Das Match
Oft ist es ja schwierig genau zu erklären worin die Faszination beim Fußball besteht. Wenn ich heute am Wochenende ein Spiel der österreichischen Bundesliga anschaue, kann ich nicht verstehen, warum ich als Kind dermaßen begeistert war. Ganz ehrlich gesagt, als Fan des österreichischen Fußballs hat man es nicht immer leicht. Da sieht man am Mittwoch noch ein Spiel in der Champions League und am Sonntagnachmittag quält man sich durch die Partie Most gegen Essig. Es mag sein, dass es in Spanien viele schlimme Probleme gibt, aber ich beneide sie trotzdem um ihren Fußball. Wie schön muss es sein, wöchentlich ins Stadion von Barcelona oder Real Madrid zu gehen? Bei uns auf den Rängen herrscht gähnende Leere, dort feuern 80 000 Leute ihren Klub an. Als Draufgabe gewinnen sie auch noch die meisten ihrer Spiele in eindrucksvoller Manier, sodass man sich als Fan doppelt freuen kann, drei Punkte geholt und ein schönes Spiel gesehen. Als Kind jedoch war mir das egal, Fußball war meine Passion. Alle zwei bis drei Wochen fuhren meine Eltern und ich zu den Verwandten nach St. Ulrich in Greith. Dort wartete schon mein drei Jahre älterer Cousin Christoph auf mich, mit dem Fußball in der Hand und einem Grinsen im Gesicht. Dort, wo heute das Kulturhaus steht war unsere Arena. Es war nicht nur eine große Wiese hinter einem Schulgebäude, es war der Treffpunkt von ein paar Kids, die hier ganze Europa und Weltmeisterschaften ausspielten. Meistens waren wir zu dritt, da ein weiterer ortsansässiger Freund, namens Bernd, ebenfalls vom Fußballfieber infiziert wurde. Prinzipiell lief es immer gleich ab. Wir trafen uns auf der Wiese mit einem Fußballstickerheft. Da konnte sich dann jeder eine Mannschaft aussuchen, für die er spielen möchte. Dann gab es ein Streitgespräch, weil Brasilien nicht in drei verschiedenen Gruppen vertreten sein konnte. Nachdem sich jeder für ein Team entschieden hatte, begann das Turnier. Unser Tor bestand aus zwei hohen Bäumen, allerdings gab es leider keine Latte. Das führte dazu, dass sich bei so manchen hohen Ball, oder eigentlich bei jedem, die Parteien einig werden mussten ob es als Tor gewertet wurde oder als Abstoß. Meistens war dann immer jemand für fünf Minuten bockig, allerdings ging es dann auch immer wieder weiter. Die Gruppenphase und das Achtelfinale wurden immer samstags gespielt. So gegen neun Uhr musste dann abgebrochen werden, weil ein Elternteil um die Ecke bog und uns nach Hause schickte. Wir stellten uns einfach vor, dass das nicht vorhandene Flutlicht ausgefallen war und deshalb der Spielbetrieb eingestellt werden musste. Das klang auch irgendwie plausibler. Man
stelle sich eine Schlagzeile in der Zeitung vor: „Spiel wurde abgebrochen, weil Ronaldos Mutter nicht möchte, dass ihr Sohn, wenn es dunkel wird im Freien ist.“ Nach dem Abendessen wurde dann der Turniertag von meinem Cousin und mir aufgearbeitet. Wir schliefen in einem Stockbett, er oben und ich unten. Taktische Details wurden besprochen und auch, welchen Spieler man auswechseln sollte. Man vertrat ja nicht nur ein Team, sondern auch jeden Spieler der in dieser Mannschaft vorkam. Und ja, wir kannten jeden. Damals kannte ich auch den zweiten linken Verteidiger von Kolumbien sowie den dritten Tormann von Mexico, heute finde ich die beiden Länder nur mehr am Globus bzw. bei