Nachbarschaftshilfe „Drei kleine Bauarbeiter starren in das Loch und wenn sie nicht gestorben sind, dann starr´n sie immer noch…“ Sie stand hinter dem Vorhang ihres Schlafzimmerfensters und beobachtete die beiden unterschiedlichen Szenen, welche sich vor ihrem Häuschen abspielten. Sie sah den kleinen blonden Jungen auf der Schotterstraße vor der großen Baustelle auf der anderen Straßenseite auf und ab hüpfen und sein Schmählied trällern. Sie sah ebenso die erstarrten Männer, welche, einer Mauer gleich, reglos am Rande einer riesigen Baugrube standen und tatsächlich nichts anderes taten, als nach unten zu starren. Sie sah auch, wie sich gerade der schwarzhaarige Baggerfahrer aus seinem Führerhaus beugte und den Männern etwas zurief. Sie konnte es nicht verstehen. Sichtlich genervt, weil keiner auf seinen Zuruf reagierte, sprang der Schwarzhaarige aus seinem Fahrzeug und eilte gestikulierend auf die Gruppe seiner reglosen Kollegen zu. „Vier kleine Bauarbeiter…,“ kichernd begann der kleine Junge sein Lied von vorne, in leicht abgeänderter Version. Der vierte Mann, der schöne Schwarzhaarige, wankte gegen die Mauer seiner Kollegen, nachdem er einen Blick in die Grube geworfen hatte und begann hastig seine Hosentaschen abzuklopfen. Endlich holte er mit zitternden Fingern eine zerdrückte Zigarettenpackung heraus und versuchte, mehrmals vergeblich, sich eine Zigarette anzuzünden. „Macht´s was, verdammte Scheiße!“ Sie hörte die Worte trotz des geschlossenen Fensters deutlich. Sie presste eine Hand vor den Mund, als ob sie dadurch die grässliche Übelkeit, welche sie überfallen hatte, zurückdrängen könnte. Sie hatten ihn gefunden. Zu früh. Sie war noch nicht darauf vorbereitet. So schnell. Nachdenken. Sich wieder fassen. Nachdenken, nachdenken…Rotwein …hinsetzen. Sie tastete sich an der Wand entlang ins angrenzende Wohnzimmer, blind für die gewohnten Dinge, nur Bilder des Grauens im Kopf. Hastig riss sie die Tür des Getränkeschrankes auf, griff sich die offene Weinflasche und trank gierig ein paar Schlucke. Sie ließ sich auf das rote Sofa fallen, die Weinflasche fest umklammert. „Vier kleine Bauarbeiter…, jetzt kommen die Bullen noch dazu…“ Aus der Ferne war das Herannahen eines Einsatzwagens zu hören. Mit dem lauter Werden der Töne stieg ihre Nervosität noch weiter an. Sie setzte die Flasche nochmals an, rappelte sich dann aber auf, versuchte ihre Schritte exakt zu setzen, um nicht ins Wanken zu kommen und erreichte endlich wieder ihren Platz hinter dem Vorhang des Schlafzimmerfensters. Ein Polizeiwagen kam auf der trockenen Schotterstraße angeholpert und hüllte die ganze Umgebung in bräunlichen Nebel aus Staub und Sand. Ein weiterer folgte und noch einer, bis das Straßenstück vor ihrem Fenster von bunten, die Morgensonne grell reflektierenden Blechhäufen zugestellt war. Uniformierte und Nichtuniformierte begannen, je nach Rangordnung, emsig ihre automatisierten Tätigkeiten. Wie dressierte Äffchen, dachte sie. Beinahe hätte sie gelacht. Bald würden sie mit den Befragungen beginnen, würden auch sie aufsuchen und mit durchdringenden, scheinbar wissenden Blicken versuchen, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.