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Bruno

Bruno sei mein Cousin, erklärte man mir. Er war ein uneheliches Kind meiner Tante. Man nannte sie halt Tante, obwohl sie nur die Halbschwester meines Stiefvaters war. Bruno war blond und ungefähr 14 Jahre alt. Sein schmales Gesicht dominierte eine Hakennase und seine Gestalt war so erbärmlich hager, dass man seine Rippen einzeln hätte zählen können. Seine Kleidung war armselig, sein Erscheinungsbild von bescheidener Art, aber das machte ihn irgendwie liebenswert – aber auch bemitleidenswert. Bruno kam alle zwei bis drei Wochen aus Wundschuh, wo er bei Pflegeeltern untergebracht war, zu uns auf Besuch. Nur einmal habe ich seine Pflegemutter zu Gesicht bekommen und zwar bei einem Begräbnis, wo sich ja immer die gesamte Verwandtschaft trifft. Sie war ein kleines, älteres Mütterchen, immer eine Zigarette rauchend und einfach gekleidet. Heute noch liegt mir ihre verrauchte Stimme im Ohr. Ihr Gesicht strahlte eine ganz besondere Herzlichkeit aus, die Bruno sicherlich gut getan hat. Jedes Mal, wenn er auf Besuch kam, erzählte er immer faszinierende Geschichten, die sich angeblich in seiner Heimatgemeinde abgespielt hatten, dabei wusste ich nicht einmal wo dieses Wundschuh war. Im Vergleich zu den Vorkommnissen in Wundschuh sind historische Überlieferungen aus Sodom und Gomorra kleine, liebe Geschichten aus einem romantischen Dorf. Heute kann ich seine Geschichten verstehen - Bruno war ja mitten in der Pubertät. Seine Erzählungen beinhalteten alles, was sich in seinem pubertierenden Gehirn angesammelt hatte und wurden von mir als damals 10 jährigen dankbar aufgenommen. Da ging es um verbotene Kinobesuche, Wirtshausraufereien, sexuelle Ausschweifungen, die sich angeblich beim Gemeindearzt abspielten und vieles mehr. Er erzählte auch immer, was für ein toller Schifahrer er wäre. Bis ihm eines Tages nichts anderes übrig blieb, als sein Können unter Beweis zu stellen. Im Dezember 1962 kam er wieder einmal zu Besuch und die Gelegenheit war günstig, ihn auf sein schifahrerisches Können hin anzusprechen, da gerade ausreichend Schnee auf dem Grundstück meiner Eltern lag. Auf dem Gelände, das eine leichte Hanglage aufwies und mit Obstbäumen bepflanzt war, trainierten mein gleichaltriger Schulfreund Heinz und ich immer Slalom, da sich dazu die Bäume hervorragend als Slalomstangen eigneten. Wir versuchten verzweifelt das Können unseres gemeinsamen Freundes Bruno, der uns angeblich schifahrerisch überlegen war, zu erreichen. Wir packten die Gelegenheit beim Schopf und forderten Bruno auf, sein Können zwischen den "Slalomstangen" unter Beweis zu stellen. Eine Ausrede hatte Bruno natürlich sofort parat, indem er betonte, ohne seine Skiausrüstung ginge es nicht. Unsere Skiausrüstung bestand aus alten Skiern, die nicht einmal Stahlkanten besaßen. Die Skistöcke waren damals aus Bambus mit sogenannten Schneetellern, die wie mitgeschleppte Wagenräder aussahen und am unteren Ende des Stockes die Aufgabe hatten, den Skistock nicht im Tiefschnee versinken zu lassen. Diese Schneeteller bestanden aus einem Aluminiumring, der mit geschickt verflochtenen Lederbändern am Skistock befestigt war. Um einen guten Halt auf eisiger Piste zu haben war ein Metallspitz am Ende des Skistockes angebracht. Für diesen würde man heute einen Waffenschein brauchen. Die Skischuhe waren aus Leder, die mit farbigen, gemusterten Schuhbändern mühsam vor der ersten Fahrt geschnürt werden mussten. Am Abend, als wir wieder


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