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Das Interview

K3 Literaturpreis 2012 Beitrag 10 Codewort: "standardjob"

Es war ein Standardjob für die Sonntagsausgabe, zu der ich an einem schönen spätsommerlichen Vormittag aufbrach, Block und Bleistift in der Tasche: Weltbekannter Künstler aus unserer Stadt hat runden Geburtstag und wird aus diesem Anlass um ein Interview gebeten. Nichts Besonderes, eine Routineaufgabe für einen alten Hasen im Zeitungsgeschäft wie mich, das sind Sachen, bei denen man keine Überraschungen erfährt. Man stellt diese Standard-Fragen und erhält diese Standard-Antworten; alle diese Künstler hatten es schwer gehabt, waren jahrelang nicht verstanden worden und hatten am Hungertuch genagt; irgendwann hatten sie dann den Erfolg, der ihnen gebührte, gehabt - die anderen wurden nicht interviewt - und heute lebten sie in kleinen Schlössern, saßen mit ihren Frauen im Rosengarten, nippten am Tee und erinnerten sich der Zeit, als das Leben noch anders war. Zwischendurch schimpften sie dann über die heutige Kultur, was heute als Kunst gehandelt wurde, das war ja alles Schwachsinn. Und so weiter. Ich fuhr mit der Straßenbahn in das Villenviertel unserer Stadt hinaus und las während der Fahrt das Dossier, das mir die Redaktionssekretärin mitgegeben hatte. Ich hatte den Namen des Künstlers schon seit meiner Kindheit gehört, aus unserer kleinen Stadt kamen nicht sehr viele bekannte Leute, und so war einer der ersten Namen, die man als Kind in Verbindung mit unserer Stadt hörte, der des Künstlers, den ich jetzt interviewen sollte. Wir waren alle stolz auf ihn und, wenn er erwähnt wurde, auch auf uns selbst, denn auf eine fast absurde Weise hatten wir das Gefühl, mit Schuld daran zu sein, dass er so ein anerkannter großer Geist war. Sein Ruhm färbte auf uns ab, oder noch mehr: Eigentlich schuldete er uns seinen ganzen Ruhm, denn wenn dort, wo unsere Stadt liegt, nicht eine Stadt sondern ein Loch oder ein Sumpf oder ein anderer weißer Fleck auf der Landkarte gewesen wäre, dann hätte der große Künstler auch keinen Ort gehabt, von dem er hätte kommen können, und von nirgends kann kein Mensch kommen, ob groß oder klein. Ich kannte also, wie jedes Kind, seinen Namen, hatte auch mal ein paar Sachen aus seiner Kunst gesehen, in der Zeitung ein Bericht aus einer Ausstellung in New York, da war dann eins seiner Bilder abgedruckt gewesen. Wenn man Bilder von ihm sah, dann waren es immer die selben zwei oder drei, die gezeigt wurden, man konnte fast meinen, er habe nur die, vielleicht waren es auch vier, gemalt in seinem ganzen Leben, es ist wie mit van Gogh: Sagen wir van Gogh, dann haben vielleicht 80 Prozent der Leute dieses Bild mit den Sonnenblumen im Kopf, oder dieser Norweger von dem man sowieso nur den Schrei kennt und sonst nichts. Dabei haben die Menschen vielleicht wirklich gekämpft mit ihrer Kunst und litten, wären sie noch am Leben, darunter, dass sie auf diese wenigen Bilder reduziert sind im Bewusstsein der Menschen. Wie ich schon sagte, ich hatte schon allerhand gehört von dem Menschen, der jetzt 80 wurde und auf ein langes Leben zurückblickte und unseren Sonntagslesern für eine vergnügliche Lesestunde serviert werden sollte, aber als ich sein Dossier durchlas, merkte ich, dass ich eigentlich nichts gewusst hatte über diesen Menschen. Selbst in Stichworten