Die verschwundene Nachbarin von Vicina Kalt weht der eisige Morgenwind durch den Wald. Schweigend und mit schwerem Schritt stapft die dunkle Silhouette zwischen den Bäumen, fast erdrückt von ihrer Last. Viel zu schwer ist das große Bündel über der Schulter. An der tiefsten Stelle des Waldes lässt sie es fallen und kehrt ohne sich umzublicken um. „Merkwürdige Leute hier im Morgengrauen“, denkt Silvana. Sie ist
wie jeden
Sonntagmorgen im Wald am Fuße des Kirchberges auf der Suche nach neuen Kräutern. Alle sagen ihr den Ruf einer Kräuterhexe nach, und jeder kommt gerne um ihre Tees und Salben zu kaufen. Sie ist keine Hexe, aber sie liebt die Heilkräfte der Natur. Früher hat sie auch nur auf die Schulmedizin gehalten, aber vor Jahren versuchte sie es mit Naturmedizin und es war ein grandioser Erfolg. „Servus Silvana!“ grüßt eine Läuferin. Immer wieder trifft sie hier Leute, auf der Merkur Meile oder auch im Wald, am Morgen sind viele Sportler unterwegs. Aber so jemanden wie vorhin hat sie noch nie gesehen. Der Löwenzahn blüht in voller Pracht und auf der Lichtung stehen viele Kräuter. Bald hat Silvana den Vorfall vergessen und macht sich mit einem prall gefüllten Korb auf den Weg nach Hause. Bald kommen die Kirchgänger, die muss sie nicht sehen. Von der Kirche hält Silvana nichts, der Pfarrer hält von ihr genauso nichts. Aber sie mag den Pfarrer, er ist jung und schafft es die Jugend zu begeistern. „Besser sie treiben sich in der Kirche herum als in unseren Wirtshäusern“. Jedes Wochenende hört man von den Jugendlichen, die sich in den Kneipen betrinken und immer gibt es Schwierigkeiten. Als sie nach Hause kommt, steht schon die Nachbarin vor der Tür. „Na toll, schon wieder „ denkt sich Silvana. Sie mag die Frau Walek, aber sie kennt beim Reden kein Ende. Ein kurzes Schwätzchen dauert immer Stunden. „Silvana, Silvana!“ keucht Babette Walek aufgeregt, „die Frau Schäfer ist weg! Verschwunden! Niemand weiß wo sie ist!“ Frau Schäfer war eine junge Dame im Nachbarhaus der Wohnsiedlung, sie bewohnte das kleine Reihenhaus ganz rechts außen. Silvana hatte sie noch nicht nie viel beachtet, sie war jung und schön und weiter nicht auffällig. „Sie wird ausgegangen sein, du weißt doch wie das bei den jungen Leuten so ist“. „Nein, nein,
ihre Freundin war heute da und sie hat gesagt, dass sie sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen hat! Ganz aufgeregt war sie! Das letzte Mal wurde sie vor zwei Tagen in der Sichtbar gesehen, ganz komisch war sie, wie betrunken, aber der Kellner sagt, sie hatte gar keinen Alkohol, und irgendjemand hat sie dann hinausgebracht“, Frau Waleks Stimme wurde zu einem verschwörerischem Flüstern „und niemand hat diesen Mann gekannt“. „Wenn ich was höre oder sehe, dann werde ich dir Bescheid geben“ seufzte Silvana. Immer diese Dramen in unserem kleinen Ort, dabei war meistens nichts dahinter und alles ganz harmlos. Sie betritt die Küche, packt ihre Kräuter aus und setzt sich mit einer Tasse Kaffee an den Tisch. Merkwürdig ist es ja schon. Die junge Dame war noch nie länger weggeblieben und wenn hatte sie immer Bescheid gesagt, dass sich jemand um ihre Katze kümmern sollte. Auch wenn sie nicht viel Kontakt hatten, es waren drei kleine Reihenhäuser mit alleinstehenden Frauen, da hielt man fest zusammen. Sie steht auf und geht in den Garten und ruft nach der Katze, aber kein Mucks. Sie schleicht in den Garten und sieht durch das Wohnzimmerfenster. „Hier schaut`s aber aus!“ Ein Chaos sondergleichen, alle Schubladen offen, alles liegt am Boden, nur von der Katze fehlt jede Spur. Silvana findet das alles seltsam. In diesem Moment läutet ihr Telefon und sie hechtet schnell in ihren eigenen Garten, stolpert über den Gartenschlauch und schlägt sich das Knie auf. „Guten Tag, hier ist der Anrufbeantworter…“ Hubert war der Anrufer. Er muss ihr unbedingt und dringend etwas erzählen, ob sie Zeit hat. Es ist wirklich wichtig. Was konnte hier schon wichtig sein? Hubert war schon seit Monaten in sie verliebt, vielleicht wollte er ihr endlich das gestehen, was sie schon wusste. Aber er klang sehr aufgeregt und neugierig ist
sie auch.
