurück – ich sage ganz bewusst nicht „ab“ –, die sich aus dieser Angstgetriebenheit heraus verweigern. Wenn ich begreife, was einen Menschen dazu gebracht hat, so und nicht anders zu argumentieren, kann ich sagen: Das, was an Meinungsunkraut bei dir wächst, finde ich unerträglich, aber ich verstehe das, was darun ter liegt. Das Unkraut ist für mich Gift, aber ich verstehe den Bodensatz. Die Angst nimmt ja zu, und ich glaube, damit auch die Polarisierung. Daher wird der öffentlichrechtliche Rundfunk immer wichtiger. Wer soll diese Auf gabe sonst erfüllen? Wir müssen dieses gigantisch wach sende Angstpotenzial in irgendeiner Form in den Griff kriegen und moderieren. Und damit auch in eine künst lerische Gestaltung überführen, also in Räume, die Oskar Negt einmal „Rastplätze der Reflexion“ genannt hat.
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Funkhaus Nalepastraße, Oberschöneweide, Berlin, Architekt: Franz Ehrlich
Funkhaus Nalepastraße, Oberschöneweide, Berlin, Architekt: Franz Ehrlich
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EUROPÄISCHE ALLIANZ DER AKADEMIEN
INTRO
Seit 2020 engagieren sich die derzeit 68 Institutionen der Europäischen Alli anz der Akademien für die Freiheit der Kunst in Europa. Das Bündnis, 2020 von Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel initiiert, eint der Wille, solidarisch gegen nationalistische Vereinnahmungen in Kunst und Kultur vorzugehen und transnationale Zusammenarbeit zwischen den Institutionen anzustoßen.
Mehrere Mitglieder der Akademie der Künste, u. a. Robert Menasse, Nele Hertling, Aleš Šteger, A.L. Kennedy, Cécile Wajsbrot, Arnold Dreyblatt, Sieg fried Zielinski – wie auch die Akademie-Präsidentin selbst – tragen mit ihrer Expertise und ihren Visionen zur Initiative bei. Alle Beteiligten sind davon über zeugt, dass künstlerische Zusammenarbeit einen entscheidenden Beitrag zur Bewältigung gesellschaftspolitischer Herausforderungen in Europa leisten kann. Schriftsteller Aleš Šteger legt in seinem Text „Wie bedroht politische Radikalisierung die künstlerische Freiheit in Europa?“ die komplexen politi schen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen dar, die die Kunst braucht, um frei zu sein.
Im Jahr 2021 – inmitten der Covid-19-Pandemie – entwickelte die Euro päische Allianz der Akademien ihren ersten Aufruf zur Einreichung von Projek ten zum Thema „Ignorance is Strength? Artistic Expression and Biopower in the Post/Pandemic Age“. Digitale Residenzen boten Künstler*innen der Allianz-Institutionen den Raum, über ihre eigene Praxis nach der Covid19-Pandemie im Kontext aktueller sozialer und politischer Veränderungen nachzudenken.
Alle Arbeiten werden auf der Plattform LOOM Interweaving the Arts in Europe veröffentlicht – ein digitaler Raum, in dem künstlerische Positionen den aktu ellen politischen Herausforderungen gegenübergestellt werden; ein digitales Territorium, das über die lokale Reichweite von Künstler*innen und Institutio nen hinausgeht und künstlerische Praktiken in Europa über Grenzen hinweg „verwebt“.
María José Crespos Videoarbeit Govern Yourself Accordingly ist eine von zehn ausgewählten Positionen (s. Seite 34 und 38–41). Sie zeigt das Zusam menspiel der administrativen, geografischen und psychologischen Auswirkun gen, die die Grenzmauer zwischen den USA und Mexiko hat.
Weitere Informationen zu „LOOM Interweaving the Arts in Europe“: www.loom.allianceofacademies.eu
Weitere Informationen zur Europäischen Allianz der Akademien: www.allianceofacademies.eu
Aleš Šteger
Aleš Šteger, Schriftsteller und Mitglied der Akademie der Künste, stellt die Frage nach politischer Radikalisierung und welchen Ein fluss sie auf die künstlerische Freiheit in Europa hat. Ursprünglich war der Text ein Beitrag zur Jahreskonferenz der Allianz der Akade mien im Dezember 2021. Ein Jahr später hat er seine Aktualität nicht verloren, die durch den Angriffskrieg auf die Ukraine noch verschärft wurde. Aleš Šteger selbst hat ihn durch eine Art Postskriptum kon textualisiert.
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Linke Seite: María José Crespo, Govern Yourself Accordingly , 2022
WIE BEDROHT POLITISCHE RADIKALISIERUNG DIE KÜNSTLERISCHE FREIHEIT IN EUROPA?
Obige Frage ist keineswegs einfach und bedarf einer Reihe erster Klärungen. Die klassische Vorgehensweise von Kriminalromanen auf der Suche nach den Täter:innen besteht darin, am Ende, also am Tatort, anzusetzen und sich von dort langsam an den Anfang heranzuarbeiten. Beginnen wir also am Ende unserer Aufgabenstellung und fragen: Was ist mit dem Begriff „Europa“ gemeint? Ich bin mir bewusst, dass wir uns hier schnell auf unsi cherem Terrain befinden können. Alle ernsthaften Defi nitionsversuche sind bisher gescheitert. Erinnern wir uns nur daran, dass viele Menschen in Westeuropa vor fünf zig Jahren Teile des ehemaligen Sowjetblocks – die bal tischen Staaten, die Ukraine usw. – nicht als Teile Euro pas wahrnahmen, weder wirtschaftlich noch kulturell. Heute sind diese Länder natürlich fester Bestandteil unseres territorialen und kulturellen Europabildes, was dazu führt, dass sich unser Verständnis des Begriffs ent sprechend der aktuellen geopolitischen Stimmung dra matisch verändert. Heute fragen wir uns vorsichtig, ob Belarus, die Republik Moldau, Georgien, Albanien, Bos nien, Serbien, Nordmazedonien und nicht zuletzt Israel nicht auch dazugehören sollten, wenn wir von „Europa“ sprechen. Wir müssen auch weiterhin Fragen stellen, die heute etwas aus der Mode gekommen sind, aber nach 1989 sehr aktuell waren, nämlich: Gehören Sankt Peters burg, Moskau, Istanbul – und nun immer mehr auch Lon don – zu dem, was wir meinen, wenn wir von Europa reden? Auf unsere Fragestellung hat das beträchtliche Auswirkungen, auf die ich hier nicht eingehen werde, aber es ist meines Erachtens wichtig, darüber nachzu denken, wenn wir nach der Kunstfreiheit in Europa fra gen. In unserer Allianz der Akademien jedenfalls denken wir nicht nur an den Schengen-Raum oder die Europäi sche Union, wenn wir von Europa sprechen, und können uns dies auch auf keinen Fall erlauben.
Allein der Stempel „künstlerische Freiheit“ impliziert, dass es für verschiedene Personengruppen unterschied liche Formen von Vorrechten und Freiheiten gibt, je nach dem, wer sie sind und was sie tun. Grundlegende Men schenrechte, die Freiheiten von Kindern, Migrant:innen, Minderheiten, LGBTQ+ und so weiter unterscheiden sich von „künstlerischer Freiheit“. Diese selbst entzieht sich allgemeinen Definitionen; am zutreffendsten ist viel leicht eine Definition der UNESCO (2005) in der Konven tion über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kul tureller Ausdrucksformen. Künstlerische Freiheit wird dort verstanden als „die Freiheit, vielfältige kulturelle Ausdrucksformen auszudenken, zu schaffen und zu ver breiten – ohne Zensur durch Regierungen, politische Einflussnahme oder Druck von nicht-staatlichen Akteur*innen“.
Die Frage der Kunstfreiheit ist notwendigerweise auch eine philosophisch-ethische Frage. Haben wir Künstler:innen das Recht, nahezu alles auszudrücken, ungeachtet der Konsequenzen und potenziellen Kon flikte, die unser Handeln und Schaffen hervorrufen kön nen? Können sich Europa und seine Gesellschaften ein Laboratorium der Freiheiten leisten, in dem Aktionen, Artikulationen und Befragungen zu den schwierigsten Angelegenheiten stattfinden können, die in anderen Kon texten als potenziell fragwürdig, sogar als unangemes sen, manchmal moralisch verwerflich oder für Teile der Gesellschaft als anstößig gelten? Der Fall Charlie Hebdo ist vielleicht das pointierteste und gleichzeitig höchst tragische Beispiel für den Konflikt zwischen unterschied lichen Erfahrungen von Räumen der Freiheit, des Sak
rosankten und Erlaubten unter Angehörigen unterschied licher ideologischer, religiöser und politischer Überzeugungen. Können wir – im sich wandelnden Europa des 21. Jahrhunderts – der Kunst ein autonomes Territorium von Praktiken einräumen, die potenziell anstößig oder kontrovers für diejenigen sein können, die unsere Trennung der Kunst von allem anderen nicht akzeptieren? Die den besonderen Status von Kunst nicht anerkennen und damit auch nicht den unsichtbaren Schutzschild, der die Arbeit der Künstler:innen vertei digt? Können wir uns jede Art von Kunst und damit auch die extremsten künstlerischen Positionen leisten; kön nen wir uns sogar potenziell schädliche Kunst und schlechte Kunst leisten, die manchmal, seien wir ehr lich, das Etikett „künstlerisches Schaffen“ als Deckman tel für Praktiken missbraucht, deren primäres Ziel nicht das künstlerische Schaffen, sondern Propaganda und die Stärkung bestimmter Ideologien ist?
Diese Fälle existieren keineswegs nur in der Theorie. Wir, die wir im Bereich der Kunst tätig sind, wissen, dass die Frage, ob Kunst bedingungslose Freiheit braucht, nicht anders als im Affirmativen beantwortet werden kann. Doch selbst wenn wir die unwiderrufliche Autono mie der Kunst fordern, wissen wir sehr genau, dass die Grenzen unserer Freiheiten in Wirklichkeit meist sehr eng, niedrigschwellig und stark kulturell bedingt sind. Gesellschaftliche Tabus, die Grenzen des guten Geschmacks, das Hinterfragen der neuralgischen Punkte der Gesellschaft, die Aufdeckung von Fällen der Selbst zensur bilden eine mehr oder weniger subtile Front, die einem radikalen Prozess der Selbstprüfung gleichkommt, dessen Errungenschaften sich – so steht zu hoffen – im Lauf der Zeit in eine breitere Gesellschaft einschreiben, die tolerant, offen und lebenswert ist. Eine Gesellschaft, die, um es klar auszusprechen, immuner gegen Hass, Lügen, Intoleranz und ähnlichen Unsinn ist. Wir Kunst schaffenden wissen, dass jede systemische Einschrän kung unserer ohnehin schon oft gefährdeten und gewalt sam eingeschränkten Freiheiten eine Büchse der Pandora öffnen würde, in der jede Gesellschaft und jede Regie rung auf ihre Weise Grenzen setzen und damit einen freien Weg zu systemischer Zensur und zu politischer Verfolgung von Künstler:innen eröffnen könnte.
