19_beitrag

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Skeradema Geschichte: Sie sehen mich an. Ich zücke meine Lupe und werfe mich in den Trenchcoat. Die Luft erzittert unter der enormen Spannung, der Ungewissheit. Alle Blicke ruhen auf meinem Mund. Denn (natürlich) weiß niemand außer mir (und dem Täter) die Wahrheit. Und ich werde sie verkünden. Jetzt und hier. Keiner wird mich davon abhalten. Auch nicht diese Tür. Vor allem nicht diese Tür. Moment mal. Nein. Nein. Sie sehen es mit milder Verwunderung, aber ich sehe es schockiert. Ich weiß, sehe, dass sie sich öffnet. Alles wird kaputt gehen, wenn sie sich öffnet! Die Tür öffnet sich. Sie öffnet sich, doch sie soll sich noch nicht öffnen; darf sich noch nicht öffnen. Es ist doch noch viel zu früh dafür. Sie darf nicht-… *°°* Tja. Es war weg. Bis zu dieser abscheulichen und ernüchternden Entdeckung war es eine durch und durch charmante Party gewesen. Die Gäste waren in kleinen Grüppchen herumgestanden, hatten Erfahrenes und Erfundenes ausgetauscht, hatten die Festkleidung der anderen auf freundliche und weniger freundliche Weise kommentiert, hatten genüsslich an ihren Getränken genippt und gelegentlich an einer der Festaktivitäten teilgenommen, in denen sie ihre Schnelligkeit, Geschicklichkeit und Intelligenz unter Beweis stellen konnten. „Alle haben sich prächtig amüsiert“, würde der Graf später sagen. Ich schnaubte nur auf. „Alle“ wird wieder und wieder falsch verwendet. Armes Wort. Alle, alle, was heißt schon alle? Alle Menschen, alle Tiere, alle Lebewesen? Und nicht einmal alle Menschen waren gemeint, sondern nur die, die geladen waren. Und eigentlich waren „alle“ in diesem Falle auch nur der Großteil der Gesellschaft. Ich und mein alter, triefäugiger Bekannter (ein Polizist) beispielsweise kamen nicht wirklich auf unsere Kosten. Aber das verwunderte auch keinen – dafür waren wir ja auch nicht da. Wir waren da, um „die Gäste im Auge zu behalten“. Nicht, dass die Gäste gefährlich gewesen wäre. Es waren harmlose, aber teilweise wichtige und vor allem sehr viele Personen geladen. Nebst einem jungen Wissenschaftler stand eine übergewichtige Bauchtänzerin und ein authentischer Indianer unterhielt sich angeregt mit einer Dame in


einem sehr eleganten Kostüm. Ich sah die offiziell verwirrte Esoterikerin vom Werbekanal, einen berühmten Astronauten und eine streng dreinblickende Krankenschwester. Logischerweise war auch die High Society zugegen: Schauspieler, Popsternchen, TVHelden, sie alle waren hier und plauderten ungezwungen bei einem Aperitif. Und obwohl ich stark bezweifelte, dass sie offiziell geladen worden waren, sah man auch hin und wieder eine Katze oder eine Biene durch die Halle huschen. Also, alles ganz harmlos. Und dank des guten Händchens des Grafens (oder eher seiner zwei Handlanger, die, wie sowieso jeder wusste, hinter allem die Fäden zogen) herrschte eine sehr gemütliche und erwartungsvolle Stimmung. Erwartungsvoll? Nun, hier kamen wir ins Spiel. Während der Graf (entgegen seines düsteren Äußeren) sonnig im Raum herumtänzelte und von allen Seiten Komplimente auffing, standen der Polizist und ich in jeweils einer Ecke und passten auf. Uns war aufgetragen worden, ES zu beschützen, denn (wie der Graf so schön formuliert hatte) „es haben ja schon eine Menge Leute darauf abgesehen“. Und da hatte er zweifellos recht. Jeder, und das sage ich, obwohl ich weiß, dass es sich mit „jeder“ verhält wie mit „alles“, jeder wusste, dass es DAS Highlight der alljährlich stattfindenden Party war und jeder wusste, dass es jeder haben wollte und jeder wusste, dass es jeder wusste. Auch ich wollte eigentlich heute in seinen Genuss kommen, doch das Schicksal meinte es nicht gut mit mir. Nach einiger Zeit gab uns der Graf ein Zeichen und rief euphorisch „Lasst uns hinübergehen!“ Ein Riesentumult brach aus und alle (na ja, also streng genommen der Großteil der Anwesenden) liefen ihm aufs Lemmingste folgsam hinterher. Ich ging mit, obwohl ich wusste, dass alles so sein würde, wie es sollte (schließlich hatte ich die Tür ja im Auge behalten) und lauschte gelassen dem Schnatterblabberblablablablablabberdingdongchrzbelblaschnatterschna… … Stille. Kleidung knisterte. Vereinzelter schwerer Atem. Jemand hauchte „Nein“ und jemand anderer „Oh“. Ich öffnete ratlos die Augen und blickte auf das, was alle anderen bereits bestürzt registriert hatten: Leere. Dort wo es sein sollte, war nur ein leerer Platz. Gott sei Dank, war die Tür geschlossen. *°°*