Schlussendlich hat sie heute auch nichts anderes mehr vor. Die Kräuter sind in der Aufregung alle vergessen und verwelken im Korb. „Gott sei Dank hast du Zeit, ich hab mir schon solche Sorgen gemacht“ Hubert ist außer Atem. Ein merkwürdiger Sonntag, alle sind heute so aufgeregt, dabei ist es ein schöner sonniger Tag. „Du hast bestimmt schon gehört, dass deine Nachbarin spurlos verschwunden ist, ich war dabei, als sie die Sichtbar verlassen hat. Sie stieg in ein rotes Auto mit Grazer Kennzeichen ein, und genau dieses Auto habe ich heute Früh am Waldrand stehen gesehen! Genau dort wo du immer deine Kräuter sammelst, was sagst du dazu?“ Der Triumph in seiner Stimme ist unüberhörbar, ein
Grazer Auto in Judendorf, naja so etwas Besonderes ist das ja auch wieder nicht. „Bist du wirklich sicher, dass es dasselbe Auto war?“ Huber t beugt sich verschwörerisch über den Tisch. „Aber natürlich, ich bin mir ganz sicher“. Silvana kommt nun alles etwas merkwürdig vor, aber sie erzählt Hubert nichts von ihrer Begegnung im Morgengrauen. Er würde sich zu sehr aufregen, im Laufe der Monate ist er ihr ans Herz gewachsen, sie will ihren Verehrer nicht an einen Herzinfarkt verlieren. „Babette, komm, wir müssen in den Wald“ ruft Silvana. Ein Kopf voll mit Lockenwicklern taucht aus der Hängematte auf. Wenige Minuten später sind die beiden Frauen auf dem Weg zum Waldrand. Sie verfolgen die Spur der Silhouette, die Silvana heute Morgen gesehen hat, aber sie finden nichts. Die beiden sind enttäuscht, fühlten sie sich doch schon wie Miss Marple auf einer heißen Spur. Auf dem Weg nach Hause fährt Silvana noch auf einen Tratsch in eines der kleinen Wirtshäuser und hört die abenteuerlichsten Geschichten. Den Schal ihrer Nachbarin hat man beim kleinen Marterl entdeckt und einen Schuh hat man im Wald gefunden. An den Haaren wurde sie aus der Sichtbar hinausgezerrt und heftig gewehrt hat sie sich. Am Mysteriösesten war aber der blutige Fingerabdruck an einem Baum… Das verhieß nichts Gutes. Der ganze Ort war hellhörig geworden, die Polizei durchsuchte die Wohnung der Nachbarin, aber sie fanden auch nichts. Silvana denkt nach. Sie nimmt eine Taschenlampe und geht noch einmal in den Wald. Sie findet den Fingerabdruck und auch noch einen weiteren ein paar Bäume weiter, sie findet auch den zweiten Schuh, keine Frage, hier ist ein Gewaltverbrechen passiert. Es wird dunkel und sie verlässt den Wald. Silvana kommt nicht weit, auf einmal raschelt und knackst es ein paar Meter vor ihr und sie hört Stimmen. Mit panischem Herzklopfen versteckt sie sich in einer der kleinen Höhlen. Sie hat genug gefunden, aber was sie jetzt entdeckt, verschlägt ihr den Atem. Hubert und der junge Priester klettern den Hügel hinauf! „Jaja es ist immer das gleiche mit den jungen Leuten, man muss heutzutage schon zu drastischen Maßnahmen greifen“, „Ja wem sagst du das, aber ich denke das wird ihr eine Lehre sein, nach dieser Nacht wird sie so etwas sicher niemals machen“ Die beiden Männer lachen. „Ich schätze mal, sie wird sicher nie wieder irgendwas machen“ und die beiden
verschwinden in der Dämmerung.
