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Auf dem Tierfriedhof Am 21. April klopfte der Sohn der Eisenbahngespenster in der Nacht mit seiner bleichen knochigen Hand leise, aber entschlossen ans Erdgeschossfenster seines Spielplatzfreundes. Der Sechsjährige fühlte noch in seinem Bett, dass bald etwas Großes für immer zu Ende sein würde. Der unstete Mond, der in dieser besonderen Nacht durch ein tiefes Wolkenmeer zu schwimmen schien, beleuchtete albtraumhaft das zerschundene Gesicht des Freundes. Er wohnte direkt nebenan, seine Eltern führten ein Geschäft für Modelleisenbahnen, von denen die größte ohne Pause ihre ovalen Runden im Schaufenster drehte. Die unheimlichen Eltern bekam fast keiner in der Straße je zu Gesicht, nur den Jungen, der in den hinteren Räumen des Ladens fast täglich gezeigt bekam, was er seinen Eltern bedeutete. Dieses Mal hatte der Vater auch vor dem Gürtel nicht zurückgeschreckt und sein Kind schlimmer als sonst zugerichtet, während die Mutter sich in die Katakomben des riesigen Kellergewölbes, das als Ersatzteillager für das Geschäft diente, zurückgezogen hatte, wo ihr ein mächtiges Fass aus Eichenholz über die schlimmen Stunden in ihrem ereignislosen Leben in stummer Regelmäßigkeit hinweghalf und die Schreie ihres Sohnes für sie verstummen ließ. Er stieg durch das Fenster ins Freie, die verbundene Hand seines Freundes gab ihm den nötigen Halt. Gemeinsam überquerten sie den stockdunklen Hof, in dem es vor hohen Bäumen und Gestrüpp nur so wimmelte, kletterten über die verfallene Mauer und standen unvermittelt in dem schmalen pechschwarzen Gang, der die vielen Hinterhöfe dieser Straße miteinander verband. Er wurde von einer „Schießwütigen Hexe“ bewacht, die, wenn man den Erzählungen Glauben schenken mochte, schon drei Hunde und vier Katzen (davon zwei Kätzchen) in düsteren Nächten wie heute mit geübter Hand in die ewigen Jagdgründe befördert hatte. Dass es sich bei ihrem Gewehr lediglich um ein Luftdruckgewehr handelte, hatte die Tierchen auch nicht wieder lebendig werden lassen. Doch daran dachten die beiden Jungen jetzt aber nicht, als sie ihre Schritte zielsicher in Richtung der „Sternengräber“ lenkten, wo die Kinder aus dem Kiez seit Ende des letzten Krieges ihre treuen Gefährten verbuddelten. Das ovale Gelände war mit einzelnen Steinen abgegrenzt und im Mondlicht funkelten glatte, durch den Zahn der Zeit zerbröckelnde Kacheln und mit Aluminiumpapier überzogene Terrakotta-Steine wie unzählige Sterne. Man konnte sehen, dass die Tiere von ihren kleinen Besitzern geliebt worden waren. Längst mussten es mehrere Tausend sein, allein schon


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