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Der Teddy im Kornfeld. Codewort: Wer suchet

Seitdem Patrick dieses Foto gesehen hatte, stimmte etwas nicht mehr mit ihm. Diese unbekannte junge Afrikanerin in Pink, die ihm einen selbstsicheren Blick über die Schulter zuwarf, ließ ihn an seinem Verstande zweifeln. Oder zweifeln, dass es eine Seele gab. Ja, es musste Physik sein, irgendeine teuflische elektrische Verirrung zwischen seinen Gehirnwindungen, dass er in dieses Foto verknallt war, ein Bild, das ihm ein Betrüger geschickt hatte, um Geld für eine angebliche Millionenerbschaft zu ergaunern. Er hatte sich verliebt, obschon die Afrikaner immer die fremdesten aller Fremden für ihn gewesen waren.

In einer ersten Ratlosigkeit hatte er Online-Datenbanken über Internetbetrug durchforstet, war auf weitere Bilder und auch auf weitere falsche Namen dieser angeblichen Vivian gestoßen und hatte sich dabei noch mehr in sie verliebt, was ihn nicht weiter beunruhigte, weil dies der eigenwilligen Dynamik der Verliebtheit entsprach, die er schon zur Genüge kannte. Der Auslöser jedoch, dieser wohlige Schreck, der ihm beim Öffnen ihres Ur-Bildes bis ins Mark gedrungen war, dieser Moment blieb für ihn weiter unbegreiflich und beschäftigte seinen Forschergeist.

Er kam schließlich zu der Vermutung, Vivian müsse auf die eine oder andere Art schon vorher in ihm geschlummert haben, in Form einer Erinnerung an jemanden aus einer längst vergangenen Zeit. Dessen oder deren Gesicht musste sich derart tief in sein Unterbewusstsein gegraben haben, dass nur ein paar Ähnlichkeiten im Konterfei eines anderen genügten, um Sympathie für diesen auszulösen bis hin zur Verliebtheit, und dass dieser Mechanismus sogar im Gesicht einer Schwarzafrikanerin wirkte. Patrick hatte kaum Fotos aus seiner Jugendzeit, und seine Erinnerungen an diese blieben schemenhaft. Angestrengt dachte er nach.

Seine erste Angebetete hatte Silvia geheißen. Er hatte von ihr geträumt und fühlte sich in Folge zu ihr hingezogen. Ihr Teint war dunkler als jener der anderen Mädchen in der Parallelklasse, deshalb konnte er sie trotz seiner Kurzsichtigkeit schon von weitem erkennen. Zu einem Wortwechsel mit ihr war es nie gekommen, er hatte sich damit zufrieden gegeben, dass sie da war. Ihr Gesicht hatte er nur in dem Traum näher gesehen. Nein, Silvia war nicht des Rätsels Lösung.


Dann kam Sabine. Sabine hatte ein schlankes Gesicht mit hübschen Backen und großen dunklen Augen. Sie trug ein blaues Kleid mit rosaroten Borten, als es „klick“ machte. Seltsamerweise trug sie dieses Kleid nie wieder und verwehrte so Patrick das Wiedererleben dieses magischen Moments. Er rächte sich, indem er ihr eine Zeitlang Drohbotschaften auf Zetteln zukommen ließ, die er mit „the Killer“ signierte. Mit Sabine gab es immerhin 14 Wortwechsel innerhalb eines Schuljahres, die alle fein säuberlich in einem Notizbüchlein protokolliert wurden. Ihre Augen und Augenbrauen passten zu denen von Vivian, aber auch die magischen ersten Momente der beiden ähnelten einander. Wenn also Patricks fehlgesteuertes Gehirn bei Vivian auf eine Vorlage zurückgegriffen hatte, dann hatte sein Denkapparat dies auch schon bei Sabine getan.

Patrick suchte also nach einer Kindheitserinnerung, die seine Zuneigung zu Vivian vorherbestimmt hatte. So sehr er sich jedoch bemühte, jemand besonders Liebevoller mit großen dunklen Augen kam in seiner bescheidenen Galerie der frühen Vertrauten nicht vor. Zumindest nicht unter den Menschen. Vielleicht gehörten diese Augen einem Tier, einer Katze vielleicht, oder einem Spielzeug. Und wenn sie einem Spielzeug gehörten, dann kam nur eines in Frage: der legendäre Teddy.

Es gab eine Zeit, in der der Teddy und Patrick eins waren. Patrick war etwa drei Jahre alt, der Teddy wahrscheinlich deutlich älter. Patrick konnte nicht mehr sagen, woher er den Teddy hatte, welchen Namen dieser trug und wie er aussah, allerdings gab es damals nur Teddys in verschiedenen Brauntönen und mit dunklen oder schwarzen Knopfaugen. Vielleicht sah er so aus wie der stumme Freund des Komikers Mr.Bean, er war auf jeden Fall nicht größer als zwei Hände des kleinen Patrick, und er hatte magische Kräfte, wodurch er seinem Besitzer ebenbürtig wurde, wenn nicht sogar überlegen. Er wachte neben Patrick, wenn dieser schlief, wusste um dessen Gedanken, noch ehe dieser sie ausgesprochen hatte, und Patrick hatte so etwas wie eine Vorahnung, dass der Teddy sogar fliegen konnte.

