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Codewort: Schneeflocken

Schnee von damals Als ich aus dem Fenster sehe und meinen Blick in das dichte Schneetreiben werfe, werde ich mir einer Tatsache bewusst, die mich den Schmerz meiner alten Glieder auf einen Schlag vergessen lässt. Ich vergesse, dass ich nicht mehr gut sehe, ich vergesse, dass ich vergesse. Ich vergesse, dass ich auch diese Tatsache, diesen einen beruhigenden Gedanken bald wieder vergessen werde. Ich lasse das Alter hinter mir, und ich sehe zu, wie die Schneeflocken vom Himmel fallen. Ich sehe sie, verschwommen zuerst, aber dann, als würden sich meine Augen ihrer früheren Sehkraft erinnern, bekommt alles mehr Konturen, das Grau am Himmel wimmelt nur so von gefrorenem Wasser. Steht da jemand neben meinem Bett? Sachte fallen die kleinen Gespinste zu Boden, auf einen weißen Boden, nicht länger wie von Puderzucker überstreut wie noch vor einer Stunde, sondern auf einen Boden, der aussieht, als wäre er mit dicker Watte überzogen. Ich sehe, wie der Schnee die Geräusche dieser viel zu lauten Welt schluckt, und wie er sie verlangsamt, ihr etwas an Geschwindigkeit nimmt. Und so wie der Schnee die Geräusche der Welt schluckt, so hat er die innere Unruhe geschluckt, die mich eben noch durchzogen hat wie ein nagendes Geschwür in der Bauchgegend. Ich werde ganz ruhig bei dem Gedanken, der mir soeben gekommen ist. Denn mir wird bewusst, dass es derselbe Schnee ist wie immer. Der Schnee ist immer der gleiche, selbst wenn jede einzelne Flocke anders aussieht. Ist es das, was mich so ruhig werden lässt? Dass der Schnee immer wieder kommt, dass ich jetzt, so kurz vor dem Ende noch etwas finde, was mich beruhigt? Und ich erinnere mich an damals. An irgendetwas muss ich mich erinnern, bevor ich gehe, und da ich alles vergesse, was vor kurzem geschehen ist, erinnere ich mich eben an das, was vor langer Zeit geschehen ist, an das, was der Schnee mir gibt … Über Nacht hat es geschneit und ich traue meinen Augen kaum. Da ist die Welt, so weiß und still mit grauem Himmel. So verlockend, so einladend. Wo sind meine Handschuhe? Ah, Mutter ist schon da, sie streift sie mir über. Und meine Haube! Schnell Schuhe und Jacke an und dann darf ich endlich hinaus. Mit einem eisigen Windhauch fährt mir der Winter entgegen, lacht mir ins Gesicht. Ich lache zurück und lasse mich in den dicken Schnee fallen, der mich wie eine Daunendecke umfängt. Endlich ist er da. So lange hat es diesmal gedauert. Da höre ich noch jemanden lachen. Neugierig stehe ich auf. Sekunden darauf spüre ich kaltes Nass, das mir über die Nase das gesamte Gesicht hinunterläuft. Wieder ein Lachen, lauter diesmal. Da sehe ich die zwei. Es sind die Nachbarskinder. Ich nehme einen Schneeball in die Hand und werfe meterweit daneben. Wir rennen durch unseren Garten. Mal jage ich sie, mal jagen sie mich, aber wir ändern auch unsere Teams. Einmal bin ich mit dem Mädchen zusammen, einmal der andere Junge. Ein einziges Mal schaffe ich es, das Mädchen zu treffen! Endlich! Aber da beginnt sie zu weinen. Habe ich ihr wehgetan? Ein Weinen ist es auch, das mich aus meinen Erinnerungen reißt. Da ist jemand an meinem Bett. Aber ich kann den Kopf nicht drehen. Ich kann nur hören. Wer weint da? Und warum? Ich fühle mich gerade so leicht, warum ist da jemand traurig?


