Leseprobe: Quer zum Strom

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Fotografien von Jo Röttger

Quer zum Strom Die Elbe — Ein Blick — Hundert Bilder


Vorwort

„Ich schaue so gern aufs Wasser“, sagte mein Vater, der am Wasser geboren wurde, oft. Nicht an der Elbe zwar, aber am Steinhuder Meer. Als Kind fand ich das Aufs-Wasser-Schauen öde und langweilig. Wie konnte man das nur mögen? Ich wusste nicht oder konnte mir nicht vorstellen, wie viel Sehnsucht und Gefühl in diesem Anblick liegt. Wie Wind und Wetter, Jahres- und Tageszeiten den Blick und das Empfinden beim Betrachten des Wassers verändern. Wie zufrieden man wird, wie ruhig, nachdenklich und glücklich, weil man das Wasser beobachtet, das niemals stillsteht, niemals gleich aussieht. Weil man loslässt. Heute verstehe ich jeden, der gern aufs Wasser schaut. Denn mit Wasser, dem fließenden zumal, verbindet sich vieles: Es ist Quell des Lebens und nicht ohne Grund in vielen Religionen wichtiges Element des Reinigungsrituals. Es sorgt für Bewegung und Veränderung, Neugier und Wachsamkeit, Fernweh und Heimatgefühle. Und natürlich Träume. Dass unser Gehirn zu siebzig Prozent aus Wasser besteht, spielt dabei vielleicht nur eine ganz kleine Rolle. Wir träumen beim Blick aufs Wasser von Unendlichkeit und Abenteuern. Von neuen Ufern und sei’s im übertragenen Sinne. Wie weit kann es einen treiben, wenn man die Elbe hoch aufs Meer fährt? Um die ganze Welt. Und wem begegnet man dann dort? Wie lange kann man unterwegs sein, und wohin geht die Reise? Wie sieht es wohl im Innern dieser Schiffe aus? Wie ist das Leben an Bord, und was steckt in den Containern? Große Flüsse und das Meer verbinden Menschen. Sie lassen uns an unsere scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten denken. Und sie machen uns demütig angesichts ihrer gewaltigen, kaum zu bändigenden Natur. Wer zur See fuhr, riskierte jahrtausendelang sein Leben, war extremen Bedingungen unterworfen. „Auf dem Meer ist man in Gottes Hand“, heißt es, denn man ist seinen elementaren Gewalten auf Gedeih und Verderb ausgesetzt, selbst heute noch, wo Schiffe viel sicherer gebaut und mit neuesten Naviga-

tionssystemen ausgestattet werden. Wasser verbindet Mensch, Märchen und Mythos. Ob es die Arche Noah oder Moby Dick ist, die Odyssee, die Loreley oder die Kleine Meerjungfrau – Wasser, Flüsse und Meer faszinieren uns und setzen unsere Fantasie in Gang. All dies hat der Künstler und Fotograf Jo Röttger bei seinen Bildern auf die Elbe im Blick. Röttger hat sich in Hamburg immer wieder an die gleiche Stelle begeben. Zwei Jahre lang hat er in Blankenese über die Elbe hinweg, quer zum Strom, Fotos gemacht, von Wind, Wasser und Wetter. Immer wieder anders sieht man die immer gleiche Stelle: Im Vordergrund ein Strandweg und Gebüsch, dann die Elbe und das, was sich auf ihr abspielt, im Hintergrund Bäume und eine Werft. Diese Einfachheit ist verblüffend erhellend und wirkt auf die Betrachter, ohne sie abzulenken. Beinahe so, als schauten sie selbst auf den Fluss. Man sucht nicht, man findet. Vorbei ziehen Container und Dreimaster, Kreuzfahrtschiffe und kleine Segelboote, Frachtkähne, Kanus und eine Fähre. Die Boots- und Schiffstypen sorgen für Abwechslung, wo ansonsten die unveränderte Perspektive den Bildausschnitt vorgibt. Man begegnet hier der weiten Welt an einem einzigen Fleck. Mal leuchtet der Himmel glutrot, mal ein Schiff. Das Osterfeuer brennt oder die Wolken türmen sich fast bösartig auf. Die Landschaft versinkt im Nebel, und die ganze Welt wirkt grau, so grau. Und dann erblickt man plötzlich einen schönen Sommerabend, der zu Ende geht, und vermeint das leise Plätschern des Wassers zu hören und den Frieden, der einkehrt, ganz körperlich zu spüren. Die Elbe wirkt auf diesen Bildern mal ruhig, mal schwarz, mal eisig oder gewaltig. Im Winter ist sie schneebedeckt oder voller Eisschollen. Im Sommer kann sie spiegelglatt sein oder von Wellen aufgewühlt. Nichts bleibt, wie es ist. Auch die Bäume und Büsche im Vordergrund zeugen vom Wechsel der Jahreszeiten. Ach, hätten wir nur mal genauer hinge-