gelesen, hatte sein Lebenslauf auf mich den stärksten Eindruck: Dieser Mann hatte das vergangene Jahrhundert - das vielleicht nicht reicher an Gräueltaten gewesen war als die Jahrhunderte vor ihm, das aber krankhaft fixiert schien auf deren möglichst detailgetreue Darstellung - erlitten, musste man schon sagen, wie viele Andere, hatte Mord, Vertreibung, Not und Hilflosigkeit erfahren wie viele seiner Generation und hatte doch alles überstanden, hatte seine grauenhaften Erlebnisse vielleicht sogar genutzt, um seine Kunst hervorzubringen, mit der er dann sein Leben gemacht hatte. Nach der Lektüre des kurzen Dossiers war ich schon um Einiges neugieriger, diesen Mann zu treffen und erwartete mir einen interessanten Vormittag. Wie leicht hatte ich es doch gehabt im Vergleich zu ihm und seiner ganzen Generation! Allein das: Keinen Krieg erlebt, wie viele der jemals gelebt habenden Menschen können das schon von sich sagen? In die Wohlstandsgesellschaft hineingeboren und nie Not gekannt, das ist meine Generation. Unsere Leben verlaufen flach, abgeflacht: Kindergarten, Schule, Uni, Arbeit, Pension, Friedhof. Alles schön geregelt und friedlich. Einmal Wohlstandsleben, Besuchen beim Psychotherapeuten inbegriffen: Es kommt mir


Das Interview alles so sinnlos vor, wofür soll ich noch kämpfen? Antwort Psycho: Nicht kämpfen, bezahlen, der Herr! Hier bitte, meine Rechnung, und denken Sie dran: Ihre Aggressionen sind normal, nicht unterdrücken, kanalisieren, aber bitte nicht hier in der Ordination, hier ist alles gerade neu renoviert, wissen Sie. Der Nächste, bitte! Der Künstler bewohnte ein schönes Häuschen im teuersten Villenviertel der Stadt, ein altes, verträumtes Schlößchen wie aus dem Bilderbuch. Er ging schon etwas schwer, mit der stöhnenden Selbstverständlichkeit, mit der Achtzigjährige das Leben hinnehmen, öffnete er mir die Tür, das eine Bein anscheinend steif oder doch im Kniegelenk etwas empfindlich, die Überbrückung eines räumlichen Abstandes war eine wohlüberlegte Operation: Das Schnelle, das Sprunghafte schon lang dahin, war ein Alltag etwas, das bewältigt werden wollte. Ich stellte mir vor, wie er morgens wie ein greiser Feldherr über Karten brütete und den täglichen Schlachtplan im Kampf gegen die Welt legte, während er am Trichtergrammophon unsterblichen Schlagermelodien von Schallplatten, die jede ein Pfund wogen, lauschte. "Ach, Sie sind der, ääh, junge Mann von der Zeitung, nicht wahr", nuschelte er heftig nickend, als wolle er sich vor mir verbeugen, nicht, weil er mich besonders verehrte, sondern weil seine Erziehung in eine Zeit gefallen war, in der die Umgangsformen andere gewesen waren. Diese Etikette von einem anderen Stern auch war es, die von ihm verlangte, sich so zu geben als wäre es ihm gerade eingefallen, dass ich heute kommen sollte, als wäre jeden Tag das Wohnzimmer so photogerecht eingerichtet wie heute, als würde er sowieso immer in seinem Sonntagsanzug, atmungsfeindlich zugeknöpft die Tage verbringen und seine reizende Frau immer wie ein ganzer Blumenladen riechen. Wir machten das Interview mehr oder weniger automatisch, ich wusste sowieso, welche Fragen in welcher Reihenfolge ich stellen wollte, er hatte genug gelesen, um zu wissen, was zu antworten von ihm erwartet wurde. Es gab nicht ganz zufällig Gebäck, seine Frau goss Tee nach, wann immer die Tasse leer zu werden