Leseprobe: KopfSteinPflaster. Verborgenes, Verdrängtes, Vergessenes aus dem hanseatischen Lübeck

Page 1

KOPF STEIN PFLASTER V e r b o r g e n e s, V e r d r ä n g t e s, Ve r g e s s e n e s a u s d e m hanseatischen Lübeck S a b i n e Jo S t a h r Thomas Henning



KOPF STEIN PFLASTER V e r b o r g e n e s, V e r d r ä n g t e s, Ve r g e s s e n e s a u s d e m hanseatischen Lübeck S a b i n e Jo S t a h r Thomas Henning


Vorweg. Heißes Pflaster Lübeck

D

as Holstentor ist ein beeindruckender Bau, weltbekannt und zahllose Male aufgegessen. In Marzipan geprägt und als leckeres Souvenir verschenkt, kündet die mächtige Befestigung von der Bedeutung der mittelalterlichen Sieben-Türme-Stadt. Als eins der Stadttore mit bis zu dreieinhalb Meter starken Mauern sollte es sowohl die Feinde der Hansestadt abschrecken als auch den Freunden den Handel ermöglichen. Wer in Lübeck seine Geschäfte machen wollte, musste hier erst mal durch. Bevor der auswärtige Besucher durch das Tor trat, konnte er darauf – wenn er denn konnte – in goldenen Lettern „Concordia Domi Foris Pax“ lesen. „Eintracht drinnen, draußen Frieden“ galt als Motto und Mahnung zugleich, seinen Angelegenheiten ehrlich und friedfertig nachzugehen. Zu allen Zeiten ein frommer Wunsch, ein hehres Ziel, doch geklappt hat es noch nie. Verbrechen und Verbrecher sterben nicht aus, auch nicht vor, hinter und in hanseatischen Gemäuern. Verlässt der Besucher die Stadt durch das Holstentor, liest er noch die kryptischen Buchstaben S.P.Q.L. – „Senatus Populusque Lubecensis“. Sie zitieren große Weltgeschichte. Die antiken Römer meißelten ihr „Senatus Populusque Romanus“ – abgekürzt und übersetzt: S.P.Q.R., „Senat und Volk Roms“ – in fast jedes Stück Marmor und gießen es noch heute in jeden Gullydeckel. Wenn auch das Lübecker Kopfsteinpflaster noch nicht ganz so alt ist wie das der „Ewigen Stadt“, ist es doch gefühlt schon viel älter. Modernes Flickwerk macht das Benutzen vieler Wege zum Abenteuer. Deshalb hat der Volksmund die Abkürzung umgedeutet in „Schlechtes Pflaster quält Lübeck“. Eine hübsche und zutreffende Verballhornung. Und damit sind wir schon mittendrin in unseren Geschichten …

6



Inhalt. Hanseatische Fälle Schnösel gegen Pisser. Ein Richter macht kurzen Prozess

