Das LÜbeck » … in den giebeligen und der Buddenbrooks winkeligen in frühen StraSSen dieser mittelgroSSen Fotografien Handelsstadt « Herausgegeben von Jan Zimmermann
Fotografie und Fantasie Hat es die Buddenbrooks wirklich gegeben? In deutschen Namen, von Thomas Mann nicht genutzt, Berlin stehen auf dem historischen Alten Garnisonhätten auch Hanno Buddenbrook gefallen: »Der friedhof eiserne Grabkreuze des preußischen Adelskleine Johann geriet ins Lachen. Er war beim Schrei geschlechts von Buddenbrock. Ihr Name rührt von ben auf einen Namen gestoßen, irgend einen kurihansischen Kaufleuten her, die im 14. Jahrhundert in osen Klang, dem er nicht widerstehen konnte.« In Reval tätig waren und sicher auch Verbindung nach den erhaltenen Notizen aus der Entstehungszeit der Lübeck hatten. Das Archiv der Hansestadt Lübeck »Buddenbrooks« sind viele Namen vermerkt, aber verwahrt einen Brief von 1457, in dem ein aus Lülängst nicht alle, vor allem nicht für viele der Nebeck nach Riga schreibender Johann Buddenbrock benfiguren. Der Schriftsteller Arno Schmidt nutzte genannt ist. Als 1901 die »Buddenbrooks« erschienen, für seine »Namensfindung bei Nebenpersonen« lebte ein von Buddenbrock in Lübeck: Harald Dankdas »Hof- und Staatshandbuch für das Königreich mar von Buddenbrock, Major im 3. Hansischen InfanHannover auf 1839«; das »Lübeckische Adressbuch« terie-Regiment. Ob er das Erscheinen des Romans, aber hatte Thomas Mann sicher nicht im Koffer, als der im Lübecker Bürgertum zum Stadtgespräch wurer 1897 in »Rom, Via Torre Argentina trenta quattde, registriert hat — und ob er wohl eher belustigt ro, drei Stiegen hoch« mit dem Schreiben begann. oder irritiert war? Lübeck sei »nicht wesentlich mehr als ein Traum« Der Major ist mit seiner Adresse in mehreren gewesen, so Thomas Mann 1906. Aber vielleicht Thomas Mann in Los Angeles, 1941 Jahrgängen des »Lübeckischen Adressbuches« zu haben die Brüder Mann dann doch ganz lübische finden. Mit den unzähligen Namen und Informationen, die es seit 1798 verzeichNamen aus ihren Erinnerungen zusammengetragen, wenn sie zusammen in der net hat, ist es eine unerschöpfliche Quelle zur Geschichte Lübecks. Und je vertrauTrattoria saßen — »Erinnerst du dich an Grobleben, Tommy?« Jedenfalls ist das ter man mit den »Buddenbrooks« ist, desto vergnüglicher und aufschlussreicher eine amüsante Vorstellung. wird die Lektüre darin. Man findet zwar nicht die fiktiven Buddenbrooks, aber anIm Spiel, das der Roman mit den Namen treibt, verschwimmen Realität und sonsten viele Namen wieder: Hagenström und Hunneus, Köppen und Kaßbaum, Fiktion — und nicht anders verhält es sich für den heutigen Betrachter mit vielen Grobleben, Seehase und Ballerstedt — und aus den tatsächlich vorkommenden Fotos, die für dieses Buch ausgewählt wurden. Bei den meisten handelt es sich um Namen Möllendorff und Tesdorpf wurden im Roman die Möllendorpfs. Eine Aufnahmen, die zwischen 1865 und 1875 für den touristischen Markt produziert Frau Himmelsbürger hat es als »letzte ihres Geschlechtes«, wie es im Buch heißt, wurden: kleinere Carte-de-Visite-Fotos, größere Kabinettfotos und die Stereofowirklich gegeben, und wie in den »Buddenbrooks« geschildert, wohnte sie im tos, die beim Ansehen mit einem speziellen Apparat ein dreidimensionales Bild Heiligen-Geist-Hospital. Düsterdieck, Güldensupp, Holtfreter — solche niedererzeugen — irritierend, wenn plötzlich Personen, Fuhrwerke oder Laternen vor