drohte, ihre schneeweissen, nicht ganz echten Zähne glänzten, und ihre blauen Augen schienen freundlich zu nicken, wann immer sich unsere Blicke trafen. Die konzentrationsarme Beschäftigung, die Standardfragen zu stellen und die Standardantworten mitzuschreiben gestatteten es mir, sie etwas näher zu beobachten. Sie schien eine Seele von Mensch, strahlte wie frisch verliebt ihren Gatten an, wenn er, der anscheinend schon lange nicht mehr zu seiner Meinung befragt worden war, weit ausholend, mich Jungen belehrend und wie ein Staatsmann deklamierend, aus seiner reichen Erfahrung schöpfend seinen Standpunkt darlegte. Ich stellte sie mir als sehr hübsches Wesen vor, damals in den Dreissigern, so wie - na, wie hiess sie denn noch, diese Schauspielerin -, kein dummes Mädel, eine intelligente Person, in jenen frauenfeindlichen Zeiten sicher eine Suffragette. Ich dachte mir unsinnigerweise, sie habe sicher geraucht, damals, als eine Frau eigentlich nicht rauchte. Ihn, den heroischen Künstler mit ihren unkonventionellen, intelligenten Fragen herausfordernd, hatte sie sicher nicht wenig zu seinem Erfolg beigetragen, auch in den schwersten Zeiten der Not zu ihm gehalten, wenn er, der Gigant, an sich zweifelnd ins Wanken geriet, ihm in selbstaufopfernder Unerschütterlichkeit Halt gegeben, immer an ihn geglaubt. Gemeinsam hatten sie dieses wüste Jahrhundert überstanden, sie immer an seiner Seite, um dann, wenn es wie jetzt zum Ruhm kam, züchtig zur Seite zu treten und ihn allein den Lohn für gemeinsam Erlittenes ernten zu lassen. Ich kam fast ins Schwärmen - wie fast jeder meiner Generation genoss ich Erziehung nicht nur von Seiten der Eltern, der Schule, der Freunde, sondern zu einem ganz bedeutenden Teil auch vom Fernseher und dort hatten besondere Wichtigkeit die amerikanischen Filme, auch im überführten Sinn schwarz/weiss, ein Mann ist entweder so wie Bogart oder eben einer der Loser, nicht cool, nicht sexy, für die sich, wenn Humphrey im gleichen Raum ist, keine Frau interessiert. Ich denke mir immer, früher holten sich die Jungen ihre Vorbilder im gleichen Dorf von real existierenden Menschen: Einer, der besonders gut arbeiten konnte, wurde von den Heranwachsenden bewundert, sie wollten auch so sein wie er, er zeigte ihnen die Rolle. Gut, jetzt warst du vielleicht einer, der ein


Das Interview schiefes Kreuz hatte, du hattest keine Chance, diese Rolle auszufüllen, du suchtest dir eine andere Rolle. Jemand anders im Dorf wurde bewundert, weil er so gut reden konnte, du probiertest die Rolle "Politiker" aus, wieder ein anderer konnte gut singen und gab dir die Rolle des Künstlers vor. Du konntest alle ausprobieren, die dir am besten Passende übernehmen, und es waren alles reale Menschen, von denen du die Rolle kopiertest. Den starken Arbeiter erlebtest du auch, wenn er mal krank war, den Redner, wenn er trotzdem überstimmt wurde, den Künstler sahst du jeden Tag, wie die Frau mit ihm schimpfte und du sahst die Tiefen in dem Leben, bevor du es als dein Eigenes übernahmst. Mit dem Fernseher und Hollywood ist das ganz anders. Als ich aufwuchs, hatten wir nur ganz wenige Rollen, die überhaupt verfügbar waren, und ihnen allen war eines gemeinsam: Die Härte. Ein Mann war hart, wer es nicht war, bekam eine Nebenrolle und wurde immer wieder ins Lächerliche gedrängt. Unsere Helden machten sich überhaupt