Die Antwort vieler anderer globaler politischer, wirt schaftlicher, religiöser, technologischer und kapitalisti scher Akteur:innen auf unsere Frage, ob Europa sich ein freies Territorium für die Kunst leisten kann, ist natür lich das Gegenteil von unserer. Dieser offensichtliche Widerspruch zwischen den Vorstellungen von Kunstfrei heit hat sich in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jah ren verschärft. In manchen Bereichen hat sich die Pra xis der generellen Einschränkung künstlerischer Aktivitäten und der offenen Ausbeutung des Kunstbe triebs längst etabliert. Vor Jahren habe ich einen offe nen Aufruf von Künstler:innen aus der ganzen Welt mit unterzeichnet, um die Privatsphäre und die Rechte von Einzelpersonen im Netz zu stärken. So wie wir mit unse rem Aufruf dazu, die Instrumentalisierung des Internets durch Technologiegiganten einzuschränken, nichts erreicht haben, so scheint der Ruf nach Freiheit der Kunst im Internet eine ferne Utopie zu sein – für die es sich zweifelsohne zu kämpfen lohnt. Das beginnt bei der öko nomischen Unterordnung und einem Regelwerk darüber, was bezüglich der oft sehr problematischen Kategorien von politischer Korrektheit und Selbstbeherrschung in der Online-Welt, wenn es um Kunst geht, erlaubt ist und
was nicht. Während Facebook das Posten von Kunstfo tografien griechischer Statuen zensiert, weil sie zu viel Nacktheit zeigen, floriert das Darknet als eine Parallel welt, in der so ziemlich alles erlaubt ist. Unsere westli chen demokratischen Regierungen ermöglichen tech nologisch die Schizophrenie unserer alltäglichen Online-Realität und kofinanzieren sie sogar.
Wenn wir an Bedrohungen der künstlerischen Freiheit in Europa denken, ist der Fokus normalerweise weit ent fernt von der Realität reicher westlicher Gesellschaften.
Die Vorstellungen konzentrieren sich stattdessen auf wenige Beispiele aus hauptsächlich osteuropäischen Ländern, in denen demokratisch gewählte QuasiDiktator:innen systematisch demokratische Prinzipien verbiegen, um ihre eigene Macht und die der herrschen den Eliten zu stärken. Es ist ein sehr gefährliches Phä nomen, bei dem die begründete Angst besteht, dass die Anomalie zur Normalität wird, zu einer Art Prinzip der quasi-demokratischen Herrschaft der Zukunft. Bei die ser durchaus berechtigten Kritik vergessen wir zu schnell die globale Verflechtung der Welt, die Schizophrenie der Politik von Ländern, die nicht dem Vorbild Russlands, Polens oder Ungarns folgen wollen. Kurz gesagt, wir ver gessen allzu oft die pragmatische Ignoranz, den bruta len Egoismus und die Blindheit entwickelter westlicher Demokratien, wenn es um ihre Interessen geht. Die Rechte der künstlerischen Autonomie in Gesellschaften, in denen die Grundrechte gefährdet sind und in denen wir mit dem Zerfall von Demokratie und Pluralismus kon frontiert sind, werden im Grunde zu Kollateralschäden –eine vielfach als zynisch wahrgenommene Praxis.
Ökonomische Gier, koloniale Überlegenheit, ein gerin ges tiefer gehendes Wissen von interkultureller Vielfalt europäischer Kulturen und eine häufig mangelnde Bereit schaft, Integration zu stärken und lokale politische Machthaber:innen zu entwaffnen, machen Europa zu einem selbstzerstörerischen Monster, das allzu oft genau diese Praktiken zulässt, von denen es befürchtet, dass sie zur zukünftigen Norm werden. Vor einiger Zeit habe ich mit einem erfahrenen europäischen Politiker gespro chen. Er bewegte seinen Finger in abschlägiger Geste und meinte: Mehr als ein solches Zeichen würde Europa nicht leisten, wenn das nächste Mal ein europäischer Staatschef eklatant gegen die Regeln des europäischen Rechts, seine Vereinbarungen und die Rechte der Men schen einschließlich der Künstler:innen verstoße. Ich erinnere mich oft an diesen Moment; der Mann stammte aus einer pro-europäischen, liberalen Region und hatte, wie gesagt, jahrzehntelange diplomatische Erfahrungen, aber seine Erkenntnis war ziemlich bitter. Ob wir ihm nun zustimmen oder nicht, ich denke, es ist unbestreitbar, dass die größte Bedrohung für Europa Europa selbst ist, es hat die Samen für die derzeitige Situation und ihre möglichen Lösungen gesät.
Kehren wir abschließend zur Ausgangsfrage der poli tischen Radikalisierung vieler europäischer Länder zurück. Die Radikalisierung selbst ist natürlich nicht Ursache, sondern Folge eines langen Prozesses. Damit Radikalisierung überhaupt stattfinden kann, muss ein Boden vorhanden sein, der fruchtbar ist für Unzufrie denheit und Rebellion, ungelöste Traumata aus der Ver gangenheit und für die Unfähigkeit, die eigenen Zukunfts möglichkeiten im Rahmen positiver europäischer Werte zu erkennen. Anders als bei anderen klassischen totali tären Regimen, politischen Putschen und gewaltsamen Staatsübernahmen zeigt sich hier eine Radikalisierung
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des Verständnisses demokratisch gewählter Machtsys teme, die mit äußerst vagen juristischen Auslegungen und vereinbarten Rahmenbedingungen der Gründer:innen Europas einhergeht. Die neuen Generationen osteuro päischer Führer:innen, die nur aus Schulbüchern von der Bedrohung durch den Krieg, seinen Schrecken und Ver wüstungen erfahren haben, treten zu oft öffentlich und in den Medien auf, ohne dass ihre historisch ungenauen Aussagen korrigiert werden. Im Gegenteil, sie nutzen die Neuinterpretation historischer Fakten und vermeintli cher historischer Ungerechtigkeiten als zentralen Impuls für eine Aktivierung der Massen. In den Agenden dieser Politiker:innen existieren historische Traumata, um benutzt und missbraucht zu werden. Das sind populis tische Strukturen, die von der Demokratie gelernt haben, dass es mit einem mächtigen juristischen Apparat und einer demokratisch gewählten Parlamentsmehrheit mög lich ist, alles demokratisch zu verändern, auch die Prin zipien der Demokratie selbst – und die Prinzipien der Freiheit. Das sind perfide amoralische Praktiken, die in Gesetzen und gesetzgeberischen Maßnahmen offiziell sanktioniert werden. Für jede Beschneidung oder Ent rechtung bestimmter sozialer Gruppen gibt es einen ent sprechenden Erlass, eine Verordnung oder ein Gesetz sowie das gesetzliche Beschwerderecht, das jedoch zum Scheitern verurteilt ist.
Die Koexistenz gegensätzlicher Ansichten und die systemische Unterstützung oft diametral entgegenge setzter ideologischer und künstlerischer Perspektiven, die in der Regel in der überwiegenden Mehrheit der euro päischen Länder von den 1990er-Jahren bis zur Wirt schaftskrise von 2007 präsent waren, waren starkem internen Druck und politischen Spaltungstendenzen aus gesetzt, mit einem zunehmenden Mangel an Toleranz und Verständnis zwischen den gegnerischen Seiten. Die Brutalität des einfachen Gesetzes ist: Wenn du nicht unseren Weg einschlägst, sondern den Mittelweg, dann bist du unser Feind. Der Weg der freien Wahl ist immer weniger gangbar, und der systemische Zwang zur Kor ruption und das Kaltstellen frei denkender und kreativer Menschen ist angesichts der bürokratischen Perfidie und des Schweigens der Medien durch die Opposition schwer zu beweisen. Verschiedene Formen der Einschüchte rung, die Umverteilung staatlicher Gelder an die eige nen Unterstützer:innen, die Einschränkung öffentlicher Meinungsäußerungen, die Ausgrenzung von Gegner:innen im öffentlichen Raum, gelegentliche Hexenjagden und die Abschaffung der Versammlungsfreiheit unter ver schiedenen Vorwänden, üble Nachrede, ständige Aus nahmezustände, Notstandsmaßnahmen und radikale Propaganda – all das haben wir schon erlebt, und ange sichts der Wiederholung vor unseren Augen sind wir wie der einmal machtlos.
Zu den grundlegenden Postulaten der UNESCO bezüglich der künstlerischen Freiheit gehören das Recht, ohne Zensur oder Einschüchterung zu arbeiten, das Recht auf Förderung, Verbreitung und Vergütung künst lerischer Arbeit, das Recht auf Freizügigkeit, das Recht auf Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Schutz sozialer und wirtschaftlicher Rechte, das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben. All dies wird zunehmend zu Rauch in den Augen derer, die noch an Märchen glauben.
Auch wenn wir nicht an Märchen glauben, sondern an Kriminalromane und mit ihnen daran, dass es kein per fektes Verbrechen gibt und selbst die geschicktesten Täter:innen die Spuren übersehen können, die sie
schließlich verraten werden, ist es unbestreitbar, dass wir alternative Formen der Unterstützung für die Schwächsten schaffen müssen. Wenn ein Land schei tert – und jedes Land kann scheitern, aus Slowenien weiß ich das so gut wie Sie aus Deutschland oder ande ren Ländern –, dann brauchen wir ein Europa, das funk tioniert. Es gibt keine andere Freiheit als die, die erkämpft und bewahrt wurde, und in diesem Lichte sehe ich unser Beisammensein hier und unsere gemeinsamen Bemühungen.
POST SCRIPTUM
Die Herausgeber:innen des Journals der Künste haben mich gefragt, ob ich den obigen Text angesichts der geo politischen Veränderungen vom 24. Februar 2022 aktu alisieren möchte. Ohne Zweifel wird die russische Ag gression gegen die Ukraine unser Denken über Europa, über Demokratie sowie Schöpfungs- und Redefreiheit für die kommenden Jahrzehnte bestimmen – und darü ber hinaus über die geopolitische Teilung der Welt und über die Konstruktion einer europäischen Identität in der Zukunft. Der Krieg in der Ukraine hat den Traum von einer einzigen, interdependenten und vernetzten Welt beendet und unseren Planeten in die politischen, wirt schaftlichen und kulturellen multipolaren Spaltungen des Kalten Krieges zurückversetzt. Gleichzeitig defi niert er den Horizont unseres Denkens mit all den ethi schen Fragen und den modernen Formen der geostra tegischen Kriegsführung, in denen Medien, Kultur und Kunst eine Schlüsselrolle spielen. Wenn wir über Fra gen europäischer Identitäten und künstlerischer Frei heiten nachdenken, haben wir insgeheim das Gefühl, dass wir dies nicht tun können, ohne gleichzeitig in un seren Köpfen – und selbstredend in unserer Kunst –Krieg zu führen. Aus heutiger Sicht scheint es praktisch unmöglich, von „künstlerischer Freiheit“ zu sprechen, da jedes Kunstwerk notwendigerweise kontextualisiert wird durch die Schatten eines Angriffskrieges, durch das Schicksal von Tausenden von Toten und Millionen von Vertriebenen auf der Flucht. Gleichzeitig spüren wir nur sechs Monate nach Kriegsausbruch die Erschöpfung und Ermüdung des Kriegsnarrativs in den europäischen Gesellschaften, wo der Krieg in der Ukraine nicht zu letzt die Sorge um den Erhalt unseres eigenen Wohl stands und unserer neokolonialen Privilegien weckt. Diese Sorge könnte sich als Schlüsselelement in den Strategien derer erweisen, die andere radikalisieren und die Idee eines kohärenteren und autonomeren Europas schwächen wollen. Innerhalb der neuen Spaltungen kämpfen wir Künstlerinnen und Künstler nicht nur um den Erhalt unserer fragilen, oft illusorischen oder gar utopischen Autonomien, sondern sind gezwungen, den Kampf um die Bedingungen freien künstlerischen Schaf fens überhaupt in die Zukunft zu führen.