Google Earth. Sonntagmorgens konnte der Spielbetrieb nicht sofort wieder aufgenommen werden. Da mein Cousin in der Kirche ministrieren musste, verzögerte sich das Viertelfinale um ca. 2 Stunden. Da saßen wir nun, ich in der ersten Reihe und er neben dem Altar. Wie soll man sich auf ein Gebet konzentrieren, wenn man weiß, dass als nächster Gegner die Deutschen warteten. Klar, wenn du gegen Gegner wie Österreich oder Zypern spielst, kannst du schon mal locker in eine Partie gehen, aber nicht im Viertelfinale gegen Deutschland. Obwohl mir damals die Relativitätstheorie nicht so geläufig war, wurde ich trotzdem schonungslos an sie herangeführt. Sie geht davon aus, dass die Zeit nicht immer linear verläuft. Das heißt, dass bei großen Objekten die Zeit langsamer vergeht. Nun gut, so groß war die Kirche nun auch nicht, aber scheinbar groß genug. Ein ähnliches Phänomen konnte ich auch in späteren Jahren in unserem Chemiesaal feststellen, ein Jahr später beim Bundesheer und dann wieder im Hörsaal der Grazer Universität. Nach gefühlten vier Stunden traf man sich dann wieder im „Stadion“. Es war wie immer ausverkauft und das Wetter war gut. Mein Cousin stand im Tor und das Match Schweden gegen Deutschland konnte beginnen. Die ersten paar Minuten waren eher taktischer Natur, quasi ein reines Abtasten. Danach wurde es aber rau. Ein Foul jagte das andere und Schweden musste sogar eine rote Karte hinnehmen. Bis heute bin ich der Meinung, dass diese rote Karte absolut übertrieben war. Ein Ausschluss bedeutete am geheiligten Rasen von St. Ulrich einen Elfmeter für den Gegner. Christoph war und ist eine Person mit vielen Talenten, aber das Handwerk eines Tormannes wird er nie mehr erlernen. Ein ordinärer Spitz vom Elferpunkt durch seine Beine reichte aus und Deutschland führte eins zu null. Ungerechte rote Karte und ein Eiergoalie im Tor, Fußballherz was willst du mehr. Für mich stand fest, dass es in der zweiten Hälfte nur noch den totalen Angriff geben konnte. Ich lief über den Rasen, schoss aus nahezu jeder erdenklichen Lage. Druck und bedingungsloser Einsatz waren die Devise. Dieses gesamte Match war für mich nicht nur irgendein Spiel auf einer Wiese, es ging um mehr. Meinen Cousin konnte ich nie im Fußball schlagen und auch gegen Bernd schrieb ich immer
rote Zahlen, aber ich wusste er war in Reichweite. Meine Muskeln brannten. Kurz vor dem Ende der zweiten Halbzeit zog Bernd wie es im Fußball so schön heißt die „Notbremse“. Ich überspielte ihn mit meinem gefürchtetsten Trick, wohl auch der einzige, den ich jemals konnte. Eigentlich war es weniger ein Trick, mehr ein Ablenkungsmanöver. Man läuft auf den Gegner zu, zeigt mit der rechten Hand nach rechts, als würde man einen Pass spielen, geht dann aber selber links vorbei. Wieso Bernd allerdings in einem eins gegen eins glaubte ich würde den Ball nach rechts passen, ist mir bis heute unerklärlich. Der einzige Ausweg mich daran zu hindern alleine aufs Tor zu laufen, war ein Foul. Bernd sprintete mir nach und rutschte mir von hinten in die Beine. Es dürfte auch eine ordentliche Portion Frust dabei gewesen sein, denn Bernd war normalerweise ein äußerst fairer Sportsmann. Doch nachdem ich ihn mit dem billigsten aller Tricks hatte stehen lassen, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Drei Meter vor dem Tor detonierte