nichts aus Frauen, sie mussten einen ganzen Abend lang angebetet werden, bis sie sich mehr oder weniger widerwillig dem seufzenden Geschlecht stellte, und überhaupt: Ein echter Mann liebt sowieso nur sein Pferd. Die Mädchen hatten es noch schwieriger. Hollywood zufolge hatten sie blond, hübsch, schlank zu sein und darauf zu warten, dass ein schlecht gekleideter und nach Schweiss stinkender Held sich herabliess, sie eines Blickes zu würdigen. Sie hatten nur eine Rolle: Zu gefallen, zu seufzen, zu leiden, wenn Der Harte Mann davonzog, seine Heldentaten zu vollbringen, und das Schlimmste war: Sie wollte es nicht anders, das war die Moral jedes einzigen Filmes in dem weibliche Wesen überhaupt vorkamen. Sie waren erst dann richtig erfüllt, wenn ihre Demütigung bis zum Ende durchgeführt worden war und sie mit Dackelblick neben dem Helden dahinvegetieren durften. Na gut, ich neige zum Übertreiben, nicht die schlechteste Neigung in meinem Beruf. Ganz so schlimm war es vielleicht in Wirklichkeit nicht, aber die Richtung habe ich einmal aufgezeigt, damit mich wirklich jeder versteht. Im Übrigen war das alles nur die Erklärung dafür, wie ich dazu kam, die Frau des Künstlers dermaßen zu überhöhen. Ich kam, wie ich schon sagte, fast ins Schwärmen, indem ich mir dies alles ausmalte und war, ohne anderen Anlass als die eigene Phantasie, ganz gerührt, als wir mit dem Interview uns dem Ende näherten. Der Künstler war wirklich in bester Weise vorbereitet: Er wusste so genau, welche Frage auf welche zu folgen hatte, so dass das komplette Interview standardmäßig abgelaufen war, während ich meinen romantischen Träumen nachgehangen hatte. Wir waren so gut wie fertig, hatten ungefähr einen Hektoliter Tee vernichtet, Berge von Keksen verspeist, einen halben Schreibblock vollgeschrieben und es herrschte schon allgemeine Aufbruchstimmung, als ich anführte: "Und, ääh, ihre Frau ...?" Hier wäre jetzt der Abschnitt gekommen für die Romantischen unter unseren Lesern und besonders Leserinnen. Der große Künstler hätte jetzt zum Thema "Ich hätte das alles nicht geschafft ohne die immer aufopfernde Liebe meiner geliebten Theresie" ausufernd extemporieren sollen, für das letzte Sechzehntel des Artikels hätte er im allseits bekannten Klischee schwärmen können, nachdem alles andere nach Schema gelaufen war, stellte ich mich bereits ein, hatte vielleicht sogar die Antwort schon aufgeschrieben, als völlig unerwartet etwas ganz anderes kam. Der Künstler sprach: "Ach, sie wollen jetzt diesen Abschnitt für die Damen, mit 'ohne deine Liebe' und so weiter, na gut ... Sehen Sie, ich würde sehr gerne jetzt sagen können 'ohne die liebevolle Unterstützung von dir, mein Schatz, wäre ich nie so weit gekommen' aber leider muss ich Sie enttäuschen." Er lehnte sich im Sofa etwas nach vor und schaute grimmig zu Boden. "Leider muss ich Ihnen sagen, dass ich ohne meine Frau ein viel, viel leichteres Leben gehabt hätte. Wie oft nicht hat sie zu mir gesagt 'warum gehst nicht in die Fabrik, wie andere Leute, bringst ein Geld nach Hause, statt immer diese Luftschlösser' - wie oft nicht ist sie, wenn sie gewusst hat, ich brauche Konzentration, arbeite an einem neuen Werk, von dem ich freilich noch nicht weiss, ob es Geld bringen wird oder nicht - wie oft ist sie, sage ich, genau in solchen Momenten in mein Arbeitszimmer geprescht und hat mit 'du könntes ruhig auch mal die