dem Betrachter im Raum zu stehen scheinen. Solche Fotos zeigen das Lübeck der »Buddenbrooks«, deren Handlung 1877 endet. Thomas Mann hat dieses Lübeck der vorigen Generationen nicht selbst erlebt, aber aus seinen Erinnerungen, den Erzählungen der Familie und seinen Recherchen für den Roman schuf er neben der eigentlichen Handlung eine Beschreibung der Stadt und ihrer Menschen, die manchmal verblüffend genau zu den frühen Fotografien passt. Ergänzend zu den frühen Fotos sind einige spätere Aufnahmen sowie Ansichtskarten aus der Zeit um 1900 zu sehen. Sie zeigen einige im Roman erwähnte Orte in Lübeck und Travemünde, wie Thomas Mann sie gekannt hat, wie sie aber auch ein Vierteljahrhundert früher nicht viel anders ausgesehen haben. Im Roman selbst spielen Fotos und Fotografen keine Rolle; nur einmal kommt das Wort »Photographie« vor, aber da geht es um ein Porträtfoto der zu hübschen Tony Buddenbrook. Das Lübeck seiner eigenen Jugend um 1890 blendete der Schriftsteller aus, denn es passte nicht mehr in die Chronologie des Romans. Dass man die Firma J. S. Mann unter der Telefonnummer 150 erreichen konnte, erfährt man nur aus dem Adressbuch (»Der erste Telephonkasten erschien in den Kontoren der Großkaufleute«, Thomas Mann 1950). Dass es in Lübeck keinen Handwerker gab, der die aus Hamburg gelieferte moderne Zentralheizung im Haus Beckergrube 52 reparieren konnte, lässt sich einem Brief Julia Manns entnehmen. Nur beim Neubau seiner Schule, des Katharineums, hat der Schriftsteller die moderne Zeit durchscheinen lassen: Das war eine der vielen Großbaustellen, die Thomas um 1890 in Lübeck sehen konnte. Die Pferdebahn fuhr an der kleinen Villa in der Roeckstraße vorbei, die elektrische Straßenbahn nahm 1894 wenige Wochen nach seiner Abreise aus Lübeck den Betrieb auf. Ein Buch zu den »Buddenbrooks« kann auf ein reichhaltiges Schriftgut zurückgreifen. Für dieses nächste in einer langen Reihe von Literatur über den Roman dienten als Wissensspeicher die Bücher von Gustav Lindtke (»Stadt der Buddenbrooks«, 1965), Björn Kommer (»Das Buddenbrookhaus. Wirklichkeit und
Dichtung«, 1983), Hartwig Dräger (»Buddenbrooks. Dichtung und Wirklichkeit«, 1993), Manfred Eickhölter und Britta Dittmann (»Allen zu gefallen — ist unmöglich«, 2001), von Hans Wißkirchen und Manfred Eickhölter (»Buddenbrooks. Neue Blicke in ein altes Buch«, 2001; »Die Welt der Buddenbrooks«, 2008); von Michael Stübbe (»Die Manns. Genealogie einer deutschen Schriftstellerfamilie«, 2. Aufl. 2016); von Alexander Bastek und dem Herausgeber dieses kleinen Buchs (»Fotografie in Lübeck 1840 –1945«, 2016). Nicht einzeln zu benennen sind die in den letzten Jahren durchgesehenen Zeitschriften und Akten im Archiv und in der Bibliothek der Hansestadt Lübeck. Die Zitate folgen der Großen Kommentierten Ausgabe der »Buddenbrooks« von 2002. Dieser diente die Erstausgabe von 1901 als Grundlage, die im Jahr der »II. Orthographischen Konferenz« erschienen war. Die Schreibweisen einer Reihe von Wörtern sind deshalb veraltet, weil sie erst im Jahr nach dem Erscheinen mit den Beschlüssen der Konferenz ihre heutige Schreibweise erhielten (Cigarre, Cylinder, That, Thor, Thür). Kommasetzung, Groß- und Klein- sowie die Zusammenschreibung folgen ebenfalls nicht immer den heutigen Regeln. Dafür entspricht das Vokabular dem Gebrauch Thomas Manns, der spätere Ausgaben nicht mehr selbst bearbeitet hat. Vor allem fehlen auch noch die Eindeutschungen französischer Begriffe, die zum gleichermaßen altertümlichen wie weltläufigen sprachlichen Reiz der Urfassung beigetragen haben (Façade statt Fassade, Comptoir statt Kontor). Dass die Zitate aus dem Zusammenhang gerissen sind und man den Roman gut kennen muss, um sie inhaltlich zuordnen zu können, ist dem Herausgeber bewusst und war in Kauf zu nehmen. Für ein Wiedererkennen der Schauplätze auf den Fotos genügen die Zitate. Wer ihren Zusammenhang nachvollziehen will, der lese die ganzen »Buddenbrooks« (wieder einmal) — und damit »von Welt und Leben in den Gassen der Stadt, an den Ufern der Trave und am Strande der Lübischen Bucht« (Wilhelm Raabe, Im alten Eisen, 1887).
