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Annas Kindheit am Pal-Gong

Die beinahe 900 km² große Stadt Daegu befand sich im Süden Koreas. Sie war eingekesselt von Bergen. Beinahe auf jedem Plateau prunkte eine altehrwürdige Tempelanlage. Wie ein Juwel hob sich der Pal-Gong von den anderen Gipfeln ab. Mitten in seinem dichten Kiefernwald befand sich der Winterblumen-Tempel. Weitläufig erstrecken sich die dazugehörigen Einsiedeleien. In einer davon hatte eine alte Schamanin seit vielen Jahrzehnten ihr zu Hause gefunden. Ihre Tochter, Annas Mutter, war hier aufgewachsen. Und nun war auch ihre Enkelin in ihre Obhut gegeben worden. Obwohl die Hütte von außen gesehen ärmlich wirkte, war Anna überrascht, wie viel Platz sie im Inneren des Steinbaus vorfand. Sobald sie einkehrte, befand sich das Mädchen im behaglichen Hauptzimmer. Die Feuerstelle in der Raummitte verlor für Anna über all die Jahre ihre faszinierende Anziehung nicht. Neben diesem großen Raum, wies die Hütte noch drei kleine Zimmer auf. Zwei davon boten der Alten und ihren seltenen Gästen einen Schlafplatz; das dritte war der Teeraum, in dem sie auch schamanische Reinigungs- und Heilungsriten durchführte. Strom gab es keinen. Im Schuppen nebenan, der in den Berg hineingebaut war, lagerte die alte Frau ihr Gemüse, die Kräuter und die selbst fabrizierten Elixiere. Östlich vom Lagerraum stand ein überdachter Port für das Feuerholz. Badezimmer war keines vorhanden. Tag für Tag vermisste Anna diese Errungenschaft der modernen Zivilisation. Das sechsjährige Mädchen hasste es, morgens und abends zum Bach zu laufen; mit kaltem Wasser musste sie sich dort waschen und – was noch schlimmer war – die Zähne putzen. Immer wieder kam es deswegen zu einem Streit zwischen Anna und der alten Frau. Ansonsten gestaltete sich ihr Zusammensein überaus friedlich. * »Om Mani Padme Hum«, chantete die Alte Schamanin das heilige buddhistische Mantra vom Diamanten im Lotus. Der Duft von Weihrauch, der monotone Gesang der versammelten Mönche, sowie das leise Klopfen von Holzschlaginstrumenten, verzauberte die Atmosphäre. Sanft wurde das schlafende Mädchen von diesen mystischen Klängen geweckt. Anna rieb sich ihre müden Augen und blickte neugierig zu den Meditierenden. Immer wieder, wenn das Mantra endete und bevor es abermals begann, wurde die weihevolle Stille in der Lehrhalle unfassbar dicht und fest; Anna versuchte manchmal, diese Stille mit ihren Kinderhänden anzufassen. Das Mädchen liebte es auf diese Weise zu erwachen. Es verlieh ihm eine umfassende, tiefe Geborgenheit. Schläfrig wunderte sich Anna: ›Wie die Oma das schafft?‹ Jeden Morgen erwachte die Alte Schamanin um vier Uhr. Und jeden Abend war sie bis spät in die Nacht mit ihrer seltsamen Arbeit beschäftigt. Niemals sah Anna ihre Großmutter schlafen. Manchmal, so wie an diesem Frühlingsmorgen, packte die alte Frau das noch selig träumende Bündel mit dem zerzausten Haar und trug es mit sich zum Winterblumen-Tempel. Während die alte Frau an der Morgenandacht teilnahm, schlummerte Anna in einer Ecke der Tempelhalle weiter. Erst mit der aufgehenden Sonne wurde das Mädchen munter. Wie ein blindes Katzenjunges befreite es sich sodann aus dem warmen Deckenknäuel, in das es von ihrer Großmutter gewickelt worden war. 1


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