20_beitrag

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lidzbark

IMAGINE

Der John Lennon der Jahre 1976 bis 1980 gilt als Inbegriff des fürsorglichen Vaters und treu sorgenden Ehemanns: Er habe – heißt es – seine wilden Jahre hinter sich gehabt, sei kaum noch außer Haus gegangen, anstatt mit Ringo, Mick und anderen Rabauken einen drauf zu machen, sei Lennon – heißt es – viel lieber zuhaus geblieben, dort – heißt es – habe er mit Inbrunst Vollkornbrot gebacken, und das sogar – heißt es – nach eigenen Rezepten. Die Wahrheit freilich sah ein bisschen anders aus. In Wirklichkeit war Lennon selber noch ein Kind, war unselbständig, abhängig, er nannte Yoko Ono, seine Ehefrau, nur „Mother“, er tat dies sogar außer Haus, und das war auch der Grund, warum ihm Yoko, der er seit Jahren schrecklich auf die Nerven ging, schon bald verboten hatte, die Wohnung im Dakota Building zu verlassen. Und somit blieb er Tag für Tag zuhause. Tagsüber buk er in der Küche Vollkornbrote, nachts sperrte Yoko ihn in seinem Zimmer ein. So laufe er weder in Gefahr, dachte Yoko, sich (und vor allem sie!) vor der zynischen New Yorker Öffentlichkeit zu blamieren, noch könne er zu seiner alten, zu seiner unvergessenen und großen Liebe, der Liebe seines Lebens sozusagen, zurückkehren: dem Heroin. Daran lag Yoko viel. Es reichte schließlich, dass ein Elternteil des kleinen Sean von diesem Zeug nicht loskam: sie. Wenn John sie je dabei ertappt hätte, wie sie sich völlig ausgepumpt nach einem langen harten Tag, die Beine hoch, die beiden Kinder endlich in den Betten, am Wohnzimmersofa vor dem Fernseher ein Schüsschen setzte, er wäre ausgerastet. Sie high auf H, während er selber Vollkornbrezeln futtern musste! Nicht auszudenken, was geschehen wäre … Womöglich hätte John sie dann samt Sean einfach so auf die Straße und sich selbst wieder unter Strom gesetzt, unter den „guten alten Rock-“, den „guten alten Beatles-Strom“, wie er das nannte, unter den Heroin-, den Kokain-, den Brandy Alexander-Strom, vom LSD-Strom ganz zu schweigen (sofern John von diesem überhaupt, woran Yoko seit mehreren Jahren gehörig zweifelte, jemals wieder heruntergekommen war …). Womöglich wäre das


2 dann auch das Ende von Yokos Avantgarde-Kunst gewesen, womöglich hätte sie auf populäres Zeug umsteigen und mit dem populären Zeug dann auch noch handeln müssen, Geld verdienen!, gosh, seufzte Yoko, wenn sie nur dran dachte, es war bei Gott nicht auszudenken, was alles über sie hereingebrochen wäre, hätte sie John nur einmal mit dem Stoff erwischt … Aus diesem Grund übte sich Yoko stets in größter Vorsicht. Sie nahm das Heroin nur dann, wenn John schon fest und hinter Schloss und Riegel schlief. Und wie sie überhaupt an das Zeug rankam, das wusste außer ihr nur einer: Mark, Johns kauziger Biohändler. Morgen für Morgen brachte Mark einen großen Jute-statt-Plastik-Sack voll Roggen-, Dinkel-, Maismehl oder so. John zahlte, trug ihn in die Küche und ging dann Radio hören oder spielen. Kaum war John aus der Küche, schlich Yoko herein und stürzte sich auf den Sack. Tief in ihm drin, zwischen den groben Körnern, fand sie Tag für Tag ein kleines Säckchen, das prall gefüllt mit einem feinen weißen Pulver war ... Yoko krallte sich das Säckchen und verschwand. John kam erst etwas später wieder in die Küche und machte sich ans Vollkornbrot. Er hatte am Mehl Marks nie etwas auszusetzen. Im Gegenteil: Marks Mehl war immer bester Qualität. Und wie auch nicht: John zahlte gut, und Mark galt als einer der innovativsten Biohändler der gesamten Ostküste. Kurz: Yokos System funktionierte tadellos. Nicht ein einziges Mal war es vorgekommen, dass sie kein Säckchen in dem Sack gefunden hätte – nur einmal war es leer gewesen, an einem Tag schon spät im Jahre ´80 … Nun gut, hatte sich Yoko an diesem Morgen gesagt, da sei wohl nichts zu machen, Mark habe wohl vergessen, das Säckchen anzufüllen, so etwas könne vorkommen, Mark sei ja auch nur ein Mensch. Sie hatte die leere Hülle aus dem Dinkelmehl gezogen, damit sich John am Plastik nicht verschlucken möge, hatte es in den gelben Sack geworfen und war seelenruhig shoppen gegangen. Der Gedanke, das Säckchen mochte beim Transport aufgegangen und sein kostbarer Inhalt mit den Körnern Johns vermischt worden sein, war ihr erst einige Stunden später gekommen, beziehungsweise, um genau zu sein: einige Stunden zu spät … John Lennon machte sich gleich an die Arbeit, nachdem Yoko Ono die Wohnung verlassen

hatte.

Er

vermengte

das

Dinkelmehl

mit

Sesam-Samen,

mit

Sonnenblumenkernen, Leinsamen und Salz. Er löste Hefe auf in Obstessig und warmem Wasser, gab sie zum Mehl dazu und knetete daraus einen ausgesprochen weichen Teig – in der Vollkornbrotbackcommunity jener Epoche waren Johns


3 besonders weiche Teige legendär! Dann fettete er die Kastenform – ein handgearbeitetes Stück, im Übrigen ein Geschenk seines alten Freunds Paul – aus, bestäubte sie mit noch mehr Mehl – o ja, er sparte nicht an Mehl! – und legte den Teig hinein. Er bepinselte die Oberfläche mit Wasser und ritzte mit dem Messer etwas in den Teig. IMAGINE hatte er in den Teig geschrieben – das G war ihm wie immer nicht besonders gut gelungen. Dann schob er das Brot in den Ofen (im Übrigen ein Geschenk seines alten Freunds George), machte den Ofen an, machte die Küche sauber und holte die Kindergitarre aus Seans Zimmer. Während der folgenden sechzig Minuten hörten ihn die Nachbarn, wie jeden Morgen, mit schriller Stimme wieder und wieder seinen alten Song „Mother“ singen. Dann waren die sechzig Minuten um – John hörte auf zu singen und holte das Brot aus dem Backofen. So wie es jetzt war, noch ganz heiß, noch dampfend, hatte er es am liebsten. Als er nach dem Messer griff, kriegte er einen kleinen elektrischen Schlag, der ihn aber nicht weiter bekümmerte. Er schnitt sich eine dicke Scheibe ab von dem Brot – gosh, sah das gut aus, so knusprig, so braun! – und stopfte sie sich gleich als ganze in den Mund … So gesund begann der letzte Tag im Leben John Lennons.


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