08_noch-einmal-fliegen

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Codewort: Wunschzeit Noch einmal fliegen Der Bach ist breit. Sehr breit für Erna, die zwischen Sträußen drahtiger Grashalme daumentief in den moorigen Grund absinkt. Sie wendet dem Wasserlauf den Rücken zu und streckt ihre Arme in die Höhe, auf den Nebelschwaden trippeln die Finger. Ihren Oberkörper und ihren Kopf neigt sie so weit nach hinten, bis ein paar Regentropfen das Grübchen über dem Kinn benetzen und zur Unterlippe hochkrabbeln. Nein. Sie ist zu klein, das andere Ufer zu weit weg, um hier eine Brücke zu schlagen. Nachdem sie ein paar Schritte Anlauf geholt hat, rennt, springt und verliert sie den Boden unter den Füßen. Mit den Knien kommt sie auf der Wiese auf. An das Ohr, hinter das sie ihre ins Gesicht gefallenen Haarsträhnen streicht, schmiegt sich sanft eine Sumpfblume. Während der Bach in ihrem Rücken seinen Lauf nimmt und sich kleine Fische in seinen Wellen vergraben, treibt Erna über die Hügel einem hinter Gräsern und Bäumen auftauchenden Bauernhof zu. „Halt es fest!“ Kaum einen Lidschlag lang wirbelt ein fünfingriges Kastanienblatt vor ihren Augen, bevor es wild gestikulierend den nach ihm greifenden Händen entwischt. An seiner Statt drängt sich ein hageres Mädchen, kaum größer als Erna, ins Blickfeld. Seine Brauen zusammengezogen, beißt es sich in die linke Daumenspitze. Um nicht zu schreien. Bloß die wutgestärkten Laute würde das Tal wiedergeben, nicht mehr, nicht das Wort. Langsam glätten sich die Falten auf dem jungen Gesicht, die Röte sammelt sich an den Wangen und verblasst schließlich. „Der Brief war für mich. Ich habe solange auf ihn gewartet.“ Im Sonnenlicht habe die alte Kastanie das Blatt bedruckt. Als ihm die Post heute Morgen raschelnd zugefallen war und es sie, an einen Baumstamm gelehnt, lesen wollte, habe sie ihm der garstige Wind aus den Händen gezupft. Erna ist verwundert. Dem Mädchen, das vor ihr steht, zweigen Bäume Briefe ab, geben bunte Blätter Nachricht. Hand in Hand. Ein Fuß nach, ein Fuß vor dem anderen. Je mehr Erna den Worten und Bewegungen des fremden Kindes folgt, desto mehr erspäht und verspürt sie von dem, was wundersam sich entfalten und Regenbögen über den ziehen kann, der es fliegen lässt. Blumen mit weiß und licht gewordener Mähne vor ihren Mündern, blasen die beiden Mädchen gegen den Wind an, bis Löwen über den Himmel jagen und der Blätterdieb nebelschwer die Flucht ergreift. Klare Stille kehrt ein, friedlich legen sich die Wolken zur Ruhe. Nur, wo Leben sein Wesen treibt, knickt noch hie und da ein Ast, krümmt sich ein Halm und bricht nach langem Picken die Schale auf. Die Frucht ist reif, der Sommer vorüber. Erna holt tief Luft. „Wie heißt du eigentlich?“ „Tepp.“ „Aber … das ist doch kein, du bist doch kein Bub.“ „Ich bin Tepp. Einfach Tepp.“ Tepp, weil es Erna gibt. „Wie sollen wir bei so vielen Blättern deinen Brief finden?“ „Ich erinnere mich genau, wie er aussieht, sich anfühlt. Er war so … an seiner Unterseite waren, glaub‘ ich, kurze Härchen. Die kratzten ein bisschen auf der Haut.“ Gebückt, die Schultern hochgezogen, als ob sie friert, tastet Tepp über das glänzende Laub, dem Schweigen verfallen, feucht blinzelnd. Mit ihrer rechten Hand streicht Erna über den Oberarm des Mädchens. Als sie ihn sachte mit ihren Fingern umschließt, spürt sie harten Knochen unter der löchrigen Wollweste. Zittern geht auf sie über. Sie versteht Tepp. Beide habe sie etwas verloren. Ihre Schatten galoppieren ihnen voraus, steigen ineinander, sodass es fast so aussieht, als seien sie eins. Von der an das Bauernhaus gelehnten Hütte, wo Tigerkatzen zwischen Holzscheiten verschwinden, laufen Erna und Tepp auf dasselbe hinaus: Den sandigen Vorplatz, wo ihnen die Füße leicht sind, federleicht. Als es dämmert, ziehen sie die länger werdenden Schatten zu Boden. Ein Pferdesprung mehr und sie wären schulterkreisend der Drossel gefolgt, die dem Schnabel nach über Land zum Meer segelt.


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