Ich sah den bestürzten Blick des Grafen von mir zum Polizisten flitzen und nach einem kurzen Stirnrunzler leuchteten seine Augen auf. „Wir sind nun bei unserem Hauptspiel angelangt!“, verkündete er, „Einem unter den Gästen wurde aufgetragen ES zu stehlen, ohne, dass es die anderen merkten. Nun, zum spannenden Teil: Finden wir heraus, wer es war!“ Kurz herrschte Totenstille, dann schien die Masse einen gewaltigen Seufzer von sich zu geben, die angespannten Körper entkrampften sich wieder und langsam kehrte Getuschel und Gelächter ein. Alles nur ein Spiel! Aber während die unwissende und erleichterte Menge ihrer Illusion nachhing, wurden unter dem Grafen, dem Polizisten und mir eisige Blicke ausgetauscht. Wir wussten: Das war kein Spiel. Cleverer Schachzug des Grafen... so würden alle kooperieren, ohne unter Druck zu stehen. „SO!“, rief ich und klatschte in die Hände, „Ich schätze mal, es ist nur richtig, wenn wir hier die Untersuchungen leiten, oder?“ Unterstützend deutete ich dabei auf meine Kleidung, welche das Wort „Detektiv“ mit Überzeugung schrie und auf den Polizisten. Buddha-ähnlich, desinteressiert und mit tiefen Augenringen stand er da, wie immer, und blies einen Kaugummi auf. Die rosa Blase zerplatzte und blieb in seinem Gesicht kleben. Er war zu faul, um die Hände aus den Taschen zu nehmen und es zu entfernen und so vermittelte er die Seriosität einer Gummiente. „Er- äh, ist nicht immer so“, versicherte ich unglaubwürdig. „Ach egal!“, beschloss eine Sängerin mit langen Haaren für den Rest, „Dann mach halt du. Und nur falls du’s wissen willst – ich habe ein Ablibi. Ich habe die ganze Zeit mit ihm hier geredet“ Ablibi. Ich schauderte. Scheinte so, als wäre die, den Leuten in der Unterhaltungsbranche unterstellte, Dummheit, nicht ganz unbegründet. Äh, schien, meinte ich natürlich. Schien. „Ihm hier“ war der bereits erwähnte junge Wissenschaftler, der sich straff aufrecht hinstellte und seine Brille mit dem Mittelfinger hinaufschob, als mein Blick zu ihm wanderte. „Das ist wissenschaftlich gesehen korrekt“, bestätigte er ernst. Dafür erntete er bewundernde Blicke – warum auch immer. So ein Möchtegern. Mein Blick wanderte forschend durch die Menge. „Möchte noch jemand etwas Wichtiges sagen?“ Ich hätte wichtig nicht sagen sollen. Wichtig ist immer schlecht. Jetzt sind sie alle verunsichert, was wichtig ist und was nicht. Mist. Keiner sagte etwas, bis eine Köchin hervortrat flüsterte „Ich denke, ich habe ES als Letzte gesehen…aber, aber ich war es nicht!“, sie wurde rot, „Nur, mein Bruder und ich…“ „Bruder?“, fragten alle wie aus einem Mund. Sie zeigte scheu auf den Polizisten, der unbeeindruckt in die Menge starrte und vergeblich versuchte einen Kaugummifetzen auf seiner Nase mit der Zunge zu erwischen.