14

Richtig falsch. Das Wunder von St. Marien

18

Wo ist seine Frau geblieben? Der Fall Crantz

24

Schüsse auf einen Hanseaten. Der Mordfall Stiller

30

Wer ist hier eigentlich fremd? Brandanschlag im Flüchtlingsviertel

36

Exodus: Das „Lager Pöppendorf“ in Waldhusen

40

Nicht aus Marzipan. Hexenwahn und Holstentor

42

Opfer der Vorstadt. Doppelmord vor dem Eigenheim

48

Tatort Drehort. Der kopierte Untote

52

Der Tod fuhr Taxi. Es geschah in einer Osternacht

58

Aufgeklärt: Messerstiche in der Schützenstraße

60

Gerichtsstand Turnhalle. Der zweite Lübecker Totentanz

62

Unfall oder Verbrechen. Tod auf der Rehderbrücke

66


XY Jahre ungelöst. Der Mord an Manuela Bülow

70

Elle und Speiche im Fahrradkeller. Knochenfund im Katharineum

74

Mysteriös. Attentat auf der Pferdekoppel

78

Frauenmorde: Nicht aufgeklärt, aufgeklärt, verurteilt

80

Filmreif. Spider-Man in der Sparkasse

84

Verfolgungsjagd auf dem Priwall. Das Ende der bronzenen Nixe

88

Spannend: Der nackte Klassenfeind

92

Mutter trifft Mörder. Die Rache der Frau Bachmeier

96

Lotterleben eines Literaten. Bruder Unrat im Blauen Engel

106

Cabaret: Hollywood im Hauptbahnhof

110

Engelsburg. Bunker mit Spitzname

112

Ausgesetzt. Ohne Freund und Helfer

116

Zwei Brüder und eine Kloake. Der Untergang des Hauses Vorrade

122

Anrüchig: Näschen in der Grube

124


Inhalt. Hanseatische Fälle

Geld stinkt nicht. Gute Geschäfte auf dem stillen Örtchen

126

Maschinen für Massenverpackungen. Munition für das „Dritte Reich“

130

Konservendose: Frisch für alle

134

Reise nach Jerusalem. Herrn Konstins gerader Kreuzweg

136

Zehn Tote Flüchtlinge. Brandanschlag in der Hafenstraße

140

Wie gedruckt. Balhorns Blamage

150

Impressum

156



12


Tr a v e h a f e n


Schnösel gegen Pisser. Ein Richter macht kurzen Prozess

M

anchmal ist der Name Programm: Musterbahn. Ein Muster ist eine wiederkehrende Struktur, die beim erneuten Auftreten erkannt wird. Muster gibt es in vielen Lebensbereichen. Verhaltensmuster werden in der Psychologie erkannt, und ein lebhaftes Beispiel dafür gab Anfang der 1980er Jahre ein Anwohner der vornehmen Lübecker Seitenstraße dieses Namens. Um die fünfzig, als Jurist beruflich sehr erfolgreich, hatte Herr Dr. Dr. Peter Hartmann seinen Beruf zum Hobby gemacht. Als er, Richter am Lübecker Amtsgericht, am 26. September 1984 in der Redaktion des Spiegel anrief, kam dies einer Selbstanzeige gleich. „Ich habe wieder zugeschlagen“ waren seine bemerkenswerten Worte, denen man entnehmen konnte, dass sein persönliches Tatmuster buchstäblich das Zuschlagen war. Es war nämlich nicht das erste Mal, dass dem Akademiker – den zweiten Doktortitel soll er in Musikwissenschaft erworben haben – die Hand ausrutschte. Der Spiegel hatte bereits 1983 über seine Verwicklung in einen ähnlichen Fall berichtet. Schon damals hatte sich gezeigt, dass der Amtsrichter sich auch zum Verkehrsrichter berufen fühlte. In dieser eingebildeten Funktion war er wohl auch am 25. September in der Musterbahn unterwegs, wo er im Haus Nr. 15 einen zweiten Lübecker Wohnsitz besaß. Die vorwiegend hell gestrichenen großbürgerlichen Stadthäuser dort grenzen auf der Rückseite direkt an den Mühlenteich. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite bilden die Backsteinmauern eines Gymnasiums ein optisches Gegengewicht. Der sorgfältig geteerte Bürgersteig möchte nicht dem kleinsten Unkraut eine Chance geben. Zu den meisten Eingangstüren führen einige Treppenstufen hinauf. Und nur vor Nr. 15 fallen mehrere, mit immergrünen Büschen bepflanzte Waschbetonkübel auf, als sollten sie das Schild „Hier parken verboten“ ersetzen. An besagtem Septembernachmittag 1984 fuhr der 15-jährige Schüler Karsten auf seinem Mofa in die Einbahnstraße, die zum Dom hin leicht

14


Parken nur fĂźr Anwohner


Schnösel gegen Pisser. Ein Richter macht kurzen Prozess

ansteigt. Er war zu einem Arzttermin in einem der Nachbarhäuser angemeldet. Zu beiden Seiten der Fahrbahn parkten dicht an dicht Autos, so dass der Jugendliche sein Mofa ordentlich vor dem Gebäude abstellte, in dem sich die Praxis befand. Als sein gleichaltriger Freund Markus ihn abholen wollte, stellte der sein Mofa ebenfalls dort ab. Die beiden Jungs standen neben ihren Fahrzeugen, als Richter Hartmann auf sie zustürzte und sie wegen des vermeintlichen Verkehrsverstoßes zu beschimpfen begann. Richter Hartmann geriet dabei heftig in Rage und trat wütend gegen das Mofa von Markus, so dass es umfiel. Nun stellte sich Karsten schützend zwischen seinen Freund und den schreienden Mann, der ihn daraufhin einen „Schnösel“ nannte, auch gegen sein Mofa trat und dabei den Scheinwerfer demolierte. Das Mofa fiel gegen einen parkenden Wagen und beschädigte diesen, Helm und Brille des Jungen wurden dabei ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. In dem entstandenen Tumult nannte Karsten den tobenden Richter nun einen „Pisser“, wofür er sich zwei kräftige Ohrfeigen einhandelte. Tränen flossen, Karsten rettete sich in die Arztpraxis, ein Streifenwagen wurde gerufen. Die Polizisten parkten ohne Blaulicht in der zweiten Reihe, was der Richter ebenfalls sofort bemängelte. So kam es auch noch zu einer Beamtenbeleidigung durch den Rechthaber im Staatsdienst – „Sie dummer Wachtmeister“ – und am Ende zum Prozess. Das ist für einen Richter natürlich das tägliche Brot, normalerweise aber aus einer anderen Perspektive. Herr Dr. Dr. Hartmann stand indes schon zum dritten Mal auf der Seite, die sonst seinen Kunden vorbehalten ist. Schon im November 1980 war, ebenfalls in der Musterbahn, nach lautstarker Parkplatzhändel der Schachtmeister einer Baustelle durch ein rangierendes Auto verletzt worden. Am Steuer des Wagens saß Richter Hartmann. Die Strafanzeige des Geschädigten wurde abgewiesen. Man verhandelte den Fall zivilrechtlich, und Richter Hartmann musste nur ein Schmerzensgeld zahlen. 16