Aus dem Englischen von Nora Kronemeyer
ALEŠ ŠTEGER lebt als Schriftsteller in Ljubljana. Er veröffentlichte zahlreiche Lyrikbände, Romane und Essays, die in mehr als 20 Sprachen veröffentlicht wurden. Auf Deutsch zuletzt erschienen der Gedichtband Über dem Himmel unter der Erde (Hanser, 2019), Logbuch der Gegenwart: Aufbrechen (Haymon, 2019), Gebrauchsan weisung Slowenien (Piper, 2022) und der Roman Neverend (Wallstein, 2022). Zu seinen Aktivitäten zählen außerdem verschiedene Projekte mit Musikern (Vito Žuraj, Jure Tori), bildenden Künstlern (Stojan Kerbler) und Filmemachern (Peter Zach und der Film Beyond Boundaries ).
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Ich befinde mich in einem Auto und fahre über eine Straße, die durch einen Zaun geteilt ist. Ich weiß nicht, wessen Auto das ist und warum diese Person mich durch das eingezäunte Land fährt. Ich bin misstrauisch und fühle mich zugleich mitschuldig. Ich sehe ein rotes Gebäude mit einem kreisförmigen Logo. Auf sei ner Rückseite sind schwarze Buchstaben auf grünem, weißem und rotem Grund abgebildet. An der Außenwand des Gebäudes sind die Farben verblasst. Das hässliche Grün wurde durch verschiedene Farbverläufe ersetzt, die wie aus gebrannte Objekte aussehen. Die Wand befindet sich in direkter Nähe zu der Metallwand, und in ihrem Zwischenraum existiert eine belebte Transitzone namens La Internacional, in der ständig wichtige Geschäfte gemacht werden. Es gibt kein Land mehr, wohin man gehen könnte, aber es gibt ein fortwähren des Werden an den Grenzen und ein gemeinsames Gefühl der Orientierungs losigkeit. Wir haben es zu schätzen gelernt, unsere Sachen zu Asche verbren nen zu sehen. Es ist ein ungutes Gefühl.
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GOVERN YOURSELF ACCORDINGLY
María José Crespo
Digitales Drei-Kanal-Video, 7:23 Min., 2022
María José Crespos essayistische Videoinstallation untersucht am Beispiel ihrer Heimatstadt Tijuana, Mexiko, Grenzzonen als Mög lichkeitsräume. Dazu hat sie verschiedene Stimmen, gesammelte Bilder aus dem Internet, Überwachungsaufnahmen von der Grenze zwischen Tijuana und San Diego, Auszüge aus einem Polizei-Chat, tägliche Updates über Wechselkurse, Beobachtungen und Erzäh lungen aufeinander bezogen. Die folgenden Seiten zeigen einen Ausschnitt dieser Arbeit
Die Stofflichkeit der alltäglichen Spuren von Menschen in den Grenzgebieten bilden eine Erweiterung miteinander ver wobener Körper: Objekte, Erinnerungen und Gefühle kolli dieren mit den sie verwaltenden Strukturen und Gesetzen.
Angefangen hat es mit einer nicht-existenten Linie –imagi när, umstritten, verhandelt, aufgezeichnet und doch unauf findbar. Dann blutig, friedlich, nützlich, verwaltet, industria lisiert, lustig, sexualisiert, schmuggelnd und gewalttätig.
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Der Sucher, durch den wir blicken, flackert ständig auf mit neuen Währungen: Es ist unmöglich zu erfassen, wie sich diese Ereignisse wohl entwickeln und stabilisieren.
Unverzeihliche Umgebungen. Die vielen Schichten der Stadt sind verborgen und in Sichtweite.
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Eine Grenze ist ein Ort der Begrenzung und ein Transitraum. Sie ist auch Fiktion. Ihre Verwaltung macht alle zu Zeug:innen, zu Co-Pilot:innen im Wagen der Grenzpatrouille: Kollaborateur:innen, die Tag und Nacht vor den Übergängen performen.
Durch diese Bilder betrete ich die Stadt. Ich weiß, was mich erwartet, wohin ich nicht treten soll, wem ich nicht Hallo sagen darf oder wann ich mir Sor gen machen muss. Ich wachse unter der Haut der Orte, die ich bewohne; dieser Ort wird zum Raum, in dem ich mich befinde und andere mich er reichen können.
MARÍA JOSÉ CRESPO schloss ihren BA in Bildender Kunst an der Universidad Autónoma de Baja California in Tijuana und ihren MA in Bildender Kunst am Piet Zwart Institute in Rotterdam ab. In ihrer Arbeit untersucht sie, wie sie als Frau bestimmte Grenzen bewohnt und was dabei zurückbleibt: Einblicke und Spuren, die administrative Mächte in undefinierten Territorien hinterlassen.
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THE OTHER SIDE David at Grove Street ,
1972
Boston,
GOLDINS HOMMAGE AN DIE SCHÖNHEIT DER ANDEREN
Nan Goldin, Berlin, 1992
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43 JOURNAL DER KÜNSTE 19
NAN
„Dies ist ein Buch über die Schönheit. Und über die Liebe zu meinen FreundInnen.“
Colette modeling in the Beauty Parade , Boston, 1973
Anke Hervol
The Other Side ist der Titel eines Buches, das die USamerikanische Fotografin Nan Goldin 1992 während ihres Aufenthalts beim Berliner Künstlerprogramm des DAAD als Hommage an ihre glamourösen QueenFreund*innen veröffentlichte. 1 The Other Side war eine der zentralen Bars in Boston, in der sich zwischen 1965 und 1976 die homosexuelle Szene, Drag-Queens, Trans sexuelle, Zuhälter*innen und Straßenkinder trafen, ein Ort der Freiheit für gesellschaftliche Außenseiter*innen. 2 Der Fotograf David Armstrong und Nan Goldin lernten sich in den späteren 1960er-Jahren in Boston kennen, begannen bereits im Teenageralter einander und ihre Freund*innen zu fotografieren, später lebten sie gemeinsam in der Bostoner Szene. 3 1972 begegnete Nan Goldin als Achtzehnjährige erstmals einer Gruppe von Drag-Queens – Ivy, Naomi, Colette – und war von deren Schönheit so fasziniert, dass sie ihnen mit ihrer Super-8-Filmkamera folgte. Auch ihr Freund David Arm strong kleidete sich damals in Frauenkleider – eine Obsession, die beide seitdem fesselt.
The Other Side wurde zum Treffpunkt des neuen Freundeskreises, bereits die erste Nacht in der Bar bedeutete einen Neuanfang für Nan Goldin. Sie verliebte sich in Ivy, zog mit ihr und einer Freundin für zwei Jahre zusammen und teilte mit ihnen das Gefühl des QueenSeins. Die Faszination für die Schönheit ihrer Freund*innen, den Glamour bei den Shows und Para den, die mutigen Lebensentwürfe, die auch von den meisten männlichen Homosexuellen nicht akzeptiert wurden, drückte Nan Goldin in ihren Bildern aus; die Besonderheit daran war, dass die junge Fotografin die Schönheit und Menschlichkeit der Porträtierten zeigte – unabhängig von deren Geschlecht. 4 Respektvoll fing sie mit ihrer Kamera ein Lebenskonzept von hohem Gefahrenpotenzial ein, drang mit der Kamera weit ins Innere der Menschen vor und kehrte die kreativen Fan tasien der Freund*innen nach außen. Die geschlecht liche Zuordnung spielte keine Rolle – sie waren eben andere, Andersdenkende und Andersfühlende, reprä sentierten „ein drittes Geschlecht“ mit unterschiedli chen geschlechtlichen Identitäten und Lebensmodel len, die neue familienähnliche Strukturen schufen. Viele von ihnen verfolgten nie das Ziel, eine Frau zu werden.
Ebenso wenig waren alle, die sich für den transsexuel len Weg und eine Geschlechtsumwandlung entschieden hatten, glücklich, diesen Weg gegangen zu sein. In The Other Side beschäftigt sich Nan Goldin explizit mit der Frage der sexuellen Freiheit für Menschen, deren Sehn süchte nicht zu klassifizieren sind. Mit ihren Fotogra fien gab sie Außenseiter*innen, Erwerbslosen, Prosti tuierten und Straftäter*innen eine Stimme in der Gesellschaft – und insbesondere eine Öffentlichkeit. 5
Bei Nan Goldin haben sich aus diesen frühen Erfah rungen mit sexueller Freiheit aber auch familiäre Struk turen entwickelt, die sie selbst „Familie von Freunden“ nennt. 6 Die Bedürfnisse nach einem Schutzraum, nach Geborgenheit, aber auch nach intimem Zusammenle ben sind ein fester Bestandteil dieser Art des Familien modells, ohne dass klassische Rollenbilder festgelegt würden.
Die Begeisterung für Drag-Queens kehrte im New York der beginnenden 1990er-Jahre wieder, begleitete Nan Goldin nach Berlin und brachte sie 1992 auch nach Manila und Bangkok, wohin sie Jürgen Brüning zu Filmar beiten begleitete. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Foto grafen David Armstrong, und dem Schweizer Journalisten
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Misty and Jimmy Paulette in a Taxi , 1991
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Walter Keller (beide 2014 verstorben) veröffentlichte sie in Berlin 1992 Die Andere Seite / The Other Side . Die dank David Armstrong und Bruce Balboni erfolgte Wie deraufnahme ihrer fotografischen Auseinandersetzung mit den Queens Anfang der 1990er-Jahre in New York entstand unter neuen Blickwinkeln: Nan Goldin war lebens- und werkerfahrener, älter, und die Drag-Queens erfreuten sich innerhalb der LGBT-Community einer höheren Akzeptanz. Die Fotografin wandelte mit ihrer Kamera gemeinsam mit selbstbewussten Queens zwi schen temporärer theatraler Kostümierung und Lebens entwürfen, die sich zwischen den Geschlechtern und in geschlechtsfreien Zonen bewegten. Die Bilder in The Other Side sollten bewusst Menschen vorstellen, die nach neuen Modellen lebten und Grenzen überwanden. Nan Goldin schließt ihre Einführung mit den Worten: „Die Menschen auf meinen Fotos sind wahrhaft revolu tionär. Sie sind die echten Gewinner im Kampf der Geschlechter, weil sie die Arena des Kampfes ganz ein fach verlassen haben.“ 7 Fraglos hat diese Erkenntnis nichts an Aktualität verloren.
1 Nan Goldin, Die Andere Seite , Berlin 1992, anlässlich der Ausstellung „Na n Goldin 1971 –1992“, daa dgalerie Berlin, 8.9.–4.10.1992, Zitat in der Überschrift, S. 5, fortan Goldin 1992.
2 Die Geschichte der Bostoner Gay Bars geht zurück bis in die 1920er-Jahre. Historisch gesehen waren es Orte, an denen sich die LGBTQ-Personen trafen, amüsierten, Informationen austauschten, über politische und ge sellschaftliche Ereignisse diskutierten und Kontakte knüpfen konnten, ohne sich in Gefahr zu begeben. Es waren Orte, an denen ein breites Spektrum an sozialen, politischen und aktivistischen Bedürfnissen erfüllt wurde.