schaut, dann hätten wir das alles auch sehen können. Aber es braucht das Auge eines Künstlers, um uns zu zeigen, wie das Leben sich darstellt und gestaltet. Zwei Paddler vor einem riesigen Container sehen aus wie aus einer Spiel­ zeuglandschaft. Der einsame Mann auf dem Lastkahn ist wohl ebenso geschäftig wie die Maschinen, die taghell den Nachthimmel im Hintergrund erleuchten, dort, wo die Este-Mündung liegt und eine Werft. Der tiefdunkle Himmel zeichnet ebenso Muster auf die Elbe wie die Sonne, die hinter einer Wolke hervorbricht. Und die Spaziergänger, die einen vorbeifahrenden Containerriesen bestaunen, scheinen genau die gleichen Gefühle zu haben wie wir, wenn wir Schiffe sehen: Ehrfurcht und Staunen. Da ist der Respekt vor der Seefahrt, die seit rund 10 000 Jahren die Menschheit ernährt und in neue Weltgegenden führt. Die Welt wurde schließlich per Schiff entdeckt und neu besiedelt. Und da ist die Romantik, die uns befällt, weil wir wissen, „eine Seefahrt, die ist lustig“. Manchmal jedenfalls. Denn man kennt die Momente, in denen man seinen Alltag nur allzu gerne mal hinter sich lassen möchte, um einfach davonzufahren, auf einem Schiff. Ins Ungewisse. Jo Röttger kann als Fotograf mit seinen Bildern über die Welt staunen. Und er lässt uns als Betrachter mitstaunen. Röttger hat Fotografie in Dortmund studiert und lange mit dem ZEITmagazin gearbeitet. Seine Fotos werden von internationalen Magazinen gedruckt. Er war Mitglied der Fotografen-Gruppe Visum. In all seinen Arbeiten über Menschen und Landschaften spiegelt sich viel mehr als nur ein Abbild. Röttgers Fotoprojekte heißen „Taiwan“, „Obdachlos“, „Genversuche“ oder „Acht Schritte zu den Pyramiden“. Er fotografiert nächtens auf der Reeperbahn, zeigt Türsteher, Polizisten, Männer in Arrestzellen und Vergnügungssüchtige. Er schaut in nüchterne Kammern im Bordell und auf dem Polizeirevier. Da, wo

das Leben zu toben scheint, sieht es oft sehr tot aus. Genauso ist es auf seinen Fotos der „Quer zum Strom“-Reihe. Nie ist der Blick voyeuristisch oder sensa­ tionslüstern. Stets ist man mittendrin, als stiller Beobachter. Röttgers Fotos sind Reportagen aus dem wahren Leben. Sie öffnen uns die Augen für Dinge, die wir vorher nicht gesehen haben. 2011 hat der Fotograf deutsche Soldaten in Afghanistan begleitet, in eine beinahe unwirklich leere Landschaft. Er hat „Elbgeschichten“ fotografiert, die uns vertraut wirken, und das ferne, berühmte St. Quentin Staatsgefängnis in den USA, dessen Insassen beim Hofgang in ihrer orangefarbenen Kleidung an buddhistische Mönche erinnern. Röttgers kluge, genaue und einfühlsame Fotoserie „Quer zum Strom“ hilft dem müde gewordenen Blick auf die Sprünge. Für Bildgestaltung bleibt bei diesem Projekt nicht viel Raum. Schließlich schauen wir auf einen unveränderlichen Ausschnitt. Doch so entdeckt man im Großen – Natur, Elbe, Wetter – das Kleine, die Ruhe vor dem Sturm, die Laubverfärbungen, die winzig wirkenden Paddler, das Muster auf dem Wasser. Und man sieht ebenso im Kleinen – der Silhouette einer Familie, dem überfluteten Strandweg – das Große, nämlich wie aufregend und vielfältig das Leben ist. Und bei all der Seefahrer-Romantik, die uns beim Betrachten dieser Bilder wohl auch überfällt und die uns vielleicht Hans Albers’ Ohrwurm „Einmal noch nach Bombay, einmal nach Shanghai, einmal noch nach Rio oder nach Hawaii“ ins Ohr bringt – spüren wir bei diesem Blankeneser Blick über die Elbe, wie schön es ist, einen festen Platz zu haben. Zu Hause zu sein.

Armgard Seegers



Die Bilder in diesem Buch hat Jo Röttger über mehrere Jahre vom Balkon eines Kapitänshauses am Blankeneser Strandweg aus fotografiert – stets mit demselben Blick, immer mit demselben Bildausschnitt. Im Hintergrund ist die Sietas Werft an der Este-Mündung in Cranz zu sehen, deren Helgen sich wie ein Tor auf die Landschaft öffnet und dem Fadenkreuz eines Suchers gleicht. Auf der Bühne im Vordergrund vollziehen sich die Metamorphosen des Lebens am Fluss. Als konzeptionelle Fotoarbeit angelegt, erzeugt die zunächst streng anmutende Versuchsanordnung eines fixierten Bildrahmens mit variierenden Inhalten ein überraschend lebendiges Wechselspiel – von konzentrierter Ruhe, unab­lässiger Bewegung, unendlicher Veränderung.



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Jo Röttger, geboren 1954 in Waltrop/Westfalen, studierte Fotografie in Dortmund bei Prof. U. Mack und lebt und arbeitet seit 1980 in Hamburg. Von 1980 bis 1989 war er Magazin-Fotograf beim ZEITmagazin. Seit 1989 arbeitet er für deutsche und internationale Magazine sowie Unternehmen und realisiert freie, künstlerische Projekte: über den amerikanischen Künstler Robert Wilson, Wilsons World, über deutsche Soldaten, die sich auf den Einsatz in Afghanistan vorbereiten und vor Ort sind, Landscapes & Memory, oder über den immer selben Blick aus einem ehemaligen Kapitänshaus in Blankenese auf die Elbe, Quer zum Strom.

Vielen Dank für die großzügige Unterstützung:

Junius Verlag GmbH Stresemannstraße 375 22761 Hamburg www.junius-verlag.de © 2017 by Junius Verlag GmbH © für alle Bilder: Jo Röttger Alle Rechte vorbehalten Gestaltung und Satz: Benjamin Wolbergs, Berlin Druck und Bindung: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG gedruckt im Ultra HD Print Printed in Germany 1. Auflage 2017 ISBN 978-3-88506-799-3 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliothek; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


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