An jenem Tag, der Patrick für immer in Erinnerung bleiben würde, stand ein Verwandtenbesuch

an,

dreißig

Kilometer

von

seinem

Elternhaus

entfernt,

was

gleichbedeutend war mit einer kleinen Weltreise im Auto von Onkel Toni, als deren Resultat man ein seltsames fremdes Haus betrat, einen Ziegenstall vorgeführt bekam, Kindern begegnete, die man aus den Erzählungen der Eltern bereits kannte und zu denen man freundlich sein musste, weil sie ja mit einem verwandt waren, und ständig waren da die


großen Beine und Schuhe der vielen Erwachsenen, die gedrängt um einen Tisch saßen, laut redeten und einem jeden Kind einen Luftballon schenkten. Setzte man sich auf den Boden, war man noch kleiner, also setzte man sich auf den Luftballon, und es hagelte Warnungen, dass dieser schon bald zerplatzen würde. Patrick, der diese Warnung einfach für eine Feindseligkeit ansah, weil er ja nun schon eine ganze Zeitlang auf dem Ballon saß, ohne dass dieser zerplatzt war, zeigte, dass man sogar auf diesem Ballon hüpfen konnte, wobei dieser zu seiner Schande tatsächlich platzte.

Er heulte, aber es gab keinen zweiten Ballon, er hatte den seinigen kaputt gemacht und das war’s. Nur der Teddy spendete ihm Trost, während die Erwachsenen sich beiläufig darüber äußerten, dass er viel zu wild sei und „schon noch draufkommen werde“, wenn er im Gegensatz zu den anderen nichts hätte wegen seiner Wildheit. So gescholten, machte es auch keinen Spaß mehr, zu den anderen Kindern zu gehen, denn was würden diese schon tun? Sie würden zeigen, dass sie was Besseres waren, weil sie ihren Ballon noch hatten, und das Einzige, was man dagegen tun konnte war, auch die ihrigen zum Platzen zu bringen, worauf man wohl alle gegen sich hatte. Wahrscheinlich würde sich sogar der Teddy von einem abwenden oder zumindest sehr sehr traurig sein.

Patrick war schon ziemlich müde, als sie bei Onkel Tonis Haus ausstiegen, das auf der anderen Seite des Hügels stand. Trotzdem kam gleich Stimmung auf, denn das Abenteuer war überstanden und der Ort der Schande lag elendsweite dreißig Kilometer entfernt. Über dem Himmel hingen schwarze Wolken, ein Gewitter kündigte sich an. Die Eltern beeilten sich, nach Hause zu kommen, und setzten Patrick gleich mal in den Kinderwagen, den sie vorsorglich bei Onkel Toni abgestellt hatten. Klein Patrick sang ein Lied, während es zwischen den Kartoffelfeldern bergan ging. Oben auf dem Hügel wehte ein frischer Wind, das Elternhaus war schon zu sehen, und bergab ging es zwischen zwei Weizenfeldern weiter heimwärts. Der Teddy strahlte, genoss die anhaltende Brise, während in der Ferne die ersten Donner grollten. Ja, der Teddy war anders als dieser unverlässliche Luftballon. Er würde Patrick nie enttäuschen. Er würde sogar fliegen und wieder zurückkehren.

Er flog nicht sehr hoch, aber doch deutlich in das Weizenfeld hinein. Natürlich kam er nicht zurück, aber er würde binnen Sekunden zu finden sein. Mutter jedoch hatte gerade nicht hingesehen, als der Teddy geflogen war; sie wusste zuerst gar nicht, was los war, als Patrick hysterisch zu schreien begann, und weil es eilte, blieb sie auch nicht gleich stehen. Vater, der


vorausging, lief zurück, denn es war immer Vaters Aufgabe, Kaputtes zu richten. Er fand den Teddy nicht, wohl, weil auch Patrick in heller Panik nicht sagen konnte, wo genau dieser gelandet war. Verzweifelte zehn Minuten dauerte die vergebliche Suche, dann fielen die ersten Regentropfen, und die Donner wandelten sich zu beißenden Krachern. Wegen eines Teddys auf freiem Feld vom Blitz erschlagen zu werden, das stand nun auch wieder nicht dafür. Man kam noch rechtzeitig nach Hause, während der Teddy draußen im Gewitter blieb.

Tagelang quälte sich klein Patrick in Gedanken, wie es dem Teddy wohl nun ging. Einmal sagte er sich, dass sein Freund irgendwo Unterschlupf gefunden hätte, ein andermal überredete er Vater, nochmals mit ihm auf die Suche zu gehen. Vergeblich. Das Leben musste ohne Teddy weitergehen, dem Patrick mutwillig eine unlösbare Aufgabe gestellt hatte, genauso wie dem Luftballon. Schuld machte sich breit, untilgbare Schuld, und seit dieser Zeit war Patrick besonders davon angetan, jemanden oder etwas zu retten.

Und wenn er im wogenden Gestrüpp des Internets nach neuen Bildern von Vivian fahndete, suchte er wohl noch immer nach einem verlassenen Teddy im Kornfeld.


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