3 Die Matthew Marks Gallery widmete 1994 in New York die ser Freundschaft die Ausstellung „ Nan Goldin and David Armstrong. A Double Life“. Walter Keller und Hans Wer ner Holzwarth produzierten zu diesem Anlass im glei chen Jahr das Buch Nan Goldin, David Armstrong. Ein doppeltes Leben im Scalo Verlag.
4 Gol din 1992, vgl. Anm. 1, S. 5.
5 Es handelt sich um einen Straftatbestand im Sinne der bis ins beginnende 21. Jahrhundert in vielen US-amerikani schen Bundesstaaten geltenden gesetzlichen Regelun gen. Erst unter der Präsidentschaft Barak Obamas konn ten wirksame Schritte gegen die Don’t ask, don’t tell -Politik auf den Weg gebracht werden. Akzeptanz und aktive Durchsetzung der LGBT-Antidiskriminierungsvor schriften im Arbeits- und Zivilrecht sind bis heute in vie len Bundesstaaten umstritten. Während der Equality Act 2021 mit knapper Mehrheit im 117. Kongress verabschie det wurde, steht eine Entscheidung durch den Senat nach wie vor aus.
6 The Ballad of Sexual Dependency (1986) ist Nan Goldins visuelles – als solches öffentliches – Tagebuch und existiert als Videotape und als multimediale Präsenta tion mit rund 700 Diapositiven und einer Tonspur.
7 Gol din 1992, vgl. Anm. 1, S. 8.
ANKE HERVOL ist Sekretär der Sektion Bildende Kunst der Akademie der Künste.
Nan Goldin erhält den Käthe-Kollwitz-Preis 2022 und wird eine Auswahl ihrer Werke aus fünf Jahrzehnten ab dem 20. Januar 2023 in der Akademie der Künste am Hanseatenweg ausstellen.
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Jimmy Paulette on David's Bike , NYC, 1991
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Ein Kommentar von Helmut C. Schulitz
Gegen einseitige kriegerische Expansionsstrategien aggressiver Autokraten kann man in einer Welt globa ler Abhängigkeiten nicht mehr um der eigenen Sicher heit willen militärisch aufrüsten, ohne dabei auch die Folgen für das Klima und damit für das Leben und Über leben weltweit im Blick zu haben. Kriege und Aufrüs tungen beschleunigen den kaum noch aufzuhaltenden Klimawandel, der ohnehin schon Naturgewalten erzeugt, die Teile dieses Planeten unbewohnbar machen und die zerstörerischer sein werden als Kriege. Das Ahrtal, Ban gladesch, Pakistan und Australien sind nur Vorboten sol cher Naturkriege, die durch Dürren, Feuer- und Flutkata strophen von Jahr zu Jahr mehr Menschenleben fordern. Jede zusätzliche Verschwendung von Energie und Res sourcen, wie die der Zerstörung der Städte und der Pro duktion von Waffen, beschleunigen diese Entwicklung.
Es sollte vor allem darum gehen, Strategien zu ent wickeln, die den Ukraine-Krieg schnellstmöglich been den. Eine Investition von 100 Milliarden Euro in die Auf rüstung, um sich langfristig gegen einen Angriff zu sichern, falls sich der Krieg auch auf den Westen aus weiten könnte, hilft der Beendigung des Krieges in der Ukraine nicht, sondern eher der deutschen Industrie und der Schaffung neuer Arbeitsplätze hierzulande. Nach der langen Zeit des friedlichen globalen Miteinanders aller Industrieländer mag man eine solche Aufrüstung eine „Zeitenwende“ nennen, doch es ist weniger der Beginn einer neuen Ära als eine Rückkehr zu einer Denk weise, sich mit Gewalt gegen Gewalt zu verteidigen. Man stellt sich damit auf eine Stufe mit dem Aggressor.
Nicht eine solche „Zeitenwende“ ist heute das zen trale Problem der Menschheit, sondern die Klimawende. Die Politik hat das Problem längst erkannt, scheut sich aber, den Zielkonflikt zwischen Aufrüstung und Klima rettung zu sehen. Sie sieht vor allem in der Baubranche und im Straßenverkehr das Problem des Klimawandels, nicht aber in der Rüstungsindustrie. So hat das Bun desinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung eine Studie über den Umweltfußabdruck von Gebäuden in Deutschland publiziert, in der es um die Auswirkungen der „Errichtung und Nutzung von Gebäuden auf Klima und Umwelt geht. 1 Es wäre jedoch im Sinne der Klima rettung mindestens ebenso wichtig, wenn auch das Ver teidigungsministerium eine Studie über den „Umwelt fußabdruck von Panzern“ und die Auswirkung von Herstellung und Nutzung auf Klima und Umwelt in Auf trag gäbe. Parallel dazu beschließt die EU, dass von 2035 an keine Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren mehr produziert und zugelassen werden dürfen, doch Panzer, die mit einem Verbrauch von 300 bis 500 Liter Diesel auf 100 km fahren, bleiben voraussichtlich von dieser Bestimmung unberührt.
Im Baugewerbe ist man bemüht, das Material auf
erneuerbare Baustoffe umzustellen und setzt Holz statt Stahl und Beton sogar bei Hochhäusern ein. In der Pro duktion von Waffen wird es nie um den Einsatz erneu erbarer Rohstoffe gehen können. Das hat schon How ard Hughes mit seinem Flugzeug aus Holz, der Spruce Goose, gezeigt, als Metalle im Zweiten Weltkrieg knapp wurden. Die Spruce Goose kam über ihren Jungfernflug nicht hinaus. Der Versuch, Panzer aus erneuerbaren Rohstoffen wie Holz zu bauen, wäre noch unrealisti scher. Auch Panzer, die schon jetzt mit einem Gewicht von 40 bis 60 Tonnen fahren, mit kaum noch einzubau enden, leicht brennbaren Batterien umweltfreundlich elektrifizieren zu wollen, wäre völlig absurd. Ebenso würde jeder Versuch, Waffen in ihrer Effizienz zu ver bessern, lediglich ihre zerstörerische Potenz erhöhen und stünde damit dem Klimaschutz noch mehr entge gen. Auch dass alle Waffensysteme, die heute mit gro ßem Aufwand an Material und Energie produziert wer den, angesichts eines schnellen technologischen Fortschritts schon in wenigen Jahren zur Verschrottung anstehen, widerspricht den Klimazielen.
Bei jeder Aufrüstung sollte man sich vergegenwärti gen, dass die Einhaltung der Klimaziele ohne Krieg und Aufrüstung schwierig genug ist, denn der Klimawandel verlangt eine Bereitschaft der Menschen, auf viele Errungenschaften des täglichen Lebens zu verzichten. Doch in unserer Überflussgesellschaft scheinen Eigen interessen und Bestandswahrung noch immer den Vor rang zu haben. Auch alternative Strategien zur zukünf tigen Sicherheit der Deutschen im Kriegsfall werden nicht erst lange eruiert, sondern Ressourcen für Waf fen in Höhe von 100 Milliarden Euro sofort locker gemacht.
Eine solche Investition muss schon deshalb kritisch gesehen werden, weil es nicht mehr nur darum geht, den Klimawandel aufzuhalten, sondern darum, das Leben in Zeiten des Klimawandels sicherer und erträglicher zu machen. Auch dafür müssen Ressourcen und Energie mobilisiert werden. Wir sind uns längst bewusst, dass Regenwasser, das in Form von Starkregen Landschaf ten und Städte verwüstet, nicht mehr über Flüsse in die Meere kanalisiert werden darf. Es ist ein notwendiges Gut, das als Grundwasser Leben und Landwirtschaft ermöglicht und Dürren entgegenwirkt. Vorkehrungen wie die Renaturierung der Flussläufe, überflutungsgerechte Konstruktionen, Einlaufbauwerke, Rückhaltebecken und unterirdische Versickerungssysteme sind Baumaßnah men, die zukunftsweisender sind als Investitionen in militärische Aufrüstungen.
Die Einstellung zu Kriegen hat sich seit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg grundlegend geändert. Damals sah man sie noch als notwendig an, man hatte keine Bedenken im Hinblick auf das Klima. Der englische
Architekturhistoriker Martin Pawley konnte sich noch darüber aufregen, dass für Architekten und Planer galt, „Bombers are the plan’s best friend“, und dass ein Eng länder schrieb: „This time is now better … We have …, thanks to German bombers, a much greater opportunity for physical reconstruction.“ 2 Doch schon damals posi tionierten sich Architekten auch gegen den Krieg. Frank Lloyd Wright überwarf sich sogar mit seinem Bewunde rer, dem Historiker Lewis Mumford, der sich für den Ein tritt der USA in den Zweiten Weltkrieg stark gemacht hatte. Für Wright war „Krieg nur die Negation aller Mög lichkeiten“ und, historisch gesehen, „eine Krankheit, die eine Kultur nach der anderen zu Fall gebracht hat, weil sie Gewalt mit Gewalt begegnete“. 3 Heute wird kein Architekt mehr begeistert Zerstörung als eine Chance für moderne Rekonstruktion sehen, im Gegenteil wirbt nicht nur der BDA mit seinem Programm „Das Haus der Erde“ für ein umweltverträgliches Bauen. 4
Mit Rücksicht auf das Klima kann es heute nur noch darum gehen, Kriege und Aufrüstung grundsätzlich zu stoppen. Doch die Zahl der gescheiterten Ansätze ist hoch. Schon nach dem Zweiten Weltkrieg meinte man, dass internationale Konflikte ebenso wenig mit Waffen wie mit einer Beschwichtigungspolitik ( appeasement ) gelöst werden sollten, wie England und Frankreich es lange gegenüber Hitler versucht hatten. Schon damals ließ es sich nicht verhindern, dass der vorgebliche Gebietsanspruch auf einen Korridor nach Danzig, um die Trennung Deutschlands von seinen Ostgebieten (Ver sailler Vertrag) aufzuheben, einen Weltkrieg auslöste.
Diese Erfahrungen mündeten in die Strategie, Welt kriege zukünftig zu verhindern, indem Verhandlungen nur noch durch die Vereinten Nationen geführt und so Kon flikte weltweit durch den UN-Sicherheitsrat gelöst wer den sollten. Das hätte eine echte Zeitenwende bedeutet: nicht Aufrüstung, sondern Abrüstung. Doch die guten Intentionen scheiterten an einer Fehlkonstruktion der UNO, dem Vetorecht. Seit dem Bestehen des Sicherheits rats sind Beschlüsse schon mehr als 200-mal an diesem Vetorecht gescheitert. Doch nie war diese Absurdität so offensichtlich wie beim Ukraine-Krieg. Man hatte sich nie vorstellen wollen, dass eine der fünf Vetomächte selbst der Aggressor sein würde, der mit seinem Angriffs krieg die gesamte Welt ins Chaos stürzt. Nie war eine Änderung des Vetorechts dringender, denn die Ziele der Weltgemeinschaft von Milliarden von Menschen sollten nicht durch die Egozentrik eines einzigen Menschen zunichte gemacht werden können. Erst durch die Hand lungsunfähigkeit der UNO bekam Putin freie Hand, um seine imperialistischen Ziele umzusetzen, denn die Ver einten Nationen waren zum Zusehen verdammt.