Codewort: Schneeflocken „Wie geht es Opa?“, fragt eine Kinderstimme leise in den Raum. Eine Frau flüstert beruhigend. „Es geht ihm gut. Aber er muss jetzt schlafen, er ist schon so müde, weißt du?“ Müde, ja. Das bin ich. Ich will schlafen. Zum Glück ist es wieder ruhig. Meine Augen verfolgen den Schnee, wie er vom Himmel fällt. Ich sehe wieder unscharf. Warum steht mein Bett eigentlich am Fenster? War es schon immer hier? Oder hat mich jemand hierher gelegt, weil er dachte, ich würde lieber hinaussehen, als an eine dunkle Holzwand? Ich habe es vergessen. Aber die Ruhe bleibt. Müde. Ich schließe kurz die Augen. Nur kurz, denke ich mir … Es schneit noch immer. Wie wunderschön! Ich backe mit Mutter Kekse für Weihnachten und wir stehen in der warmen Küche. Der Ofen ist schon angeheizt. Vater ist noch bei der Arbeit, er hat noch keine Ferien. Ich muss ja eigentlich auch in die Schule, aber Mutter hat heute eine besondere Ausnahme gemacht. Weil wir dann später keine Zeit haben, um Kekse zu backen. Und das ist wichtig, das Keksebacken. Ich habe eine Sternform und eine Herzform, das sind meine liebsten! Ich mache so viele ich kann aus dem Teig, den Mutter extra für mich ausgerollt hat. Sie hat eine kleine Tannenbaumform und macht gerade aus dem Teig für jeden von uns seinen Anfangsbuchstaben. Ich will das auch! Und schnell mache ich ein „M“ für Mutter, ein „V“ für Vater und ein „J“ für mich selbst. Aber der Teig schmeckt so gut, dass ich alle drei Buchstaben wieder aufesse. Die von Mutter sind sowieso schöner geworden. Sie lacht. Wie schön sie lacht! Es wärmt mich von innen, wenn ich sie lachen höre. Und ich lache mit ihr. Dann rollen wir Backpapier auf einem Blech aus. Ich darf es von der Rolle abschneiden. Wir ordnen die Kekse so an, dass so viele wie möglich auf einem Blech Platz haben. Aber ein zweites Blech werden wir trotzdem brauchen, glaube ich. Während die Kekse im Backofen sind, zeichne ich etwas für Mutter. Ich habe zum Geburtstag Buntstifte bekommen und mit denen zeichne ich jetzt einen Baum und einen Fuchsbau darunter. Aber den Fuchs traue ich mich nicht zu zeichnen, das kann ich, glaube ich, nicht. So brauche ich nur die Braun und ein bisschen Schwarz. Vater hat mir gezeigt, wie man Schatten zeichnen kann. Ich mache dem Baum einen. Den Rest lasse ich weiß. Immerhin schneit es. Mutter freut sich über die Zeichnung und gibt mir einen Kuss, obwohl ich mir nicht sicher bin, warum sie lacht. Vielleicht, weil da kein Fuchs ist. Oder vielleicht, weil ich außer einem Baumstamm und einem Loch im Boden alles weiß gelassen habe. Ich schäme mich jetzt ein bisschen, weil ich mir so wenig Mühe gegeben habe und will noch etwas dazumalen. Aber da sind die Kekse fertig und ich vergesse die Zeichnung. Sie sind noch schrecklich heiß, und eigentlich darf man keine Weihnachtskekse vor Weihnachten essen, aber Mutter und ich kosten jeder eines, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich gut schmecken. Sie schmecken gut! Auf einmal beginnt Mutter zu weinen. Ich weiß nicht, warum, habe ich etwas falsch gemacht? Es ist doch nicht wegen der Zeichnung? Ich schlage die Augen auf. Ja, da weint jemand. Warme, nasse Spuren ziehen sich über meine Wangen, ich schmecke Salz in meinem Mund. Weine ich etwa auch? Da sind Tränen, aber ich selbst bleibe ruhig. Es schneit noch immer. Auf einmal sehe ich etwas Rotes im Garten, durch diesen dichten, fallenden, grauen Vorhang aufblitzen. Da ist also der Fuchs!


Codewort: Schneeflocken Aber was macht er in dieser Kälte? Vielleicht versucht er ja, eine Maus zu fangen. Ich fühle mich besser, jetzt, da ich weiß, wo er hin ist. Hält da jemand meine Hand? Ich muss den Kopf drehen, ich will sehen, wer da ist. Es ist anstrengend, meine Augen von dieser unglaublichen Stille und Ruhe des Schnees abzuwenden. Aber ich schaffe es und sehe in drei Paar Augen. Da ist ein Kind, das am Schoß eines Mannes sitzt, und eine Frau. Sie hält mich an der Hand. Die Frau weint, das Kind scheint ein bisschen verloren, es versteht nicht, was los ist. Der Mann sieht traurig aus. Ich sehe, wie er die Frau am Arm hält, wie um ihr zu zeigen, dass er bei ihr ist. Aber warum weint sie denn? Mir geht es doch gut. Oder geht es gar nicht um mich? Ist das Mutter? Eine Träne rollt mir über die Wange. Ich will nicht, dass Mutter weint. Deswegen lächle ich sie an. Ich lege all meine Kraft, all meine Liebe in dieses eine Lächeln, denn ich habe das Gefühl, dass ich es ihr schulde. Dann schlafe ich ein … Der Schneefall wird weniger und ich sehe immer klarer. Da ist meine Mutter. Ich umarme sie und bemerke, dass sie ganz anders aussieht als die Frau von vorhin. Ich drücke Mutter an mich. Wir stehen draußen im Schnee, aber es hat aufgehört zu schneien. Der Himmel wird blau und klar, die dicken Wolken verschwinden. Kurz darauf sind wir in helles Licht getaucht, ich spüre, wie mir die Sonnenstrahlen den Rücken wärmen und ich höre sogar Vögel zwitschern. Wie gerne ich doch fliegen könnte. Ich fühle mich so frei und schwerelos, als wäre ein Gewicht von mir abgefallen, als wäre eine Schnur durchtrennt, die mich fest auf der Erde gehalten hat. Ich gebe Mutter einen Kuss. Plötzlich steht da auch Vater. Ich habe das Gefühl, gehen zu müssen und ich umarme ihn. Beide lächeln verständnisvoll, als wäre ich ein Kind, das noch immer nicht versteht. Aber dann lösen sich die letzten dunklen Wolken in der Wärme des Sonnenlichts auf, und da verstehe ich alles. Es ist ganz einfach. Sie nehmen mich an den Händen und gemeinsam fliegen wir hoch hinauf, Richtung Sonne, ins hell strahlende Licht. Ich muss mich gar nicht verabschieden, meine Eltern haben mich gerade begrüßt.


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