Kurzer Prozess vor Nummer 15

Im August 1982 kam es ganz in der Nähe der Musterbahn zu einem weiteren Zwischenfall. Ein 15-jähriger Junge, der im morgendlichen Berufsverkehr mit dem Fahrrad unterwegs war und den Gehweg auf der Mühlenbrücke der Straße vorzog, wurde wegen angeblich unkorrekten Fahrverhaltens von einem Autofahrer geohrfeigt, der für diese Aktion extra aus seinem silberfarbenen Mercedes 450 SEL ausgestiegen war. Der Fahrer war Richter Hartmann. Er kam, wiederum ohne Strafverfahren, mit einer Geldstrafe von 1800 D-Mark davon. Im beschriebenen dritten Fall verurteilten die Richter ihren Kollegen wegen vorsätzlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung in zwei Fällen und Beleidigung. Dem Doppeldoktor wurden vierzig Tagessätze in Höhe von je 180 D-Mark aufgebrummt, also 7200 D-Mark. Sein angeblich geäußerter Kommentar dazu: „Das ist hart, Mann.“ 17


Richtig falsch. Das Wunder von St. Marien

W

ann hatte es das schon mal gegeben? Ein Mann zeigt sich selbst an und muss danach vor Gericht nicht seine Unschuld, sondern seine Schuld beweisen. So begann am 6. Oktober 1952 ein Skandal, an dessen Peinlichkeit sich viele Hansestädter auch heute noch nicht gern erinnern. An diesem Tag erstattete der Maler Lothar Malskat bei der Lübecker Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen Kunstfälschung gegen den Restaurator Dietrich Fey und sich selbst. Beide hatten seit 1948 an der Wiederherstellung von St. Marien, der Mutterkirche norddeutscher Backsteingotik, mitgewirkt, die in der Nacht zum Palmsonntag 1942 durch einen britischen Luftangriff innen und außen schwer beschädigt worden war. Unter anderem ließ die Brandhitze Jahrhunderte alte dicke Kalkschichten im Innenraum der dreischiffigen Basilika abplatzen. Darunter kamen auf dem Mauerwerk Reste der mittelalterlichen Bemalung zum Vorschein. Diese Darstellungen wurden unter der Leitung Feys von seinem Angestellten Malskat sorgfältig freigelegt und restauriert. Unter dessen Händen entstand nun ein wahres Mirakel, das bald in ganz Europa als kunsthistorische Sensation gefeiert wurde. Die gotischen Fresken der Lübecker Bürgerkirche galten in Fachkreisen als Meisterwerke mittelalterlicher Malkunst. Die Wiederentdeckung und -herstellung schmückender Girlanden, Ornamente und Figuren begeisterte die Experten. Besonders die 21 Heiligen im Hochchor des Kirchenschiffs zeugten ihrer Meinung nach mit ihren klaren Linien und leuchtenden Farben von der erstaunlichen Gestaltungskraft des unbekannten Künstlers. Eine junge Doktorandin verfasste eine Dissertation zum Thema. Die deutsche Bundespost druckte 1951 zum 700-jährigen Bestehen von St. Marien zwei Sonderbriefmarken mit einer Pilgerszene aus dem Mittelschiff. Bei der offiziellen Jubiläumsfeier überreichte Bundeskanzler Adenauer Dietrich Fey Urkunde und Orden, eine Professur stand in 18


Flecken im Hochchor


A a l e . A l t a r. B a c h m e i e r. B a h n h o f . B e i l . B r a n d . B u n k e r. C l e m e n s t w i e t e . Crantz. Disco. Engelsburg. Exodus. F a h r r a d k e l l e r. G e l ä n d e w a g e n . Grenze. Hafenstrasse. Jerusalem. Katharineum. Klassenfeind. Kloake, K n o c h e n . L a g e r. L e i c h e . L i t e r a t . M a n n . M a u e r. M u m i e . M u n i t i o n . Musterbahn. Niemandsland. Nixe. Nosferatu. Nudisten. Pferdekoppel. Priwall. Räucherfisch. Rehderbrücke. R i c h t e r. R o t l i c h t . S a n d . S p e i c h e r. Scheidung. Schlutup. Schnösel. S t r a n d . Ta x i m o r d . To d e s s t r e i f e n . To i l e t t e n m a n n . Tr i c k b e t r ü g e r. Tu r n h a l l e . S p a n n e r. S t r a n d k o r b . U n t e r t ra v e . Vo r ra d e . Wa c h t u r m . Waldhusen. Weide. Ziegel. Zolln.

978-3-88506-962-1

9 783885 069621


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.