Kriege werden geführt, wenn eine Seite glaubt, ihre Ziele durch militärische Überlegenheit durchsetzen zu
46 ZEITENWENDE
KONTRA KLIMAWENDE?
können. Vorzeitig beenden lassen sie sich, sobald die militärischen Ressourcen beider Seiten ausgeglichen und sie dadurch zu Verhandlungen gezwungen sind, oder aber, wenn eine Übermacht einzugreifen droht. Ohne das Veto Russlands hätte die UNO das Recht gehabt, diesem Krieg Einhalt zu gebieten. Auch die NATO erkannte zu spät, dass US-Präsident Joe Biden diesen Krieg hätte verhindern können, wenn er nicht die Zusi cherung gegeben hätte, nicht einzugreifen. Nur Tage später begann der Einmarsch in die Ukraine.
Man hielt sich jedoch an das Versprechen und an internationale Abkommen, auch weil man nach Putins Drohungen befürchtete, der Krieg könne sich zu einem dritten Weltkrieg ausweiten. Doch der ist durch globale Abhängigkeiten bereits eingetreten und hat die NATOGrenzen längst überschritten. Es ist ein globaler Welt wirtschaftskrieg, denn Menschen in ärmeren Regionen werden nicht durch Bomben und Raketen sterben, son dern durch Hunger. Länder werden nicht mehr zerstört, sondern weltweit durch Rohstoff- und Energieengpässe wirtschaftlich und sozial destabilisiert.
Wir täuschen uns, wenn wir meinen, dass wir nur in die Zeiten des Kalten Krieges zurückversetzt wurden. Tatsächlich befinden wir uns bereits in einem neuen, komplexen und terroristischen, heißen Krieg. Um ihn zu beenden, bedarf es völlig neuer Strategien, die keine Relation mehr zu den Auseinandersetzungen der Ver gangenheit haben. Die Strategie, diesen Krieg nicht durch Waffen, sondern durch Sanktionen zu beenden, war richtig. Doch die globalen Abhängigkeiten lassen diese Strategie durch unterschiedliche wirtschaftliche Interessen der Länder immer weniger zielführend erscheinen. Ein solch irrationaler Wirtschaftsweltkrieg ließe sich nur beenden, wenn ein Konsens aller betrof fenen Staaten erzielt würde. Das aber könnte nur noch auf internationaler Ebene mit Zugeständnissen auf allen Seiten und unter dem Druck der UNO verhandelt wer den. Dafür müsste allerdings zuerst das Vetorecht gekippt werden. So lange sich nicht einmal Eckpunkte für Verhandlungen aller betroffenen Länder formulie ren lassen, ist ein umweltverträgliches Kriegsende kaum noch erreichbar. Nur wenn die westlichen Länder erken nen, dass es um sehr viel mehr geht als um die Rettung der Ukraine, und bereit sind, statt Forderungen nach langfristiger Aufrüstung all ihre vorhandenen Waffen zu mobilisieren, um der Ukraine eine der russischen Über macht ebenbürtige Kriegsführung zu ermöglichen, lie ßen sich die Folgen für das Klima in Grenzen halten.
Doch auch das wird schwierig, denn es geht nicht mehr um einen konventionellen Krieg. Putin hat längst erkannt, dass Russland Gewinne durch „autonome“ elektronisch gesteuerte Raketen erzielen kann, die von eigenem Terrain über 200 bis 500 km zielgenau Infra
struktur und ganze Städte ausradieren können. Damit hat sich dieser Krieg zu staatlich sanktioniertem Terro rismus entwickelt. Der Einsatz konventioneller Mittel wie Panzer und Bodentruppen dient nur noch dazu, die zerstörten Städte und Landgewinne zu besetzen. Nur wenn auch der Ukraine Mittel zu Verfügung gestellt wer den, mit denen sie russische Infrastrukturen und Abschussrampen auf russischem Terrain wie auch Kriegsschiffe vor ihren Häfen zielgenau über weite Dis tanzen ohne Einsatz von Truppen zerstören kann, wird sie in die Lage versetzt, auf Augenhöhe mit Putin agie ren und letztendlich auch verhandeln zu können, um die sen Krieg zu beenden.
Die symbolische Geste der EU einer potenziellen Auf nahme der Ukraine müsste als ersten Schritt zu einer Gleichstellung des Landes mit Russland führen. Doch die bisherige Unterstützung der EU von rund zwei Mil liarden Euro ist nur ein Bruchteil dessen, was Deutsch land in die eigene NATO-Sicherheit investiert. Sie bestä tigt Putin nur, dass seine Strategie, durch Drohungen Angst zu verbreiten, erfolgreich war. Das könnte ihn sogar veranlassen, nicht nur die Ukraine auszulöschen, sondern auch die angrenzenden Nicht-Nato-Länder zu unterwerfen. So könnte er Russland an die Grenze Polens, der Slowakei, Ungarns und Rumäniens verschie ben. Es geht daher jetzt darum, durch ein Zusammen wirken aller Länder des Westens diesen Expansions wahn zu stoppen, bevor es zu spät ist. Es ist dringend geboten, dass Politiker aller Länder dieses Planeten, die von diesem Weltwirtschaftskrieg betroffen sind, sich gemeinsam positionieren, um die für den Krieg Verant wortlichen sofort vor ein internationales Strafgericht zu bringen, um einen Beitrag zu leisten, den Krieg zu been den. Das muss jedoch jenseits jeglichen Vetorechts und langwieriger juristischer Vorgehensweisen geschehen, denn es ist wenig zielführend, wenn Institutionen wie die UNO Völkermorde und terroristische Aggressionen erst nach Ende der Verbrechen dokumentieren, um spä ter einmal einen terroristischen Präsidenten vor Gericht zu stellen. Für die Millionen kriegsgeschädigter und zum Teil ermordeter Ukrainer ist es zu spät, wenn ein politi scher Massenmörder erst Jahre nach seinen Verbrechen verurteilt wird. Das hat schon der Prozess des ersten jemals verklagten ehemaligen Staatsoberhauptes, Slo bodan Milošević, gezeigt, dessen Prozess sich nach vier Jahren durch den Tod des Angeklagten erledigte. Han deln muss die Weltgemeinschaft, bevor es zu spät ist, denn sonst wird das weltweite wirtschaftliche und kul turelle Zusammenwirken aller Länder in einer Spaltung zweier sich bekriegender, globaler Halbwelten enden, und sich jedes Bemühen gegen den Klimawandel erüb rigen. Zur Zeit scheint nur Kiew allein einen Prozess gegen Putin anzustreben.
Es ist zwingend notwendig, dass allen Ländern die Sinnlosigkeit des Ukraine-Krieges deutlich wird, und sogar China im Hinblick auf Taiwan begreift, dass Kriege sich trotz eigener militärischer Überlegenheit nicht loh nen. Dies könnte auch andere Kriegstreiber zur Räson bringen und dazu beitragen, dass dieser unsinnige Krieg zum letzten auf unserem Planeten wird. Sicherlich würde es auch den in Deutschland vom Militär, der Politik und der Waffenindustrie heraufbeschworenen Bedarf für die eigene Sicherheit überholt erscheinen lassen. Die Inves tition von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung sollte dann noch einmal auf die Tagesordnung kommen. 100 Milli arden für die Klimarettung wären zukunftsweisender angelegt.
Nur wenn die Produktion aller Waffen weltweit ein geschränkt wird, lässt sich das Klima unseres Planeten noch retten. Wir beschweren uns zwar über die NRA, die Lobby der amerikanischen Schusswaffenindustrie, die das Morden verhindern will, indem alle Bürger*innen (auch Schüler*innen) ein Gewehr erhalten sollen, doch wir wollen nicht erkennen, dass auch eine zusätzliche Aufrüstung aller Länder Kriegsverbrechen nicht ein schränkt, sondern eher erhöht.
1 Umw eltfußabdruck von Gebäuden in Deutschland , BBSROnline-Publikation 17/2020; ein Projekt des Forschungs programms „Zukunft Bau“, im Auftrag des Bundesminis teriums des Innern für Bau und Heimat (BMI) durchgeführt.
2 Mar tin Pawley, Architecture versus Housing , New York 1971, S. 45.
3 Fra nk Lloyd Wright und Lewis Mumford, Briefwechsel zwi schen Architekt und Kritiker, in: Bauwelt 28/2002, S. 26.
4 Bun d Deutscher Architekten BDA (Hg.), Das Haus der Erde, Positionen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land , Berlin 2019.
HELMUT C. SCHULITZ Architekt, ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin, Sektion Baukunst und Ehrenmitglied des American Institute of Architects. 1969–1982 war er Professor an der University of California, Los Angeles, 1982–2002 Professor an der Technischen Universität Braunschweig.
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NEUES AUS DEM
FUNDSTÜCK
DIE AFFÄRE HEINRICH SCHULZ
UNBEKANNTE ZEICHNUNG VON MAGNUS ZELLER
Warum ziehen Künstler – unter ihnen Klaus Richter und Hans Purrmann – eine römische Kutsche, auf der ein Reichsadler prangt? Warum wird die Kutsche von einem Herrn Schulz gelenkt, der zudem einen Geldbeutel in der Hand hält und von der hinter ihm stehen den Maja Kahn begleitet wird? Und warum wirft ein Mann, der ein deutig als der Maler Otto Nagel zu erkennen ist, eine Bombe in die Gesellschaft? Das Bild scheint Rätsel aufzugeben. Doch Magnus Zeller (1888–1972) hat mit dieser bisher unbekannten und nicht datierten Bleistiftzeichnung eine Affäre der Deutschen Kunstge meinschaft in den letzten Jahren der Weimarer Republik themati siert. Das vor Kurzem vom Archiv der Akademie der Künste erwor bene Blatt widmete er einem der Protagonisten, „s[einem] l[ieben] Otto Nagel“.
Die Deutsche Kunstgemeinschaft wurde im Frühjahr 1926 auf Initiative des SPD-Mitglieds und Staatssekretärs im Reichsminis terium des Innern Heinrich Schulz gegründet. Zum Arbeitsaus schuss zählten neben Schulz und anderen auch Hans Baluschek, Charlotte Berend-Corinth und der Kunstschriftsteller Max Osborn, dem Ehrenausschuss gehörten viele Personen an, unter anderem Käthe Kollwitz und Max Liebermann. Vom Reich finanziell unter stützt, präsentierte die Deutsche Kunstgemeinschaft ab Mai 1926 regelmäßig Ausstellungen im Berliner Schloss, später noch an anderen Orten der Hauptstadt und in weiteren deutschen Kunst zentren. Das Ziel bestand darin, Kunstkäufe anzuregen, um damit die zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen. Gleichzeitig wollte man originale Werke in breite Bevölkerungs schichten bringen. Gezeigt wurden Ölgemälde, Aquarelle, Pastelle, Grafik und Plastik aller künstlerischen Richtungen. Im Fall eines Ankaufs ermöglichte ein von der Kunstgemeinschaft eingerichte ter Fonds, dem Künstler die gesamte Summe sofort zu übergeben. Der Käufer konnte den Betrag in Raten abzahlen. Auch Kunstver leih und -abonnements aus dem Bestand der Kunstgemeinschaft wurden angeboten. Neben privaten Interessenten gehörten Kom munen, Behörden und Museen zu den Käufern der Werke, die kei neswegs nur von jungen, unbekannten Künstlern stammten. So berichtete die Presse im Oktober 1930, dass das Porträt Sahm von Otto Dix für 4.000 Mark von der Stadt Danzig erworben worden war.