Das Interview Wäsche aufhängen' und so weiter mutwillig, ja, ich sage in böser Absicht, meine Konzentration mit ihrem Gezeter gestört und mich absichtlich und sehenden Auges an den Rand der Verzweiflung getrieben. Was hat sie nicht alles angestellt, um mich zu irgendeinem langweiligen Broterwerb zu treiben, was nicht alles versucht, den Künstler in mir zu erwürgen, mich zu einem gesicherten Einkommen zu verurteilen, koste es, was es wolle." Ich hatte nicht mitgeschrieben. Ich starrte vor mich hin, starrte ihn an, wie er verbissen zu Boden schaute, starrte sie an, wie sie, glücklich lächelnd mit dem Kopf nickend, jedes seiner Worte zu unterstreichen zu suchen schien. Meine Hand, so auf Automatismus eingestellt in den letzten zwei Stunden, verweigerte die Mitarbeit, ich schrieb nichts von alledem auf, war nur wie erstarrt. "Wie oft habe ich gehört: 'Deine blöde Kunst wird uns noch in den Ruin treiben!', wieviele Male hat sie mir vorgeworfen, ein Egoist zu sein, dem seine eigene Verwirklichung wichtiger ist als das Wohl der eigenen Familie. Was hat sie nicht alles unternommen, um zu verhindern, dass ich das Leben eines Künstlers leben kann, das einzige Leben, das ich leben KANN. Wie gerne hätte sie mich bezwungen gesehen und wie hat sie sich gefreut, wenn ich Misserfolg hatte. 'Siehst du, ich hatte es dir ja gesagt!', hat sie dann triumphiert, 'du hättest doch lieber einem anständigen Beruf nachgehen sollen!' Wie hämisch sie dann gegrinst hat! Wie gemein, mir zuerst die Arbeitsbedingungen zu zerstören und mir dann vorzuwerfen, meine Arbeit sei nicht gut genug! Was habe ich doch gelitten unter diesem Weib!" Er atmete schwer auf. Ich war ganz betreten. Seine Frau strahlte mich an, schaute in meine Tasse, ob sie nicht Tee nachgießen sollte. Der Künstler rang mit irgendeinem Atembeschwerden, pfeifend ging die Luft hinein und heraus. Ich fing an, mir Sorgen zu machen, aber seine Frau kannte das anscheinend und war ganz ruhig. Ein Widerschein des Lichtes verfing sich in ihren Augen und sie glitzerten, als sie sich mit einem strahlenden Lächeln zu ihm wendete. Die Hände im Schoß gefaltet, bot sie ein Bild der willigen Aufopferung und ich dachte einen Moment lang, vielleicht ist sie völlig verrückt. Er hatte wieder Luft genug. "Und später dann, als sie sich beugen musste, weil ich Geld verdiente mit meiner Kunst - viel mehr Geld als ich in der Fabrik verdient hätte -, ging das Gezeter weiter. 'Der-und-der hat hunderttausend bekommen für sein letztes Bild und du nur fünfzig! Dieser-und-jener wird an erster Stelle genannt in dem Katalog und du nur als Zweiter!' Nie war sie zufrieden. Als wir einen Mercedes gekauft haben, war sie mürrisch, dass es kein Jaguar war. Als der Außenminister mir zum Fünfziger gratulieren kam, warf sie mir vor, dass es nicht der Bundespräsident gewesen war. Als ich mir dieses Häuschen leisten konnte, war sie unzufrieden, dass es kein Schloss war, als wir uns ein Dienstmädchen leisteten, hätte sie gerne eine ganze Armee gehabt, mit Butler und Chauffeur im Livree." Ich schaute sie an. Noch immer strahlte sie über's ganze Gesicht, und ihr Kopf nickte wie um jedes Wort noch einmal zu betonen. Der Mann fuhr fort. "Nein, es tut mir leid. Sie hätten jetzt gerne diesen Abschnitt mit 'all dass hätte ich nie geschafft ohne die aufopfernde Liebe', und