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Giebel Diese grauen Giebel dumpfe Wärme ausgewaren das Alte, Gestrahlt. wohnte und Überlie••• ferte, das sie wieder Er stand spät auf und aufgenommen und in hatte sich sogleich an dem sie nun wieder den Debatten einer leben sollte. Bürgerschaftssitzung zu beteiligen. Das ••• Ein fremdartig dunöffentliche, geschäft Blick vom Dachreiter der Jakobikirche zum Burgtor, Stereofoto. Fotograf unbekannt, 1866 kelblauer Himmel liche, bürgerliche hatte über den Giebeln Leben in den giebegeleuchtet, fahl am Horizonte, wie in der Wüste; ligen und winkeligen Straßen dieser mittelgroßen und nach Sonnenuntergang hatten in den schmalen Handelsstadt nahm seinen Geist und seine Kräfte Straßen Häuser und Bürgersteige wie Öfen eine wieder in Besitz.
Klar umgrenzt von den Wasserläufen der Wakenitz und der Trave, war die Altstadt nur an wenigen Toren zugänglich. Über 5000 Häuser standen dicht aneinandergereiht in den Straßen, Höfen und Gängen auf der Halbinsel, die nur beim Burgtor fest mit dem Umland verbunden war. Unter diesen Dächern spielte sich seit dem Mittelalter das Leben der Lübeckerinnen und Lübecker ab. Erst zu Thomas Manns Jugendzeit begannen die neugotischen Großbauten des Kaiserreichs, den einigenden Maßstab zu sprengen, der die »schmalen Giebelgassen« (Tonio Kröger) bis dahin geprägt hatte.
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Holstentor Er war kein beschränkter Kopf. Er hatte ein Stück von der Welt gesehen, war anno 13 vierspännig nach Süddeutschland gefahren, um als Heereslieferant für Preußen Getreide aufzukaufen, war in Amsterdam und in Paris gewesen und hielt, ein aufgeklärter Mann, bei Gott nicht alles für verurteilenswürdig, was außerhalb der Thore seiner giebeligen VaterHolstentor nach der ersten Restaurierung, stadt lag. um 1870. Fotograf unbekannt ••• Gleich, als ihr Bruder, der Konsul, sie vom Bahnhofe Holstenthore vorbei (…)
abgeholt hatte – sie war von Büchen gekommen – und mit ihr durch das Holstenthor in die Stadt gefahren war (…) ••• Dann klinkte das Thürchen ins Schloß, Herr Longuet schnalzte mit der Zunge und stieß unterschiedliche Ho- und Hü-Rufe aus, seine muskulösen Braunen zogen an, und das Gefährt rollte die Mengstraße hinunter, entlang der Trave, am
Das Holstentor entwickelte sich erst einige Jahre nach seiner Freilegung im Jahr 1853 zum Wahrzeichen der Stadt. Zuvor war es von Wällen und einem Vortor fast versteckt gewesen. Nachdem der drohende Abriss 1863 in einer knappen Abstimmung in der Bürgerschaft abgelehnt und die Restaurierung beschlossen worden war, entwickelte sich das Tor nicht nur zum Symbol Lübecks, sondern zu dem einer deutschen Stadt schlechthin, so dass es inzwischen seit fast einhundert Jahren auch das Ver bandssymbol des Deutschen Städtetages ist. In Thomas Manns Werken findet das zweitürmige Tor noch mehrfach Erwähnung.