Aber es gab auch Beschwerden von Künstlern, die monierten, dass sie durch die niedrigen Einkaufspreise der Kunstgemeinschaft stark geschädigt würden. Magnus Zeller und Otto Nagel, deren Archive in der Akademie der Künste betreut werden, gehörten zu den Kritikern, obwohl sie, wie die Jahresberichte der Organisation zeigen, selbst in der Kunstgemeinschaft ausstellten und verkauf ten. Allerdings werden in den Verkaufslisten große Preisunter
schiede zwischen den einzelnen Künstlern und Werken deutlich. Zum Beispiel erzielte Nagel für seine vier bis Ende 1928 verkauf ten Gemälde jeweils zwischen 200 und 360 Mark, während Klaus Richter, der Jugendfreund Magnus Zellers, für sein Bild Der ster bende Torero vom Kultusministerium 2.000 Mark erhielt. Der Corinth-Schüler Richter wurde später Vorsitzender des Vereins Berliner Künstler. Bekannt ist vor allem sein rätselhaftes HitlerPorträt, das sich sowohl im Stadtmuseum Berlin als auch im Deut schen Historischen Museum befindet. Auch der Matisse-Schüler Hans Purrmann stellte in der Deutschen Kunstgemeinschaft aus, so (wie Richter und Zeller) 1930 in der Herbstausstellung „Neue Deutsche Kunst 1930“; Verkäufe über die Organisation lassen sich bisher nicht nachweisen.
Doch was hat es mit der Bombe auf sich? In der linkssozialis tischen Berliner Zeitung Die Welt am Abend veröffentlichte Otto Nagel am 20. und 21. März 1931 zwei Artikel, in denen er Heinrich Schulz Vetternwirtschaft und die Verschwendung öffentlicher Gel der unterstellte. Bereits 1927 hatte Nagel in den Sozialistischen Monatsheften erklärt, dass die Verwaltungkosten der Organisation in keinem Verhältnis zum Umsatz stünden. Nun warf er Schulz sowie dessen Privatsekretärin und Lebensgefährtin Maja Kahn hohe Reise spesen, fragwürdige Einkaufs- und Verkaufsmethoden, den Kauf eines neuen Autos und die Neueinrichtung der Büroräume im Schloss vor. Außerdem würde Schulz bei den Ankäufen Künstler bevorzugen, die nicht notleidend seien und einen festen Markt hät ten. Vermutlich spannte Magnus Zeller in seiner Zeichnung Hans Purrmann auch deshalb neben Richter „vor den Karren“.
Die Beschuldigungen Nagels lösten eine umfassende Affäre aus. In der Jahresversammlung der Kunstgemeinschaft und in einem Offenen Brief musste Schulz zur Verwendung der Mittel Stellung beziehen. Obwohl ihm die Kunstgemeinschaft das Vertrauen aus sprach, erfolgte danach ein weiterer, wohl auch politisch motivier ter, Vorstoß gegen ihn durch einen Beamten des Innenministeri ums. Schulz widerlegte alle Vorwürfe. Dennoch wurden ab August 1931 die laufenden Beihilfen des Ministeriums eingestellt. Im Sep tember trat der langjährige Schatzmeister, der Bankier Hugo Simon, zurück. Schulz weigerte sich, die Geschäftsführung der Kunstge meinschaft niederzulegen, dann verstarb er überraschend im Sep tember 1932. Die Deutsche Kunstgemeinschaft wurde im August 1936 aufgelöst.
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ARCHIV
ANKE MATELOWSKI ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv Bildende Kunst der Akademie der Künste.
Anke Matelowski
EINE
„… MIR SELBST ZU BEGEGNEN.“ NATASCHA WODIN
Sabine Wolf
Erster deutscher Pass für Natascha Wodin, unter ihrem damaligen Ehenamen Natalie Spitz, ausgestellt von der Stadt Forchheim in Oberfranken am 11. Juni 1965
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ARCHIV
Links Sergej Iwaschtschenko, der Bruder von Natascha Wodins Mutter Jewgenia, daneben Cousinen mütterlicherseits (de Martino), undatiert [Mitte der 1920er-Jahre]
NEUES AUS DEM
Selten umspannt autobiografisches Schreiben welthistorische Ent wicklungen von mehr als einhundert Jahren. Mit ihrer Lebens- und Familiengeschichte führt uns Natascha Wodin in die tiefsten Abgründe von Grausamkeit und Leid, wie sie sich in einer unend lich scheinenden Abwärtsspirale immer neu auftun. Die Erforschung ihrer Wurzeln, an der uns die Autorin teilhaben lässt, dringt zu den Mechanismen totalitärer Systeme vor und beschreibt so die weit reichenden Folgen für Generationen von Menschen bis auf den heutigen Tag.
Der Titel des Werkes, für das Natascha Wodin 2015 mit dem Alfred-Döblin-Preis und 2017 mit dem Preis der Leipziger Buch messe ausgezeichnet wurde, gewann mit dem Beginn des Angriffs krieges Russlands gegen die Ukraine einen neuen Klang. Die Auto rin legte ihr Buch Sie kam aus Mariupol als Geschichte einer Recherche an. Atemlos verfolgt das Lesepublikum, wie sich ein Mosaik des eigenen Herkommens zusammensetzt. Mit den Bruch stück für Bruchstück zusammengetragenen Informationen verän dert sich das gesamte Bezugssystem der Ich-Erzählerin. Ihre sicher geglaubten Wahrheiten erweisen sich als falsch, eine neue Welt taucht aus dem Dunkel auf. Damit wird auch der oder die Lesende hineingezogen in einen Strudel historischer Ereignisse, die heute, im Jahr 2022, von neuer, bestürzender Aktualität sind. Natascha Wodin wurde 1945 als Tochter ehemaliger ukraini scher Zwangsarbeiter in Fürth geboren, wuchs unter schwierigs ten Umständen auf und war früh auf sich gestellt. Ihre berufliche Laufbahn begann sie als Dolmetscherin und Übersetzerin aus dem Russischen. Mit knapp 40 Jahren trat sie als Schriftstellerin her vor. Ihre bisher 13 Prosa-Bücher sind sämtlich autobiografisch grundiert. Natascha Wodin lässt uns am Thema ihres Lebens Anteil nehmen und führt uns unsere eigene „deutsche“ Verflochtenheit mit zeitlich und geografisch fern geglaubten Entwicklungen vor Augen. Hochspannend und emotional aufwühlend erzählt sie von Schicksalen, die in den „Reißwolf zweier Diktaturen“1 gerieten. Die Ich-Erzählerin dringt damit in die Urgründe ihrer eigenen Geschichte vor und gewinnt – nach Jahrzehnten einer gefühlten Unzugehörig keit – erstmals Boden unter den Füßen. Seit je hatte sie sich bemüht, ihrer „russisch-ukrainischen Haut zu entkommen, etwas anderes zu sein, als ich war“. 2 Doch nun findet sie heraus, dass ihre am Schwarzen Meer siedelnde Familie einstmals wohlhabend, ja teil weise adeliger Abstammung war; eine Großmutter hatte aus Ita lien eingeheiratet, ein Onkel war ein berühmter Opernsänger. Der Wohlstand endete mit den revolutionären Umwälzungen nach 1917. Einher gingen Entrechtungen, Erniedrigungen, Armut, Hunger, stän dige Gefahr. Die 1920 geborene Mutter der Erzählerin hatte nichts anderes kennengelernt, ihr Gefühl eigener Minderwertigkeit tief verinnerlicht und es an ihre Tochter weitergegeben. Im Text „An meine Mutter“ (um 1978) versucht Natascha Wodin, „etwas zu klä ren, vielleicht mit Dir ins Reine zu kommen“. Sie rechnet ab mit der Mutter, die sich ihrem unglücklichen Leben schon früh durch Sui zid entzogen und die Familie im Stich gelassen hatte. Die Autorin will sich dem überlieferten Schweigen und den Ängsten widerset zen und sich dem Leben und den Menschen zuwenden. Im Schrei ben gelingt es ihr mühelos, Trennendes zu überwinden, den Kon
Natascha Wodin, erste Seite eines Typoskripts „An meine Mutter“, um 1978. Der Text ist eingeflossen in die Erzählung „Niemandsmensch“ für den Suhrkamp-Band In irrer Gesellschaft, erschienen 1980. Es handelte sich um die erste literarische Veröffentlichung Natascha Wodins überhaupt.
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Natascha Wodin im April 1997 in Berlin
takt zu ihrer Adressatin herzustellen und deren Schicksal (wieder) in ihr eigenes Leben zu integrieren, es „als ein Stück von mir“ zu verstehen. Im Leben der Mutter kulminierten verschiedene Zumutungen, die einem Menschen im 20. Jahrhundert widerfah ren konnten. Im Sowjetreich zu den Ausgestoßenen und Verelen deten zählend, wurde sie 1943 als Zwangsarbeiterin ins Deutsche Reich verfrachtet. Ein Zurück ins stalinistische Regime konnte es für sie nach 1945 nicht geben; die Ausreise nach Amerika miss lang. In den Nachkriegsjahren lebte die Familie als Staatenlose, wiederum ausgegrenzt, unzugehörig und von der deutschen Nach barschaft misstrauisch beäugt. Für die im wahrsten Wortsinn depri mierenden Lebensumstände machte die heranwachsende Natascha in erster Linie ihre eigenen Eltern verantwortlich. Weder Vater noch Mutter schützten ihr Kind vor der Gewalt durch Mitschüler, vor Zurücksetzungen, Hänseleien. So bedurfte es der Flucht aus die sem Umfeld, um in der deutschen Gesellschaft Aufnahme zu fin den. Ihren ersten deutschen Pass erhielt Natascha Wodin denn auch erst mit ihrer ersten Eheschließung im Jahr 1965.
Nach Bürotätigkeiten und dem Besuch einer Sprachenschule begann sie in den 1970er-Jahren für deutsche Firmen und Kultureinrichtungen zu dolmetschen, die Beziehungen zur Sowjetunion aufnahmen. In die Literaturgesellschaft trat Natascha Wodin als Übersetzerin aus dem Russischen. Ihre Arbeiten machten zum Großteil erstmals die entsprechenden russischsprachigen Titel einem deutschen Publikum zugänglich. Die von ihr übersetzten beziehungsweise mit-übersetzten Bücher von Wenedikt Jerofejew (Die Reise nach Petuschki, 1976) und Andrej Bitow (Das Puschkin haus, 1983) kursierten damals in der Sowjetunion als SamisdatVervielfältigungen, ebenso wie die bewegenden Lebenserinnerun gen von Jewgenia Ginsburg, die Jahrzehnte in Lagern und der Verbannung hatte verbringen müssen. Natascha Wodin hatte die sen „Bericht“ 1980 mit Sylvia List unter einem Pseudonym ins Deutsche übertragen.
Ihr belletristisches Buchdebüt legte Natascha Wodin 1983 mit der Erzählung Die gläserne Stadt vor. Die Schriftstellerin schlägt hier bereits ihren ganz eigenen Ton autobiografischen Schreibens an. Auch ihre in späteren Büchern verarbeiteten Themen – Hei mat, Fremde, Identität – prägen schon das erste Werk. In der Lie besgeschichte zwischen einer westdeutschen Dolmetscherin und einem berühmten russischen Schriftsteller sind die existenziellen Fragen des Lebens gestellt. Wie können Menschen einander ver stehen, die nicht nur unterschiedlichen Generationen, Lebenswel ten und Kulturen, sondern auch gegensätzlichen Gesellschafts systemen entstammen? Wertesysteme sind völlig unterschiedlich, Kommunikationswege undurchschaubar, die Codes nicht zu ent schlüsseln. „Ich würde diese Menschen lieben, aber sie nie verste hen können. Ich würde dieses ganze Land nie verstehen können. Es war gleichsam die Kehrseite der Welt, in der ich aufgewachsen war und gelebt hatte, die Kehrseite bis hin zu den Türschlössern, die hier nicht nach rechts schlossen, sondern nach links.“ 3 Das grundlegend Verbindende und eine gemeinsame Sprache finden das Paar und sein Freundeskreis in der Literatur, in der Kunst.