„Er war es!“, wurde natürlich gleich barbarisch gerufen. Ich brachte sie mit einer ungeduldigen Handbewegung zum Schweigen. Natürlich sah es danach aus, aber… „Erzähl mehr“, bat ich die Köchin. „Also, am Weg hierher stand ES zwischen uns am Rücksitz, damit es nicht fallen würde. Und als wir ankamen, trugen wir ES vorsichtig hierher und stellten ES hier am Tisch ab. Und jetzt wurde ES halt gestohlen“ Und hinter ihnen wurde die Tür geschlossen, also muss es einer von ihnen gewesen sein… „Bin kurz im Garten“, sagte ich nach reichlicher Überlegung. Der große Garten war beinahe ausgestorben. Nur eine Katze saß auf einem Ast im Baum und blickte zufrieden und majestätisch über ihr Herrschaftsgebiet. Ich blinzelte gegen die rote Abendsonne zu ihr hinauf. „Ich weiß, dass du hier wohnst“, sagte ich, „Aber ich glaube, du darfst nicht auf diesen Baum klettern“ Für eine lange Zeit antwortete sie nicht und ich hatte beinahe schon die Hoffnung aufgegeben, als sie ihren Kopf zu mir wendete. „Ich weiß…“, schnurrte sie sanft, „Heute ist vieles nicht so, wie es sein sollte. Warum sonst wäre es verschwunden? Warum sonst würden wir uns alle hier versammeln? Und warum sonst würde ich mit dir reden?“ Sie ließ ihre Beine herabbaumeln und spielte mit ihrem Schwanz herum, „Es gibt so vieles was du nicht weißt, du >>Detektiv<<“ „Was meinst du!?“, fragte ich zornig. Dieser Vierbeiner konnte ruhig schwachsinniges Zeug von sich geben, aber meine Berufsehre zu verletzen war unverzeihlich. Sie sprang leichtfüßig vom Baum auf den Rasen und strich an mir vorbei. „Du musst in einem größeren Rahmen denken“, flüsterte sie mir ins Ohr, „Es gibt noch mehr in diesem Haus als unsere Welt. Es ist hinter dieser Tür. Und du weißt es“ Aber die Tür war geschlossen. *°°* Natürlich war alles falsch, was die Katze gesagt hatte. Es war die Schwester, die Köchin, keine Frage. Und jetzt, genau jetzt, würde ich es allen sagen. Aber nein, die Tür geht auf und muss alles kaputt machen.

Rätsel: Was ist hier los?


Einer der Handlanger trat ein. „Und, Kinder? Wie gefällt es euch?“ „Ich weiß nicht, Mami“, sagte der Graf, „Irgendwie drücken diese falschen Zähne ein bisschen. Aber sonst ist es echt cool“ Eine Biene kam herbeigeeilt und rief „Es ist so toll wie jedes Jahr!“ „Wirklich?“ „JA!“, riefen alle, also fast alle der hier Anwesenden, „Das Löffelspiel war am besten!“ „Nein, das Seilhüpfen!“ „Also, ich mag das Detektivspiel bis jetzt am meisten!“ „Detektivspiel? Das war aber eigentlich nicht geplant, oder?“ „Nein“, gab der Graf kleinlaut zu, „Aber die Krapfen sind schon wieder verschwunden und…“ „Ach, das. Ich habe euch stattdessen einen Obstsalat gemacht! Kommt, alle hier rüber!“ Und während ich deprimiert der Gruppe folgte, von diesen gemeinen Erwachsenen wieder meiner Chance zu glänzen beraubt, sagte die Katze mit ihrem verschmitzten Lächeln gerade im Wohnzimmer, „Keine Sorge, Papa. Muss ja nicht jeder wissen, dass du es warst…“

Lösung: Kinderfaschingsparty mit hungrigem Vater


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