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MengstraSSe 4 »Hole mich der Teufel, was ist das es einweihten … Wir waren nicht für eine Reise durch Euer Haus, größer als so damals. Die ganze Buddenbrook!« Familie war da.« ••• ••• Seine Augen verweilten auf dem »Das habe ich schon auf dem Spruch, der überm Eingang in Wege hier herauf sehen können altertümlichen Lettern gemeißelt – das Haus ist eine Perle, eine stand: »Dominus providebit.« Perle ohne Frage, gesetzt, daß Während er den Kopf ein wenig der Vergleich bei diesen Dimen senkte, trat er ein und verschloß sionen haltbar ist, ha! ha!« sorgfältig die schwerfällig ••• knarrende Hausthür. Dann ließ Zu Beginn des Jahres 72 ward Die obere Mengstraße, rechts Nr. 4, er die Windfangthüre ins Schloß der Hausstand der verstorbenen das Buddenbrookhaus. Fotograf unbekannt, um 1870 schnappen und schritt langsam Konsulin aufgelöst. Die Dienstüber die hallende Diele. mädchen zogen davon (...) Dann standen Möbelwagen in der Mengstraße, und die ••• »Unser Haus!« murmelte sie … »Ich weiß noch, wie wir Räumung des alten Hauses begann.
1841 erwarb der Kaufmann Johann Siegmund Mann der Jüngere (1797–1863) das Haus Mengstraße 2, das erst seit 1885 die heute bekannte Hausnummer 4 trägt. Das Haus war weitgehend ein Neubau aus dem Jahr 1758, auf einem großen Grundstück, das Platz für das Vorderhaus, zwei Höfe und zwei Quergebäude bot. Der biblische Spruch aus dem ersten Buch Mose, zusammen mit dem Baujahr über dem Portal eingemeißelt, begrüßte seit dem Bau die Bewohner und Besucher des Hauses. Thomas Mann erlebte das Haus als Kind und Jugendlicher: bis 1883 als Sitz der Getreidehandlung Johann Siegmund Mann und noch bis 1890 als Haus der Großmutter.
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AlfstraSSe 38 Konsulat Wie es in der Natur der Dinge lag, gingen Amt und Titel des königlich niederländischen Konsulates, das Thomas sofort nach dem Tode seines Vaters hätte für sich in Anspruch nehmen können, zu Tony Grünlichs
maßlosem Stolze jetzt an ihn über, und das gewölbte Schild mit Löwen, Wappen und Krone war nunmehr wieder an der Giebelfront in der Mengstraße unter dem »Dominus providebit« zu sehen.
Alfstraße 38, Portal Über der Tür das Schild des Königlichen Konsulats der Niederlande, Fotopostkarte. Fotograf unbekannt, um 1910
Als Handelsstadt und souveräner Staat hatte Lübeck weitreichende wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen. Von ihnen zeugten die Konsulate, die meist in der Hand vermögender Kaufleute lagen. Johann Siegmann Mann (II), Thomas Manns Großvater, war seit 1832 Kaiserlich Brasilianischer Vizekonsul und seit 1844 Königlich Niederländischer Konsul. Das niederländische Konsulat ging 1864 auf seinen Sohn Heinrich Mann über, 1877 auf dessen Halbbruder Johann Siegmund Mann (III), von diesem wiederum auf dessen Sohn Paul Alfred Mann, der sein Kontor seit 1901 in der Alfstraße 38 hatte.
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MengstraSSe 4 Landschaftszimmer Man saß im »Landschaftszimmer«, im ersten Stockwerk des weitläufigen alten Hauses in der Mengstraße, das die Firma Johann Buddenbrook vor einiger Zeit käuflich erworben hatte und das die Familie noch nicht lange bewohnte. Die starken und elastischen Tapeten, die von den Mauern durch einen leeren Raum getrennt waren, zeigten
Mengstraße 4, Landschaftszimmer. Fotopostkarte um 1910, nach verschollener Originalaufnahme um 1890. Fotograf unbekannt
umfangreiche Landschaften, zartfarbig wie der dünne Teppich, der den Fußboden bedeckte, Idylle im Geschmack des 18. Jahrhunderts, mit fröhlichen Winzern, emsigen Ackersleuten, nett bebänderten Schäferinnen, die reinliche Lämmer am Rande spiegelnden Wassers im Schoße hielten oder sich mit zärtlichen Schäfern küßten …
Nur zwei Zimmer des Hauses Mengstraße 4 zu Zeiten der Manns sind fotografisch dokumentiert — das Götterzimmer und das Land schafts zimmer, das als Ort des ausgedehnt geschilderten Festmahls zu Beginn des Romans der am genauesten beschriebene Raum des Hauses ist. Welcher Fotograf die beiden um 1890, vielleicht vor dem Verkauf des Hauses entstandenen Innenaufnahmen gemacht hat, ist unbekannt. Überliefert sind die ursprünglich größeren und gerahmten Fotografien nur als spätere Fotopost karten.