Mehr als zweieinhalb Jahrzehnte später gestaltet Natascha Wodin in ihrem viel beachteten und diskutierten Buch Nachtge schwister (2009) nochmals eine Beziehung mit einem Schriftstel ler. Der Protagonist Jakob Stumm trägt – kaum verhüllt – die Züge Wolfgang Hilbigs, mit dem Wodin von 1994 bis 2002 verheiratet war. Nähe und Fremdheit bestimmen das Zusammenleben: „Ich war nicht mehr allein. Zum ersten Mal gab es jemanden, mit dem ich die Unzugehörigkeit zu den anderen teilte, ich war einem Zwei ten in meiner Wüste begegnet, einem nie erträumten deutschen Bruder.“4 Zugleich gerät sie mit ihm in eine zerbrechende Welt, das Zusammenfügen von West- und Ostdeutschland bringt alle Struk turen ins Wanken, nichts bleibt, wie es war: „Nie weiß ich, was ich hier sehe, wo ich eigentlich bin, in welcher Zeit, an welchem Ort. Ist das noch der Osten oder schon der Westen, ist es die Vergan genheit oder schon die Zukunft? Ich weiß nur, dass ich in einer Welt des Verschwindenden bin, jeder Blick ist ein erster und ein letzter zugleich, schon morgen, schon in der nächsten Stunde kann das, was ich gerade sehe, für immer verschwunden sein. Ich schaue und möchte die Zeit anhalten, ich fühle mich wie die letzte Zeugin einer untergehenden Realität, ihre einzige Protokollantin; ich befinde mich in einem ständigen Wettlauf mit der Zeit, der ich entreißen muss, was unentwegt zu Ende geht.“5
Das Zitat im Titel stammt aus Nat ascha Wodin, Nachtgeschwister , München 2009, S. 20
1 Nat ascha Wo d i n , S ie kam aus Mariupol , Reinbek 2018, S. 10.
2 Ebd ., S. 15.
3 Nat ascha Wodin, Die gläserne Stadt , Reinbek bei Hamburg 1983, S. 161.
4 Nat ascha Wodin, Nachtgeschwister , München 2009, S. 21.
5 Ebd ., S. 8.
SABINE WOLF ist Stellvertretende Direktorin des Archivs der Akademie der Künste.
Mit der Errichtung des Natascha-Wodin-Archivs gelan gen die Arbeitsunterlagen einer großen Erzählerin ins Archiv der Akademie der Künste. Manuskripte und Fas sungen zu sämtlichen belletristischen Arbeiten, unveröf fentlichte Entwürfe, Tagebücher, Briefwechsel – u. a. mit Efim Etkind, Ludwig Fels, Lew Ginsburg, Wolfgang Hilbig, Edgar Hilsenrath, Peter Jokostra, Peter Kurzeck, Christoph Meckel, Raissa OrlowaKopelewa, Leonie Ossowski, Gábor Révai, Mario Wirz, Christa Wolf – sowie die berührenden Zeugnisse aus der Familiengeschichte dokumentieren Natascha Wodins Biografie und Schaffen und dürfen künftig erforscht werden.
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HANS SCHAROUN ARCHITEKTUR AUF PAPIER
Sibylle Hoiman
„Die zu- und die abgekehrten Prinzipien der Baukunst“, 1920 Unter den im Baukunstarchiv überlieferten Nachlässen nimmt das Hans-Scharoun-Archiv eine besondere Stellung ein: Schon der schiere Umfang des Materials, das nach dem Tod des Architekten und Präsidenten der Akademie der Künste in West-Berlin an das Archiv übergeben wurde, ist mehr als beeindruckend: 75 laufende Meter Schriftgut und Fotografien sowie rund 25.000 Pläne und Zeichnungen stehen der forschenden und interessierten Öffent lichkeit zur Verfügung.
Von besonderem Interesse sind die mehr als 1.000 Schülerund Studentenzeichnungen sowie utopischen Architekturentwürfe aus den Jahren zwischen 1909 und 1945. Gerade die in der Zeit der Weimarer Republik entstandenen Arbeiten stechen durch ihre farbige Brillanz, ihren expressiven Ausdruck und den sicheren Strich des hochbegabten Zeichners hervor. Umso erfreulicher ist es, dass die ehemalige Leiterin des Baukunstarchivs und ausgesprochene Kennerin des Œuvres Eva-Maria Barkhofen dieses Konvolut nun
eingehend erforscht und erstmals neu erschlossenen Quellen aus dem Baukunstarchiv wie auch anderen Archiven gegenübergestellt hat. Differenziert werden die einzelnen Phasen und historischen wie auch persönlichen Hintergründe zur Entstehung und Entwick lung dieser einzigartigen Sammlung von Zeichnungen, die sich überwiegend in einem hervorragenden Zustand erhalten haben, dargestellt und kontextualisiert.
Das Zeichnen war für Hans Scharoun (1893–1972) schon als Schüler und bis in die 1940er-Jahre das am besten geeignete Mit tel, um sich auszudrücken und seiner ausgeprägten Fantasie freien Lauf zu lassen. So entstanden auch in der Folge – neben den Wett bewerbsentwürfen und Plänen zu realen Bauvorhaben – zahlrei che Visionen nicht umgesetzter, ja geradezu utopischer, gar nicht erst zur Realisierung vorgesehener Architekturen. Gerade die unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und seinen Folgen entstan denen Blätter verkörpern die große Sehnsucht nach einem gesell schaftlichen Neuanfang, für die die Architektur eine Vorreiterrolle spielen sollte. Scharoun stand hier mit seinen visionären Entwür fen und Ideen einer Gruppe von Architekten nahe, die sich in Ver einigungen wie der „Gläsernen Kette“ oder dem „Ring“ zusammen fanden.
Auch noch während des Zweiten Weltkriegs diente die Zeich nung utopischer Bauentwürfe dem Architekten der Verarbeitung und Überwindung des Zeitgeschehens. Der präzise Blick auf das überlieferte zeichnerische Werk ist daher nicht nur per se ein ästhe tischer Genuss; er lohnt sich auch deshalb, weil sich die Möglich keit eröffnet, dem Menschen und Entwerfer Hans Scharoun rück blickend über die Schulter zu schauen: Nahezu sämtliche der bekannten ausgeführten Bauten – hier seien nur stellvertretend die Philharmonie und Staatsbibliothek auf dem Berliner Kulturfo rum, das Theater in Wolfsburg, die Privathäuser Schminke, Dr. Baensch, Mattern oder die Siedlungen und Hochhäuser in Ber lin und Stuttgart genannt – lassen sich mit diesen Visionen auf Papier in Beziehung setzen. Die Visionen aus vier Jahrzehnten bie ten für diese Lesart des Werks von Hans Scharoun, das bis heute nicht an Relevanz verloren hat und eine große Faszination auslöst, reichlich Material.
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SIBYLLE HOIMAN ist Leiterin des Baukunstarchivs der Akademie der Künste.
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Wettbewerbsentwurf für den Bahnhofsvorplatz in Duisburg, 1926
Wettbewerbsentwurf zur Umgestaltung des Münsterplatzes in Ulm an der Donau, 1924
Ohne Titel, undatiert
Hans Scharoun, Architektur auf Papier. Visionen aus vier Jahrzehnten (1909–1945), hg. von Eva-Maria Barkhofen in Zusammenarbeit mit der Akademie der Künste, Berlin, Deutscher Kunstverlag, Berlin, 2022
Buchpräsentation mit Vitrinenpräsentation Begrüßung: Werner Heegewaldt Vortrag: Eva-Maria Barkhofen 25.11.2022, 18 Uhr, Akademie der Künste, Hanseatenweg
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Ohne Titel, undatiert [zwischen 1939 und 1945 ]
Ohne Titel, undatiert [zwischen 1939 und 1945]
SEHEN UND VERSTEHEN LERNEN –DIE AKADEMIE DER KÜNSTE, EIN
ORT FÜR KUNST, KULTUR UND
NACHHALTIGKEIT!
Ein Gastbeitrag von Uli Mayer-Johanssen
Die Welt um uns wandelt sich. Hitze-, Dürre- und Flutkatastrophen sind nicht mehr Gefahren in fernen Regionen. Der Klimawandel beginnt unser Leben zu verändern, wird sukzessive Teil unseres Alltags. Das stumme Insekten- und Artensterben wird zum Mene tekel unseres Lebens. Pandemien mit Ausmaßen, wie wir sie bis her nur aus der Geschichte kannten, zwingen uns zu Maßnahmen, die unsere Vorstellung von individueller Freiheit auf eine harte Probe stellen. Der Krieg in Europa verbreitet Angst und Schrecken und ist doch nur einer von vielen weltweit. Politik und Diplomatie sind kein Garant mehr für eine friedlich-demokratische Gesellschafts ordnung. Wähnten wir uns gestern noch in einer Welt, in der wir mittels Intelligenz, technischer Innovationen und Kapital alle Menschheitsträume verwirklichen können, scheinen wir immer mehr zurückgeworfen auf uns selbst, auf unser Sein. Und die Errungen schaften der Zivilisation sind plötzlich nicht mehr gewährleistet.
Kapitalismus und ein weltumspannender Handel haben tiefe Spuren in unserem Leben und in der Biogeosphäre hinterlassen. Wenn wir nicht erkennen, dass „Naturkapital nicht durch Finanz kapital ersetzt werden kann“, steht uns ein böses Erwachen bevor. Was wir Jahrzehnte als Wachstum deklariert haben, ist kein Wachs tum, sondern schlicht Steigerung unseres Verbrauchs. „Die öko nomische Produktivität wurde mit ökologischem Raubbau und der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen erkauft.“1
Nur noch unser Blick auf das, was uns unmittelbar nützt, was die individuellen Bedürfnisse erfüllt, scheint relevant zu sein. Die schier überbordende Anzahl an Krisen zwingt uns offensichtlich zum Rückzug aus der allgegenwärtigen Katastrophen- und Reiz überflutung. Und gleichzeitig verlieren wir den Bezug zur Welt, einer Welt, die aus der Balance geraten ist.
Sind wir nicht bereit zu erkennen und zu akzeptieren, dass wir mit unserer konsumistischen Lebensweise und unserem unge bremsten Wachstumsglauben auf einem begrenzten Planeten die gesamte Welt ins Risiko stellen, dann werden wir auch nicht den Mut und den Willen haben, der Realität ins Auge zu sehen und lebensdienliche Lösungen zu entwickeln. Ludwig Wittgenstein wird
die Aussage zugeschrieben, das Faktische stehe in der Zeile, das Wesentliche zwischen den Zeilen. Er hat erkannt, dass es nicht damit getan ist, die Fakten rational zu durchdringen; erst wenn Herz, Verstand und Intelligenz zusammenkommen und uns die The men emotional berühren, bahnt sich ein Weg, der Veränderung und Wandel möglich werden lässt.