so weiter. Ich muss Ihnen leider das Gegenteil bieten: Ich habe all das geschafft TROTZ meiner Frau, OBWOHL ich mit ihr verheiratet war, GEGEN all ihr Bemühen, es zu verhindern. Wäre sie nicht so potthässlich gewesen, dass sie niemand anschauen konnte, wäre sie sicher nach drei Wochen schon davongelaufen. Aber so habe ich mich abfinden müssen und TROTZDEM hervorbringen, was ich hervorgebracht habe." Er seufzte. Sie strahlte. Er schaute zu Boden. "Und vielleicht", fing er noch mal an, obwohl ihm schon langsam die Luft auszugehen schien, "vielleicht habe ich trotzdem aus dieser ganzen Situation meine Kraft geholt. Vielleicht macht das die Verzweiflung, die Kritiker in meinen Sachen so bewundern, erst richtig echt." Er hielt inne, so, als seien das alles ganz neue Gedanken für ihn. Als ich seine in die Ferne schauenden Augen sah, wurde mir klar, dass sie das tatsächlich waren. "Vielleicht wäre ich nie der geworden, der ich geworden bin, ohne diesen ständigen Widerstand, vielleicht konnte ich nur gegen den Wind leisten. Die Inbrunst, die meine Kunst hat. Wer weiß, wäre sie ohne diesen Hass, den wir miteinander hatten," und ich schwöre, hier schauten sie sich an wie Bogart und Bergmann in Casablanca, Schmalz pur, "auch da gewesen, so überzeugend da gewesen? Wäre meine


Das Interview Kunst so tief gewesen ohne diesen täglich von Neuem anfangenden Krieg und das Leiden an einem Leben, so zerstört, so verschwendet an diesen kleinlichen Armleuchter, der sich für nichts anderes interessiert als ob die Wohnung schön sauber aufgeräumt ist und ob der Mann der Nachbarin nicht etwa mehr verdient als der eigene?" Sie schaute ihn an, als würde sie gleich gerührt heulen, er schaute sie auch an. Meine Hand weigerte sich noch immer, zu schreiben, was nicht nach Schema verlief. Ich war aufgeschmissen. Was sollte ich machen, sagen, tun, wie mich adäquat vehalten in einer unmöglichen Situation? Ich räusperte mich, mehr unbewusst als absichtlich, und das schien den großen Künstler wieder zurückzuholen in die Realität. Wir verabschiedeten uns im Gang, leicht betreten, wie es die Etikette verlangte, tauschten gestotterte Höflichkeiten aus, ich zog mir den Mantel an, noch völlig benommen. Wenn ich das erzählte! Darüber schreiben war natürlich von vornherein ausgeschlossen, ich musste mich fragen, wozu Herr G. sich hatte hinreißen lassen zu seinen Erörterungen, er musste wissen, dass nichts davon im Druck erscheinen würde - aber vielleicht gerade deswegen ... ? Ich war zu mitgenommen, um jetzt nachzudenken, entschied ich, und würde später in aller Ruhe nochmal kopfschüttelnd die ganze Geschichte überlegen. Mein Interview jedenfalls hatte ich in der Tasche, am Nachmittag würde der Photograph kommen, vielleicht würden wir dann ein Bild extra noch bringen, wegen dem letzten Sechzehntel Text, der nicht kam wie er hätte kommen sollen. Ich verabschiedete mich, wie es sich gehört, zuerst von der Dame, die mich noch immer strahlend und mit vor Seligkeit geradezu zusammengekniffenen Augen anlächelte. Ich gab ihr die Hand und sagte etwas wie "und vielen Dank auch für die überaus gelungenen Kekse!" Aber der Künstler machte eine Wegwerfbewegung mit der linken. "Um die alte Krähe brauchen Sie sich nicht besonders zu bemühen", meinte er, "die ist gottseidank völlig taub."


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