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MengstraSSe Das gelbe Licht der Öllampen, die vorm Hause auf Stangen brannten und weiter unten an dicken, über die Straße gespannten Ketten hingen, flackerte unruhig. Hie und da sprangen die Häuser mit Vorbauten in die Straße hinein, die abschüssig zur Trave hinunterführte, und einige waren mit Beischlägen oder Bänken versehen. Feuchtes Gras sproß zwischen dem schlechten
Pflaster empor. Die Marienkirche, dort drüben, lag ganz in Schatten, Dunkelheit und Regen gehüllt. ••• Dann klinkte das Thürchen ins Schloß, Herr Longuet schnalzte mit der Zunge und stieß unterschiedliche Ho- und Hü-Rufe aus, seine muskulösen Braunen zogen an, und das Gefährt rollte die Mengstraße hinunter (...)
Obere Mengstraße, Carte de Visite. Johannes Nöhring, um 1865
Der Lübecker Fotograf Johannes Nöhring fertigte um 1865 eine ganze Serie von Aufnahmen belebter Straßen an und verkaufte sie als kleinformatige Cartes de Visite. Während Aufnahmen der prominenten Bauwerke wie des Holstentors, des Rathauses oder der Marienkirche häufig sind, ist von diesen seltenen frühen Straßenszenen jeweils nur ein Exemplar in der Sammlung der Lübecker Museen erhalten. Die Aufnahme der oberen Mengstraße ist eines der beiden ersten Fotos, die auch das Buddenbrookhaus zeigen; das andere ist das um 1870 entstandene auf Seite 8/9.
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Marienkirche Denn es war frühzeitig kalt geworden. Draußen, jenseits der Straße, war schon jetzt, um die Mitte des Oktober, das Laub der kleinen Linden vergilbt, die den Marienkirchhof umstanden, um die mächtigen gotischen Ecken und Winkel der Kirche pfiff der Wind, und ein feiner, kalter Regen ging hernieder. ••• Und der Wind, der Westwind, der eben noch drüben in den Bäumen auf dem Marienkirchhof gespielt hatte und den Staub auf der dunklen Straße in kleinen Wirbeln umhergetrieben hatte,
Giebel des Kanzleigebäudes und Marienkirche, Carte de Visite. Carl Linde, um 1869
regte sich nicht mehr. ••• Nein, nein, es kam niemand mehr. Alle waren an Ort und Stelle, und da begann es auch schon, acht Uhr zu schlagen! Die Glocken klangen durch den Nebel von allen Türmen, und diejenigen von Sankt Marien spielten zur Feier des Augenblicks sogar, »Nun danket alle Gott« … Sie spielten es grundfalsch, wie Hanno rasend vor Verzweiflung konstatierte, sie hatten keine Ahnung von Rhythmus und waren höchst mangelhaft gestimmt …
In der Marienkirche wurde Thomas Mann getauft. Das dröhnende Geläut, in der Mengstraße nie zu überhören, begleitete seine Jugend. Für die Buddenbrooks ist St. Marien »ihre« Kirche — wie sie es auch für die Manns war. Das 1882/83 neugebaute Haus der Familie Mann in der Beckergrube 52 gehörte zum Kirchspiel St. Jakobi; die Manns blieben aber der Marienkirche verbunden, wo Thomas Mann 1892 auch konfirmiert wurde. Die Erinnerung an die Glocken ging in den Roman ein: Hanno Buddenbrook hört sie auf dem Schulweg zum Katharineum. Die 1942 beim Luftangriff herabgestürzten und als Mahnmal liegengebliebenen Glocken sah Thomas Mann bei seinem Besuch 1955.