Wäscht Kunst und Kultur – im Sinne Picassos – immer noch den Staub des Alltags von der Seele? Kunst bietet Räume des Seins, andere Perspektiven, eine andere Wahrnehmung und einen emotionalen Zugang zur Welt. Sie war schon immer Bestandteil einer sich entwickelnden Gesellschaft. Bereits vor 65.000 Jahren haben Neandertaler Stelen verziert, und immer wieder hatten die Menschen das Bedürfnis, Botschaften, Gegenstände und Bauten zu schmücken – ein Zeichen ihres Daseins und der Wahrnehmung ihrer Lebensräume. Kultur ist ein Teil der Natur und wir sind Teil dieser Natur. Diese Erkenntnis scheinen wir aus den Augen verlo ren zu haben.
DER NACHHALTIGKEIT MIT KUNST UND KULTUR EINE STIMME VERLEIHEN
Hat, wie John O’Donohue in seinem Buch Schönheit schreibt, „unser Vertrauen in die Zukunft seine Unschuld verloren“? Haben Zerstörung, Korruption, Gier und Egoismus dazu geführt, dass die Zukunft in weiten Teilen zu einer apokalyptischen Bedrohung geron nen ist und wir uns resigniert vom Geschehen abwenden? Sind nicht gerade dann Kunst und Kultur gefordert, sich mit den Fragen unse rer Zukunft auseinanderzusetzen?
Die Akademie der Künste spannt mit ihrer 325-jährigen Tra dition und der Vielfalt an Sektionen, die von der Bildenden Kunst und Baukunst über Musik, Literatur, Darstellende Kunst bis zur Film- und Medienkunst reichen, einen Bogen, der, überwinden wir die Abgrenzungen der Genres und öffnen sie gleichzeitig zu Geis tes- und Naturwissenschaft hin, einen neuen Blick auf unser Dasein gewährt.
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DIE APOKALYPTISCHEN REITER DER MODERNE
Globalisierung, Digitalisierung und Neoliberalismus haben, gelinde gesagt, nicht nur Gutes bewirkt. Offene Grenzen und offene Märkte haben am Ende unsere Resilienz zerstört. Internet und Soziale Medien haben neben weltweiten Zugängen zum Wissen und dem Traum von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit Manipulation und Hass globalisiert. Dem Traum vom ungebremsten Wachstum auf einem begrenzten Planeten folgten Raubbau, Verschwendung und die Zerstörung ganzer Kulturräume. Und immer wieder bleibt die Frage: Warum handeln wir nicht, obwohl wir so unendlich viel Wis sen und Kompetenz angehäuft haben? Unsere kognitive Dissonanz gepaart mit einer unheilvollen Ambiguitätstoleranz mag evoluti onsbiologisch gerechtfertigt sein, bringt uns aber jetzt in eine gefährliche Lage, weil der Preis dafür immer höher wird. Wir blen den Dinge aus, die uns bedrängen, ignorieren Warnsignale und rechtfertigen so unsere eigenen Vorlieben und Bedürfnisse. Dazu kommt, dass ein Heer von Lobbyisten und anderen Profiteuren die ses Systems uns ununterbrochen zum „weiter so“ auffordert.
In unserer Rastlosigkeit untergraben wir in blindem Gestal tungstaumel die eigenen Lebensgrundlagen, die, einmal zerstört, bald nur noch in Museen oder Archiven zu bestaunen sein werden. Heerscharen von Wissenschaftlern haben sich auf den Weg gemacht, um Zusammenhänge zu verstehen und Lösungen für auf scheinende Probleme zu entwickeln, befürchten aber stets, sich mit ihren Hypothesen dem Vorwurf des Alarmismus auszusetzen. Auch deshalb gehen oft private und öffentliche Statements weit auseinander. Wie aber wollen wir in der Öffentlichkeit ein Bewusst sein für die Dringlichkeit all dieser Themen erreichen, wenn wir Augen und Ohren vor den sich abzeichnenden Katastrophen ver schließen? Wie entwickeln wir den Mut, ohne den wir den erdrü ckenden Risiken unserer Gegenwart nichts entgegensetzen können?
„Wenn wir Erfahrungen teilen, ermöglichen wir neue Denk räume. Wir brauchen eine Sensibilität für die Verletzbarkeit der Welt.“2 Im Sinne dieser Erkenntnis muss es darum gehen, Verständ
nis und Neugierde zu wecken, neue Sichtweisen und Möglichkei ten zu eröffnen. Natürlich muss die Politik die Rahmenbedingun gen schaffen, um die Weichen zu stellen. Die Akademie der Künste, vertreten durch ihre Mitglieder, ist aber ebenso gefragt, die Dring lichkeit zu handeln zum Ausdruck zu bringen, will sie ihrem Selbst verständnis als Avantgarde der Gesellschaft auch künftig gerecht werden. Kunst und Kultur müssen die Brücke von der Gesellschaft zur Politik schlagen: die Akademie als Ort des Wandels und ihre Mitglieder als Botschafter und Erneuerer einer dringend nötigen Sichtweise auf diese Welt. In Biedermann und die Brandstifter explodieren die Gasometer. Biedermann will davon nichts wissen und tut so, als wäre nichts geschehen. Es braucht Kunst, Kultur und Wissenschaft und das Nachdenken über eine lebensdienliche und lebensfördernde Zukunft, um Lust auf Zukunft und Hoffnung in einer düsteren Zeit zu geben. Die Akademie der Künste selbst kann dazu beitragen, als ein Ort der Erkenntnis: kommunikativ, kre ativ und kollaborativ.
1 Dan iel Dahm, Co-Evolution im kulturellen Paradigmen wechsel, Keynote des Symposiums Culture is/for/as Change , 22.6.2022 (https://www.youtube.com/ watch?v=KBzj1FpU9a8).
2 Har tmut Rosa, Soziologe, im Rahmen eines Podcast-In terviews, 2020.
In über 30 Jahren verantworte ULI MAYER-JOHANSSEN Hunderte von Markenprozessen, ob für Kulturinstitutio nen, internationale Konzerne oder Regionen. Nach 25 Jahren MetaDesign, die zu den renommiertesten Markenagenturen Deutschlands zählt, erweiterte sich das Themenspektrum um systemische Nachhaltigkeitsfragen. 2018 wurde Uli Mayer-Johanssen als Mitglied in die Deutsche Gesellschaft Club of Rome berufen und 2019 ins Präsidium gewählt. Sie ist Mitglied der Gesellschaft der Freunde der Akademie der Künste.
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Gerz arbeitet seit dem Ende der 1960er-Jahre mit neuen Medien. Nach ersten kollaborativen Arbeiten im öffentlichen Raum entstehen Foto/Texte, Installationen, Performances, Videos und Projekte im Internet. Deutscher Pavillon 37. Biennale Venedig (mit Beuys und Ruthenbeck). DocumentaTeilnahmen (1977, 1987). Retrospektiven in europäischen und nordamerikanischen Museen. Ab 1980 entstehen ikonische Erinnerungsarbeiten (counter-monuments) als gesellschaftliche Prozesse, die sich über Jahre entwickeln. Im Zentrum steht die Zivilgesellschaft, deren Beitrag und Autorschaft.
Jochen Gerz ist Mitglied der Akademie der Künste.
www.jochengerz.eu
BILDNACHWEISE
S. 4–5 Fotos Yurii Stefanyak | S. 6 Akademie der Künste, Berlin, Foto Oliver Ziebe, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022; S. 7 Akademie der Künste, Berlin, Inv.-Nr. KS-Gemälde MA 44; S. 8 Foto Anna Schultz, 2022; S. 9 Akademie der Künste, Berlin, Fotos Oliver Ziebe | S. 10–13 © Jochen Gerz / VG BildKunst, Bonn 2022 | S. 15–16 Abb. Cem A. | S. 18–19 Abb. FONGWILKE; S. 20 Abb. Sahej Rahal; S. 21–22 Abb. Aarti Sunder; S. 25 Abb. Natasha Tontey | S. 26 links Foto SWR / Jürgen Pollak; S. 27 Foto MDR / Jehnichen; S. 28 Foto Arcaid Images / Alamy Stock Photo; S. 29 Foto imageBROKER / Alamy Stock Photo; S. 30 Foto Architektur-Bildarchiv / Thomas Robbin; S. 33 oben Foto Scho ening / Alamy Stock Photo; unten Foto imageBROKER / Alamy Stock Photo | S. 34, 38–41 Stills María José Crespo | S. 42–45 Fotos Nan Goldin, Courtesy of the artist and Marian Goodman Gallery, © Nan Goldin, S. 42 Silbergelatine-Print, 51 x 41 cm; S. 43 Silbergelatine-Print, 40,6 x 40,6 cm; S. 44 Archivalischer Pigmentdruck, 43,2 x 61 cm; Dye-De struction-Print, 40 x 59,4 cm | S. 49 Akademie der Künste, Berlin, MagnusZeller-Archiv, Nr. 61, © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 | S. 50 oben Akademie der Künste, Berlin, Natascha-Wodin-Archiv, ohne Signatur; unten Foto Privatarchiv Natascha Wodin; S. 51 oben Akademie der Künste, Berlin, Foto-AdK-W, Nr. 7551, Foto Marianne Fleitmann, © Akademie der Künste, Berlin; unten Akademie der Künste, Berlin, Natascha-Wodin-Archiv, Ordner 18 | S. 53–55 Abb. Akademie der Künste, Berlin, Hans-Scharoun-Archiv, S. 53 Nr. 2377; S. 54 oben Nr. 1243 Bl. 53/12; Mitte Nr. 1233 Bl. 43/1; unten Nr. 2441; S. 55 oben Nr. 2471; unten Nr. 2669 | S. 57 Abb. Uli Mayer-Johanssen | S. 58 Foto Yurii Stefanyak
Wir danken allen Inhaberinnen und Inhabern von Bildnutzungsrechten für die freundliche Genehmigung der Ver öffentlichung. Sollte trotz intensiver Recherche ein Rechteinhaber nicht berücksichtigt worden sein, so werden berechtigte Ansprüche im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.
Die im Journal vertretenen Auffassungen geben die Meinung der jeweiligen Verfasserinnen und Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt der Meinung der Akademie der Künste.
Den Autorinnen und Autoren ist freige stellt, in welcher Form sie Genderfragen in der Sprache Ausdruck verleihen.
Der Rückerwerb des Gemäldes Mühlental bei Amalfi von Carl Blechen (siehe S. 9) wurde gefördert von der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung.
IMPRESSUM
Journal der Künste , Heft 19, deutsche Ausgabe Berlin, November 2022 Auflage: 4.000
Das Journal der Künste erscheint dreimal jährlich und ist an allen Standorten der Akademie erhältlich. Mitglieder der Akademie der Künste bekommen ein Exemplar zugesandt.
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CARTE BLANCHE VON JOCHEN GERZ
Verpackt in biologisch abbaubarer Folie Foto des ausgeräumten Khanenko-Museums von Yurii Stefanyak
Heimann + Schwantes, Berlin heimannundschwantes.de Lithografie Max Color, Berlin Druck Gallery Print, Berlin Deutsche Ausgabe ISSN (Print) 2510-5221 ISSN (Online) 2512-9082 Digitale Ausgabe issuu.com/journalderkuenste Akademie der Künste Pariser Platz 4 10117 Berlin T 030 200 57-10 00 adk.de, info@adk.de, adk.de/newsletter Gefördert durch:
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