Während Silvana ihnen nachblickt, wird ihr plötzlich auch klar, wen sie heute Morgen gesehen hat. Die Silhouette gehört eindeutig Hubert. Aber natürlich, darüber hatte sie noch gar nicht weiter nachgedacht! Woher sollte er auch sonst von dem Auto
wissen, nur wenn er selbst da gewesen war. Silvana kroch aus der Höhle und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Sie ignoriert die Reste des Lagerfeuers, in dem sie gesessen ist und auch die zahlreichen Alkoholflaschen und Zigarettenstummeln rund um sie. Hauptsache schnell weg hier. Zuhause angekommen springt sie unter die Dusche. Dass muss sie erst einmal verarbeiten. Es handelt sich auf jeden Fall um ein Gewaltverbrechen und ohne Frage stecken Hubert und der Priester dahinter. Nur was haben sie der jungen Frau angetan und warum? Sie kann auf keinen Fall zur Polizei gehen, sie hat keine Beweise. Sie wälzt sich die ganze Nacht in ihrem Bett hin und her und kann nicht schlafen. Im Morgengrauen macht sie sich noch einmal auf den Weg, sie muss dieses Rätsel lösen und die beiden Verbrecher ihrer gerechten Strafe zuführen. Nach einigen Stunden hat sie die Stelle wieder gefunden. Sie lauscht ob sie irgendwo ein Wimmern oder Hilfeschreie hört, aber nichts. Plötzlich steht sie vor einem frisch ausgehobenen Grab. Sie weiß, dass es ein Grab ist, denn warum sollte sonst mitten im Wald ein kleines Kreuz stehen? Silvana wird eiskalt. Das Bündel, das schwere Bündel, war ihre Nachbarin. „Was auch immer sie gemacht hat, die beiden Männer haben sie dafür getötet und hier vergraben.“ Das hätte sie sich von Hubert niemals erwartet. Als sie loslaufen will um zur Polizei zu gehen, legt sich eine Hand auf ihre Schulter und sagt „Es war nicht klug sich hier einzumischen“. Silvana sitzt wie erstarrt in der kleinen Holzhütte und hat Angst. Hubert und der Priester kochen schweigend Kaffee. Hubert setzt sich vor sie und lächelt sie an. „Wie geht es dir? Hast du dich von deinem Schock schon wieder erholt?“ Nicht ein Wort wird sie mit diesem Mörder noch wechseln, bestimmt nicht. Eine halbe Stunde später ist Silvana voll im Bilde. Nein, die beiden sind keine Mörder, aber ja sie haben etwas begraben. Übermütig von der lauen Sommernacht trafen sich die Jugendlichen Samstagabend in großer Zahl im Wald, machten ein kleines Lagerfeuer, tranken Alkohol und hatten ihren Spaß. Der Priester bemerkte sie und forderte sie auf zu gehen, offenes Feuer ist im Wald nicht erlaubt und es war zu gefährlich, alkoholisiert zwischen den Hügel auf und ab zu laufen. Sie wollten nicht auf ihn hören, lachten und leider verletzte sich einer von ihnen vor lauter Blödeln an einer kaputten Flasche. Alle bekamen Panik, liefen zu ihren Mopeds, und da sie ständig stolperten, stützten sie sich an den Bäumen ab (daher die blutigen Fingerabdrücke). In ihrer Panik übersahen sie den lieben Hund der Pfarrersköchin, den sie mit den Mopeds streiften
und den nach ein paar letzten Jaulern das Zeitliche segnete. Die Pfarrersköchin war Huberts Schwester, und heute Morgen war er losgegangen um dem armen Fiffi ein anständiges Grab zu bauen. „Alles schön und gut, aber wie kamen die Schuhe und der Schal meiner Nachbarin in den Wald? Wissen die Jugendlichen das auch nicht? Sie müssen doch etwas gesehen oder gehört haben.“ Hubert schüttelte den Kopf, nannte ihr aber die Namen von allen die er erkannt hatte. Sehnsüchtig wartet Silvana auf den Nachmittag, bis die jungen Leute zuhause sind, aber keiner weiß etwas. Es vergehen noch einige Tage, die junge Frau gilt noch immer als vermisst, aber es kehrt wieder Ruhe in das Dorf ein. Eine Woche später. Silvana steht gerade am Küchenfenster und wäscht ihre Kräuter. Auf einmal fährt ein rotes Auto mit Grazer Kennzeichen vor die Wohnung ihrer Nachbarin. Vor lauter Schreck rast ihr Herz und sie wird bleich. Der Mörder. Tatsächlich kehrt er an den Ort des Geschehens zurück. Unfassbar. Doch als sich die Autotüre öffnet, steigt die junge Nachbarin aus, braungebrannt und mit ihrer Katze unterm Arm. Silvana traut ihren Augen nicht und stürzt hinaus, fällt der Nachbarin um den Hals und kann sich vor Freude gar nicht halten. „Aber wo waren sie denn die ganze Zeit?“ Später sitzen die beiden Frauen bei Kuchen und Kaffee und die Katze schnurrt um Silvanas Beine. Frisch verliebt hat sich die junge Frau vor ein paar Wochen und war an besagtem Abend mit ihrem Freund im Wald spazieren. So wie die Nachbarin lächelt, war sie auf der schönen romantischen Lichtung nicht nur spazieren. Deswegen hat sie in der Hektik dann auch ihre Schuhe dort vergessen, als sie die Schritte gehört haben. Vor lauter Lachen und Rennen hat sie dann auch noch ihren Schal verloren. Am gleichen Abend haben ihr Freund und sie beschlossen, spontan einen kleinen Kurzurlaub in seinem Wochenendhaus zu machen, aber sie konnte ihren Reisepass nicht finden. Darum hat sie alle ihre Schubladen durchwühlt. Die Katze hat sie mitgenommen, es war ja nicht so weit. „Im Übrigen heiße ich Nadja“ lächelt die Nachbarin und Silvana beißt herzhaft in ihren Kuchen und lächelt auch. Wie sie schon von Anfang an gesagt hat, es war nichts dahinter, in einem so kleinen Ort wird einfach immer aus einer Mücke ein Elefant gemacht.