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Marienkirche Aber er verweilte länger, als er erwartet hatte. Es vergingen acht Tage, und noch immer hatte er diese oder jene Sehenswürdig keit, den Totentanz und das Apostel-Uhrwerk in der Marienkirche (…) nicht besucht. ••• Er wußte wohl, was geschehen würde. Er würde weinen müssen, vor Weinen dies Gedicht nicht beenden können, bei dem sich einem das Herz zusammenzog, wie wenn am Sonntag in der Marienkirche Herr Pfühl, der Organist, die Orgel auf eine gewisse, durchdringend feierliche Weise spielte … ••• Edmund Pfühl war ein weithin
Marienkirche, Blick zur Totentanzorgel, Carte de Visite. Fotograf unbekannt, um 1865
hochgeschätzter Organist, und der Ruf seiner contrapunktischen Gelehrsamkeit hatte sich nicht innerhalb der Mauern seiner Vaterstadt gehalten (…) und seine Fugen und Choralbearbeitungen wurden hie und da gespielt, wo zu Gottes Ehre eine Orgel erklang. Diese Kompositionen, sowie auch die Phantasien, die er Sonntags in der Marienkirche zum Besten gab, waren unangreifbar, makellos, erfüllt von der unerbittlichen, imposanten, moralisch-logischen Würde des Strengen Satzes. Ihr Wesen war fremd aller irdischen Schönheit, und was sie ausdrückten, berührte keines Laien rein menschliches Empfinden.
Die Marienkirche mit ihrer reichhaltigen und vielfältigen Ausstattung gehörte schon immer zu den Pflichtstationen eines Lübeck-Besuchs. Besonders den gemalten Totentanz — zu Buddenbrooks Zeiten bereits eine Kopie aus dem 18. Jahrhundert nach dem mittelalterlichen Original — und die astronomische Uhr mit ihren vielen beweglichen Elementen zeigten Lübecker stolz ihren Gästen. Beides verbrannte 1942 bei der Zerstörung von St. Marien — genauso wie die Große Orgel und die kleinere Totentanz orgel, die hier im Hintergrund zu sehen ist.
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Breite StraSSe »Wie aufrichtig betrübt war ich, mein Fräulein, Sie zu verfehlen!« sprach Herr Grünlich einige Tage später, als Tony, die von einem Ausgang zurückkehrte, an der Ecke der Breiten- und Mengstraße mit ihm zusammentraf.
»Diese Möllendorpf, diese geborene Hagenström, diese Semlinger, dieses Julchen, dieses Geschöpf … was meinst du wohl, Mama! Sie grüßt mich nicht … nein, sie grüßt mich nicht! Breite Straße mit Kanzleigebäude, Stereofoto. Sie wartet, daß ich Fotograf unbekannt, um 1870 sie zuerst grüße! Was sagst du dazu! Ich bin in der Breiten Straße mit ••• Die Sache war die, daß während des ganzen Tages erhobenem Kopfe an ihr vorübergegangen und bereits Unruhen in der Stadt geherrscht hatten. In habe ihr gerade ins Gesicht gesehen …« der Breiten Straße war am Morgen die Schaufens••• terscheibe des Tuchhändlers Benthien vermittelst In der Breitenstraße herrschte um Mittag reger Steinwurfes zertrümmert worden, wobei Gott allein Verkehr. Schulkinder, die Ränzel auf den Rücken, wußte, was das Fenster des Herrn Benthien mit kamen daher, erfüllten die Luft mit Lachen und der hohen Politik zu schaffen hatte. Geplapper und warfen einander mit dem halb zertauten Schnee. ••• Das lebhafte Treiben in der Breiten Straße, das im Roman mehrfach beschrieben wird, ist auf frühen Fotos so gut wie nie zu sehen — eine Ausnahme bildet dieses seltene Stereofoto, das Passanten aller Stände und einige Fuhrwerke zeigt. Aufgenommen ist das Foto aus einem Haus weiter nördlich in der Breiten Straße, etwa dort wo und zu der Zeit, als Heinrich Mann geboren wurde (Breite Straße 54). Alle Häuser, die hier zu sehen sind, wurden im späten 19. Jahrhundert durch Um- oder Neubauten er setzt. Im Kanzleigebäude arbeitete zu Buddenbrooks Zeiten ein Teil der Verwaltung des Lübecker Staates.
Als Thomas Mann 1897 in Italien begann, die »Buddenbrooks« zu schreiben, war Lübeck für ihn »nicht wesentlich mehr als ein Traum, skurril und ehrwürdig«. Doch die Erinnerung an die ferne Vaterstadt im Norden war erstaunlich präzise. Dieses Buch zeigt in frühen Fotos und mit Textpassagen aus dem Roman, wie Straßen, Plätze und Gebäude Lübecks zur Zeit der »Buddenbrooks« 9 783885 069676 aussahen — und wo die Figuren im Roman sowie ihre realen Vorbilder gewohnt haben.