ich mit meinem Gesicht in den Rasen von St. Ulrich. Zur gleichen Zeit ertönten die Glocken der Kirche. Vielleicht ein Zeichen? Dann Stille. Als ich mich vom ersten Schock erholt hatte ging es los. Ähnliche Reaktionen kennt man von Kleinkindern. Wenn sie umfallen, runterfallen oder irgendwo dagegen laufen, dann schauen sie zuerst für so drei Sekunden ganz schockiert, um dann los zu brüllen. Haargenau dasselbe tat ich auch. Ich schrie wie am Spieß. Wut entbrannt verließ ich das Spielfeld. Ich setzte mich am Rand hin, weinte und versuchte, irgendwie wieder einen kühlen Kopf zu bekommen. Bernd entschuldigte sich mit folgenden Worten: „Tut mir leid, aber du weißt selbst, da muss ich dich einfach um schneiden!“ Also quasi war es meine Schuld, dass er mir von hinten in die Kniekehlen trat. Schluchzend fragte ich ihn, ob bei ihm wohl alles in Ordnung war? Nicht das meine Kniekehlen seine Zehen verletzt hatten. Nach ein paar Minuten ging es dann weiter. Bernd wurde ausgeschlossen, Strafstoß für mich. Es war die letzte Aktion in einer Partie, wo man ganz objektiv behaupten kann, Schweden hätte sich den Sieg verdient. Ich legte mir den Ball auf den Elferpunkt. Dann ging ich fünf Schritte zurück, schloss meine Augen und riss sie wieder ganz weit auf. Das war der Inbegriff eines Killerblicks. Mein Cousin stand nervös im Tor, denn er wusste, es würde ein Schuss aus vollster Leidenschaft folgen. Ich rannte los und trat auf das Leder ein, so fest ich nur konnte. Was soll ich sagen? Man müsste sich schon sehr bemühen, um einen Ball aus dieser Entfernung soweit neben und gleichzeitig über das Tor zu schießen. Dann erfolgte der Schlusspfiff. Wieder einmal war Deutschland siegreich. Die Enttäuschung war groß, auch wenn ich Sieger der Herzen war. Sieger der Herzen ist der geschönte Ausdruck für das Wort Verlierer. Denn, wenn es nicht gerade das Herz einer Dame ist, das man gewinnt, so kann man sich nichts, aber auch gar nichts davon kaufen. Da stand ich nun am heiligen
Rasen von St. Ulrich, mit einem schmerzenden Knie und dem Frust im Gesicht. Es ist sehr schwierig in Zeiten einer Niederlage wahre Größe zu zeigen. Ich hätte ihm auch die Hand geben können, um ihm zu seinem Sieg zu gratulieren. Stattdessen maulte ich herum, schimpfte über den Rasen, den Wind und auf meine Schuhe. Christoph sah mich an, schmunzelte und sagte: „Ja du bist ja wirklich das ärmste Schwein auf dieser Welt. Du hast gegen Bernd verloren, und er war auch noch Deutschland.“ In diesem Moment konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen. Ich schämte mich wegen meines Verhaltens nach dem Spiel, allerding belustigte mich mein übertriebenes Selbstmitleid. Ich hätte mein Gesicht wahren können, der Stolz stand aber im Weg. Das Ego eines Menschen ist schon merkwürdig. Eine Kleinigkeit reicht oft aus und es zerbricht in tausende kleine Einzelteile. Heute ist dieser Rasen, an dem ich so manche Lektion über das Leben und den Sport lernte Geschichte. Es wäre übertrieben zu sagen, dass immer, wenn ich dort vorbei gehe, sich eine Art Wehmut in mir ausbreitet. Doch hin und wieder erinnere ich mich gerne ganz bewusst an diese Zeit. Vielleicht, weil sie einfacher war, vielleicht, weil man gewisse Sorgen und Probleme nicht kannte, oder vielleicht einfach nur, weil man sich das Kind in einem selbst bewahren sollte.